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Dunkle Wolken über Südtirol

Veritas

Roman

Sandra Pfändler

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2021 – Herszprung-Verlag

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Lektorat/Herstellung: CAT creativ – cat-creativ.at

Cover: © Helmut / Adobe Stock lizenziert

ISBN: 978-3-96074-469-6 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-470-2 - E-Book

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Inhalt

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Die Autorin

Buchtipp

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Für Hanspeter, Nina und Beate Kohmann.

Ohne euch würde es dieses Buch nicht geben.

Danke!

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1

„Lisa! Kind, wo bleibst du?“

Der milde Südtiroler Wind trug die sanften, aber bestimmten Worte ihrer Mutter durch das offene Fenster ins Badezimmer bis an ihr Ohr.

Begleitet wurden sie von Idefix’ erwartungsvollem Gekläffe. Der fröhliche, unternehmungslustige Norwich Terrier hatte sich vor vielen Jahren in ihre Seele geschlichen. Seither war das Waudile mit seinem weizenfarbigen drahtigen Haar, das sich wie eine Mähne um sein vorwitziges Köpfchen, die warmen Augen und die keck aufrecht stehenden Öhrchen formte, als wichtiges Mitglied der Familie Moroder nicht mehr wegzudenken. Das kleine Kerlchen war verspielt, aber auch sehr begabt, vor allem wenn es darum ging, sich zur richtigen Zeit genau dort aufzuhalten, wo seine ausgeprägte Neugierde gestillt werden konnte. Seinen Namen verdankte er Obelix’ Weggefährten, in den sich Lisa schon als kleines Mädchen verliebt hatte. Tatsächlich waren die beiden sich sehr ähnlich.

Lisa stand unter der Dusche und hatte gerade den Wasserhahn zugedreht. Vom Hof schallten Stimmen zu ihr hinauf, die sie nicht zuordnen konnte. Sonst war es ruhig. Idefix hatte es aufgegeben, nach ihr zu rufen. Ihre niedliche Stupsnase kräuselte sich und für einen kurzen Moment blitzte die Spitze der rosigen Zunge zwischen ihren schmalen Lippen auf.

„Gönn mir ein paar Minuten, Mama, bitte“, rief sie in Gedanken hinunter. Es lag ein anstrengender Arbeitstag hinter ihr. Nur noch für einen Moment wollte sie dem wohligen Gefühl nachspüren, das das heiße Wasser auf ihrer Haut hinterlassen hatte.

„Kind!“ Der Tonfall der Mutter verriet, dass ihre Geduld kurz davor war, sich zu verabschieden.

Ein tiefer Seufzer rutschte aus Lisas Kehle. Sie schob den transparenten, mit bunten Tupfen übersäten Vorhang zur Seite, kletterte aus der Wanne und rubbelte sich trocken. Der sinnliche Duft von Vanille und Kokosnuss stieg ihr in die Nase.

Ihre Haut liebte es, verwöhnt zu werden, denn bei der täglichen Arbeit draußen im Weinberg, wo sie nicht nur Sonne und Wärme ausgesetzt war, sondern auch Kälte, Wind und Regen, litt sie oft fürchterlich. Ihre Haut verstand es, Lisa darauf aufmerksam zu machen, wenn sie vernachlässigt wurde – mit einem unangenehmen Spannungsgefühl zum Beispiel, Kratzern, Schürfwunden, rauen Stellen und Juckreiz. Manchmal rebellierte sie gar mit Blutergüssen in den unterschiedlichsten Formen und Farben.

Lisa kümmerte sich natürlich um ihr Äußeres, nur standen der Gutshof mit seiner Weinkellerei, der Vinothek und die Arbeit in ihrem zwanzig Hektaren großen Traubenland an erster Stelle. Da war kein Platz für Schickimicki, Wimperntusche, Lippenstift und Nagellack. In ihrem Kleiderschrank befanden sich fast nur bequeme Klamotten und anstelle von Stöckelschuhen dekorierten Gummistiefel oder Slipper ihre feingliedrigen Füße, wenn sie nicht gerade barfuß unterwegs war.

Trotzdem widmete sie sich ihrer Haut sorgsam, sobald diese um Hilfe rief, und das wäre heute eigentlich dringend notwendig gewesen.

„Kind! Muss ich dir eine schriftliche Einladung schicken?“ Bedrohlich kämpfte sich die Stimme ihrer Mutter durch den Schleier feuchtschwüler Luft, der Lisa trotz des geöffneten Fensters zart umhüllte.

„Du sollst mich nicht immer Kind nennen, Mama!“, konterte sie lautstark. Dabei beobachtete sie ihr Spiegelbild, das die Augen verdrehte und angestrengt versuchte, weitere Kommentare hinunterzuschlucken. Denn was immer sie zu diesem Thema zu sagen hatte, es würde sich in den Tiefen der Gehörgänge ihrer Mutter verlieren. Also schickte sie stattdessen ein deutliches: „I kimm glei!“, hinterher.

Sie angelte ihr Lieblingshandtuch von der Halterung und warf es sich über die nackte Schulter. Wäre ihr etwas Zeit vergönnt gewesen, sie hätte liebend gerne wieder einmal den Geschichten gelauscht, die das abgenutzte Stück Stoff zu erzählen wusste. Es hatte nämlich schon im Badezimmer ihrer Oma gehangen und so manches mitbekommen, was sich dort abgespielt hatte.

Mit einem wissenden Lächeln entwirrte sie mithilfe eines großzahnigen Holzkamms das schulterlange mahagonibraune Haar. Dann wickelte sie Omas buntes Geschichtentuch flink und geschickt um den Kopf, sodass daraus im Nu ein geknoteter Turban entstand.

Bevor sie davonstürzte, griff sie nach dem dunkelblauen Bademantel, der an einem Haken an der Tür hing, und zog ihn über. Er war viel zu groß für ihren zierlichen Körper, aber sie mochte es, sich in ihn hineinzukuscheln.

Lisas nackte Füße patschten über den ausgetretenen Dielenboden bis zur alten steilen Nussbaumtreppe. Geschwind schlang sie die beiden Enden des Gürtels um ihre schmale Taille und verknotete sie fest miteinander, um sicherzustellen, dass der Mantel genügend Schutz bot. Schließlich wusste sie nicht, was sie unten erwartete, und sie hatte keine Lust, zu präsentieren, was Gott erschaffen hatte. Dann schwang sie sich rittlings auf das Geländer und rutschte mit dem Po voran jauchzend dem Erdgeschoss entgegen, wo ihre fröhliche Rutschpartie in zwei starken Armen endete.

