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Rut Plouda

MOOSGRÜN

Kurzprosa

Aus dem Rätoromanischen von Claire Hauser Pult

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Und alles wie immer
ist immer ein bisschen anders.

Flüsse

Gelb

Blau

Rot

Grün

Bunt

Sonntage

Begegnungen I–V

Schreiben

Boléro

Spiele

Wasser

Flügel

Mohnblumen

Wörter

Rosen

Die Kappe

Regen

Fuss

Punkt

Bank

Knopf

Biografie

Metropolen

Der Berg

Glut

Fast ein Lied einer Sirene

Seen

Liebe

Grau

Kälte

Weihnachtskonstellationen I–III

Schnee

Fremde Welten

Erde

S’isch Rorschach

Kommunikationsmittel

Nebel

Gesichter

Rotkäppchen I

Rotkäppchen II

Rotkäppchen III

Der Elefant

Läden

Häuser

I have forgotten my umbrella

Über die Grenze

Niklaus von Flüe

Europa

E wie Erinnerung

K wie Klebstreifen

P wie Polenta

T wie Teufel

Die Schwelle

Weiss

Über Hühner und Scham

Ein Versuch

Wolken

Nachwort zur deutschen Ausgabe

Flüsse

Ich sitze vor meinem Laptop, schaue aus dem Fenster und mache mir Gedanken für meinen Romanischkurs; ich suche Klänge, Rhythmen, die unsere Sprache spüren lassen … Ich sehe draussen den Zaun, den Ahorn mit seinen eingerollten Blättern und den bräunlichen Samen, die Fassade des Nachbarhauses, den Grill, den Holzschopf … und dann ein Schulzimmer mit Lehrer und Schülern, alles ein bisschen verschwommen, und der Lehrer nennt zwei wichtige Flüsse, weit weg von hier: Jangtsekiang, der blaue Fluss, und Hwangho, der gelbe Fluss …

Ich bin berührt, begeistert … Der Jangtsekiang und der Hwangho … stehen jetzt auf der Wandtafel, mit Buchstaben, die ebenso fremd scheinen, fliessen neben und vor mir, gross und breit, durch eigenartige Landschaften – und draussen steht wieder der Ahorn und vor mir mein Laptop und ich schreibe:

Jangtsekiang, Hwangho, Okawango, Mississippi,
Newa, Don, En, Tasnan, Vallatscha, Clemgia, Susasca,
Rabiusa, Chamuera, Muranzina …

und bald sind die Flüsse Wörter und bald sind sie fliessende Gewässer …

Gelb

Gelb, sagt das Kind und malt eine Sonne auf das Blatt. Eine grosse Sonne, die das ganze Blatt wärmt und das Zimmer, die Strasse draussen mit dem Brunnen. Aus der Röhre sprudelt das Wasser und macht, dass die Sonne zittrig lächelt.

Und das Korn, das die gleiche Farbe hat wie deine Haare, wird mich an dich erinnern, sagt der Fuchs zum kleinen Prinzen, und der Gesang des Windes im Korn wird mich glücklich machen.

Und jenes Blumengesteck mit Schafgarben, Gerbera und gelben Chrysanthemen auf dem Sarg, der still aus der Stube in den Wintertag hinausgetragen wird.

Und Löwenzahn, sagte sie und schloss die Augen. Überall Löwenzahn: am Strassenrand, auf den Böschungen, im Garten, überall. Und sie lächelte.

Und Mary Long: Die Packung war gelb und kostete einen Franken zwanzig. Sie hatte kein Geld. Aber für Mary Long schon.

Und der Briefkasten dort bei der Hausecke. Sie kommen, werfen ihre Post hinein und gehen wieder ihres Weges. Mit schnellen, entschlossenen Schritten, mit langsamen Schritten, schleppend, mit zögernden Schritten. Klick, macht es, wenn sein Deckel zurückfällt. Plumps, wenn die Post ins Leere fällt. Dann bleibt er dort, der Briefkasten, allein mit all den Sätzen und Zahlen. Und vielleicht mit einem Wort, hell wie die Sonne.

Blau

Blau, sagt das Kind und zeichnet einen Himmel auf das Blatt. Einen Himmel, der sich ausbreitet über das Tal und die Berge und wieder über Täler und Berge, immer weiter.

Der Himmel, Mama, schau, er ist in den See gefallen! Und der See hält ihn fest, bis es Abend wird, und lässt ihn dann langsam versinken.

