Schwester Romana
in Liebe und Dankbarkeit
gewidmet
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1. Auflage 2021
ISBN 978-3-8280-3546-1· Auch als E-Book erhältlich (ISBN 978-3-8280-3546-1)
Bildnachweis: Tabelle 1, Abb. 2, 3, 5, 7 und 47: eigener Entwurf
Abb. 1, 4, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32,
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Es sind die Lebenden, die den Toten die Augen schließen,
und es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen.
SLAWISCHES SPRICHWORT
Seit Urzeiten haben sich die Menschen in allen Kulturen und Epochen mit der Frage beschäftigt, was von ihnen bleibt, wenn ihr vergänglicher Körper stirbt und nicht mehr existiert. Gibt es etwas, das weiterlebt, den Tod überdauert und unabhängig vom physischen Körper existieren kann? Wenn ja, muss es eine geistige Substanz sein, die unzerstörbar ist und der selbst der Tod nichts anhaben kann. Es ist dieser Glaube an eine menschliche Seele, der seit Jahrtausenden die Völker verschiedenster Kulturen miteinander verbindet. Und so ist die Vorstellung einer unsterblichen Seele fester Bestandteil der unterschiedlichsten Kulturen, Religionen und philosophischen Traditionen. Das Geheimnis der Unsterblichkeit einer menschlichen Seele ist untrennbar mit dem Begriff Gott verbunden. Dies ist logisch, denn nur Gott allein ist unsterblich. Nur er kann ewiges Leben schenken. Und so ist die Ehrfurcht vor der Ewigkeit gleichzeitig auch die Ehrfurcht vor Gott. Was aber ist das für ein Gott, der Leben erschaffen und dem Menschen Unsterblichkeit verleihen kann? Und wie hat er sich seinen Geschöpfen in der Geschichte offenbart? Alles beginnt vor etwa 3400 Jahren mit dem Volk der Schasu. Es handelt sich bei dieser Gemeinschaft um eine Gruppe von Nomadenstämmen. Sie lebten östlich des ägyptischen Reiches, in einem Gebiet, das sich vom heutigen Südpalästina über den Süden des Ostjordanlandes bis hin zur Sinaihalbinsel erstreckt. Es war ein zentraler Ort, der sich JHW nannte, gesprochen „Jahu“. Dieser Name leitete sich offensichtlich von ihrem Schutzgott ab, der JHWH hieß und heute „Jahwe“ ausgesprochen wird. Wenn es die Not ihnen abverlangte, wagten sich die Schasu hin und wieder auf ägyptisches Gebiet vor. Den Ägyptern waren sie von daher wohlbekannt und so findet sich die erste schriftliche Erwähnung des Volkes der Schasu in altägyptischen Texten des zweiten Jahrtausends vor Christus. Damals wurden um das Jahr 1370 v. Chr. unter Pharao Amenhotep III. (1388–1351/50 v. Chr.) einige Länder erobert. Amenhotep III. war der neunte altägyptische König der 18. Dynastie und bestieg den Thron seines Vaters Thutmosis IV. nach dessen Tod im Alter von nur zwölf Jahren. Eigentlich wurden die kriegerischen Auseinandersetzungen in den eroberten Gebieten von Palästina und Syrien von Vasallenfürsten geführt, die dem Pharao treu ergeben waren. Trotzdem ließ es sich Amenhotep III. nicht nehmen, in der nubischen Stadt Soleb, also im heutigen Sudan, einen prachtvollen Tempel zu errichten, der nur ein Ziel hatte, ihn selbst zu vergöttlichen. Aber genau dort, im Amontempel von Soleb, findet sich ein Hieroglyphentext, eine Ortsnamensliste, entstanden um das Jahr 1380 v. Chr., die vom „Land der Schasu YHW“ berichtet. Hier findet sich auch erstmalig das hebräische Tetragramm JHWH, das auf ihren Schutzgott hinweist. Für das Volk der Schasu war ihr Land ein heiliges Land. Es war für sie der Nabel der Welt. In diesem Land war ihr Gott allgegenwärtig. Er war somit vollkommen mit der Erde und mit der Landschaft dieses Gebietes verbunden. Von den Schasu wurde ihr Gott deshalb mit Bergen, Vulkanen, Quellen und Bäumen in Verbindung gebracht. Man könnte sagen, dass die Schasu eine Art Naturreligion betrieben, wobei der Gott Jahwe ihnen als Sippe Schutz bot. Warum aber vertraute diese Sippe auf Jahwe? Die Antwort findet sich etwa 400 Jahre zuvor, als nämlich Gottes Wort um 1800 v. Chr. an einen einfachen Nomaden namens Abraham erging, der im heutigen Irak lebte. Zu seiner Zeit, also etwa vor 3800 Jahren, glaubten die Menschen noch an viele Götter, wobei jeder Gott für einen anderen Lebensbereich zuständig war. Abraham war nun der erste seiner Sippe, der eine eindeutige Berufung von Gott empfangen sollte. Dieser sprach zu ihm:
„Geh fort aus deinem Land, verlass deine Heimat und deine Verwandtschaft, und zieh in das Land, das ich dir zeigen werde! Deine Nachkommen sollen zu einem großen Volk werden; ich werde dir viel Gutes tun; deinen Namen wird jeder kennen und mit Achtung aussprechen. Durch dich werden auch andere Menschen am Segen teilhaben. Wer dir Gutes wünscht, den werde ich segnen. Wer dir aber Böses wünscht, den werde ich verfluchen! Alle Völker der Erde sollen durch dich gesegnet werden.“
Genesis 12,1–3