„Lukas!“, kreischte sie. „Was machst du denn schon hier?“

Der groß gewachsene junge Mann mit den breiten Schultern, dem honigblonden, kurz geschnittenen Haar und Augen, die im Sonnenlicht mit dem Gold des Bernsteins um die Wette funkelten, zwinkerte ihr schelmisch zu. Gleichzeitig spürte sie einen sanften Klaps auf ihrem Hintern. „Lass das, Kleiner!“ Liebevoll schlug Lisa auf seine Finger.

„Kleiner, ja?“ Er kniff sie in die Seite und baute sich in voller Größe vor ihr auf. „Wie ist denn das Wetter da unten, süße Maus?“ Grinsend und mit neckisch hochgezogenen Augenbrauen wartete er ihre Reaktion ab.

„Du weißt doch, bei mir scheint meistens die Sonne.“ Lisa lachte ihr unverkennbar herzliches Lachen und tat, was sie immer tat, wenn er sie auf diese Weise aufzog. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte sich und biss ihn ins Kinn.

„Autsch!“, winselte Lukas theatralisch. Dann fügte er ernster, vor allem aber leiser hinzu: „Bisch sicher, dass du sou do ausi gian willsch?“

„Warum?“, gab Lisa gespielt entrüstet zurück. „Gefalle ich dir etwa nicht?“ Sie hob die Arme, verlagerte das Gewicht auf ein Bein und drehte kunstvoll eine Pirouette, sodass er sie von allen Seiten betrachten konnte.

„Jo, logisch“, rief Lukas und lachte, „aber auf meine Meinung wird es heute nicht ankommen, glaub mir.“

Lisa runzelte überrascht die Stirn und versetzte ihm einen übermütigen Stoß gegen den rechten Oberarm. Schließlich stemmte sie die Hände in die Hüften und durchbohrte ihn mit ihrem Blick.

„Puh, jetzt krieg ich aber Angst“, witzelte er. Sanft fasste er sie an den Schultern, drehte sie vorsichtig um und schob sie in Richtung Ausgang.„Lass Mama nicht warten. Du weißt, sie kann es nicht leiden.“

Lisa wandte sich um, weil sie ihm eine passende Bemerkung zuwerfen wollte, entschied sich aber dagegen, da von draußen eine ungemütliche Stimmung ins Haus drang. Dieses Mal ließ der Tonfall der Mutter keine Zweifel daran aufkommen, dass ihre Tochter auf der Stelle zu gehorchen hatte. „Lisa! Kind, wo bleibst du denn?“

„Mama! Wie oft muss ich dir denn noch sagen, dass du mich nicht immer …“ Lisa blieb abrupt im Türrahmen stehen. Einen nervösen Wimpernschlag später purzelte ein: „A geh?“, über ihre Lippen. Blitzschnell schlug sie sich die Hand vor den Mund, um weitere unbedachte Äußerungen zu verhindern.

Mama hätte etwas sagen müssen!

Und Lukas! Er hätte …

Er hatte sie gewarnt. Sie hatte nur nicht zugehört.

Unsicher tat sie ein paar Schritte aus dem Schutz der Wohnung hinaus in den Hof. Zu ihrer Linken erstreckte sich bis zur Straße hin das Wirtschaftsgebäude, wo ein großes Eisentor, das säulengleich von zwei Steinmauern eingerahmt wurde, die Zufahrt zum Hof freigab – oder versperrte, je nachdem, ob der Moroder-Hof geöffnet hatte oder nicht. Auf der rechten Seite führte ein schmaler gemauerter Durchgang zum Garten und der Holzterrasse, die einen fantastischen Ausblick über die malerische Rebenlandschaft am Fuße des Mendelgebirges bot. Ein Rundbogen verband das Wohnhaus mit der Weinkellerei, an die sich die Vinothek anschloss.

Langsam überquerte sie den schwungvoll angelegten Streifen aus Pflastersteinen zwischen dem Eingang und der kleinen Böschung, die das Haus und den Hofplatz voneinander trennten. Zögerlich ließ sie die beiden Blockstufen aus Muschelkalk hinter sich, um ihre Füße in dem feinen Kieselsand, der von der Sonne aufgewärmt worden war, zu vergraben. Verstohlen warf sie einen Blick über die Schulter zurück, wo ihr zwölf Jahre jüngerer Bruder lässig grinsend am Türpfosten lehnte. Mehrmals tippte er mit dem Zeigefinger an sein Ohr. Damit gab er seiner Schwester zu verstehen, dass es hin und wieder ganz nützlich sein konnte, ihm zuzuhören.

Lisa verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Ihre Augen durchbohrten ihn mit der Frage, die sie im Moment am meisten beschäftigte. „Wer ist das?“

Lukas schaute sie unschuldig an und zuckte mit den Schultern.

„Und ob du es weißt, du Schuft!“, fauchte sie ihn nahezu geräuschlos an und ließ dabei ihre perlweißen Zähne aufblitzen.

Lukas, der inzwischen näher gekommen war und es sich auf einer der Stufen bequem gemacht hatte, reagierte mit einem tonlosen Lachen. Der Blick, den er zurückwarf, verriet, dass er das Schauspiel, was sich ihnen in Kürze im Hof bieten würde, auf gar keinen Fall verpassen wollte, auch wenn er auf diese Distanz wahrscheinlich nichts hören würde. Doch das war gar nicht nötig, denn im Verhalten seiner Schwester konnte er genauso lesen wie in einem Buch.

Lisa seufzte innerlich auf. Sie drehte sich zu ihrer Mutter um, die mit ihren Einssechsundsechzig kaum größer war als sie selbst. Ihre Figur erinnerte an eine Birne. Die üppigen Kurven ließen erahnen, dass sie mehreren Kindern das Leben geschenkt hatte. Genau genommen waren es drei: Lukas, der Jüngste, Loris und sie.

Das kinnlange Haar ihrer Mutter glänzte in der untergehenden Sonne kupferrot mit einem Hauch von Gold. Das undurchdringliche Grün des Smaragdes stach aus den Augen und drohte, die Tochter zu durchbohren. Die Arme in die umfangreichen Hüften gestemmt, mit hochgezogenen Augenbrauen, in Falten gelegter Stirn und geschürzten Lippen stand sie da wie ein unüberwindbarer Fels.

Lisa senkte den Blick. Die Hände tief in den Taschen des Bademantels vergraben und mit zusammengekniffenen Augen konzentrierte sie sich auf ihre Atmung. Sie zwang ihre Schultern, sich in regelmäßigem Rhythmus zu heben und wieder zu senken.

Aus weiter Ferne hörte sie, wie ihre Mutter sich räusperte und Idefix sich in leisem Winseln verlor.

Sie krallte die Finger noch fester in den Frottee. Vorsichtig öffnete sie die Augen und spürte, wie eine unsichtbare Hand ihren Körper nach links drehte.

Sie hob den Kopf, ihr Herz jagte davon.

