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Georges-Arthur Goldschmidt

Der versperrte Weg

Roman des Bruders

 

 

 

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Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2021

www.wallstein-verlag.de

 

Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Wallstein Verlag

 

ISBN (Print) 978-3-8353-5061-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4686-4

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4687-1

Inhalt

Cover

Der versperrte Weg. Roman des Bruders

Impressum

 

 

 

Für Herta Müller

 

 

 

Als Erich Goldschmidt 1924 geboren wurde, war Reinbek in Holstein noch ein kleines Dorf und zugleich ein Ort, wo sich immer mehr Beamte und Angestellte niederließen, die in Hamburg arbeiteten, wie eben Erichs Vater, der damals schon Oberlandesgerichtsrat war. Mehrmals in der Woche fuhr er in die Stadt und schrieb seine Urteile im Zug. Er war im Gericht bekannt wegen seiner juristischen Kompetenz und wegen der Tabakkrümel, die sich überall zwischen den Seiten seiner Akten befanden. Seinem Alter nach hätte er schon der Großvater seines Sohnes sein können, denn er war bereits einundfünfzig und seine Frau über einundvierzig. Nach dem ersten Kind hatte sie mehrere Fehlgeburten gehabt.

Erich hatte eine größere Schwester, die als Abiturientin mit achtzehn Jahren eine der ersten Studentinnen der Hamburger Universität gewesen sein soll. Bis ins Alter von vier Jahren genoss er die ungeteilte Aufmerksamkeit und das Entzücken seiner, ob der »späten Geburt«, überglücklichen Eltern. Alle Familienangehörigen wurden immer zum Bestaunen des kleinen Wunderkindes eingeladen. Erich hatte eine Kinderfrau, die er anscheinend nur duldete; er verursachte keine Probleme, soll aber immer auf Distanz zu ihr geblieben sein.

Irgendwann, nach einer für ihn vielleicht nicht sehr langen Zeit, blieb seine Mutter öfter im Bett; er durfte etwas geahnt haben. Als dann auf einmal durch das ganze Haus gerannt wurde, das Telefon laut klingelte und er allein gelassen wurde und nur einmal die Schwester vorbeihuschte, um nach ihm zu sehen, verstand er sofort, dass es mit seinem Reich zu Ende war. Am 2. Mai 1928 war sein kleiner Bruder Jürgen-Arthur geboren. Nach und nach wurde er seiner Räumlichkeit beraubt, wo sonst nichts anderes als die gewöhnliche Umgebung war. Im Kinderzimmer schienen die Farben anders, zwischen seinem Bettchen und der Wand war das Licht nicht mehr dasselbe. Alles hatte einen kaum merkbaren Ruck bekommen. Die Stimmen der Eltern klangen anders, oft besorgt oder angespannt. Sie waren nicht mehr ganz für ihn da. Er hörte immer öfter den Vornamen des kleinen Bruders und immer seltener seinen eigenen. Er hatte nun nicht mehr die Welt für sich alleine, alles, was sich ihm zum Greifen, zum Rollen, zum Schieben, zum Ziehen anbot, war nun in Gefahr, plötzlich von dem Schreibündel unterbrochen zu werden, denn es war laut, schrill, es brüllte, keifte, heulte ununterbrochen. Bisher war alles glatt, gleichmäßig, so wie erwartet. Vor ihm breitete sich der ganze Weg zum Gehen oder Laufen aus; jetzt, wenn ein Erwachsener ihn nicht an der Hand hielt, war ihm der Weg versperrt.

Er war nun groß genug, fast fünf Jahre alt, um zu wissen, wie sich der Freiraum vor ihm ausbreitete. Aber auf einmal war diese sicher gewordene Strecke von diesem Etwas durchquert und unübersichtlich gemacht worden. Die Welt war für ihn nun umgekippt, alles war bedroht vom Zugreifen oder Dazwischenfahren dieses anderen, der da unerwartet auftauchte. Zuerst hatte der kleine Bruder noch im Zimmer mit den Eltern geschlafen, aber nach einigen Monaten hatte man sein Bett zu ihm ins Kinderzimmer gestellt.

 

Eines Tages essen die Eltern ausnahmsweise gemeinsam zu Mittag im großen zweifenstrigen, sich nach Norden öffnenden Biedermeier-Esszimmer. Eine seltene Stille herrscht im Haus, von den offenen Fenstern kommt das Sirren der Birkenzweige im Wind. Plötzlich, von einer Ahnung getrieben, springt der Vater auf und rennt die Treppe hinauf, der Junge hatte sich aus dem Gitterbett herausgearbeitet und stand mit einer Stricknadel und schon mit gehobenem Arm ganz nah an der Wiege des Babys. Er wollte ihm die Augen ausstechen. Das sollte dann jahrelang zum Gesprächsstoff der Familie werden, und kaum konnte der kleine Bruder sprechen, hörte er schon davon reden; bei jedem Disput wurde der Stechversuch herangezogen, beide Eltern warfen es einander bei jeder Gelegenheit vor und beide versöhnten sich, indem die Kinderfrau das Feld räumen musste.

