Isabella Maria Kern
Gabe & Fluch
Augustine - in den Schuhen der anderen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Keller
Meine einzige Freundin
Der kleine Bruder
Der Impuls
Das Angebot
Boshaft, boshaft
Freundinnen
Der väterliche Chef
Das Geheimnis
Der Streit
Der Traummann
Transcorporation
Ekstase
Ein Traum?
Eine zerbrochene Freundschaft
In Melanies Wohnung
Die Magie der Transcorporation
Alles gehört wohl durchdacht
Ich nehme das Angebot an
Ich verzehre mich nach ihm
Wieso kann ich nicht sein wie alle anderen?
Keine Erinnerung
Der Traum
Heiße Schokolade
Sabina will Details wissen
Pamela kommt auch
Pamela ist eifersüchtig
Noch mehr Lügen
Macht über Melanie
Frühstücksei & Co
Der Ausflug
Eiseskälte
Geheimnisse
Vor der amerikanischen Botschaft
Trennung auf Zeit
Zurück vom Ausflug
Die Nische
Dominik kann nicht schlafen
Vom Auto angefahren
Eine reelle Chance?
Das Treffen
Das Geständnis
Ein Fremder
Amalia im Traum
Sehnsucht
Kaltherzigkeit
Hat sie den Verstand verloren?
Ungereimtheiten
Keine Entscheidung
Bedeutungsloser Sex
Die Vergangenheit aufarbeiten
Weihnachtsdekoration
In der Psychiatrie
Nervosität vor dem Date
Die Liebesnacht
Ein Zug nach Hause
Ist er verheiratet?
Jahrelang nicht gesehen
aussichtslos
Eine Sonde für Melanie
Die Aussprache
Wieder ohne Frühstück
Auf der Heimfahrt
Hass
Der Kampf
Das Geständnis
Besuch bei Melanie
Leopolds Frau
Therapien
Uneigennützige Gedanken
Mozart
Sie kommen mir nicht davon
Endlich zu Hause
Ein altes Weib
Das Ende einer Freundschaft?
Der Plan
Hatte sie das alles vergessen?
Der „Abschiedskuss“
Wild entschlossen
Große Fortschritte
Leopold versteht gar nichts mehr
Warum nur habe ich das getan?
Die Umarmung
Keine Mörderin
Ich muss Melanie sehen
Vage Erinnerungen
Eine Abschiedsnummer
Ist er es?
Die Verführung
Geschlagen
Die schönste Nacht meines Lebens
Kein Besuch
Philosophieren mit der besten Freundin
Amalia
Der Mann mit der Mütze
Kein Hass mehr
Impressum neobooks
Sorgfältig beschriftete ich mit großen Buchstaben die rote Schuhschachtel, dann hob ich noch einmal vorsichtig den Deckel und betrachtete die Schuhe, die ich gerade vorher ausgezogen hatte. Schnell schloss ich die Schachtel wieder und lehnte mich im Sessel zurück. Ich spürte, wie mein Puls raste und versuchte langsam und tief zu atmen. Draußen hörte ich die Turmuhr schlagen. Automatisch zählte ich mit. Eins, zwei, drei, vier Uhr. In einer halben Stunde würde es bereits hell werden. Unruhig sah ich mich im Wohnzimmer um.
Ich hatte das Bedürfnis die Schuhe augenblicklich loszuwerden, also ging ich mit der Schachtel unter dem Arm ins Treppenhaus und sah mich verstohlen um. Alles war ruhig und ich eilte zum Lift, um mit ihm in das unterste Stockwerk zu fahren. Den Schlüssel für den Keller hielt ich krampfhaft fest. Ich hasste es, in der Nacht in den feuchten, spärlich beleuchteten Keller zu gehen, aber es blieb mir nichts anderes übrig. Die Angst saß mir im Nacken, doch wusste ich nicht, ob vor den gruseligen Räumlichkeiten oder vor mir selbst.
