Deckblatt: Die Bilderbuchansicht von Kirchberg vereint, was den Kocher-Jagst-Trail im Monat Mai auszeichnet: Bestellte Felder, blühende Streuobstwiesen und saftiges Grün, wohin man schaut, umrahmen malerische Orte. Frühlingsflair liegt überall in der Luft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

1. Ausgabe 2021

© 2021 Matthias Bargel

Text und Fotos: Matthias Bargel

Umschlaggestaltung: Matthias Bargel

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-75347-402-1

Alle Rechte vorbehalten.

Über den Autor

Matthias Bargel wird 1975 in München geboren. Er wächst im Botanischen Garten auf, wo sein Vater als Reviergärtner arbeitet. Das Studium der Germanistischen Linguistik, Literatur und Völkerkunde schließt er mit dem Magister Artium (M.A.) ab. Als Reporter schreibt er für die Süddeutsche Zeitung und den Münchner Merkur. Als Redakteur und Lektor verfasst er Marketingtexte für Online-Agenturen. Nach einem Aufbaustudium in Computerlinguistik ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Informations- und Sprachverarbeitung (CIS) tätig. Ab 2016 unterstützt er seine Geburtsstadt bei der Bewältigung der ›Flüchtlingswelle‹.

Von Kindesbeinen an ist er mit Vorliebe zu Fuß auf Achse: in Gärten und Parks, durch Wald und Flur. Er wandert an Küsten und Seen entlang, durch Flusstäler, Mittelgebirge oder die Alpen. In Weitwandern live! erzählt er auf inspirierende Art von seiner Rundtour auf dem Kocher-Jagst-Trail. Als Buchtitel erschienen sind von ihm bereits: Verwallrunde live! (2020) und Alpenüberquerung live! (2018).

FÜR MAMA

INHALT

Ein weißer Fleck auf der persönlichen Landkarte

Heilsames Wanderfieber bringt die Digitalgesellschaft auf Trab. Immer mehr smarte Community-Mitglieder wollen entschleunigen – draußen, zu Fuß, in einer angenehmen Umgebung. Couch-Potatos raffen sich dazu auf, ihre Lust an Outdoorpfaden zu entdecken.

Möglichkeiten, sich ausgiebig die Beine zu vertreten, gibt es unzählige. Dank einem europaweiten Netz an Fernwanderwegen lässt sich nahezu jede Region mit Rucksack und Walkingstöcken erkunden. Der Kocher-Jagst-Trail im östlichen Baden-Württemberg ist eine eher selten begangene Route, was mehr an ihrer geringen Bekanntheit als an mangelnder Attraktivität liegt.

Mein Freund Horst, der mich begleitet, und ich hatten die längste Zeit unseres Lebens nichts von diesem Weg gehört. Weder kannten wir seinen Namen, noch wussten wir etwas über die Gegend, durch die er verläuft. Er war uns in jeder Hinsicht vollkommen fremd. Umso größer war unsere Neugier auf diesen Trail, und umso fester nahmen wir uns vor, ihn irgendwann einmal live zu erleben. Eine zufällige Entdeckung ging unserem Wunsch voraus.

Die Idee, eines gut gelaunten Tages einen Landstrich namens Hohenlohe zu durchwandern, wurde an einem sonnigen Maimorgen des Jahres 2015 geboren. In Rothenburg ob der Tauber waren wir damals zu einer mehrtägigen Tour aufgebrochen. Sie war entlang jener zierlichen Wasserlinie ausgerichtet, die dem schmucken Städtchen ihren Beinamen lieh: die Tauber.

Rothenburg und Tauber sind im Namen der einstigen Reichsstadt untrennbar miteinander verbunden. Sie sind zu einer Einheit verschmolzen, die Sprechern in der Regel in einem Atemzug über die Lippen kommt. Dass diese Wortgruppe in einer lange zurückliegenden Zeit entstanden sein muss, zeigt das vordere Bindeglied an, das die beiden Hauptbestandteile miteinander verknüpft. Das veraltete Verhältniswort ob bedeutet ›oberhalb von‹ und war in der Sprachstufe des Mittelhochdeutschen gebräuchlich, die bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts währte. Nur im Schweizerischen konnte sich ob darüber hinaus erhalten. Anderswo wurde es von der Präposition über verdrängt.