Nach dieser Offenbarung glaubte Abraham, obwohl er mit der Vorstellung von vielen Göttern groß geworden war, nur noch an einen einzigen Gott, Gott Jahwe. Abraham sollte aber nicht der Einzige aus seinem Volk bleiben, zu dem Gott sprach. Etwa 500 Jahre später, zu der Regierungszeit von Pharao Ramses II. (um 1303–1213 v. Chr.), dem dritten altägyptischen König der 19. Dynastie, erging das Wort Gottes an einen Mann namens Mose. Das war vor etwa 3200 Jahren. Mose war ein Hirte. Als er im Alter von 80 Jahren gerade die Schafe hütete, beobachtete er etwas Seltsames. Ein brennender Dornbusch, so weit nichts Außergewöhnliches in der Gegend, aber dieser verbrannte nicht. Als sich Mose der ungewöhnlichen Erscheinung näherte, sprach Gott aus dem brennenden Dornbusch zu ihm:
„Ich bin der Gott deiner Vorfahren, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.“
Exodus 3,6
Auf die Frage Moses, wie denn sein Name sei, antwortete ihm Gott:
„Ich bin, der ich bin!“
Exodus 3,14
Dieser Hirte namens Mose war es auch, dem Gott auf dem Berg Sinai seine Zehn Gebote übergab, womit er seinen Bund mit dem Volk Israel erneuerte. So wurde Mose der Hauptbegründer der jüdischen Religion, deren Grundlagen auf das 13. Jahrhundert vor Christus zurückgehen. Eine dieser Grundlagen ist die Erkenntnis, dass es nur einen einzigen Gott gibt. Man nennt diese Erkenntnis Monotheismus. Damit ist das Judentum die älteste der drei monotheistischen Weltreligionen. Das Christentum entstand gut 1200 Jahre später und der Islam rund 600 Jahre nach dem Christentum. Die beiden jüngeren monotheistischen Weltreligionen beziehen sich teilweise auf das Judentum. Aber alle drei monotheistischen Weltreligionen beziehen sich auf ihren Stammvater Abraham. Judentum, Christentum und Islam dürfen deshalb als abrahamitische Religionen bezeichnet werden. Für sie ist Abraham ein großes Glaubensvorbild, bis heute. Und bis heute noch verehren sie ihn. Den Mann, der den Glaubensweg für das Judentum bereitete und damit gleichzeitig auch den Weg für den einzigen, allmächtigen und gemeinsamen Gott der Juden, Christen und Muslime. Das Einzige, was diese drei monotheistischen Religionen voneinander unterscheidet, ist der Weg zu Gott. Für die Juden geht dieser Weg über die Einhaltung von Geboten und Verboten. Für die Christen führt der Weg zu Gott über die Liebe zu ihm und den Mitmenschen. Und für den Islam führt der Weg zu Gott durch die Unterwerfung unter seinen Willen. Aber welcher Weg auch immer zu Gott führen mag, immer ist es dieser eine Gott, der die Macht hat, Leben zu erschaffen. Wie Gott das Wunder des Lebens im Einzelnen vollbringt, lässt sich in den heiligen Schriften der monotheistischen Weltreligionen nachlesen. Im Buch Genesis der christlichen Bibel heißt es beispielsweise:
„Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“
Genesis 2,7
Was aber ist das, der Lebensatem? Was ist damit konkret gemeint? Der Koran wird da schon etwas genauer. Hier können wir nachlesen:
„Gott formte den Menschen aus Ton … und hauchte dann von Seinem Geist in ihn hinein.“
Sure 15, 26 und 29
Ganz präzise ist da die Thora. In ihr steht geschrieben:
„Da bildete Jahwe Elohim (Gott, der Herr) den Menschen aus Staub vom Erdboden (Apar), und blies den Geist des Lebens (Neschamah) in seine Nase, und so wurde der Mensch eine lebendige Seele (Nefesch).“
Bereschit 2,7
Wie man sieht, sind Geist und Seele nicht dasselbe. Wie man aber auch sehen kann, liegen beide Begriffe sehr dicht beieinander. Gott nahm Apar, also feinsten Staub der Erde, sprich Atome, Moleküle und Elemente, und formte daraus den menschlichen Körper. Dann blies er Geist von seinem Lebensgeist in ihn hinein. So wurde aus dem toten Körper ein lebendiger Leib. Oder anders ausgedrückt, ein lebendiges Wesen. Besser noch, eine lebendige Seele. Für die drei monotheistischen Weltreligionen besteht der Mensch damit aus einem materiellen Körper (Apar), einem immateriellen Geist (Neschamah) sowie dem immateriellen Lebensprinzip Seele (Nefesch). Eine andere hebräische Bezeichnung für den Lebensgeist wäre Nischmat chajim, was so viel wie Lebensatem bedeutet. Das ist bemerkenswert, denn der Gott, der von sich sagt, „Ich bin, der ich bin“, sein Name leitet sich nach der Mehrheitsmeinung der Forscher vom Verbum „hawah“ ab, was ins Deutsche übersetzt „wehen“ bedeutet. Jahwe wäre demnach etwas frei formuliert der Gott, der durch die Lüfte fährt, der Gott, der weht. Gott ist da, er ist Geist und dieser Geist weht, wohin er will. Und durch dieses Wehen wird alles zum Leben erweckt. Das Leben geht somit von Gott aus, aus seinem Da-Sein. Dieses Da-Sein Gottes ist der Grund der Schöpfung, der Grund des Lebens. Der Geist ist es, der die Seele bewirkt. Kurz und knapp gefasst, ohne Geist keine Seele. Doch was genau ist diese Seele? Nefesch, das im Alten Testament verwendete hebräische Wort für Seele, hat schließlich sehr unterschiedliche Bedeutungen. Es kann zum Beispiel Kehle, Hals, Schlund oder Gurgel bedeuten. Andererseits steht Nefesch aber auch in Verbindung mit den Begriffen Hauch, Atem und Odem. Im übertragenen Sinne ist mit Nefesch die Lebenskraft, Vitalität oder ganz allgemein das Leben selbst gemeint. Also alles, was irgendwie in Verbindung mit dem Leben steht. Ja, das ist Seele. Ein Lebensprinzip, ein Zustand, durch den es dem Menschen gelingt, seine elementaren materiellen wie auch immateriellen Bedürfnisse zu stillen. Nefesch steht für Begehren, für Verlangen, für Lebendigkeit. Es steht für Lust, Empfinden, Ich und Selbst. Für Lebenstrieb, aber