*

2

Es waren diese eisgrauen Augen. Sie erinnerten Lisa an einen bis zum Rand mit Gletscherwasser gefüllten Bergsee, unvergleichlich klar und rein, eiskalt und gleichzeitig sonderbar warm. Perfekt eingebettet ruhten sie in dem glattrasierten Gesicht mit der sonnenverwöhnten Haut, das von kastanienbraunem Haar eingerahmt wurde.

Verlegen schaute Lisa an sich hinunter.

Nach schier endlos langen Jahren der Sehnsucht und der Hoffnung stand sie jetzt barfuß im Staub, in ihren übergroßen Bademantel gewickelt und mit einem Turban auf dem Kopf ihrem Traummann gegenüber. Wieder befahl sie ihren Schultern, sich in ruhiger Gleichmäßigkeit zu bewegen, doch es nutzte nichts. Sie verlor den Halt und wurde von den Fluten der beiden kristallklaren Gletscherseen mitgerissen.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Kind?“ Besorgt legte Alva eine Hand auf den Arm ihrer Tochter, den Lisa instinktiv abschüttelte.

„David Silgoner“, unterbrach eine sonore Stimme die Szene.

Hastig griff Lisa nach der Hand, die der Mann, der neben ihrer Mutter stand, ihr entgegenstreckte. Dabei stellte sie fest, dass er sie um mehr als einen Kopf überragte und ungefähr in ihrem Alter war.

„Sie sind also die Chefin hier?“, hörte sie die erotischste aller Stimmen sagen, die je ihre Ohren gekitzelt hatte. Die klangvolle Tiefe jagte einen heißen Schauer ihren Rücken entlang. Nervös folgte sie seinem Blick, der anerkennend über das Anwesen schweifte.

„Ja, das bin ich“, hauchte sie ihm in Gedanken zu, und klammerte sich immer noch an seine Hand, da sie fürchtete, in den Wellen zu ertrinken.

David räusperte sich, woraufhin sie ihren Griff verstärkte. Also beugte er sich vor. Sein Atem ließ sie erstarren, als er ihr dicht an ihrem Hals zuflüsterte: „Sie dürfen meine Hand jetzt loslassen.“

Als ob er den Worten des schönen Unbekannten mehr Gewicht verleihen wollte, schickte Idefix ein herzhaftes Kläffen hinterher.

„Wie?“ Lisa zuckte zusammen und wich zurück, die Hand ihres Gegenübers fest im Griff.

David lächelte entspannt und drückte sanft ihre Finger, bevor auch er höflich zurückwich. Idefix begann, leise zu jammern und von einem Beinchen auf das andere zu tänzeln.

Lisa zog die Augenbrauen zusammen und starrte auf die beiden Hände, die sich zwischen ihren Körpern ineinander verschlungen hatten.

„Kind, was ist los mit dir?“

„Mama, es reicht!“ Ruckartig zog sie die Hand zurück und drehte sich abrupt zu ihrer Mutter um. Wie konnte sie es wagen, sie im Beisein dieses Mannes Kind zu nennen?

David räusperte sich.

„Entschuldigen Sie bitte.“ Sie wandte sich wieder dem Fremden zu. „Ich bin Lisa Moroder. Nicht nur die Chefin hier, sondern auch die Tochter meiner Eltern. Deshalb werde ich wohl immer Mamas Kind bleiben“, sagte sie und lächelte verlegen.

„David Silgoner“, wiederholte der Besucher, die Hände inzwischen tief in den Hosentaschen vergraben.

„Ja“, meinte sie und schmunzelte, „das habe ich schon mitbekommen.“ Wieder blickte sie verlegen zu Boden. „Herzlich willkommen auf meinem Weingut“, durchbrach Lisa nach einer Weile die peinliche Stille und streckte dem Unbekannten die rechte Hand zur Begrüßung entgegen. Erstaunt zog David die Augenbrauen hoch, seine Hände weiter in der Hosentasche verborgen. Irritiert zog Lisa den Arm zurück. Ihr Blick wanderte zu ihren Füßen und beobachtete, wie der große Zeh kleine Kreise in den Kieselsand zeichnete.

Weshalb schaffte sie es nicht, diesem Mann zu begegnen wie allen anderen auch?

Was geschah gerade mit ihr?

Warum sagte er nichts mehr?

Sie bemerkte, wie David ein paar Schritte zurückwich, und blickte hoch. Vergeblich suchten ihre Augen in seinem Gesicht nach einer Antwort. „Im Normalfall empfange ich unsere Gäste nicht in Bademantel und Turban“, versuchte sie, die Situation aufzufangen.

Eine bedeutungsvolle Pause folgte.

„Nur – es schien irgendwie dringend zu sein. Darum … heute … ausnahmsweise. Es tut mir leid“, stammelte sie weiter, „und ich hoffe, dass Ihr Besuch bei uns trotzdem erfolgreich sein wird.“

Stille.

„Sag endlich was“, fauchte sie ihn tonlos an. Doch er erwiderte nur starr ihren Blick. Was genau da in seinen Augen lag, konnte sie allerdings nicht erkennen. Lähmende Verunsicherung breitete sich in ihr aus. Wovor hatte sie solche Angst? War es seine Stimme? Kaum, denn er sprach ja nicht mehr mit ihr, sondern musterte sie nur von Kopf bis Fuß. Sein Blick blieb an ihren Brüsten haften und durchbohrte ihren Bauchnabel, den er gar nicht sehen konnte.

Was wollte er von ihr?

Warum war er hier?

Weshalb meldete er sich nicht an, wie das auf dem Moroder-Hof üblich war?

Was hatte das alles zu bedeuten?

Mit heftigem Kopfschütteln versuchte Lisa die quälenden Fragen zu verscheuchen. „Bitte“, flehte sie stumm, „rede mit mir.“ Den Blick geradeaus gerichtet, tanzten ihre Augen über das hummerrot leuchtende Hemd. Sie nahm wahr, dass die obersten Knöpfe geöffnet waren, staunte über seinen muskulösen Oberkörper und lächelte bei dem Gedanken, dass seine Brust einem aufgeplatzten Teddy glich.

Lisa riss die Augen auf und wich einen Schritt zurück. Nervös starrte sie auf seine Lippen, dann auf die Nase, um schließlich zu dem Haar zurückzukehren, das frech unter dem Baumwollstoff hervorlugte und sie schier um den Verstand brachte.

Unerträgliche Sekunden verstrichen, bis sie David raunen hörte: „Bademantel und Turban können durchaus anziehend sein.“

„Bitte?!“ Lisa spürte, wie die Hitze von ihrem Körper Besitz ergriff.

„Na ja, je nachdem“, räusperte er sich.