Rothenburg ob der Tauber ist heute ein feststehender Name, an dem es nichts zu rütteln gibt. So wenig wie an der Tatsache, dass das Städtchen zu den Top-Sehenswürdigkeiten der Republik zählt. Auf der Sightseeing-Agenda vieler Überseetouristen rangiert es ganz weit oben. Besucher, die schon mal einige Stunden innerhalb seiner Mauern verweilen durften, werden gerne bestätigen, dass Rothenburg ob der Tauber ein außergewöhnliches Kleinod ist. Ein seltenes Relikt aus einer vergangenen Epoche, oder auch eine städtebauliche Oase im Bunde der deutschen, ja europäischen Siedlungsräume.

Der historische Kern vermittelt einen authentischen Eindruck vom Gepräge einer mittelalterlichen Stadt. Dass die verkehrsberuhigte Altstadt in ein abgasarmes Frischluftflair gehüllt ist, dürfte die Beliebtheit dieses Kulturerbes nur noch steigern.

Auf jener Maiwanderung orientierten wir uns weitgehend an den Markierungen des Europäischen Fernwanderweges E8. Seine Linie zieht sich von Irland über Mitteleuropa bis in die Ukraine und führt hierzulande ein Stück weit an der Tauber entlang. Auf diese Weise durchschritten wir so malerische Städtchen wie Weikersheim, die Kurstadt Bad Mergentheim und das verwunschen anmutende Örtchen Gamburg. Am Ende der fünften Etappe langten wir im tauberfränkischen Wertheim am Main an.

Wir hatten erst ein kurzes Wegstück zurückgelegt und befanden uns noch im engen Umkreis Rothenburgs, als wir durch ein Schild auf den Kocher-Jagst-Trail aufmerksam wurden. Weder Horst noch ich hatten uns jemals einem der zwei Flüsse genähert, nach welchen der Rundweg benannt ist. Der Landstrich, den sie durchfließen, war für uns Neuland. Er war ein weißer Fleck auf unserer persönlichen Landkarte, von dessen Struktur und Lage wir keine Vorstellung besaßen. Nur eines war uns klar: dass dieser weiße Fleck jenseits der bayerischen Grenze liegen muss, im wilden Westen Schwabens, irgendwo in Württemberg.

Kocher, Jagst und Bühler formen dort eine Gegend, die gemeinhin als das Hohenloher Land bezeichnet wird. Die Täler stellen markante Konturen in einer großflächigen Zeichnung dar. Durch kräftige Linien, die da etwas dicker, dort etwas schmäler ausfallen, gewinnt die Landschaft an Profil. Falten und Furchen schenken ihrem Gesicht einen Charakter, der unsere Sinne und Sohlen reizt. Unser karges Wissen über ihn verstanden wir als Aufforderung, dass wir ihn ›eigenfüßig‹ ergründen sollen. Im Mai 2016, ein Jahr nachdem wir von seiner Existenz erfuhren, ist es so weit: Wir nehmen den vielversprechenden Trail in Angriff und tasten sein Terrain Tritt für Tritt ab.

Als geografischer Begriff meint Hohenloher Land ein Geländerelief mit mehr oder weniger scharfen Umrissen. Es grenzt sich von geologisch erklärbaren Nachbarzonen ab und fügt sich organisch mit ihnen zusammen: mit dem Taubergrund im Norden, dem fränkischen Bauland gen Nordwesten und dem Tiefland am Neckar westwärts; im Süden ferner mit dem Schwäbischen Wald sowie in Ostrichtung dem Vorland der Frankenhöhe.

Daneben spielen historisch-politische Faktoren in den Versuch hinein, das Hohenloher Land räumlich zu verorten und dadurch fassbar zu machen. Wie gut ein solcher Versuch gelingt und wie vage er dabei bleibt, ist für unsere Unternehmung unerheblich.