auch für Wunsch und Willen. Die Seele beschreibt also all das, was den Menschen zu einem lebendigen Wesen macht. Und sie beschreibt, was ihn vom Tier unterscheidet. Im Wesentlichen sind das drei Gesichtspunkte. So ist nur der Mensch in der Lage, das Göttliche wahrzunehmen, denn nur er allein verfügt über ein Transzendenzbewusstsein. Und nur der Mensch verfügt über einen freien Willen, um sich entweder für das Gute oder das Böse zu entscheiden. Das Tier hat eine solche Wahl nicht. Es kennt weder Gut noch Böse. Es hat auch keinen freien Willen, so wie der Mensch, sondern gehorcht vielmehr seinem inneren Drang, Trieb und Instinkt. Es verfügt über keinen menschlichen Verstand, kennt keine menschliche Vernunft. Das Tier handelt dementsprechend nicht vollkommen selbstbestimmt. Wünsche und Absichten, die in der Entscheidungsfreiheit sorgsam abgewogen werden und die Ursachen von reflektierten Handlungen bilden, sind dem Tier völlig fremd. So wie der Begriff des Glückes sich seiner Kenntnis gänzlich entzieht, womit wir bei Punkt drei wären, dem Streben nach Glück. Dieses ist ausschließlich dem Menschen eigen. Das Tier dagegen kennt kein Streben nach Glück. Es verfolgt mit seinen Trieben und Instinkten nur ein Ziel, und das heißt Überleben, nichts weiter. Und damit wären wir bei einer weiteren Bedeutung des hebräischen Wortes Nefesch angekommen, nämlich Herrlichkeit. Die besitzt ein Tier aus besagten Gründen nicht. Das Tier in seiner Existenz lebt ohne Nefesch, ohne Aussicht auf Herrlichkeit. Heißt das jetzt, dass Tiere keine Seele haben? Selbstverständlich haben sie eine, aber im psychologischen Sinne, nicht jedoch nach Maßgabe eines theologischen Verständnisses. Denn im theologischen Sinne ist die Seele eine Art immaterielles Beziehungsorgan. Sie schafft eine Beziehung zwischen dem Menschen und Gott. Und zwar auf der Basis von Kommunikation. Die Seele ist damit gleichsam ein göttliches Prinzip, das ausschließlich dem Menschen zuteilwird. Dies ist nicht nur eine leere Behauptung, sondern lässt sich religionswissenschaftlich belegen. So gibt es nach den heiligen Schriften der drei monotheistischen Weltreligionen keine direkte Kommunikation zwischen den Tieren und Gott. Dies zeigt eindeutig, dass ein Tier nicht der gleichen Herrlichkeit teilhaft werden kann wie der Mensch. Der Kreatur ist offensichtlich ein anderes Los zugedacht. Zumindest aus theologischer Sicht, die als einzige geisteswissenschaftliche Disziplin eine Seele kennt und an ihr nach wie vor unbeirrt festhält.
Kraft ihrer Autorität war diese theologische Sichtweise des Seelenbegriffes lange Zeit maßgebend und prägend, bis im vierten Jahrhundert vor Christus ein erstes philosophisches Nachdenken über die Seele einsetzte. Ein Nachdenken, das im weiteren Verlauf der Geschichte mehr und mehr materialistische Züge erhielt und den Seelenbegriff ab einem bestimmten Zeitpunkt durch den Begriff Geist ersetzte. Für den griechischen Philosophen Platon mit seiner dualistischen Position waren Körper und Seele noch zwei völlig getrennte Entitäten, die unabhängig voneinander existieren konnten. Die Seele war für ihn etwas Nichtmaterielles, etwas, das schon im „Reich der Ideen“ existierte, bevor es in den Körper eintrat. Der Körper dagegen war für Platon ein materielles Gefängnis der Seele. Nur der Tod konnte sie aus diesem Gefängnis befreien, sodass sie anschließend wieder in das „Reich der Ideen“ zurückkehren konnte. Mit dieser Vorstellung lag Platon noch sehr nahe bei der religiösen Betrachtungsweise. Sein Schüler Aristoteles entfernte sich ein Stück weit von diesen Überlegungen und vertrat eine monistische Position, wonach Körper und Seele eine Einheit bilden und nicht unabhängig voneinander existieren können. Aristoteles bestritt die Präexistenz der Seele. Vielmehr sei die Seele an den Körper gebunden. Sie ist ein Prinzip des Lebendigen, unräumlich und nichtmateriell. Es ist eine Art biologische Seele, zwar immateriell, aber doch sterblich. Eine Seele, die an das Leben gebunden ist und während dieser Zeit für die funktionelle Organisation von körperlichen Fähigkeiten verantwortlich ist. So zum Beispiel für die Zweck- und Zielorientierung, aber auch für die Wahrnehmung. Nach Aristoteles kann es deshalb kein Wahrnehmungsvermögen ohne einen lebendigen Körper, ohne eine lebendige Seele geben. Trotzdem gibt es auch in der Philosophie des Aristoteles einen unsterblichen Teil im Menschen, den Geist. Der Geist ist es, nach seiner Auffassung, der von außen in die Seele gelangt. Nur er ist nicht an den Körper gebunden und nur er ist unsterblich. Aristoteles vertrat damit eine Position, die im Hinblick auf den Bereich von Körper und Seele als Monismus imponiert, aber in Bezug auf den Komplex von Körper und Geist als Dualismus formuliert werden kann. Davon weit entfernt war die Auffassung des Atomisten Demokrit, die zwar auf einem philosophischen Denken basierte, aber schon durchaus in einem weltlich-wissenschaftlichen Gewande daherkam. Für Demokrit war die Seele durch und durch materiell. Sie bestand für ihn aus Atomen. Also kleinsten materiellen Bausteinen, die nicht mehr teilbar waren. Doch diese