Wilhelm R. Vogel
Bedroht in Albanien
Julius Wondraschek im Land des Adlers
© Wilhelm R. Vogel, 2021
Autor: Wilhelm R. Vogel
www.wrvogel.eu
Umschlaggestaltung: Lena Grafeneder
Lektorat/Korrektorat: Maria Deweis
Verlag: myMorawa von Dataform Media GmbH, Wien
www.mymorawa.com
ISBN
978-3-99125-490-4 (Paperback)
978-3-99125-491-1 (Hardcover)
978-3-99125-493-5 (eBook)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Besuche einmal im Jahr einen Ort, den du noch nicht kennst.
Dalai Lama
Die Idee zu diesem Buch kam mir anlässlich einer Reise nach Albanien, in deren Verlauf ich die in dem Buch namentlich genannten Orte (und einige mehr) besuchen konnte. Vorweg sei angemerkt, dass Albanien ein wunderbares Reiseland mit einer teilweise sehr guten Hotelinfrastruktur und ausgesprochen freundlichen und hilfsbereiten Bewohnern ist. Vor allem die jüngeren Menschen sprechen gut Englisch, regional auch Griechisch und Italienisch.
Da mir das Land völlig fremd war, habe ich nach Büchern albanischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller gesucht. Einige der Romane werden in diesem Buch vom Protagonisten Julius Wondraschek gelesen und finden im Text ausführlich Niederschlag. Diese Bücher haben meine Sicht auf das Land wesentlich beeinflusst. Interessierten kann ich deren Lektüre nur ans Herz legen.
Das Buch ist streng subjektiv. Die beschriebenen Personen der Reisegruppe sind frei erfunden. Sollten Sie Menschen kennen, die ähnlich geartet sind, so ist das der reine Zufall.
Ich bedanke mich bei meinen Mitreisenden, insbesondere bei Wolfgang und Andreas, welche die Route geplant haben. Viele Orte hätte ich sonst nicht gesehen. Andreas hat uns darüber hinaus nicht nur auf die Idee gebracht, die in dem Buch beschriebene Ausstellung des albanischen Künstlers Adrian Paci zu besuchen, sondern auch zwei Treffen mit dem Künstler organisiert. Wolfgang und Andreas haben sich die Zeit am Steuer geteilt, ihnen ist es zu verdanken, dass wir, trotz der abenteuerlichen Straßen bei unserem Ausflug nach Theth, die Rückreise nach Wien heil antreten konnten.
Am Ende des Buches finden Sie eine Skizze von Albanien, in der die Lage der wichtigsten im Buch beschriebenen Orte eingezeichnet ist. Ein Glossar findet sich im Anhang.
Ich bedanke mich bei meiner Tochter Lena Grafe- neder, die wieder das Cover gestaltet hat, bei meiner Lektorin Maria Deweis für das bewährte Lektorat, bei meiner Schwester Uschi Vogel und bei Beate Dorau, die das Manuskript gelesen und mir wertvolle Anregungen gegeben haben, sowie bei meiner Familie, die immer wieder Verständnis für meine Schreibleidenschaft gezeigt hat.
Wien, im Sommer 2020
Julius Wondraschek, pensionierter Beamter, alleinlebend und übergewichtig, saß am Tisch seiner geräumigen Altbauwohnung, hatte den Kopf in die Hände gestützt und murmelte zornig vor sich hin.