Nur das Blau der Enziane hatte er mitgenommen, jenes Blau oben im bräunlichen Grün eines Hügels, zwischen Steinen oder im dürren Gras, das tiefe Blau, das ihn innehalten liess und schauen und riechen.

Und in ihrer zitternden Hand die Scherbe des Kruges, der Brücke zwischen ihrem Alltag und ihrer Traumwelt in all den Jahren; Pienza, Toscana, ein Stück Lehm eines Kruges mit blauen Ornamenten, jetzt zerbrochen, lächerlich geworden von einem Augenblick zum anderen.

Und Bluejeans! Eine Invasion von Uniformen für Leute ohne Uniform, Bluejeans für pralle Hintern und flache Hintern, immer praktisch und nie umständlich.

Und blaue Fensterläden, die Zimmer verbergen mit wandgrossen Spiegeln mit Goldrahmen, mit Samtvorhängen, die weich auf das Parkett fallen, mit Bildern von Damen in Seidenkleidern, und die Zimmer werden immer grösser, die Damen immer edler und die Fensterläden immer diskreter.

Und ganz plötzlich diese Angst, fliegen zu können, einfach die Flügel ausbreiten zu müssen und hinauszufliegen ins Blau, ohne Boden unter den Füssen.

Rot

Rot, sagt das Kind und zeichnet ein Haus mit einem Kamin auf das Blatt. Und der Kamin lässt den Rauch spazieren, immer weiter hinauf bis zur Sonne.

Und am Rand der Weide das Blut des Schafes, das auf den Stein rinnt und vom Stein auf den Boden, nur ganz langsam, frisches Blut unter einer grauen Sonne.

Und die roten, weichen Lippen hatten ein Wort geformt, hatten etwas gezittert und waren dann nur so weit offengeblieben, dass man die weissen Zähne nicht sehen konnte. Und für ihn ist das Wort Leidenschaft seither ein dunkelrotes Wort, das er gern berühren und ertasten möchte.

Und da und dort erscheint es zwischen den Bäumen, kleine rote Hüpfer, das Käppchen des Mädchens auf dem Weg zum Haus seiner Grossmutter. Man muss jede schöne Landschaft achten und darf sie nicht stören, hatte der Lehrer gesagt und später rote Spuren im frischen Schnee des Aufsatzes hinterlassen.

Und sie öffnet das Fenster, nimmt zwei rote Socken von der Leine, legt sie auf die Brüstung und streicht mit der Hand über die warme Wolle. Sie steckt sie ineinander und in die Tasche.

Und schon seit Langem keine verblühte Rose mehr in einer Kristallvase – aber vielleicht Mohnblumen neben deinem Namen, bevor der Wind kommt …

Grün

Grün, sagt das Kind und malt eine grosse Wiese auf das Blatt. Ihr frisches Gras riecht nach Sommer, nach Sonnencrème und ein bisschen nach Staub.

Und jetzt grün: Die Menge setzt sich in Bewegung. Sie überquert die Strasse auf den gelben Streifen, hinüber und herüber; Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Kinderwagen, dann bewegt sich das Männchen, kommt und geht und kommt und geht, die Autofahrer warten, schauen auf die Uhr und aus dem Fenster, den Fuss bereit.

Und die Kinder, die ihr Spiel unterbrechen müssen wegen des Bärenklaus drüben am Hang, immer sind es die Kinder, die den Karren nehmen und ihn füllen müssen mit diesen breiten Blättern, und die Kaninchen in ihren Käfigen, die sie mit schnellen und entschlossenen Bewegungen anknabbern.

Und Militär, aufrecht, auf dem Bauch, auf dem Rücken, fünfhundert Soldaten, hundert Soldaten, ein Soldat, der mutterseelenallein auf dem Platz hin und her marschiert.

Und unten das Wasser des Inns und das Kind, das über die gedeckte Holzbrücke rennt und bei einem der Gucklöcher anhält. Die Brücke setzt sich langsam in Bewegung, dann immer schneller und dann fliesst auch sie mit dem Wasser des Inns hin zur grossen Flussschlaufe, und hinter der Schlaufe, dort ist das Meer. Jemand ruft, das Kind dreht sich um, die Brücke bleibt stehen und kehrt sofort an ihren Platz zurück.

Nur der Inn fliesst weiter.