Position wollte sich damals noch nicht so richtig durchsetzen. Vielmehr behielt die Seele in der menschlichen Ideengeschichte ihre Bedeutung als eine ordnende Kraft in der Welt. Übrigens auch in der christlichen Tradition. Zurückzuführen ist dies auf den italienischen Philosophen und Theologen Thomas von Aquin (1225–1274), der als Dominikaner die Lehre des Aristoteles in weiten Teilen aufgriff, sie aber an einigen kleinen Stellen entsprechend dem christlichen Verständnis etwas abwandelte. Die gelegentliche Bezeichnung des Aquinaten als Aristoteles des Mittelalters darf deshalb in einem doppelten Sinne verstanden werden. Allerdings ging Thomas von Aquin in seiner Konzeption der Seele über die des Aristoteles hinaus. Für ihn war der Mensch eine Einheit aus Körper, Seele und Geist. Diese Einheit, so Thomas von Aquin, bildet die personale Identität des Menschen. Der denkende Geist repräsentierte in seiner Vorstellung den unsterblichen Teil der Seele. Thomas von Aquin spricht deshalb von einer Geistseele, die zwar mit dem Körper verbunden ist, aber auch getrennt von diesem existieren kann. Nach dem Tod, wenn der Körper zugrunde geht, verliert der Mensch seine personale Identität. Die nach dem Tod abgeschiedene Seele ist daher nicht identisch mit der zu Lebzeiten existierenden Person. Sondern erst bei der leiblichen Auferstehung, wenn der Körper also wiederhergestellt ist, dann erst wird der Mensch wieder derjenige sein, der er als Person einst war. So bleiben Identität und Kontinuität des auferstandenen Verstorbenen gewahrt. Wie man unschwer erkennen kann, war Thomas von Aquin sehr darum bemüht, durch sein Konzept der abgeschiedenen Seele einen allzu starken Dualismus möglichst zu vermeiden. Nicht so der französische Philosoph René Descartes. Sein Denken kreiste um einen strengen Dualismus, eine radikale Trennung von Körper und Seele. Ein Körper, das war für ihn nur eine Maschine, die auch ohne Seele funktioniert. Und die menschliche Seele, sie war in seinen Augen eine nichtmaterielle Substanz. Das cartesianische Denken setzte folglich den Geist als denkenden Seelenteil mit dem Begriff der Seele gleich. Was aus seiner Betrachtungsweise resultierte, war eine nichtmaterielle Denkseele, Res cogitans genannt, die sich von der Materie, der Res extensa, grundsätzlich unterschied. Descartes reduzierte damit die Seele des Menschen auf das Denken. Seele als das Ding, das denkt, fertig. Fragen nach dem, was den Körper denn zu etwas Lebendigem macht, so wie Aristoteles sie einst stellte, der damit auch die Frage nach dem Wesen des Menschen aufwarf, sie standen bei Descartes nicht auf der Tagesordnung. Für Descartes bestand das Wesen des Menschen einzig und allein in seinem Denken. Das Wesen des Lebendigen, das interessierte den Rationalisten nicht. Die cartesianische Philosophie in all ihrer Fülle, sie bleibt im Grunde genommen nichts weiter als eine reine rationalistische Erkenntnistheorie. Eine Erkenntnistheorie, die bei den nichtrationalistischen Philosophen wie John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776) keinen Anklang fand. Sie waren Anhänger des Empirismus, einer philosophischen Strömung, die davon ausgeht, dass menschliche Erkenntnis und Wissen nur auf Basis von Sinneserfahrungen möglich sind und nicht, wie der Rationalismus es sieht, aus rein vernünftiger Überlegung heraus. Wenn demnach alle Bewusstseinsinhalte des Menschen aus seiner Erfahrung stammen und die einfachen Ideen Bausteine unseres Denkens darstellen, aus denen der Verstand wiederum komplexe Ideen aufbaut, dann kann, so Locke und Hume, die Seele nur ein Bündel menschlicher Vorstellungen sein und keine eigenständige Substanz. Auch Immanuel Kant (1724–1804) sah in der Seele keine eigenständige Substanz. Sie sei aber nicht nur ein Bündel von Vorstellungen, also etwas Imaginäres, sondern müsse logischerweise als etwas tatsächlich Existierendes angenommen werden, schon allein aus der praktischen Vernunft heraus. Ein solches logisches Postulat lehnten wiederum die Materialisten wie zum Beispiel Thomas Hobbes (1588–1679), Julien Offray de La Mettrie (1709– 1751) und Denis Diderot (1713–1784) vollständig ab. Die Seele sei nichts weiter als ein leerer Begriff. Es gebe in Wirklichkeit keine Seele und auch keinen Geist. Das alles sei nichts weiter als eine Funktion des materiellen Körpers, so ihr Credo. Und mit diesem Credo endeten die philosophischen Vorstellungen über die Seele in der Menschheitsgeschichte. Sozusagen im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung. Was im 19. und 20. Jahrhundert im Zuge der weiter aufstrebenden modernen Wissenschaften dann einsetzte, war im Prinzip ein stetes Bemühen, für den alten Seelenbegriff nunmehr moderne Nachfolgebegriffe zu finden. Jetzt sprach man nicht mehr von der Seele, sondern vom Bewusstsein, vom Geist, von der Psyche, vom Ich, vom Selbst, vom Wesen, der Persönlichkeit oder von der Person. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel die Wissenschaft auf das herabschaute, was früher Seele hieß. Mit der Konsequenz, dass von Stund an keine einheitliche Vorstellung mehr von der Seele existierte, sondern nur noch Mehrdeutigkeiten. So wurde der Begriff der Seele in seiner Geschichte von religiösen, philosophischen und weltlich-wissenschaftlichen Auffassungen geprägt und avancierte zu einem äußerst komplexen Abstraktum in der Ideengeschichte des Menschen. Einem Abstraktum ohne Aussicht auf eine einheitliche Konzeption. Aristoteles sollte also recht behalten mit seiner Äußerung:
„Es ist in jeder Hinsicht ein schwieriges Unterfangen, sich über die Seele eine feste Meinung zu bilden.“
Ja, in der Tat ist der Seelenbegriff ein schwieriger und doch vermochte der russische Physiker Konstantin Korotkow in über 30-jähriger Forschungsarbeit etwas über die Seele herauszufinden, das zu einer festeren Meinungsbildung durchaus beitragen kann. Das ist erstaunlich, denn ursprünglich hatte Korotkow als Physiker mit der menschlichen Seele überhaupt nichts zu tun. Als Mitarbeiter des Physiklabors der Technischen Universität in Leningrad erhielt er nämlich in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften den Auftrag, den „Kirlianeffekt“ bzw. seinen physikalischen Hintergrund näher zu erforschen. Das tat Korotkow auch, und mehr noch. Es gelang ihm nicht nur, ein neues Verfahren zu entwickeln, mit dem es möglich wurde, Veränderungen des menschlichen Energiefeldes an einem Monitor in Echtzeit zu beobachten, sondern er suchte zusätzlich nach neuen Einsatzmöglichkeiten für die Nutzung der Kirlianfotografie. Die fand Korotkow schließlich Mitte der achtziger Jahre, als er damit begann, die Gasentladung biologischer Objekte systematisch zu untersuchen, und sich fragte, welche Informationen sich in den erhobenen Daten noch so verbergen. Die Antwort, auf die er dabei stieß, war in jedweder Form ganz außergewöhnlich. Doch um sie zu verstehen, müssen wir tiefer in die Materie eindringen. Wir müssen begreifen, was der Kirlianeffekt ist und von welchen Überlegungen Korotkow im Einzelnen ausging. Hierzu ist ein Blick in die Historie unerlässlich. Der Kirlianeffekt beschreibt ein Leuchten von Objekten in einem elektromagnetischen Hochfrequenzfeld. Seine Geschichte beginnt mit dem deutschen Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799). Er entdeckte nämlich bereits im Jahr 1777, dass verschiedene Objekte in einem starken elektrischen Feld die Fähigkeit besitzen können zu leuchten. Die Lichtenberg-Figuren waren damit geboren. Sie glichen fein verästelten Baumformen, ähnlich dem Bild eines Blitzes, der in der Nacht über dem Himmel aufleuchtet. Lichtenberg entdeckte die Figuren zufällig, als sie durch den Einschlag elektrischer Funken auf eine Isolatoroberfläche entstanden. Es sind sichtbar gemachte Formen des Lichts, die entstehen, wenn man ein Bild malt und als Pinsel elektrischen Strom in Gestalt von Hochspannung verwendet. Doch kaum jemand interessierte sich damals für diese Bilder und so gerieten die Lichtenberg-Figuren auch schon bald wieder in Vergessenheit. Erst viel später griffen zahlreiche Forscher wie Jakob Ottonowitsch von Narkiewitsch-Jodko (1848–1904), Roberto Landell de Moura (1861– 1928), Batholomew Navratil (1848–1927) und Nikola Tesla (1856–1943) das interessante Phänomen wieder auf. Sie alle beobachteten das geheimnisvolle Leuchten, konnten sich aber nicht erklären, warum die Leuchtkraft ein und desselben Objektes auf verschiedenen Aufnahmen unterschiedlich stark ausfiel. Die Technik und das theoretische Verständnis waren einfach noch nicht so weit. Doch um 1900 gelang ein echter Durchbruch. Nun war es erstmalig möglich, elektrische Entladungen auf Fotopapier festzuhalten und sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck wurde eine Metallplatte in einen abgedunkelten Raum gelegt. Dann wurde auf der Metallplatte eine dünne Keramikplatte als Isolator befestigt. Das Fotopapier wurde nun mit der lichtempfindlichen Seite nach oben auf der Isolationsplatte befestigt und das gewünschte Objekt daraufgesetzt. Als Nächstes wurde an die Metallplatte für Bruchteile von Sekunden eine Hochspannung angelegt. Jetzt mussten die gewonnenen Bilder nur noch im Fotolabor entwickelt werden. Zu sehen war auf ihnen das eingebrachte Objekt mitsamt einer sogenannten Koronarentladung, die sich um das Objekt herum abbildete. Bei der Koronarentladung handelt es sich um stromschwache Gasentladungen der unterschiedlichsten Art, die als dünne Lichthaut imponieren. Hervorgerufen wird diese Lichthaut immer dann, wenn elektrischer Strom durch ein Gas, also beispielsweise Luft, fließt und dieses dabei ionisiert. Das Ganze muss man sich in etwa so vorstellen: Durch das Anlegen einer Hochspannung in der Nähe eines Versuchsobjektes werden die in der Umgebungsluft vorhandenen Elektronen stark beschleunigt. Mit dieser Energie ionisieren sie weitere Atome in ihrer Umgebung, sodass wiederum Elektronen frei werden, die ihrerseits nun weitere Atome ionisieren. So entsteht eine Kettenreaktion, die einer Lawine gleicht. In der Physik nennt man diese Lawine Stoßionisation. Nun kann es aber sein, dass die Energie eines Elektrons nicht ausreicht, um ein Atom zu ionisieren. In diesem Fall reicht die vorhandene Energie aber aus, um ein anderes Elektron auf ein höheres Energieniveau