„Der alte Orthopäde hatte doch recht. Eine Zeitlang geht es noch, hat er gesagt, aber der Weg ist klar: Wir gehen Richtung Titan. Und es wird nicht bei einem künstlichen Kniegelenk bleiben. Ich werde derer zwei benötigen. Mittelfristig. Das war vor fünf Jahren. Und jetzt ist es so weit. Ich bin gefangen, kann keinen Schritt machen und die Wohnung nicht mehr verlassen. Ein Jahr, nachdem man mir mit der Pensionierung meinen Beruf genommen hat, wird mir auch noch das Reisen verleidet. Jetzt, wo ich den höheren Sinn dieser mühseligen Ortsveränderung immer besser zu verstehen beginne.“
In der Nacht war es losgegangen. Dann, beim Morgengrauen war er, gegen den immer stärker werdenden Schmerz kämpfend und ohne länger als jeweils ein paar Minuten geschlafen zu haben, aufgestanden, um sich in die Küche zu schleppen. Es war mit den ersten Bewegungen etwas erträglicher geworden, aber das Stechen im Knie hatte ihn den ganzen Tag begleitet. Jetzt, am frühen Nachmittag, saß er in seinem Zimmer und war unzufrieden mit sich und der Welt.
Julius schloss die Augen und atmete tief. Er formte mit den Händen eine Halbkugel, in die er hinein und aus der er heraus atmete. Vor langer Zeit hatte er die Erfahrung gemacht, dass ihm diese Technik helfen konnte.
Langsam wurde er ruhiger, sein Denken klarer und die Panik ließ nach. So schlimm war es auch wieder nicht. Er konnte, mit etwas Mühe freilich, seine Wohnung verlassen und die vier Stockwerke hinunterhumpeln. Den Weg zur nächsten Straßenbahn hatte er am Vormittag geschafft, genauso wie die gut 15 Minuten bis zur Buchhandlung. Er hätte auch ein Taxi nehmen können.
Andere konnten sich weit weniger bewegen. Außerdem könnte er abnehmen, dass würde seine Knie entlasten. „Was ist los mit mir?“, knurrte er verärgert. Sein Knie hatte schon öfter geschmerzt, auch im vergangenen Herbst in Marokko. Dort hatte er es aber ignoriert und war zum Ausgleich öfter in ein Café gegangen, um sich zu erholen.
Warum war er so deprimiert? Er würde eben zum Orthopäden gehen. Der hatte ihm schon einmal geholfen. Vor fünf Jahren, als es so schlimm war, dass er kaum die Stockwerke zu seiner Wohnung hinaufsteigen konnte. Am Handlauf hatte er sich hinaufgezogen, damals. Da hatte er das linke Knie nicht einmal abbiegen können, jetzt schmerzte es bloß. In der Nacht war er wach gelegen und hatte sich bemüht, eine Stellung zu finden, in der er schlafen konnte. Auch das kannte er von früher.
Und im schlimmsten aller Fälle musste er sich eben operieren lassen. Die Erfolgschancen waren zwar nicht überwältigend, ein Knie schien weitaus komplexer zu sein als eine Hüfte, aber falls es nicht anders ging, würde er sich eben unter das Messer legen. Auch wenn er in seinem bisherigen Leben den Kontakt zu Ärzten vermieden hatte, wann immer es möglich war. Dass dieser Kontakt mit zunehmendem Alter oft nicht zu vermeiden war, hatte er zur Kenntnis genommen.
Noch vor 15 Jahren hätte er auf die Frage nach dem Hausarzt keine Antwort gewusst, jetzt begrüßte ihn die Sprechstundenhilfe mit seinem Namen. Auch das hatte sich geändert.
Er wechselte zu dem großen Fauteuil, der in der Ecke des Wohnzimmers stand. An drei der vier Wände reihte sich bis hoch hinauf Buch an Buch. Er betrachtete die Bücher als seine Freunde. Sie würde er lesen können, selbst wenn er einmal im Rollstuhl sitzen sollte. Vielleicht war das der Grund, warum er sich nie von einem Buch trennen wollte. Die Bücher waren seine Freunde und die lässt man nicht im Stich.
Es war düster. Konnte es am grauen, regnerischen Wetter liegen, dass er so deprimiert war? Jetzt, im September, würde das Grau ohnehin noch nicht lange halten. Fiel ihm die Decke auf den Kopf? Vielleicht musste er bloß weg. Irgendwohin. Julius griff zum Telefon.