Flink schloss ich das Vorhängeschloss meines Kellerabteils auf und schlüpfte hinein. Gott sei Dank war hier ein ordentliches Licht und ich ließ mich auf einen Hocker nieder, der in der Mitte des winzigen Raumes stand und mir dabei half, auch an die obersten Reihen der Regale zu gelangen. Ich sah mich um. Bis zur Decke war das Abteil mit Schuhschachteln gefüllt. Dazwischen standen die Verpackungen eines Mixers, meines Staubsaugers und ein paar kleinere Schachteln, die ich aufbewahrt hatte, weil ich dachte, dass man darin ein kleines Geschenk einpacken könnte. Andererseits fiel mir bei deren Betrachtung ein, dass ich schon seit Jahren niemandem mehr ein Geschenk gemacht hatte. Der Gedanke stimmte mich traurig und ich seufzte. Doch die Angst, die ich unmittelbar vorher gespürt hatte, war einem ganz eigenartigen Gefühl der Zufriedenheit gewichen, als ich all die Schachteln betrachtete, die sorgfältig beschriftet in den Regalen geduldig auf ihre Bestimmung warteten. Ich stand vom Hocker auf und strich sanft über eine Reihe im Regal, bis meine Finger bei einer Schachtel stoppten. Wieder spürte ich, wie mein Puls in die Höhe schnellte. Ich bekam eine Gänsehaut. Hastig stellte ich die Schachtel mit den „neuen“ Schuhen, die ich noch immer unter dem Arm eingeklemmt hatte, in das Regal. Schnell griff ich zu meinem Schlüsselbund, klickte das Schloss wieder ein und lief die Treppen hinauf. Meine Herzfrequenz war viel zu hoch, als ich mich auf meine Couch fallen ließ.
Irgendwie musste es aufhören!
Ich wollte nachdenken, doch einen Augenblick später war ich vor Erschöpfung eingeschlafen.
Sabina lehnte lässig am Türstock und räusperte sich. Ich sah vom Bildschirm auf und versuchte ein gequältes Lächeln in mein Gesicht zu zaubern.
„Guten Morgen, Augustine!“, rief sie fröhlich und näherte sich meinem Schreibtisch. „Du siehst schrecklich aus. Geht es dir nicht gut?“, fragte sie, während sie ein paar Unterlagen vor mich hinlegte und mich besorgt ansah. Ich fuhr mit dem Handrücken über meine Stirn.
„Keine Ahnung. Ich habe nicht gut geschlafen, aber das wird schon wieder“, antwortete ich und tat, als würde ich Interesse für die Akten zeigen. „Das möchte der Chef heute noch erledigt haben“, sagte sie und wandte sich bereits zum Gehen. Ich seufzte. „Klar doch, kein Problem“, sagte ich und widmete mich - Arbeitseifer heuchelnd - meinem Bildschirm.
In der Tür drehte sich Sabina noch einmal um. „Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte sie und sah mich forschend an. Ich nickte, ohne ihrem Blick standhalten zu können.
„Gehen wir ins Kino?“, wollte sie noch wissen. Ich zuckte die Achseln. „Mal sehen, wie es mir am Abend geht. Wir treffen uns nach der Arbeit im Gemeinschaftsraum“, schlug ich vor.
Sie nickte und schloss die Tür hinter sich. Sabina war meine Arbeitskollegin und meine einzige Freundin in der Stadt, obwohl ich bereits länger als eineinhalb Jahren hier lebte. Ich mochte sie wirklich, und sie mich offensichtlich auch, denn sie hatte mich schon oft aus meinen Gefühlsabgründen geholt. Meine Launen ertrug sie mit Gelassenheit, obwohl sie nicht in mein Geheimnis eingeweiht war. Niemand wusste davon und ich würde mich hüten, es je einem Menschen gegenüber zu erwähnen. Vermutlich würde ich im Irrenhaus landen.
Nein, nicht vermutlich. Ganz bestimmt sogar.