Aus dem Ganzen entstand eine Nervosität mit Türenschlagen und Gejammer, das die Kindheit der beiden Brüder prägte und das jeder zu seinen Gunsten zu wenden versuchte. Die entlassene Kinderfrau wurde von Nana ersetzt, die Verlobte des Hausmeisters von gegenüber. Sie war eine üppige, beruhigende Frau aus einer Hamburger Hafenarbeiterfamilie. Sie wurde bald unentbehrlich. Es war, als führe sie den kleinen Erich in seinen Umraum zurück. Aber alles, was irgendwer unternahm, wurde vom plötzlichen Hereinplatzen der Mutter abgeschnitten. Sobald Stille im Kinderzimmer herrschte, stürzte sie herein und vermeinte schon die Stricknadel zu sehen. Sie sorgte sich umso mehr um Erich, sie hatte seine Gedanken erraten und wusste alles über ihn, sie hatte sich in ihn hineinverlebt. Sie nahm ihn in den großen Garten mit und zeigte ihm alle Blumen am Rasenrand und erklärte ihm die Schalenblumen und die Glockenblumen. Im Hintergarten erklärte sie ihm die verschiedenen Gemüse und Kräuter.

Überall um ihn herum war alles besetzt, wo er sich auch hindrehte, ließ man kahle Wände herunter. Er wollte alles mit beiden Händen von sich wegdrücken, aber sofort hätte sich die Mutter geängstigt und aufgeregt, es war immer jemand bei ihm, Nana oder die große Schwester. Wie er in sich stand, war er sicher, die Gegenstände, die Landschaft, das Rasenrondell mit den metallenen Gartenstühlen mit den runden Löchern im Sitz, die Buchen im Garten, das Gitter, alles, was er sah, war verlässlich. Weil er darauf vertrauen konnte, ging er besonders sorgfältig mit den Dingen um. Seine Spielsachen blieben stets piekfein, wie neu; jede noch so kleine Schramme, die dann vom kleinen Bruder kam, stürzte ihn in Verzweiflung. Jedes Spielzeug war für ihn die ganze Welt. Alles stürzte ein, es tat ihm körperlich weh und beklemmte ihm die Brust. Jetzt beim Spielen gab es die Angst, der Kleine könne alles durcheinanderbringen.

Der Bruder machte nur Unordnung, beim Eisenbahnspielen schmiss er die Wagen um, er verdarb alles, und wenn Erich, außer sich vor Verzweiflung, auf ihn einschlug, heulte der kleine Bruder derartig, dass die Mutter herbeieilte, den Kleinen liebkoste und den Größeren rügte, der sich gegen die Heimtücke des Kleinen, der wie kein anderer Opfer zu spielen wusste, nicht wehren konnte. Jürgen-Arthur war schlau genug, alles zu seinen Gunsten zu wenden, er war verlogen und heimtückisch. Sehr rasch hatte er gelernt, wie man seine eigenen Schwächen auf den Bruder schieben kann. Seitdem die Eltern in der Sorge lebten, konnte Erich immer weniger auf ihren Schutz zählen, so schloss er sich in sich selber ein und machte alles, wie man es von ihm erwartete: bloß nicht auffallen – jeder sollte sofort merken, dass man ihm vertrauen konnte. Glatt und unerreichbar brachte er sich selber in Sicherheit. Alles an ihm war sauber und gediegen, er hatte nie Flecken an seiner Kleidung. Keiner sollte ihn schelten oder ihm Vorwürfe machen. Er war tadellos in jeder Beziehung, ein Kind, von dem alle Eltern träumen konnten, in dem aber eine ungeheure Gewalt gärte: Der Arm war zum Schlag bereit.

Er brauchte kaum Mühe, alles in Ordnung zu haben, er brauchte Regelmäßigkeit. Übersehbare, einheitliche Flächen gaben ihm Sicherheit. Schon als kleiner Junge mochte er das Abtragen nach dem Essen nicht oder das Umstellen eines Stuhls im Zimmer, alles musste bleiben wie es war. Er bekleckerte sich niemals beim Essen. Alles war Enttäuschung für ihn und er zog sich in sich selber zurück.

Er war ein sehr guter Schüler, der Lehrer der Volksschule gratulierte dem Vater jedes Mal, wenn er ihm auf der Straße begegnete. Er hieß Lindemann und wurde dann auch der erste Lehrer des Bruders. 1936 war er der NSDAP beigetreten wegen seiner sechs Kinder.

 

Seit Oktober 1934 wussten die beiden Knaben, dass der Vater nicht mehr jeden Morgen zum Bahnhof fuhr, sie hatten ihn den ganzen Tag für sich allein. Erich hatte sofort verstanden, dass da etwas nicht stimmte.