„Maria, wir müssen weg!“
Maria lachte. „Gerne, ich bin dabei! Hast du eine Bank ausgeraubt, brauchst du einen Fluchtwagen?“
„Nein, aber mein Knie spinnt wieder einmal, und mir fällt die Decke auf den Kopf.“
„Verstehe ich gut. Wie schnell muss es sein? Noch diese Woche?“
„Nein, sobald ich weiß, dass wir wegfahren, werde ich mich mit der Destination beschäftigen. Das hilft.“
„Ich weiß noch etwas, das dir helfen wird.“
„Was?“
„Eine Therapie.“
„Das ist nicht dein Ernst!“
„Doch, und zwar fangen wir heute damit an. Gewissermaßen mit einer Paartherapie. Gemeinsam. 18 Uhr in der ,Konoba'. Ich reserviere uns einen Platz.“
„Das klingt vielversprechend. Maria, du kennst meine geheimsten Bedürfnisse.“
„So geheim sind sie auch wieder nicht, aber abgesehen davon, wo möchtest du hinreisen?“
Julius sah auf die Weltkarte, die neben seinem Fauteuil hing.
Der Sommer ging dem Ende zu. Bald kam der Herbst, da wollte er nicht in den Norden. Des Lichtes wegen, die niedrigen Temperaturen störten ihn weniger. Im Gegenteil.
Also in den Süden. Und es sollte etwas sein, das er nicht kannte. Was war ihm fremd und dennoch nicht allzu weit weg? Sein Blick wanderte nach Kroatien und dann weiter, immer die Küste entlang.
„Maria, was hältst du von Albanien?“
„Eine gute Idee, und die ,Konoba' passt dazu. Reden wir dort weiter.“
Julius dachte an Maria. Nach einer gescheiterten Ehe hatte er nicht mehr damit gerechnet, jemanden zu finden, der ihn ertrug, so wie er war: Alt, oft grantig und ungeheuer neugierig, wie er sich mit einiger Koketterie selbst definierte. Aber dann war sie einfach da gewesen, die Uniprofessorin, die ebenfalls alleine geblieben war, und deren Neugier genauso grenzenlos war wie die seine. Ihr Spezialgebiet war das Verhalten von Spinnen, aber ihr Interesse schloss den Rest der Welt mit ein.
Es war vier Uhr nachmittags. Er würde etwa eine halbe Stunde bis zu dem dalmatinischen Restaurant brauchen. Julius versuchte aufzustehen. Das ging besser als vorhin. Wenn man ein Ziel hat, geht so manches leichter.
Er schlurfte zu seinen Bücherregalen. Viel Literatur über Albanien hatte er sicher nicht. Ganz oben standen die Bücher seiner Kindheit. Es war einer der Vorteile der Wiener Gründerzeitbauten, dass man an den hohen Wänden viele Bücher unterbringen konnte. Julius holte die Leiter. Karl May - ,Durch das Land der Skipetaren‘. Das würde er zum Einstieg lesen, auch wenn Karl May dort genauso wenig gewesen war wie an den anderen Schauplätzen seiner Schriften.
In seiner Jugend hatte Julius diese Romane verschlungen. So an die vierzig Bände hatte er damals besessen, in einer edlen Ausgabe vom ,Buchclub Do- nauland‘ - grünes Leinen mit Goldprägung auf rotem Grund. Seine Großmutter hatte sie ihm nach und nach geschenkt, glücklich darüber, für alle Anlässe, an denen er zu beschenken war, etwas zu haben, das leicht zu besorgen war und ihm Freude bereitete.
Später, so mit dreißig, hatte er wieder einmal eines der Bücher zu lesen versucht, aber nichts mehr damit anfangen können. Die meisten besaß er noch, bloß einige der Bekanntesten hatte er verschenkt. Die ,Win- netous', den ,Ölprinzen' und den ,Schatz im Silbersee' hatte der Sohn seiner Nachbarin bekommen.