Ein paar Stunden später traf ich abgehetzt am vereinbarten Treffpunkt vor dem Kino ein. Ich war erstaunt, als neben Sabina ein Mann stand, der noch dazu sehr manierlich aussah, nicht so wie die Typen, mit denen sich Sabina normalerweise umgab. Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und Sabina hob tadelnd die Augenbrauen und machte mir Zeichen, ich solle mich gefälligst benehmen. Als ich vor ihnen stand, verlor Sabina keine Sekunde, um mir mitzuteilen, dass es sich bei diesem Adonis um ihren Bruder handelte. „Augustine, das ist Dominik, mein kleiner Bruder. Dominik, das ist die geheimnisvolle Frau, von der ich dir schon so viel erzählt habe“, stellte sie uns vor. Ich gab Dominik artig die Hand.
„Naja, sehr klein ist dein kleiner Bruder aber nicht mehr“, scherzte ich und starrte dabei in seine dunklen Augen. Ein kleiner Stich, irgendwo zwischen Milz, Magen oder doch Herz - ich konnte es nicht wirklich sagen - störte meine Coolness, die ich normalerweise an den Tag legte. Dominik ließ meine Hand nicht sofort los und sein Lächeln verstörte mich. Selbstgefällig nickte mir Sabina zu, und in diesem Augenblick hasste ich sie.
Was um alles in der Welt wollte sie denn von mir?
Wollte sie mich etwa mit ihrem Bruder verkuppeln? Ich brauchte keinen Typen in meinem Leben. Ich hatte keinen Platz.
Und mein Geheimnis?
Ich atmete tief durch und fand schließlich meine Gelassenheit wieder. „Welchen Film sehen wir uns an?“, fragte ich zwanglos.
Dominik hob die Achseln. „Ihr zwei Frauen dürft wählen“, wieder lächelte er mich an. Er sah umwerfend aus, aber ich beschloss, mich dadurch nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Du hast immer von deinem kleinen Bruder gesprochen, so als würde er noch im Sandkasten spielen“, begann ich und wollte ihnen zeigen, dass ich meine Fassung wieder zurückgewonnen hatte. Ehe sie noch antworten konnte, waren wir am Kassenschalter angekommen und wussten noch immer nicht, welchen Film wir uns ansehen wollten. Nach ein paar Minuten Diskussion und nach einem Ausschließungsverfahren von Liebes- und Actionfilmen, blieb nur mehr eine mittelmäßige Komödie, die mir schon vor dem Ansehen auf die Nerven ging. Die Filmnachbesprechung, die in verbaler Hinrichtung der Schauspieler ausartete, fand in Sabinas Lieblingsbar statt. Sabina hatte außer mir keine richtige Freundin, das wurde mir bald klar und ich wusste, dass es irgendwann einmal zu einem Problem werden würde, nämlich dann, wenn ich die Stadt wieder verlassen musste. Es stimmte mich traurig, aber ich spürte, dass es bald wieder so weit sein würde.
Nun saßen wir an einem kleinen Tisch und bestellten eine Runde Wodka-Lemon. Ich schielte zu Dominik und dann zu meinem Getränk. Alkohol hatte eine gefährliche Wirkung auf mich, ich musste achtgeben. Wir unterhielten uns zwanglos. Dominik erzählte von seinem Studium. In ein paar Monaten würde er fertig sein und dann stand ihm die Welt offen. Die Begeisterung in seiner Stimme, die Art und Weise wie er mit seinen Armen gestikulierte und der Ausdruck seiner Augen faszinierte mich zunehmend. Ich nahm wieder einen Schluck und merkte, dass mir der Alkohol bereits in den Kopf stieg. Sabina hatte anscheinend beschlossen, sich an der Unterhaltung nur wenig zu beteiligen und beobachtete uns zufrieden. Ich durchschaute sie und lenkte das Thema auf unsere Arbeit. Über unsere Kolleginnen konnte sie herrlich lästern, was meinen Verdacht bestätigte, dass es ihr unmöglich war, mehrere Freundinnen zu haben. Sabina war nicht kompatibel.