Was für naturverbundene Wandernde, die weite Wege lieben, sehr viel mehr zählt: Auf dem einhundertdreiundneunzig Kilometer langen Kocher-Jagst-Steig lässt sich eine an Details reiche Gegend entspannt und weitgehend unbehelligt von Massenaufläufen erfahren.

Es lohnt sich, diesen schönen und vergleichsweise kleinlauten Fernwanderweg zu erforschen, der sich vor prominenter Konkurrenz nicht zu verstecken braucht.

Ellwangen/ Jagst dunkelviolettblau

Die Bühler, der Kocher, die Jagst – drei Flüsse, drei Unbekannte. Das waren und blieben sie so lange, bis ich mich gemeinsam mit Horst dazu aufmachte, sie aus nächster Nähe kennenzulernen. Bis ich mir selbst ein Bild davon machen konnte, wie sie sich im Einklang mit ihrer Umwelt entfalten.

Das Herz dieses Entwicklungsraums bilden die Haller Ebene im Norden, die Ellwanger Berge im Südosten und die Limpurger Berge im Südwesten. Durchflossen und gespeist wird es von jenen drei Leben spendenden Hauptadern.

Bevor wir unsere Tour planten, war mir Bühler als Flussname noch nie zu Ohren gekommen. In meinem Gedächtnis existierte von ihm nicht die dünnste Spur. Vom Kocher hatte ich immerhin beiläufig gehört. Bis zum Mai 2016 war er jedoch ohne Belang für mich, geschweige denn hatte ich mehrere Tage meiner Lebensschnur an seine Ufer gelegt.

Anders verhält es sich mit der Jagst. Uns beide verbindet meinerseits eine jahrzehntealte Erinnerung, obwohl ich kein einziges Mal leibhaftig mit ihr in Berührung gekommen war. Nie spürte ich einen Tropfen ihres Wassers auf meiner Haut, nie strömte es zwischen meinen Fingern hindurch. Als Landschaftselement war mir die Jagst im wörtlichen Sinn wildfremd.

Vertraut ist mir dafür ihr Name. Seine Zeichenkette und Lautfolge haben sich mir in meiner Kindheit eingeprägt, als ich mit Hingabe Briefmarken sammelte.

Auch Ellwangen ist mir von daher ein Begriff. Die Stadt an der Jagst stiftete vor einem halben Jahrhundert ein Motiv für ein Postwertzeichen, wie Briefmarken in der Fachsprache des Postwesens heißen. Das Miniaturgemälde selbst habe ich nicht mehr vor Augen. Die Wortkombination Ellwangen/ Jagst hingegen blieb, wie es scheint, unauslöschlich haften. Ebenso wie der Nennwert und der Schriftzug ›Deutsche Bundespost‹ ist sie auf dem gezähnten Papierbildchen aufgedruckt.

Philatelisten, die ihre Sammelleidenschaft mit wissenschaftlicher Akribie ausüben und sich entsprechend gut auskennen, können Angaben wie diese genügen, um eine Marke eindeutig zu bestimmen. Manchmal benötigen sie zur Unterscheidung die konkrete Nummer, mit der jede Briefmarke in einschlägigen Katalogen verzeichnet ist.

Zu welcher Serie besagte Ellwangen/ Jagst gehört, wann diese Marke erschienen ist und welchen Nennwert sie hat, darüber kann ich nach Dekaden der Entfremdung von meinem Jugendhobby bloß spekulieren. Ich vermute, dass sie Teil einer Dauermarkenserie ist: Burgen und Schlösser vielleicht, Bedeutende Bauwerke, Sehenswürdigkeiten oder etwas in der Art.

Um das Geheimnis zu lüften, hole ich daheim einen alten Michel-Katalog aus dem Schrank, die Bibel der Philatelisten. Nach ein wenig Blättern finde ich heraus, dass es Ellwangen mit seinem Renaissanceschloss gleich zwei Mal auf die Schauseite von Briefmarken geschafft hat: 1964 zierte das olivbraun dargestellte Haupttor den 50-Pfennig-Wert der Freimarkenserie Deutsche Bauwerke aus zwölf Jahrhunderten. Als die gleiche Serie ein paar Jahre später in einem anderen Druckverfahren und erweitertem Umfang erneut ausgegeben wurde, wählte man für die 1967 erschienene 50er-Marke den Farbton Dunkelviolettblau.