Albanien, warum hatte er bisher nie daran gedacht, nach Albanien zu reisen?
Für eine kurze Recherche blieb noch ausreichend Zeit. Er fuhr den Laptop hoch.
Albanien war die Nation der Bunker. 200.000 sollte es davon geben, nach anderen Quellen dreimal so viel. So oder so, reichlich für ein Land mit weniger als drei Millionen Einwohnern.
Julius fragte sich, wie es sein konnte, dass in einem Land, in dem von der Regierung der Bau von Bunkern derartig forciert worden war, deren Zahl je nach Quelle so variierte. Es musste doch Beamte gegeben haben, auch im kommunistischen Albanien. Und zweifellos hatten diese die Zahl der Wehranlagen genau gekannt und dokumentiert. Die Bunker waren wohl kaum in Eigenregie im eigenen Garten gebaut worden. Und selbst dann wäre in einem Land, dessen Geheimpolizei den Anspruch hatte, alles zu wissen, auch das aktenkundig geworden.
Die Geschichte Albaniens erschien ihm im höchsten Ausmaß verwirrend. An der Grenze zwischen Orient und Okzident gelegen, war das Land den unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt gewesen, die alle ihre Spuren hinterlassen hatten.
Julius las sich in einem Beitrag über die Blutrache fest, die strengen Ritualen unterworfen war und offenbar noch immer eine Rolle spielte. Er hatte von dieser speziellen Form noch nie gehört. Für ihn war Blutrache ein Krieg zwischen Clans, das assoziierte er mit Sizilien, Kreta oder mit Korsika. Aber die Blutrache nach den Regeln des Kanuns war offenbar noch komplexer. Sie war bis ins kleinste Detail geregelt und streng formalisiert. Man konnte ihr nicht entkommen. Nicht als Opfer und seltsamerweise auch nicht als Täter. Ganze Familien, so hatte er gelesen, hatten auf diese Weise sämtliche Männer verloren. Dann musste eine Frau die Herrschaft übernehmen - als geschworene Jungfrau, die sich wie ein Mann kleidete und wie ein Mann trank und rauchte. Von den Männern wurde diese als ihresgleichen betrachtet und von den Frauen wurde sie wie ein Mann behandelt. Sex war jedoch tabu.
Es gab einen albanischen Autor, der in seinem Roman diese Regeln ausführlich beschrieb. Ismail Kadare, so las er, erzählte in seinem Werk ,Der zerrissene April' von einem Mann, der zur Blutrache verpflichtet war und dieser Verpflichtung nicht entgehen konnte. Das Buch musste er unbedingt lesen!
Dieser Schriftsteller, so fand er heraus, war der bekannteste albanische Autor der Gegenwart. Und er hatte auch einige andere Bücher verfasst, die sich Julius, kaum hatte er über deren Inhalt gelesen, unbedingt besorgen wollte.
Bei seinen Recherchen zu den geschworenen Jungfrauen stieß er auf das Buch ,Hana' von Elvira Dones, einer albanischen Schriftstellerin, dessen Beschreibung seine Fantasie anregte. Ein anderes Geschlecht zu leben als das, mit welchem man geboren worden war und mit dem man sich identifizierte, stellte er sich extrem frustrierend vor. Ähnlich, sagte er sich, wie bei den Menschen, die sich einem anderen Geschlecht als dem ihres Körpers zugehörig fühlten.
Julius schrieb seinem Buchhändler eine Liste mit seinen Wünschen, wie er es zumindest einmal im Monat tat. Diesmal war seine Wunschliste allerdings etwas länger. Der Buchhändler erhielt die Liste stets per E-Mail und bestätigte das Eintreffen der Bücher mit einer SMS. Sobald das erste Buch eintraf, würde Julius informiert werden. Der Buchhändler war verlässlich, Julius würde keine Zeit verlieren.