„Bist du sicher, dass du weißt, was du hier willst?“, dachte sie, atmete tief durch und richtete sich auf. Dann schleuderte sie ihrem Besucher, unterkühlter als beabsichtigt, die einzige in dieser Situation logisch erscheinende Frage entgegen: „Was führt Sie zu uns, David Silgoner?“

*

3

Eine Stunde später saß Lisa nachdenklich auf der Bank neben dem Eingang, den Kopf an die Hauswand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine weit von sich gestreckt, ihren Blick nach innen gerichtet. Ein fremdes, eigenartiges Gefühl hatte sich in ihrem Herzen eingenistet. War sie etwa verliebt? In einen Mann, von dem sie nichts wusste, außer seinen Namen, dass er eine Hofbrennerei führte und auf der Suche nach Trester für seine Grappas war?

Das war unmöglich!

Nach Thomas hatte sie sich geschworen, dass ihr das nie wieder passieren würde. Außerdem hatte sich das bei ihm deutlich anders angefühlt. Damals war sie zwar sehr jung gewesen, aber machte das einen Unterschied? Schmetterlinge waren Schmetterlinge. Doch wenn sie ehrlich war, wurde sie jetzt von keinen Flatterfaltern heimgesucht, sondern von einer Herde wild gewordener Affen. Sie schwangen von einem Organ zum nächsten, rasten über die Innenseite der Bauchdecke, trommelten mit ihren Schwänzen gegen die Nerven und bewarfen ihre Brust zielsicher mit Kokosnüssen, die schließlich allesamt in ihrem Hals stecken blieben. Nicht einmal nachts machten die Viecher Halt.

Kurz – es fühlte sich scheußlich an.

David hatte sich wortkarg verabschiedet, ohne dass sie ins Geschäft gekommen waren. Kein Wunder! Wer wollte schon mit einer Mittdreißigerin zusammenarbeiten, der angemessene Kleidung ein Fremdwort war, die mit nackten Füßen Muster in den Staub zeichnete und keine intelligenten Sätze zustande brachte?

Einer wie Silgoner ganz bestimmt nicht.

Lisa beschloss, sich in ihre Höhle zurückzuziehen. So nannte sie den Hängesessel aus anthrazitfarbenem Polyrattan, den Lukas ihr vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Der einem längs aufgeschnittenen Osterei ähnelnde Schaukelkorb stand in einer verborgenen Ecke des Gartens und hatte sich schnell zu ihrem Lieblingsplatz und Rückzugsort entwickelt. Abseits des Wohnhauses ruhte er auf einem mit grobkörnigem Kies ausgelegten kreisrunden Sitzplätzchen, das von üppig in Pink und Weiß blühenden Oleanderbüschen umrahmt wurde. Limettengrüne Kuschelkissen fügten sich hervorragend in den Sessel und die bunte Umgebung ein. Wenn dunkle Wolken am Südtiroler Himmel aufzogen oder sich eine neblige Suppe über den Hof legte, leuchteten sie fröhlich allen Widrigkeiten zum Trotz.

Es war der Ort, an dem Lisa sich fallen lassen konnte.

Eingebettet in die weichen Polster, tat sich vor ihr ein atemberaubender Blick auf den erhabenen Mendelkamm auf. Seine Felsen ragten in den unterschiedlichsten Grautönen zum Himmel empor und erinnerten sie an Mamas Lieblingspsalm aus der Bibel, den sie sie oft beten gehört hatte.

„Ich schaue hinauf zu den Bergen – woher kann ich Hilfe erwarten?“, murmelte Lisa und im Nu entspannte sie sich. Ihr Herz wusste sich eigenartig beschützt und kam zur Ruhe.

Nie zuvor hatte sie sich so geschämt wie heute. In ihrem Versteck konnten gar nicht so viele Kissen liegen, wie sie gebraucht hätte, um sich darunter zu vergraben.

Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, diesem schönen Unbekannten zu erlauben, mit seinem unwiderstehlichen Blick und dem wärmsten Lächeln, das ihr je geschenkt worden war, ihren schützenden Panzer zu durchbrechen? Unter gar keinen Umständen hätte sie das zulassen dürfen.

Niemals!

Sie hatte Angst, dass sich der Schaden nicht mehr reparieren ließ. Dabei brauchte sie den Schutz so dringend, wenn sie in dem täglichen Wahnsinn, in dem sie unterwegs war, bestehen wollte.

Sie beschloss, die Begegnung mit David in einem ihrer besten Weine zu ertränken. Zu entscheiden, welchem Tropfen sie diese heikle Aufgabe anvertrauen wollte, war allerdings alles andere als einfach.

Ganz oben auf der Liste stand der Vernatsch. Die Traube baute sie entlang des Seeufers an, wo die Früchte sich besonders wohlfühlten. Das brillante Granatrot und seine unkomplizierte Leichtigkeit bestachen nicht nur im Gaumen, die zarte Harmonie drang bis tief ins Herz hinein und hinterließ dort eine fruchtige Fröhlichkeit. Er passte zu jeder Gelegenheit, auch und ganz besonders, wenn das Leben sich schwer und dunkel präsentierte.

Doch dann wurde sie unsicher, ob er ihrem Kummer tatsächlich gerecht werden konnte.

Und der Pinot Bianco? Der elegante, strohgelbe Rebensaft fand seinen Ursprung in einem ihrer Weingärten am Fuße des Mendelgebirges. Ihm traute sie zu, dass er ihrem Leben neuen Schwung gab. Aber wollte sie den Mann ihrer Träume tatsächlich für immer in diesem sensiblen Weißen untergehen lassen? Mit seinen feinen exotischen Noten und dem leicht salzigen Finale weckte der Wein zwar eine Sehnsucht nach den Tiefen des Ozeans, trotzdem war er nicht stark genug, um die Bitterkeit in ihrem Herzen zu ersäufen.

Nein! Das konnte sie ihm nicht antun.

Also vertraute sie sich dem Veritas an. Der körperreiche, charakterstarke und zugleich charmante Rotwein wurde aus der Lagreintraube geboren, die auf der gegenüberliegenden Seeseite ihre Heimat hatte. Sie wurden von Lisa gehegt und gepflegt und mit Oskars Hilfe, ihrem Kellermeister, in die reinste aller Wahrheiten veredelt.

Es war egal, wie viele Weine weltweit angebaut wurden, der Veritas überragte sie alle. Er war ihr ganzer Stolz, ihre erste große und bisher einzig wahre Liebe.

Auf dem Rand des schaukelnden Hängekorbs sitzend öffnete Lisa flink die Flasche, überlegte, ob sie sich überhaupt die Mühe machen sollte, den edlen Traubensaft in ein Glas zu geben. Dann schenkte sie sich aber doch randvoll ein und nahm einen kräftigen Schluck.