Bunt

Das Kind nimmt Rot und Grün und Gelb und Blau und Violett und alle Farben und malt einen Vogel auf das Blatt. Und bevor es mit seiner Zeichnung ganz fertig ist, breitet der Vogel seine Flügel aus und fliegt durch den Himmel, über die Wiese und das Haus, hinauf zur Sonne. Und singt und pfeift, bis ein anderer Vogel antwortet, und sie fliegen zusammen fort.

Und sie vor dem Spiegel mit dem bunten Hut in der Hand, ein unsicheres Lächeln im Gesicht. Soll sie oder soll sie nicht – so viele Farben auf einmal. Was sie wohl sagen werden! Direkt aus Paris, hatte die Verkäuferin gesagt, aber das war letzthin in der Modeboutique …

Und es war nicht auf einer Wiese mit Vergissmeinnicht, Margeriten, Nelken und Klee, wo sie ihren ersten Kuss gegeben hatte, einen wie jener im Film von Moses, damals mit der Schule, als es im Kino ganz dunkel geworden war, beim Kuss. Die älteren Schüler hatten etwas von Zungenkuss geflüstert und die kleineren Mädchen hatten wääh gesagt. Che gruusig!

Und alles glänzt und tropft noch, während sich die fast durchsichtigen Farben in einem Bogen von einer Talseite zur anderen spannen, bleicher werden und verschwinden.

Sonntage

Und die Sonntage mit dem Geruch von Braten und Kartoffelstock, mit den Strümpfen aus Schafwolle, die in die Haut stachen und die mich jedes Mal schaudern machten, wenn ich mich in der Kirche bewegen musste, auf und nieder, auf die Knie, aufstehen, absitzen, weshalb nur musste man jeden Sonntag die Strümpfe wechseln, und sicher hätte der Herrgott nichts dagegen gehabt, wenn man in den Strümpfen gekommen wäre, die man schon die ganze Woche getragen hatte, sogar das Jesuskind lächelte ein bisschen auf dem Arm seiner Mutter und war gleicher Meinung, aber meine Mutter liess sich nicht überzeugen, und am Sonntag darauf verbrachte ich wieder eine halbe Stunde hinter dem Ofen, in Tränen aufgelöst und mit frischen Strümpfen in der Hand und Mama, die schon ein paarmal zum Frühstück gerufen hatte, mit einer immer zornigeren Stimme, und alles half nichts, nein, man musste sie nehmen und anziehen, diese ekelhaften Strümpfe, man musste noch ein paarmal weinen bis zur Küche, und man konnte fast nichts essen, weil die Gedanken unter den Tisch flohen zu den zwei mageren Beinen, fast steif von der Qual, und erst später, wenn der Pater sein Gloooria in excelsis Deeeo in die feierliche Stille hineinsang und der Männerchor von oben antwortete Et in pax hominibus bonae voluntatis und seinen Gesang hinunterschmetterte, dann lösten sich die Gedanken für einen Augenblick von den gequälten Beinen, dann wurde es ganz hell in der Kirche, die Flammen der Kerzen wurden grösser, die Blumen lachten mich an, um mich herum glänzte das Gold und ich war die Königstochter inmitten dieser Pracht, und der König stand auf der Empore mit dem Taktstock in der Hand und alle Männer dort oben gehorchten ihm, sogar jene mit den tiefen Stimmen wie die dunklen, vibrierenden Orgeltöne, und je mehr er seinen Taktstock hin und her bewegte, desto lauter und besser sangen sie die Messe, die er auswendig konnte, die er tagelang studiert und gesummt hatte, so fest daran gedacht hatte, dass er, sogar wenn er von der Schule nach Hause ging, nicht einmal merkte, dass seine Tochter neben ihm so gern seine Hand genommen und ihm den Kopf mehr als vollgeschwatzt hätte, vielleicht nur mit etwas Erfundenem, das ihn gefreut hätte und weil es ihn gefreut hätte, hätte auch sie geglaubt, es sei wirklich wahr, aber er war ganz in seiner Messe drinnen und sie war draussen, und so ist es manchmal mit den Königen und ihren Töchtern …

Begegnungen

I

Mama lacht und streicht mit der Hand über ihre schön gekämmten Haare. Sie sagt: «Heute haben wir Besuch», und ihre saubere Schürze riecht frisch gebügelt. Auf dem Tisch steht der Imbiss bereit. Mama hat die Tassen und Teller genommen, die sonst im Stubenbuffet stehen. Dann hat sie Brot, Käse, hartgekochte Eier, Rohschinken, Butter und Birnbrot auf den Tisch gestellt.