Die meisten bestellten Bücher waren von Ismail Ka- dare. Obwohl der Autor der bekannteste Schriftsteller Albaniens war, hatte Julius bisher noch nie von ihm gehört. Wir wissen viel zu wenig über den Balkan, dachte er, ein faszinierendes Gebiet mit einer abwechslungsreichen Geschichte und einer lebendigen Kultur. Aber alles, was man davon im heutigen Österreich mitbekam, waren die politischen Probleme auf der einen und die Urlaubsmöglichkeiten auf der anderen Seite.
Vor Jahren hatte er einmal Sarajewo besucht, knapp nach dem Krieg, und die Spuren der Verwüstung waren noch überall sichtbar gewesen. Er konnte sich gut daran erinnern, wie ihn damals das Nebeneinander der verschiedenen Kulturen fasziniert hatte. Kirchen und Moscheen, Friedhöfe aller Glaubensrichtungen sowie eine Buchhandlung, die ein Café war, und umgekehrt. Von dieser kulturellen Vielfalt wurde in Wien bestenfalls die Musik wahrgenommen.
Ihm fiel ,Die Brücke über die Drina' ein, in der Ivo Andric die bewegte Geschichte der Menschen beiderseits der Brücke über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten erzählte. Das Buch hatte ihn vor ein paar Jahren gefesselt. Würde man ihm jedoch die Aufgabe stellen, auch nur fünf weitere Autorinnen oder Autoren aus Bosnien oder Serbien aufzuzählen, so wäre das Scheitern vorprogrammiert. Das Gleiche galt für die meisten anderen Länder Osteuropas, abgesehen von den deutschsprachigen Autoren ÖsterreichUngarns. Wie einfach wäre es für ihn, Schriftsteller aus dem Westen Europas zu nennen. Und Schriftsteller aus Russland. Klar, die waren großartig. Julius liebte es, in die unendlichen Beschreibungen der Befindlichkeit von Personen, Gesellschaften und Landschaften einzutauchen. Aber aus dem übrigen Osten? War die Literatur dort weniger großartig? Der Eiserne Vorhang war Geschichte, aber in den Gehirnen der Menschen existierte er weiter.
Trotz der gemeinsamen Vergangenheit war der ,Osten‘ immer noch weit entfernt. Dass viele Gebiete dieses ,Ostens‘ von Wien aus gesehen im Norden und im Süden lagen, war eine andere Sache. Julius fiel auf, dass ihm ausschließlich Schriftsteller in den Sinn kamen, wenn von der osteuropäischen Literatur die Rede war. Aber in der Zeit, an die er dachte, hatten es wohl auch dort einige wenige Frauen zu schriftstellerischen Ehren gebracht. Von der zeitgenössischen russischen Literatur hatte er ebenfalls keine Ahnung. Er recherchierte kurz im Internet: Tschingis Aitmatow. Dessen ,Schneeleoparden‘ hatte er gelesen. Aber Aitmatow war aus Kirgistan. Julius hatte einmal dessen Hauptstadt Bischkek besucht. 90 Prozent des Landes lagen über 1.500 Meter Seehöhe. Die höchsten Berge erreichten fast 7.500 Meter. Österreich war dagegen flach. Der Autor hatte jedoch vor allem in Russisch geschrieben, daher wurde er in dem Artikel der russischen Literatur zugeschlagen, auch wenn viele Werke nach der Unabhängigkeit geschrieben worden waren. Die Grenzen verliefen auch hier fließend.
Die Bücher, die er bestellt hatte, müssten in drei bis vier Tagen abholbereit sein, bis dahin konnte er sich weiter im Internet informieren und seinen Karl May lesen.
Wie konnte es sein, fragte er sich aufs Neue, dass ihm der Großteil dessen, was er in der letzten Stunde recherchiert hatte, völlig unbekannt war? So weit lag Albanien nicht entfernt. 800 Kilometer, etwas mehr als eine Stunde mit dem Flugzeug. Er suchte einen Vergleich. Nach Paris waren es über 1.000 Kilometer Luftlinie.