Der Veritas streichelte ihren Gaumen und zauberte ein Feuerwerk bunter Geschmacksexplosionen an den mit dunklen Wolken verhangenen Himmel ihrer Seele. Lisa schloss die Augen. Sie spürte dem würzig-mineralischen Geschmack feuchter Erde nach, der sich aufdringlich in ihrem Rachen ausbreitete. Dann versuchte sie, sich daran zu erinnern, ob sie die Veilchen und Rosen geschmeckt oder ob sie ihre zarten Töne vor lauter Kummer überhört hatte.

Gedankenverloren nippte sie an ihrem Bordeaux-Glas, lauschte dem Zirpen der Zikaden und beobachtete die Sterne bei ihrem Wettkampf um das eindrucksvollste Glitzern. Doch weder die nächtlichen Musikanten noch die ewig leuchtenden Punkte schienen sich dafür zu interessieren, wie es ihr hier unten ging. Vielleicht waren die Musik und das Funkeln aber auch ihre Art, sich über sie lustig zu machen – wer wusste das schon so genau.

Niemals zuvor hatte sie sich so klein und verlassen gefühlt wie jetzt. Es kam ihr vor, als ob sie von einem unendlich weiten Universum aufgefressen wurde, das sich bis in die hintersten Winkel gegen sie verschworen hatte.

Doch das war noch nicht alles!

Plötzlich schienen auch die Berge, die ihr zuvor Mut gemacht und sie in wohlige Geborgenheit hatten eintauchen lassen, immer näher zu kommen und sie zu zerquetschen. Schmerzverzerrt verzog sie das Gesicht. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume und stürzten sie schließlich in einen klebrigen Sumpf voller Selbstmitleid.

War es denn nicht genug, dass sie sich ständig mit Papa stritt? Was konnte sie dafür, dass sie eine Frau war und seine Vorstellungen schon deshalb nicht erfüllte? Ausgesucht hatte sie sich das gewiss nicht. Und soweit sie wusste, hatten ihre Eltern da auch nichts mitzureden. Sie war sicher, dass ihr Vater einen Sohn in Auftrag gegeben hätte, einen, der etwas taugte und seine viel zu hohen Erwartungen erfüllte – wenn er nur die Wahl gehabt hätte.

Trotzdem war sie ausgezeichnet in dem, was sie tat, und irgendwann würden das auch ihr Vater und all die anderen, die ihr sein Erbe nicht zutrauten – oder vielleicht nicht gönnten – einsehen müssen.

Lisa schielte zu dem Weinglas in ihrer Hand und stellte fest, dass es leer war. Sie stöhnte auf.

Nein, anscheinend war das noch nicht genug! Warum musste ausgerechnet dieser Silgoner heute hier auftauchen?

Es hätte ja auch irgendein anderer sein können, einer, aus dem sie sich nichts machte und der ihren Schutzpanzer zu respektieren wusste. Und warum wählte er für seinen Auftritt keinen Zeitpunkt, zu dem sie angezogen war?

Lisa rappelte sich auf. Sie hing mit dem Oberkörper über dem Sesselrand, krallte eine Hand in die Kissen, zappelte mit den Beinen wild zur Rückwand hin und tastete nach dem Wein. Plötzlich stieß ihr Handrücken gegen einen glatten kühlen Gegenstand, der sofort bedrohlich ins Schwanken geriet. Gerade rechtzeitig griff sie nach der Flasche, bevor sie umkippte und ihren kostbaren Inhalt an den Kiesplatz verschwendete.

Für einen Moment hielt Lisa inne. Dann setzte sie sich aufrecht hin, atmete tief die angenehm kühle Nachtluft ein, seufzte und schenkte sich großzügig nach.

„Du hast nicht so unrecht, Papa“, flüsterte sie der leeren Bottl zu. „Ich bin tatsächlich nicht nur eine vom unnützen Geschlecht, die niemals einen echten Kerl abbekommen wird, sondern auch sonst für nichts zu gebrauchen. Salute!“

Wenn sie so weitermachte, würde sie irgendwann als alte Jungfer ins Jenseits umziehen, nachdem sie ganz ohne fremde Hilfe die wichtigste Mission ihres Lebens erfüllt hatte, nämlich das Lebenswerk ihrer Eltern in den Ruin zu wirtschaften.

Feierlich prostete sie sich zu, bevor sie das unvergleichliche Aroma von Schokolade, Lakritz, Waldfrüchten und einer Spur Tabak durch ihren Gaumen schweben ließ. Und wieder machte sich die feuchte Erde im Abgang breit und sie fragte sich, wo bloß die Veilchen und Rosen geblieben waren.

Gefangen in düsteren Gedanken, ließ sie sich in die Polster fallen und wünschte sich, die Dunkelheit würde sie für alle Zeiten verschlingen.

*

4

Leider schienen Gott, oder wer auch immer dafür verantwortlich war, ihre Wünsche egal zu sein, denn in der Morgendämmerung wurde sie vom Gurren einer Taube in die grausame Wirklichkeit zurückgerissen. Der Turban hatte sich gelöst, ihre Haare glichen einem Vogelnest, die Knochen und Muskeln fühlten sich an, als ob sie durch eine Weinpresse geschickt worden waren, ihr Schädel brummte.

Vorsichtig, damit sich die Welt um sie herum nicht noch schneller drehte, kroch sie aus ihrer Höhle und streckte sich. Dann tippte sie auf das Display ihres Smartphones, um zu erfahren, wie spät es war oder vielmehr, wie früh.

Lisa schlug die Hände vor das Gesicht und plumpste wieder in den Sessel. Mit geschlossenen Augen spürte sie den Schwingungen nach, die sie damit ausgelöst hatte. Wie ein Karussell wirbelte er wie wild um die eigene Achse. Ihre Finger krallten sich in den Korb.

Vier Uhr.

Sie war dem Taubenmännchen dankbar, dass es so früh am Morgen schon Lust hatte, sich zu paaren, sonst hätte sie womöglich verschlafen und damit alles nur noch schlimmer gemacht.

„Danke, Vladimir“, hauchte sie in Richtung Scheunendach, wo sie den Vogel vermutete.

Wie betäubt fuhr sie sich mit den Händen durch das Haar. Erneut kroch sie aus ihrem Versteck, schnappte dabei das Stück Stoff, das gestern auf ihrem Kopf gethront hatte, und warf es lässig über die Schulter. Sie hob die Weinflasche und das Glas vom Boden auf, froh darüber, dass wenigstens die beiden nicht in Scherben lagen, und schleppte sich zum Haus.

„Ich sollte versuchen, den heutigen Tag trotz allem mit einem Lächeln zu beginnen“, flüsterte sie sich selbst zu.