Nun verbrachte der Vater die meiste Zeit im »Herrenzimmer«, wo er seine Staffelei aufgebaut hatte. Er war ein passionierter Sonntagsmaler, der im nahen Wald schöne Landschaftsbilder malte, er ging oft hinaus, um die Natur so zu erfassen wie sie eben war. Der Vater war vom Dienst suspendiert worden und Erich hatte sich geschämt. Vielleicht war doch etwas gewesen. Der Vater hatte vermieden, den Grund seiner Entlassung irgendwie zu erklären. Von der »Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums« konnte der Junge nichts wissen. Von Nicht-Ariern hatte er nie gehört, von Juden schon, im Evangelium, bei Pastor Fries in der Sonntagsschule, und er hatte schon ab und zu auf dem Schulhof von Juden gehört. Er war noch vom selben Pastor konfirmiert worden, der kleine Bruder aber durfte nicht mehr zum Kindergottesdienst, der neue Pastor hatte zu große Angst vor den Nazis gehabt und einige hatten ihn angeblickt, ohne dass er verstand, weshalb. Vielleicht waren sie neidisch auf ihn, weil er zu Ostern aufs Gymnasium, die Sachsenwaldschule sollte, wo der große Bruder schon war. Jedoch war es ihm nach und nach gekommen: ob er etwas mit Juden zu tun hätte?

Zu Hause war die Mutter, bei der nie etwas klappte, auch kein Anhaltspunkt. Rechnete man mit ihr, war sie plötzlich verschwunden, sich ihr anzuvertrauen war immer nur im falschen Augenblick möglich. Er wusste nie, wie es mit ihr in der nächsten Viertelstunde sein würde. Sie spielte gerade mit ihm Schwarzer Peter, sprang auf einmal auf und ging ans Klavier und spielte etwas von diesem Schumann, von dem er die Nase voll hatte, oder sie bereitete sich auf einen Ausflug mit ihm vor, kochte Eier hart, packte den Rucksack und er freute sich so – und dann wurde wieder nichts daraus. Sie hatte auf einmal furchtbare Kopfschmerzen oder musste im letzten Augenblick noch etwas Unentbehrliches machen. Jeden Tag eine kleine unerwartete Enttäuschung, etwa ein ihretwegen ausgefallener Spaziergang, festigte die Entfernung, die seit dem Erscheinen des kleinen Bruders entstanden war.

Um keine bitteren Tränen zu weinen, hatte er in sich das Aufsteigen von Kummer abgeschaltet. Sich bloß nicht innerlich zerreißen lassen: Wenn er sich zur Mutter stürzte, dass sie ihn liebkose während sie gerade dem Kleinen zu essen gab oder ihn anzog, stieß sie ihn fast von sich, dann fiel ihm eine eiserne Klemme um die Brust und er konnte kaum noch atmen. Seitdem warf er sich beim Einschlafen von einer Seite zur anderen; der Hausarzt sprach von Jaktation, der kleine Jürgen-Arthur, damals schon sieben, fühlte, wie sich der Bruder frei machen wollte, wie er versuchte, auszubrechen.

Im Bilder-Brockhaus fand er Bilder über deutsche Fabrikate, die besten der Welt: Fahrzeuge, Werkzeuge wurden da mit deutlichem und scharfem Umriss dargestellt, es gab auch Tafeln mit allem Zubehör für Bahnhof, Schmiede, Luftfahrt und sogar eines für Folter, worauf welche hingen oder gehängt wurden oder ausgepeitscht und mit Zangen gekniffen; man sah es, sie waren nackt, das schaute er sich immer wieder an mit ganz schlechtem Gewissen. Ähnliches fand er auch bei Karl May, er war immer der weiße Reisende, der die Sklaven befreite. Mit dem kleinen Bruder spielte er Sklavenhändler und Jürgen-Arthur war sehr gerne Sklave!

Erich wurde jetzt öfters nicht mehr zu Fahrten mitgenommen, wenn man unter Wimpel und wehender Fahne gemeinsam aufbrach: »Du kommst nicht mit«, wurde ihm zugerufen; bis plötzlich einer »Du Judenjunge« rief, und dann kam es bald auch zu »Judensau« oder »Scheißjidd«, »eine Schande, dass es dich gibt«. Es war unmöglich, dass es ihm galt, ihm, dem deutschen Jungen, der wie jeder überzeugt war, dass ein Deutscher alles besser kann als alle anderen Völker, dass die Franzosen z. B. im Vergleich degeneriert waren und faul. Er war stolz, ein richtiger, aufrichtiger Deutscher zu sein, damit brüstete er sich vor sich selber: Deutscher.

Auf dem Gymnasium schien sich keiner um die »Judenfrage« zu kümmern. Erich war ein ausgezeichneter Schüler, der in allen Fächern gut, in manchen sogar sehr gut war.