Langsam wurde es Zeit, Maria zu treffen. Deutlich besser gelaunt machte er sich auf den Weg. Er hatte beschlossen, die ganze Strecke zur ,Konoba' zu Fuß zu gehen. Als Training für Albanien.
Die Treppen waren mühsam. Abwärts war immer schwieriger als aufwärts. Teilweise musste er verkehrt die Stiegen hinuntersteigen, aber unten angelangt ging es besser. Leichter Nieselregen empfing ihn. Vielleicht war das ein Grund dafür, dass die Schmerzen im Knie stärker geworden waren. War das nicht früher bei den alten Leuten genauso gewesen, dass diese immer über das Wetter jammerten, weil sie das Reißen bekamen und alte Narben schmerzten? Er hatte das damals nicht ernst genommen.
„Wo gehen Sie hin?“, fragte ihn ein älterer und nicht mehr ganz nüchterner Passant - offenbar, um ins Gespräch zu kommen. Der Mann hatte ein zerfurchtes Gesicht, einen grauen, struppigen Bart, aber wasserklare Augen. Er trug ein Sakko mit einem Pullover darunter, und er trug es in der Art, wie es bei den alten Männern vom Balkan und in der Türkei üblich war. Julius konnte nicht sagen, woran er das erkannte. Vielleicht lag es an der Mütze, die auch im Sommer einfach dazugehörte.
„Nach Albanien!“ Julius hatte keine Zeit für Smalltalk.
„Aber das ist doch etwas weit zum Gehen.“ Der Alte lächelte.
„Na ja, ich könnte bis Rijeka wandern und dann mit dem Schiff nach Durrës übersetzen. Nein, Sie haben recht, das wäre zu weit. Ich verreise erst in ein paar Wochen und dann mit der Bahn oder mit dem Flugzeug.“
„Lassen Sie Durrës von mir grüßen.“
„Kennen Sie die Stadt?“
„Nein, ich war nie dort, obwohl wir in der Nähe gelebt haben, das war im heutigen Kosovo. Aber wir durften damals nicht rüber. Eine schöne Reise, wie immer Sie hinkommen.“
„Danke, und ich werde in Durrës, falls ich es bis dorthin schaffe, ein Glas auf Ihr Wohl trinken.“
Der Mann bedankte sich und ging langsam seines Weges, auch er hinkte etwas. Julius empfand eine gewisse Befriedigung darüber, dass er sich den Namen der albanischen Hafenstadt gemerkt hatte. Durrës war auf der Karte neben seinem Fauteuil vermerkt, dennoch war der Ort für ihn bisher ohne Bedeutung gewesen. Reisen bildet, dachte er, und das beginnt in dem Augenblick, in dem man sich auf eine Destination festlegt. Außerdem war ihm soeben bewusst geworden, dass es in Wien zahlreiche Menschen gab, die in dieser Gegend aufgewachsen waren und denen diese etwas bedeutete. Österreich und der Balkan hatten nicht nur eine gemeinsame Geschichte, es gab auch eine gemeinsame Gegenwart. Die Menschen waren mobil geworden, Europa wuchs immer mehr zusammen. Hätte er mehr Zeit gehabt, hätte er von dem alten Mann sicher einiges lernen können.
Er versuchte schneller zu gehen. Seine Freundin Maria würde vor ihm dort sein, sie gehörte zu den Menschen, die meist vor dem vereinbarten Zeitpunkt eintrafen, Julius war auch einer von ihnen. Normalerweise, aber an diesem Tag würde er sich verspäten.
Sein Knie machte sich mit jedem Schritt deutlicher bemerkbar, gelegentlich knickte er ein. Julius biss die Zähne zusammen. Es war nicht mehr weit.
Erleichtert, aber mit Schweißperlen auf der Stirn, öffnete er die Tür und navigierte sich mühsam zwischen den Tischen hindurch in das Zentrum des Restaurants. Das Lokal war gut besucht. Der verführerische Duft von Knoblauch und gegrilltem Fisch stieg ihm in die Nase. Auf einer schwarzen Tafel fand er, mit Kreide geschrieben, die Spezialitäten des Tages und die angebotenen Weine.