Wahrscheinlich würde sie diesen Silgoner ohnehin nie wiedersehen. Warum also sollte sie ihre wertvolle Zeit damit vergeuden, sich den Kopf über etwas zu zerbrechen, was nicht relevant war? Außerdem hatte sie zu tun. Viel zu tun sogar. Für einen Mann gab es in ihrem Leben keinen Platz und für diesen aufgeblasenen Edelbrenner schon gleich gar nicht. Es konnte ihr also egal sein, was er von ihr hielt.

Vorsichtig öffnete Lisa die alte, schwere Eichentür zum Wohnhaus. Sie wollte ihre Eltern und Lukas nicht unnötig darauf aufmerksam machen, dass sie die Nacht nicht in ihrem Bett verbracht hatte. Die Mühe hätte sie sich sparen können, denn es war nicht zu überhören, dass auch andere um diese Uhrzeit schon unterwegs waren.

Sie tapste durch den Flur und blieb vor dem Eingang zur Wohnküche stehen. Die Geräusche, die sie eben dumpf empfangen hatten, wurden immer lauter.

Die Stimme ihres Vaters konnte ein beachtliches Volumen erreichen, wenn er emotional wurde. Als kleines Mädchen hatte sie furchtbare Angst davor gehabt, weil sie damals schon wusste, was dann geschah. Ihre Mutter konnte zwar die meisten Schläge verhindern, doch einige von ihnen trafen sie trotzdem. Nicht nur am Körper, sondern vor allem in ihrem Herzen. Denn was noch mehr weh tat als seine Hiebe, war, dass sie überzeugt war, er würde sie hassen. Daran hatte sich bis heute nichts geändert.

„Bastard!“, hörte sie seinen tiefen Bass brüllen, dann ein Klatschen, was nach einer Ohrfeige klang. Den Bruchteil einer Sekunde später knallte Holz auf den Boden, dann noch einmal. Schließlich nahm sie einen dumpfen Aufprall wahr, bevor sich eine bleierne Schwere über das ganze Haus legte.

Lisa schluckte.

Langsam drückte sie die Klinke, öffnete vorsichtig die Tür und spähte in den hell beleuchteten Raum. Ihr Vater lag am Boden, Loris beugte sich hämisch grinsend über ihn. Zwei Stühle waren umgekippt.

Unbemerkt trat sie ein und beobachtete ihren Bruder, wie er einen Arm hob und die Hand zur Faust ballte.

„Spinnst du?“, schrie sie, ließ das Glas fallen und hielt den Hals der Flasche fest umklammert, sprang auf ihn zu und spürte im nächsten Moment seinen Ellbogen in ihrem Gesicht. Erschrocken taumelte sie zur Seite. Sie rieb sich die Stelle, wo Loris sie getroffen hatte, und strafte ihn mit einem kalten Blick.

Beschämt starrte er auf die Scherben.

Franz rappelte sich hoch, stützte sich auf der Küchenanrichte ab und stierte sie düster an. „Was tust du denn hier?“, stieß er hervor. „Weißt du, wie spät es ist?“

„Was tut ihr denn hier?“, gab sie gereizt zurück. „Ich nehme an, ihr wisst, wie früh es ist.“

„Wo kommst du um diese Uhrzeit und in diesem Aufzug her?“, fuhr ihr Vater sie an.

„Wo kommt er um diese Uhrzeit und in diesem Aufzug her?“, fauchte sie zurück. Dabei deutete sie auf den älteren ihrer beiden Brüder, der mitten in der Wohnküche stand. Seine Augen waren blutunterlaufen und das linke wurde von dem dunkelsten Violett umrahmt, das Lisa je gesehen hatte, darüber klaffte eine blutverkrustete Wunde. Seine sonst so adrett sortierten Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. Dass sein Hemd nicht nur falsch zugeknöpft war, sondern auf der einen Seite zerrissen und auf der anderen unmotiviert aus der Jeans hing, fiel ihr ebenfalls auf. Die Schuhe waren über und über mit Dreck verschmiert, die Hose auf der Höhe des rechten Knies regelrecht zerfetzt. Schließlich bemerkte sie die aufgeschürften und blutenden Knöchel an Loris’ Händen, obwohl er sie in den Hosentaschen zu verstecken versuchte.

„Das geht dich nichts an“, lallte ihr Bruder.

„Ach so? Na prima!“, keifte sie.

Darauf bedacht, nicht in die Glasscherben zu treten, stürmte sie davon, jedoch nicht, ohne Loris dabei provokativ anzurempeln. Anstatt zu reagieren, schaute er nur wieder beschämt zu Boden.

Mit allem hatte sie gerechnet, nur damit nicht. Irritiert blieb sie stehen und wollte sich gerade wieder beruhigen, als sie dem eiskalten Blick ihres Vaters begegnete.

Sie erschauderte.

Als er bedrohlich nah kam und die Hand gegen sie erhob, entschied sie sich zur Flucht. Sie drehte sich ruckartig um, rannte aus der Küche und über die alte Holztreppe hoch in ihr Zimmer.

Zitternd schloss sie die Tür, fiel mit dem Rücken dagegen und glitt langsam an ihr hinab in die Hocke. Die Weinflasche stellte sie neben sich auf den Boden, bevor sie mit den Armen die Knie umklammerte und traurig den Kopf dazwischen vergrub. Nicht zum ersten Mal grübelte sie darüber nach, ob ihre Familie auch tatsächlich ihre Familie war.

Mit seiner raubauzigen, jähzornigen Art war Papa ihr manchmal schon sehr fremd. In all den Jahren hatte sie zwar gelernt, damit umzugehen. Aber sein Fleisch und Blut? Nein, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Sie hatte ja noch nicht einmal seine schwarzen Haare geerbt, die allmählich von kräftigem Silber abgelöst wurden. Nur den Dickkopf, den könnte sie tatsächlich von ihm haben.

Aber es gab so viele Sturköpfe …

Und was hatte sie von Mama? Nichts! Außer dem ständigen Gefühl, sich immer und überall beweisen zu müssen, und vielleicht die roten Pigmente in ihrem mahagonibraunen Haar.

Lisa schlug mit den Fäusten auf den Boden.

„Warum ich? Warum hier? Warum diese Familie?“ Tränen liefen über ihr Gesicht.

Sie dachte an ihre Brüder, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Das Einzige, was die beiden verband, waren die blonden Haare.

Als Sohn eines Winzers teilte Loris zwar die Leidenschaft des Vaters für den Wein, allerdings nicht, was den Anbau und Ausbau betraf. Sein Interesse galt dem fertigen Produkt und das auch nicht etwa aus Freude am Genuss. Er brauchte den Alkohol in seinen Adern wie ein Traktor das Benzin. Arbeit war immer schon ein Fremdwort für ihn gewesen und trotzdem schien er ständig irgendwie an Geld zu kommen. Keiner, jedenfalls niemand aus der Familie, wusste, was für Einnahmequellen das waren. Und niemand, außer Mama, war bekannt, weshalb sie ihn damals nicht dabei unterstützt hatte, den Moroder-Hof zu übernehmen.