zu heben. Doch dieser Zustand hält nicht lange an. Schon nach relativ kurzer Zeit fällt nämlich dieses Elektron wieder auf sein ursprüngliches Niveau zurück. Die dabei frei werdende Energie gibt es dann als kleine Lichtportion, auch Lichtquant oder Photon genannt, wieder ab. Es ist physikalisch gesprochen die kleinste Energieportion, die eine Lichtwelle in einem elektromagnetischen Feld abgeben kann. In der Summe reichen aber diese kleinen Lichtportionen aus, um eine Lumineszenz, ein Leuchten, zu bewirken. Daraus erklärt sich auch, warum wir das Leuchten immer nur dort sehen, wo ein gewisser Abstand zwischen Versuchsobjekt und Fotopapier besteht. Nur hier ist ja Luft bzw. ein Gas vorhanden. Hingegen dort, wo das Versuchsobjekt direkt auf dem Fotopapier aufliegt, wo also keine Luft, kein Gas vorhanden ist, kann auch keine Gasentladung stattfinden. Deshalb sehen wir dort nichts. Jetzt können wir auch verstehen, was der sogenannte Kirlianeffekt ist, nämlich eine hochfrequente elektrische Gasentladung. Aus diesem Effekt entwickelte das russische Forscherpaar Walentina und Semjon Kirlian ein Verfahren, das ein Ablichten von Gegenständen erlaubte, die in einem hochfrequenten elektrischen Feld stehen. Das war der Durchbruch, die Entwicklung der Hochfrequenten Hochspannungsfotografie, die 1939 als Kirlianfotografie in die Geschichte einging. Mit dem Verfahren war es möglich, die elektrischen Endladungen von Objekten fotografisch im Bild festzuhalten. Zwar nicht direkt, aber indirekt. Denn die Kirlianbilder zeigen die energetische Einwirkung der aufgenommenen Objekte auf ein von außen künstlich angelegtes hochfrequentes elektrisches Feld. Zunächst wurde die Methode konsequent auf lebende Objekte wie Pflanzen, Tiere oder Teile des menschlichen Körpers angewandt. Als erstes Versuchsobjekt dieser Art benutzte Semjon Kirlian seine eigene Hand. Er und seine Frau waren fasziniert von den Strahlenbündeln, die von den Fingerspitzen ausgingen. Wie sich später zeigte, waren die elektrischen Entladungen nicht nur an lebende Objekte gebunden. Auch unbelebte Objekte, wie beispielsweise Münzen, wiesen entsprechende Lichtstrahlen auf. Belebt oder unbelebt war folglich nicht das entscheidende Kriterium. Nur elektrisch leitfähig mussten die untersuchten Materialien sein. Denn elektrische Nichtleiter erzeugten in den Versuchsreihen keine entsprechenden Entladungen. Aber das Forscherpaar machte noch eine wichtige Entdeckung. Bei einem frisch abgeschnittenen Blatt war die Oberfläche mit Lichtstrahlen geradezu übersät. Im Laufe der Zeit schwächte sich allerdings das Leuchten immer weiter ab, bis es eines Tages spurlos verschwand. Genau an dieser Stelle sollte Prof. Korotkow rund 40 Jahre später den roten Faden wiederaufnehmen. Korotkow stützte seine Überlegungen einerseits auf die Eigengesetzlichkeit lebender Systeme, die auch Aristoteles schon erkannte. Aristoteles postulierte hierfür das Wirken einer ganz speziellen Kraft, der er den Namen Entelechie gab. Entelechie meint eine dem Organismus innewohnende Kraft, die seine Entwicklung lenkt und nach einem Ziel strebt. Allgemein gesprochen eine Potenz des Lebens, welche die Vollendung als Ziel in sich trägt. So wie beispielsweise der Raupe als lebendem Organismus die Entelechie innewohnt, sich eines Tages zu einem Schmetterling zu entwickeln. Entelechie ist ein philosophischer Begriff, der überall dort vorkommt, wo sich Lehren anfinden, deren Denken davon ausgeht, dass Entwicklungsprozesse an Zielen orientiert sind, also zielgerichtet ablaufen. Eine solche Lehre ist beispielsweise der Vitalismus. Er repräsentiert eine naturphilosophische Richtung, die davon ausgeht, dass das Leben nicht allein durch physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten erklärt werden kann, sondern in allen Lebewesen eine spezielle Lebenskraft steckt, die als geistig-immaterielles Prinzip verstanden werden muss. Also eine geistartige Lebenskraft, die den materiellen Körper belebt. Leben müsste demnach als Vergegenständlichung des Geistes betrachtet werden. Auch wenn Aristoteles kein Vitalist im engeren Sinne war, er hob lediglich die Eigentümlichkeiten lebender Organismen gegenüber der unbelebten Materie hervor, so schuf er doch unbewusst das geistige Fundament sämtlicher teleologischer Denkmuster und damit auch dasjenige des Vitalismus. Ebenso wie dasjenige des Animismus. Dieser geht in seinen Vorstellungen noch ein Stück über den reinen Vitalismus hinaus, indem er von der Abhängigkeit sämtlicher Lebensvorgänge von geistigen Prinzipien ausgeht. Manche Autoren bezeichneten diese Prinzipien als „pneuma“ oder „spiritus“, andere dagegen als „anima“. Vom Animismus zu unterscheiden sind wiederum die sogenannten Lebenskraftlehren. Auch sie postulieren zwar eine Vitalkraft als spezifischen Lebensfaktor, jedoch nicht im Sinne eines spirituellen Prinzips, sondern vielmehr als eine Art feinstoffliche mysteriöse Energie, die sich nicht nur rein mechanisch erklären lässt. Es ist eine Kraft, die mit dem bloßen Auge nicht beobachtet werden kann, wohl aber ihre Auswirkungen. Solche Lebenskraftlehren entstanden in der westlichen Zivilisation im 