Warum sie aber genau an mir so einen Narren gefressen hatte, war mir nicht wirklich klar. Aber vielleicht, weil sie spürte, dass ich anders war. Und das war ich ganz bestimmt.
Mein Bett begann sich zu „drehen“, als ich den Kopf auf das Kissen legte. Warum um alles in der Welt hatte ich so viel getrunken? Es war bereits nach Mitternacht und am nächsten Tag brauchte ich einen klaren Kopf, denn mein Chef wollte mit mir die Bilanzen durchgehen. Ich öffnete die Augen erneut, denn ich ertrug es nicht, dass diese imaginären Bewegungen meinen Körper peinigten. Wankend ging ich ins Badezimmer, um mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser zu waschen. Mein Blick fiel in den Spiegel und ich starrte mich an. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Mensch mir gegenüber war. Er kam mir fremd vor. Neugierig sahen wir uns an. Ich hielt dem Blick stand. Er war durchbohrend und skeptisch. Ich traute diesem Spiegelbild nicht. Es versuchte mich zu täuschen. Schon als Kind hatte ich manchmal das Gefühl, dass das Gesicht im Spiegel nicht zu mir gehörte. Eine Welle der Angst überkam mich und ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig. Meine Kehle fühlte sich trocken an und eine unsichtbare Hand schien sie leicht zuzudrücken. Wieder trafen sich unsere Blicke und ich spürte, dass es wieder an der Zeit war.
Ich hatte die Stadt zu verlassen.
Auf dem Kästchen neben mir stand mein Lieblingsparfüm. Ohne es bewusst zu registrieren, griff ich nach dem Fläschchen und schleuderte es gegen den Spiegel, der augenblicklich in Tausend Scherben zerbarst. „Ich hasse dich, Augustine Schreiber!“, schrie ich und ließ mich zu Boden gleiten. Dass ich an der rechten Hand blutete und über die Scherben hinaus ins Wohnzimmer rannte, bemerkte ich erst am nächsten Morgen, als ich mich im Bett aufsetzte. Beim Anblick der Blutflecke erinnerte ich mich sofort wieder daran, dass ich in der Nacht meinen Impuls erhielt, mein Leben zum x-ten Mal zu verändern. Doch noch nie war es mir so schwergefallen wie jetzt. Meine Hände zitterten, als ich die Kaffeemaschine einschaltete.
Ich musste Zeit gewinnen.
Obwohl auch Sabina etwas verkatert wirkte, winkte sie mir dennoch freundlich zu, bevor sie in ihrem Büro verschwand. Trotz Schlafmangels konnte ich mich gut auf meine Arbeit konzentrieren, und es machte mir überraschenderweise Spaß. Mein Chef lobte mich für meine Leistungen. Nach der Mittagspause orderte er mich erneut in sein Büro, das sehr modern und schlicht eingerichtet war. Immer, wenn ich es betrat, freute ich mich über die vielen Pflanzen, die den Raum sehr lebendig machten, und ich fragte mich, was ich falsch machte, denn meine Blumen und Topfpflanzen ließen regelmäßig die Köpfe hängen und die Blätter waren meist stumpf und braun, egal, ob ich sie viel oder wenig goss. Mein Verdacht plädierte auf „zu wenig“ oder „zu viel“.
Er bot mir freundlich lächelnd einen Sessel ihm gegenüber an, faltete die Hände vor sich und sah mich durch seine Brille an. Gelassen und etwas traurig erwiderte ich seinen Blick, denn ich wusste, dass ich sein Angebot nicht annehmen konnte. „Aber Sie müssen!“, versuchte er es noch einmal, „Sie sind eine begabte, junge, ehrgeizige Frau. Ich habe großes Vertrauen zu Ihnen. Bitte überlegen Sie es sich gut. Eine Assistentin wie Sie kann sich ein Vorgesetzter nur wünschen“, mit diesen Worten begleitete er mich bis zu meiner Bürotür. Ich schloss die Tür hinter mir und ließ mich auf meinen Sessel plumpsen.