Lisa konnte nicht behaupten, dass sie eine vertraute Bindung zu Loris hatte, wenn sie denn so etwas wie eine Beziehung führten.

Ganz anders war das mit Lukas. Er war nicht nur ihr Lieblingsbruder, sondern neben Idefix auch ihr bester Freund. Obwohl sie sich auch ohne viele Worte hervorragend verstanden, konnten sie über alles miteinander reden. Zwischen ihnen gab es keine Tabus.

Mit seinen damals zwanzig Jahren wäre er zwar sehr jung gewesen, um den elterlichen Betrieb zu übernehmen, aber Talent und Geschäftssinn hätte er besessen, Leidenschaft auch. Und er war lernbegierig. Sie hätten das Weingut gemeinsam stemmen können, aber er hatte sich frenetisch dagegen gewehrt. Die Angst davor, sein gut gehütetes Geheimnis könnte an die Oberfläche geraten, ihn und den Gutshof in Verruf bringen …

Lisa mochte gar nicht an die Reaktion ihres Vaters denken, wenn das alles bekannt würde. Er würde ihn vom Hof jagen, enterben. Sie verstand ihren Bruder. Wahrscheinlich hätte sie genau so entschieden, wäre sie in der Situation gewesen. Er tat ihr leid.

Gedankenverloren hob sie die Weinflasche hoch und zeichnete mit einem Finger deren Umrisse nach, während sie weiter darüber sinnierte, dass ihre Eltern dreißig Jahre in den Aufbau des Weinguts investiert hatten. In dieser Zeit waren sie kein einziges Mal weiter als ein paar Kilometer von ihrem Hof entfernt gewesen. Mama war mittlerweile achtundfünfzig, Papa bald zweiundsechzig. Die beiden hatten kürzertreten und ihren Betrieb nicht nur kompetenten Händen, sondern auch einem leidenschaftlichen Herzen übergeben wollen. Dafür hatte sie volles Verständnis. Nur fragte sie sich, wie ihr Vater sich das mit dem Ruhestand vorstellte. Er arbeitete genauso viel wie früher, wenn nicht sogar noch mehr, und mischte sich ständig in ihre Geschäftsführung ein.

„Wieso vertraust du mir nicht?“, flüsterte Lisa in das dunkle Zimmer.

Jedenfalls teilte sie die Leidenschaft für das rote Gold Südtirols mit ihren Eltern. Je edler der Tropfen, desto kräftiger ihr Herzschlag. Da sie schon von klein auf davon träumte, das zu tun, was Papa tat, hatte sie auf dem Weg zu ihrem Ziel bis jetzt keinen Schritt ausgelassen.

Zuerst hatte sie Betriebswirtschaft studiert und sich gleich anschließend zur Winzerin und Önologin ausbilden lassen. Dann holte sie sich ihren erfolgreichen Abschluss als Sommelière. Damit erfüllte sie fast alle Erwartungen ihres Vaters. Aber sie blieb nur die Tochter. Papa hätte sein Lebenswerk lieber verkauft, als es der Führung einer Frau anzuvertrauen, egal wie qualifiziert sie war.

Mama und Lukas hatten sich damals für sie starkgemacht.

Dann war da auch noch Josef Gruber gewesen, Joe, wie er sich nannte, ein enger Freund ihres Vaters, was ganz erstaunlich war, denn Papa hatte sonst keine Freunde.

Wenige Monate zuvor hatte er seinem ältesten Sohn Thomas den Weimerhof, ein Fünftsterne-Weinhotel, übergeben. Er kannte deshalb die Herausforderungen und Konflikte, die ein Generationenwechsel mit sich brachte, und war davon überzeugt, dass sie und ihr Vater das schaffen würden. Obendrein war er bereit, sie auf dem steinigen Weg zu begleiten. Joe hatte damals für sie Partei ergriffen und das hatte Franz Moroder letztlich dazu gebracht, widerwillig zwar, aber immerhin der Übergabe an seine Tochter zuzustimmen.

Mittlerweile war es ihrem Vater mit seinem tamischen Schädel und seiner unglaublichen Arroganz allerdings gelungen, auch Joe zu verjagen.

Lisa arbeitete hart, um dem Capo zu beweisen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber es nutzte alles nichts. Er tat sich schwer mit ihr, ihrem Führungsstil und der Idee, auf biologischen Anbau umzustellen. Ihr Vater würde sich nie ändern. Besser, sie gewöhnte sich daran.

„Beginne den Tag mit einem Lächeln“, seufzte sie. Ihren störrischen Gesichtsmuskeln befahl sie, die Mundwinkel nach oben zu ziehen.

Was kümmerte es sie, was Papa von ihr hielt oder was Loris’ Auftritt um diese Uhrzeit zu bedeuten hatte. Sie lebte ihr eigenes Leben und würde ihre Ziele erreichen, mit oder ohne Papa, mit oder ohne einen Mann an ihrer Seite. David jedenfalls sollte sie sich aus dem Kopf schlagen. Je schneller, desto besser.

Lisa stellte die Flasche wieder hin und rappelte sich auf. Steifbeinig schleppte sie sich ins Badezimmer. Sie schob den Duschvorhang zur Seite und ließ das Wasser laufen, bis es angenehm warm aus der Brause regnete.

„Ausnahmsweise“, dachte sie. Der gestrige Abend und der Start in diesen Tag rechtfertigten eine Dusche in den frühen Morgenstunden allemal. Sie würde sich alles von der Seele waschen und sich nachher wie immer unbeschwert lächelnd an den Frühstückstisch setzen, um gemeinsam mit ihrer Familie den Arbeitstag zu beginnen.

*

5

Eine halbe Stunde später saß Lisa allein in der hellen, geräumigen Wohnküche. Vor ihr auf dem schlichten Massivholztisch aus Zirbe, der in der Mitte des großen Raumes stand, dampfte heißer Kaffee aus einem Haferl.

Sie wunderte sich darüber, dass außer ihr anscheinend niemand auf war. Flink stellte sie das Frühstück für ihre Familie bereit, sorgsam darauf bedacht, dass alles da war, was sie brauchten. Papa den Honig für seine heiße Milch, Mama die selbst gemachte Marmelade, von der sie eine hüftgoldverdächtige Schicht aufs Butterbrot schmierte, und Lukas den Lagreinkäse, der sanfte, milde mit der besonderen Rotwein-Note, ohne den ihr Bruder keinen neuen Tag in Angriff nahm.