18. und 19. Jahrhundert und wurden vor allem von zahlreichen Biologen vertreten. Für sie war die Lebenskraft etwas, das sie in den allgemeinen Begriff der Energie kleideten. Manche sprachen in diesem Zusammenhang auch von Elektrizität. So war es denn auch die Elektrizität, die im Roman der britischen Schriftstellerin Mary Shelley (1797–1851), der 1818 erstmals veröffentlicht wurde, Frankensteins Monster wieder zum Leben erweckte. In den östlichen Weisheitslehren dagegen tauchten Gedankengänge, die eine Lebenskraft zur Vorstellung hatten, bereits im vierten Jahrhundert vor Christus auf. Hier findet sich die erste schriftliche Erwähnung des Zeichens Qi, des chinesischen Begriffs für Lebensenergie. Qi ist ein wichtiger Begriff des Daoismus, einer östlichen Philosophie und Weltanschauung, deren Ursprünge ebenfalls im vierten Jahrhundert vor Christus liegen. Ein weiterer zentraler Begriff des Daoismus ist Dao, eine schöpferische Urkraft der Natur. Hier wird erkennbar, dass im alten China die Schöpfung nicht als das Werk eines göttlichen Schöpfers angesehen wurde, sondern als Ausdruck der Natur mit all ihren inneren Gesetzmäßigkeiten. Und das Dao verkörperte darin gleichsam den unerkennbaren und auch unnennbaren Urgrund allen Seins. Dao und Qi waren in dieser philosophischen Anschauung nicht wirklich voneinander zu trennen. War das Dao als das schöpferische Urprinzip der Natur zu verstehen, repräsentierte Qi die universelle Lebenskraft und damit die Grundlage allen Lebens. Das Dao ist in der östlichen Philosophie der Ursprung von allem. Und alles in der Welt besteht aus zwei Polaritäten, Yin und Yang. Sie gehen aus dem vom Dao erzeugten polaren Spannungsfeld der Kräfte hervor. Yin und Yang sind die Urprinzipien der Lebensenergie Qi. Sie sind keine Gegensätze, beschreiben also keinen Dualismus, sondern sind zwei Polaritäten ein und derselben Energie. Beide vernetzen sich sozusagen zu der einen Energie des Lebens, dem Qi. Oder anders ausgedrückt, die Lebenskraft Qi besteht aus zwei komplementären, sich zu einer Einheit ergänzenden Qualitäten, dem Yin und dem Yang. Sie sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Einer Medaille, die Leben heißt. Qi ist die kosmische Lebenskraft und damit die Grundessenz des ganzen Universums. Ohne Qi gibt es kein Leben, denn wo kein Qi ist, herrscht der Tod. Qi ist zwar nicht sichtbar, aber Qi schafft Sichtbares. So bildet die Lebensenergie eine Brücke zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Eine Brücke zwischen dem Dao als höchstem Prinzip und den Dingen in der Welt. Das Konzept vom Dao und dem Qi ist ein sehr ausgefeiltes. Im vierten Jahrhundert vor Christus war es noch ein recht unklarer, grober Entwurf. Es sollte bis zum achten Jahrhundert nach Christus dauern, bis sich aus der einst groben Skizze eine klare Konzeption entwickelt hatte. Eine philosophische Konzeption, die bis heute das geistige Fundament der traditionellen chinesischen Medizin prägt. Denn für die traditionelle chinesische Medizin, abgekürzt TCM, ist Energie die Essenz des Lebens. Sie betrachtet den Menschen als ein energetisches Feld. Er ist, solange er lebt, eine Ansammlung von Qi. Auch unser Planet, die Erde, ist ein energetisches System. So wie das Universum ein gewaltiges Gewebe aus Energien darstellt. Die Lebensenergie, auch Körperenergie oder innere Energie genannt, ist wie der Treibstoff für den Motor. Sie gleicht einem Fluss, der ungehindert durch den Körper fließen muss. Wird die Lebensenergie daran gehindert und blockiert, entstehen Disharmonien und in deren Gefolge die verschiedensten körperlichen wie seelischen Gebrechen. Die TCM unterscheidet hier also nicht zwischen psychischen und physischen Erkrankungen, so wie es die westliche Medizin tut. Das Qi zirkuliert nach den Vorstellungen der TCM durch den Körper auf spezifischen Leitungsbahnen, die Meridiane genannt werden. Sie bilden ein eigenständiges System und verlaufen unabhängig von Nervengeflechten, Lymphbahnen und Blutgefäßen. Insgesamt gibt es im menschlichen Körper zwölf Meridiane. Sie verlaufen von oben nach unten und von unten nach oben. Fließt das Qi auf diesen feinen energetischen Bahnen ungehindert, ist der Mensch in seiner Mitte, sprich gesund. Kann das Qi nicht ungehindert zirkulieren, wird mittels der TCM versucht wieder eine Harmonisierung zu erreichen. Dazu bedient sich die traditionelle chinesische Medizin fünf verschiedener Therapiemethoden. Zu den „fünf Säulen“ der traditionellen chinesischen Medizin gehören:
1. Akupunktur
2. Kräutertherapie
3. Diätetik
4. Massagen (Tuina-Massage)
5. Bewegungsübungen (Qigong und Tai-Chi)