Doch zurück in die Gegenwart. Vom 3. bis 8. Mai 2016 gehen wir den ersten Teil des Kocher-Jagst-Trails ab. In einem Schönwetterfenster wandern wir von Schwäbisch Hall über Langenburg, Heimhausen, Blaufelden, Kirchberg und Crailsheim bis nach Wildenstein. Auf unserer zweiten Tour zwischen dem 21. und 26. Mai 2017 marschieren wir von Dinkelsbühl über Wildenstein, Ellwangen, Rosenberg, Willa, Bühlerzell und Bühlertann nach Schwäbisch Hall.

Solange wir auf dem Kochersteig, von Schwäbisch Hall nach Blaufelden, unterwegs sind, zeigt die Markierung eine von links hinten nach rechts vorne geschwungene und sich verdickende, rote Weglinie auf mittelblauem Grund. Am Jagststeig zwischen Blaufelden und Ellwangen wechselt das Farbpaar in Gelb auf Orange über. Den Bühlersteig, der die Runde nach Schwäbisch Hall vervollständigt, kennzeichnet eine grüne Linie auf orangebrauner Fläche.

Die Bühler, der Kocher und die Jagst stehen für ein Trio aufgeweckter Flüsschen. Ihre tief eingeschnittenen Täler bereiten Weitwanderern lebendige Kulissen für ein vielfältiges Gehvergnügen.

WEGSKIZZE

SCHRITT FÜR SCHRITT DURCHS HOHENLOHER LAND

Von Baummusikanten und mythischen Pflanzen

Unsere Wanderung beginnen wir in Schwäbisch Hall. Über Nürnberg, Ansbach und Crailsheim fahren wir an einem Dienstag im Mai in die Markenstadt der Bausparer.

Es ist eher ein nettes Städtchen, das der Kocher fließend zertrennt (Abb. 1). Die kleinere Hälfte ist entlang des Westufers angesiedelt. Der Kern der Altstadt dehnt sich östlich jener vermeintlich blauen Linie aus, mit dem Marktplatz, dem Rathaus und der Hauptkirche Sankt Michael. Eine grandiose Freitreppe führt über dreiundfünfzig Stufen zum Kirchenportal hinauf.

Schwäbisch Hall lädt auf gemütliche Art zum Spazieren ein. Vor so manchem Kulturgut bleiben wir stehen, um es zu betrachten. Das alte Zentrum birgt sowohl Originale aus Stein als auch Unikate aus Holz. In engen Gassen begegnen uns Exemplare von der ersten Sorte, Haus an Haus im Fachwerkstil. Die Baumeister haben es hier besonders gut gemeint und mit rotem und braunem Gebälk nicht gespart, so dicht drängen sich die Elemente an den Fassaden.

Mit knorrigen, teils ausgefallenen Bäumen wartet der Uferpark auf. Die ehemaligen Ackerflächen vor den Toren Halls verwandelten sich ab dem Jahr 1828 nach und nach in einen üppigen Park. Er umgibt das seinerzeit errichtete Schützenhaus und strotzt nur so vor Chlorophyll. Gehölze und Sträucher schufen im Zuge ihres zähen Wachstums ein wertvolles Idyll. Den Haller Hauptumschlagplatz für CO2 wissen Bewohner und Gäste der Stadt gleichermaßen zu schätzen.

Auch wir sind von ihm angetan. Auf einem guten Kilometer gehen wir an Vertretern verschiedener Regionen vorbei und fühlen uns angesichts ihres wirkmächtigen Fluidums in weit entfernte Erdzonen versetzt. Faszinierende Gewächse geben uns Rätsel auf. So vertraut scheinen uns manche Blüten und Blätter, doch die Ähnlichkeit mancher Kelche ist verblüffend. Zur Täuschung fähig können sie Laienaugen wie die unsrigen leicht auf eine falsche Fährte locken.

Die Fülle des Arboretums beinhaltet Exoten vom Ginkgo- bis zum Maulbeerbaum, ehrt Kontinentheiligtümer wie den in Afrika Baobab