Sie nippte an ihrem Kaffee und fuhr mit den Fingern zärtlich über die Tischplatte.

Die lebhafte rötliche Maserung der Zirbelkiefer zog sich durch das ganze Haus. Nicht nur für die Möbel in der Wohnküche, den Schlafzimmern und Büroräumen wurde ihr Holz verwendet, auch alle Türen und die Täfelung im Wohnbereich verdankten dem Nadelbaum ihre wohlige Ausstrahlung. Mit geschlossenen Augen atmete Lisa den Duft ein. Freiheit!

Es roch nach Weite, süß und doch frisch, mit einem Hauch von Myrte. Sie liebte die Zirbe. Besonders wenn sie angespannt, traurig oder wütend war, entführte ihr Geruch sie an einen Ort, an dem sie loslassen konnte.

Das Haus war schon sehr alt. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, nahm es jeden mit seinem feinen, aber unbeschreiblichen Zauber gefangen. Mit viel Liebe zum Detail hatte Mama ihr Zuhause im warmen Landhausstil eingerichtet, was Lisa erstaunlich fand, war sie doch sonst eher unterkühlt und distanziert. Auch Papa zeichnete sich nicht durch Warmherzigkeit aus. Ihm sah man schon von Weitem an, dass Wärme ein Fremdwort für ihn war. Außer im Winter, wenn die Heizung wieder einmal den Dienst versagte, dann war er der Erste, der maulte. Trotzdem genoss auch er die heimelige Atmosphäre, ab und zu jedenfalls.

Mit starrem Blick führte Lisa die Tasse an ihre Lippen. Wie konnte ein Mensch, der sich an einem Ort offensichtlich wohlfühlte, immer und immer wieder die ganze Umgebung vergiften? Papa war ein Hitzkopf, der seinen Mitmenschen misstrauisch und kratzbürstig begegnete. Doch könnte er nicht wenigstens zu Hause bei seiner Familie darauf verzichten, ein solches Scheusal zu sein?

Ihre Mutter nahm ihn ständig in Schutz und erklärte allen, die es hören wollten oder auch nicht, dass ihr Franz nicht immer so gewesen sei und dass das Leben an seiner harten Schale Schuld hätte. Was seine Vergangenheit tatsächlich mit ihm gemacht hatte, erzählte sie nicht. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit seinem tamischen Kirbis klarzukommen. Vielleicht wäre seine Sturheit erträglich gewesen, doch die Wutausbrüche, die von rätselhaften Schimpftiraden begleitet wurden, seine ekelerregende Selbstgerechtigkeit und die Unerbittlichkeit, vor der niemand bestehen konnte, waren kaum auszuhalten.

Ihr fiel der Umgang mit ihrem Vater besonders schwer. Papas ständige Herumnörgelei hätte sie ertragen können, aber dass er sie bei jeder Gelegenheit bloßstellte … Tränen schossen ihr in die Augen.

„Den Tag mit einem Lächeln zu beginnen, muss ich wohl noch üben“, murmelte sie vor sich hin.

In düstere Gedanken versunken strich sie Butter auf die Brotscheibe, die vor ihr auf dem rot-weiß getupften Teller lag. Großzügig gab sie von dem goldgelben Fruchtaufstrich darauf und biss genüsslich hinein. Sie liebte den leicht zitronigen Geschmack, der von einem Hauch von Birne getragen wurde, besonders wenn er sich auf das kräftige Bauernbrot ihrer Mutter legte.

Mit halb vollem Mund nahm sie einen großen Schluck Kaffee, verschluckte sich aber fast daran, als Loris in die Küche stürmte und die Tür hinter sich zuknallte. „Sag mal, geht’s noch? Was kann die denn dafür?“, schnauzte sie ihren Bruder an. „Was ist los mit dir?“

„Was geht dich das an, was mit mir los ist?“, donnerte Loris zurück. Mit der Faust schlug er auf die anthrazit-weiß marmorierte Natursteinplatte, die in der Küche als Arbeitsfläche diente. Daran, wie ihr Bruder das Gesicht verzog, konnte Lisa erkennen, dass diese bescheuerte Aktion ihm erheblich mehr Schmerzen bereitet hatte als der Anrichte.

Immerhin war er mittlerweile geduscht und umgezogen. In seinen blonden, kurz geschnittenen Haaren glitzerten die letzten Wassertropfen wie klitzekleine Diamanten. Das verklebte Blut auf seiner Stirn war einem sterilen weißen Pflaster gewichen. Zu einer grünen Baumwollhose trug er ein blaues T-Shirt. Seine Füße waren nackt wie ihre eigenen. Über die Zusammenstellung der Farben hätte man durchaus streiten können. Aber immerhin gab es Stoff, der seinen durchtrainierten Körper bedeckte. Wie gut, dass Mama alles aufbewahrte, sonst hätte sich Loris heute mit einem Handtuch um die Lenden auf den Nachhauseweg begeben müssen. Bei dem Gedanken daran, wie sich nicht nur die heiratslustigen Mädchen, sondern auch die Waibolait, die erfahrenen Frauen, nach ihm umdrehten, huschte ein Grinsen über ihr Gesicht.

„Grins nicht so blöd“, schmetterte Loris ihr entgegen. Seine sonst eisblauen Augen verwandelten sich in dunkle Gewitterwolken. Aber Lisa ließ sich nicht einschüchtern. Im Gegenteil. Die Art, wie er vor ihr stand, trotzig wie ein kleiner Junge, mufflig auf das Universum, verlor sich in lebhaften Bildern, die mit ihrem ohnehin schon aktiven Kopfkino verschmolzen. Im Nu fand sie sich in einem ihrer Lachflashs wieder.

Loris sah sie kopfschüttelnd an. Schließlich wandte er sich von ihr ab und starrte mit leerem Blick aus dem Küchenfenster.

Nachdem Lisa sich erholt hatte, versuchte sie, die letzten Lacher mit dem kalten Kaffee hinunterzuspülen. Fragend sah sie ihren Bruder an. „Willst du dich nicht zu mir setzen und erzählen, was los ist?“, forderte sie ihn auf.

Loris stützte sich mit den Armen auf die Küchenplatte und fixierte immer noch ein nicht vorhandenes Etwas. Was er vor sich hin murmelte, konnte sie nicht verstehen.

„Komm“, ermunterte sie ihn und zog den schweren Zirbenstuhl neben sich unter dem Tisch hervor. Mit der flachen Hand klopfte sie auf die Sitzfläche. „Erzähl mir, was passiert ist.“

Loris schleppte sich zum Tisch. Er entschied sich für den Stuhl, der seiner Schwester gegenüberstand. Schwerfällig ließ er sich auf das harte Holz plumpsen.

„Muss ich mir Sorgen machen?“, fragte Lisa vorsichtig.