All diese Werkzeuge dienen dem Arzt der TCM dazu, den Fluss der Energie wieder zu harmonisieren und zu regulieren. Denn die Ursache von Krankheit verortet die TCM eindeutig in einem Ungleichgewicht der Lebensenergie Qi. Ein Ungleichgewicht, das über längere Zeiträume in einem oder in mehreren Organen anhält und das der Körper nicht mehr selbstständig auszugleichen vermag, sodass von außen eingegriffen werden muss. Wie man sieht, ist der Begriff der Energie aus der TCM nicht wegzudenken. Stark verkürzt könnte man auch sagen, ohne Energie keine Heilung. Doch an Heilung waren die Menschen im alten China gar nicht so sehr interessiert. Vielmehr waren sie auf Vorbeugung aus. Denn Krankheit oder gar der Tod und mit ihm die Auflösung des Individuums waren im Daoismus, der ja das geistige Fundament der traditionellen chinesischen Medizin darstellt, alles andere als ein erstrebenswerter Zustand. Dao und Qi brachten zwar gemeinsam das Leben hervor, so wie die Gedanken und das Erkennen des Menschen, aber jenseits vom Dao gab es keine Wirklichkeit, keine Hoffnung auf ein Weiterleben. Das änderte sich erst später, als Elemente des Buddhismus wie auch des Hinduismus in das philosophische Gedankengebäude des Daoismus eingefügt wurden. Gesundheit und ein langes Leben, sie waren ursprünglich die primären Ziele der Menschen im alten China, nicht Heilung. Deshalb musste jeder Mensch die Verantwortung für seine Gesundheit selbst übernehmen. Sich um seine Lebensenergie selbst zu kümmern, das gehörte für die Menschen im alten China zum ständigen Vorbeugungsprozess. Von ihren Ärzten wollten sie von daher vor allem eine Frage beantwortet haben. Wie bleibe ich gesund? Welchen Stellenwert die Menschen damals der Gesundheit beigemessen haben, lässt sich aus einem alten chinesischen Sprichwort herauslesen, welches da lautet:
„Überragende Ärzte verhindern Krankheiten. Mittelmäßige Ärzte heilen noch nicht ausgebrochene Krankheiten. Unbedeutende Ärzte behandeln bestehende Krankheiten.“
Eine gute Methode, um die Lebensenergie Qi zu steigern, die geistige Verfassung zu bessern und die Selbstregulierung des Körpers anzuregen, war für die Menschen im Reich der Mitte Qigong. Wörtlich übersetzt bedeutet Qigong „Arbeit mit der Lebensenergie“. In Wirklichkeit ist es aber eher eine Pflege der Lebensenergie. Qigong ist eine Bewegungskunst, die einem dazu verhilft, in einen konstruktiven Dialog mit seiner eigenen Lebensenergie zu treten. So kann die Existenz der Lebenskraft persönlich nachempfunden werden. Das Qi gelangt nach der TCM schwerpunktmäßig auf drei Wegen in den Körper:
1. Durch Atmung
2. Über die Nahrung
3. Mittels Erbschaft von den Eltern
Darüber hinaus nimmt der Mensch das Qi aber auch über alle weiteren Formen von Lebensäußerungen auf. Gemeint sind damit vor allem Körperbewegungen. Deshalb beruht Qigong auf vier Prinzipien:
1. Bewegung
Sie dient der Harmonisierung der Lebensenergie und der Lösung von Blockaden.
2. Atmung
Durch sie wird die überall vorhandene Lebensenergie in den Körper geholt.
3. Haltung
Durch die richtige Haltung wird der Körper zwischen Himmel und Erde ausgerichtet, sodass die Muskeln möglichst wenig arbeiten müssen.
4. Konzentration
Sie geht in den Körper und wird dort fokussiert, weil Energie immer dorthin geht, wo die eigene Aufmerksamkeit ist.
Die Menschen im alten China waren allerdings nicht die einzigen auf der Welt, die ein Konzept von der Lebensenergie entwickelten. Im Grunde lassen sich Vorstellungen von einer universellen, alles durchdringenden Energie, welche den Kosmos erfüllt und alle Lebewesen erhält, in nahezu allen Kulturen nachweisen. So wurde die Lebensenergie im alten Ägypten Ka genannt, in Japan Ki, in Indien Prana und im antiken Judentum Cheim. Teilweise wurde die Lebenskraft als Urenergie auch mit dem Gottesbegriff in Verbindung gebracht. Im Gefolge entstanden so recht unterschiedliche Lebensenergiekonzepte und Heilmethoden, je nachdem, ob der Fokus auf religiöse, philosophische oder biologische Aspekte gerichtet wurde. Trotzdem eint sie alle ein Gedanke, der an eine sich verwirklichende Kraft, die ihre Wirksamkeit entfaltet. Auch der griechische Arzt Galenos (130–194 n. Chr.) glaubte an sie. Für ihn war der menschliche Körper eine Manifestation dieser Lebensenergie in einer ansonsten stofflichen Welt. Obwohl die Lehren des Galenos von Pergamon über einen Zeitraum von 1400 Jahren die Medizin prägten, konnte sich in der westlichen Zivilisation sein Lebensenergiekonzept nicht durchsetzen. Nur von vereinzelten Ärzten wie Paracelsus (1493–1541) und Franz Anton Mesmer (1734–1815) wurde der Gedanke einer Lebenskraftkonzeption aufgegriffen und weitergetragen. Die meisten anderen Naturwissenschaftler, insbesondere die Physiker unter ihnen, konnten dagegen mit dem Begriff der Lebensenergie überhaupt nichts anfangen. Er war eher ein Stein des Anstoßes. Für sie gab es potenzielle Energie, kinetische Energie, chemische Energie, elektrische und magnetische Energie. Aber Lebensenergie, was sollte das sein? Wie sollte man das messen können? Und doch gab es immer wieder Gelehrte, die sich genau dieser Aufgabe widmeten. Einer dieser Pioniere war der deutsche Naturforscher und Philosoph Karl Freiherr von Reichenbach (1789–1869). Seine Suche nach der Lebensenergie begann 1844, als er bezüglich einer mond- und starrsüchtigen Frau von einem Arzt konsultiert wurde. Diese Frau war ganz außergewöhnlich. Sie litt an einer eigentümlichen Nervenreizbarkeit. Helles Licht oder starke Gerüche, nichts davon konnte sie vertragen. Aber da war noch etwas. In völliger Dunkelheit konnte sie scharfe Umrisse erkennen und sogar Farben voneinander unterscheiden. Das brachte Rei