Julius sah sich um. Maria saß an einem kleinen Tisch am Rande des Gastraumes, hatte ihn schon gesehen und hob zur Begrüßung das Glas mit dem Martini, den sie als Aperitif gewählt hatte.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie besorgt. „Wir reden zwar schon länger darüber, dass wir wieder einmal weiter wegfahren, aber dass es so dringend ist, war mir nicht bewusst.“
„Maria, was soll ich dir sagen?“ Er breitete in einer theatralischen Geste der Verzweiflung seine Hände aus und richtete seine Augen nach Worten ringend zur Decke. „Mein Knie schmerzt, ich kann kaum noch gehen. Ich leide schrecklich. Und ich gestehe, ich bin wehleidig und habe heute so richtig gejammert, ohne Publikum zwar, aber immerhin.“
„Du und dich gehen lassen, das wäre etwas Neues. Und wie war es? Ich kenne das nicht.“
„Maria, es war eine neue Erfahrung. Ich habe erkannt, dass Leiden auch etwas mit Genuss zu tun haben kann. Nicht ein richtiges Leiden, mit starken Schmerzen und so, sondern ein bisschen Leiden, mit mäßigen Schmerzen. Das kann aber ausreichen, sich als der ärmste Mensch auf der Welt zu fühlen. Das war vielleicht der süße Schmerz, von dem in der Literatur immer wieder zu lesen ist. Zum ersten Mal habe ich Mathilda, meine Ex-Frau, verstanden. Nur für Sekundenbruchteile, aber immerhin. Dann hat es mir aber auch schon gereicht. Andere mögen zum Leiden geboren sein, ich nicht! Darum habe ich dich angerufen.“
„Der katholische Zugang zum Leiden ist mir ja verwehrt, das ist, zumindest was die Theorie betrifft, dein Metier. Aber ich kenne das vom Liebeskummer in der Pubertät. Wir Mädchen haben damals darum gestritten, wer mehr litt. Das ist aber lange her.“
„Bei uns Buben war das anders. Liebeskummer war nicht ,cool', oder ,lässig', wie wir damals gesagt hätten. Damit konnte keiner punkten. Das machte man ausschließlich mit sich aus, daher gibt es bei Burschen kaum kollektive Erfahrung. Früher war das anders, aber Goethe ist schon lange tot und der Junge Werther, schon so alt, dass ihn niemand mehr lesen möchte. Ich weiß, dass es in der Geschichte sogar Ansätze zur Quantifizierung der Trauer bei Begräbnissen gegeben hat. Das waren Tränenkrüglein, deren Inhalt man vergleichen konnte. ,Messen, was messbar ist, und messbar machen, was noch nicht messbar ist' - so gesehen hätte der alte Galilei seine Freude an den Krügen gehabt.“
Maria unterbrach ihn. „Julius, wie fühlst du dich jetzt? Ich habe schon angefangen, mir ernsthaft Sorgen zu machen.“ Sie sah ihren Freund prüfend an.
„Ach das Leben ist wunderbar, auch wenn mich mein Knie schmerzt. Für den Körper schaue ich, dass ich schnellstmöglich einen Termin beim Orthopäden bekomme, und darüber hinaus werde ich bei dir Trost suchen. Notfalls brauche ich auch noch ein paar derartige Therapiestunden. Aber meine Seele braucht dringend eine Reise.“
„Hast du Schmerzmittel genommen?“
„Nein, aber ich werde es tun. Und zwar werde ich mit einem trockenen Sherry beginnen, zum Fisch einen jungen Debit einnehmen und danach mit einem etwas älteren Plavac weitermachen. Zum Abschluss überlege ich mir etwas Höherdosiertes, vielleicht nehme ich einen Slibowitz.“