Vielleicht hatte ich mich auch nur geirrt, ging es mir durch den Kopf. Oder was wäre, wenn ich mich einfach weigerte?
Was wäre, wenn ich mich wehrte.
Es war das erste Mal, dass ich eine Stadt nicht verlassen wollte. Ich fühlte mich wohl hier und ich wollte, dass es aufhörte…
Fünf Anrufe in Abwesenheit von Sabina zehrten an meinen Nerven und ich schaltete mein Handy aus. Es schien mir unmöglich, in meinem momentanen Gefühlszustand, mit ihr zu sprechen. Ich zog mir etwas Bequemes an und ging in den Keller. Zuerst zählte ich die Schuhschachteln. Es waren dreiundachtzig. Ich hatte fünf große Müllsäcke mitgebracht, um die Schuhe zu entsorgen. So begann immer meine Flucht in ein anderes Leben. Etwas mühsam kletterte ich auf den Hocker, um an das oberste Regal zu kommen. Auf einer Schachtel las ich:
*Rote Pumps, elegant, zerstörend*
Auf einer anderen stand mit gleichmäßigen Buchstaben:
*Braune Sandalen, salopp, freundlich gesinnt*
*Hellgrüne Schnürschuhe, bequem, euphorisch*
*Schwarze High Heels, schmerzend, boshaft*
Ich griff nach dieser Schachtel, und zog sie etwas nach vor, wobei sie mir aus der Hand glitt und mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufschlug. Der Deckel war heruntergerutscht und ein schwarzer Schuh lag auf dem feuchtkalten Beton. Erschrocken starrte ich ihn ein paar Sekunden lang an. Der schwarze Schuh war wunderschön und aus dem feinsten Leder gefertigt, das man sich vorstellen konnte. Noch immer blieb ich auf dem Hocker stehen und wagte mich nicht hinunter. Ich wollte den Schuh auf keinen Fall berühren. Der Deckel lag neben dem Schuh und ich las immer wieder: boshaft, boshaft…
Wie kleine Blitze schossen Momente der Erinnerung vor mein inneres Auge. Es erschienen Bilder, die ich längst vergessen glaubte. Wie um die Erinnerungen zu verscheuchen, schüttelte ich wütend den Kopf. Ich sprang vom Hocker und stand vor dem Schuh. Ein tiefes Verlangen packte mich und ich bückte mich, um den Schuh zu berühren. Doch eine andere Kraft nahm von mir Besitz und wollte mich daran hindern. Ich schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Minuten später saß ich wieder in der Wohnung und hatte mich allmählich beruhigt.
Pamela bürstete ihre langen Haare und beobachtete sich dabei im Spiegel. Ohne meinen prachtvollen Wuschelkopf bin ich ein unscheinbares Ding, ging ihr durch den Kopf. Pamela arbeitete mittlerweile seit drei Jahren an ihrem Selbstbewusstsein. Sie verschlang alle möglichen esoterischen Bücher, vertrieb sich die Zeit mit psychologischen Werken, wachte morgens auf und dankte Gott für ihr „Dasein“. Von Zeit zu Zeit fragte sie sich, wofür sie danken sollte, wo ihr Leben doch so gar nicht nach ihrem Geschmack verlief. Aber daran war sie im Grunde selbst schuld, wo doch jeder für sein eigenes Glück verantwortlich war. Dankbar sein, das Leben so annehmen, wie es ist und gleichzeitig darauf vertrauen, dass der Himmel nur das Beste für einen will. Haha! Pamela ließ die Bürste sinken und lächelte. Genau! Lächeln nicht vergessen! ermahnte sie sich. Aber eigentlich hatte sie gar keine Lust dazu.
Es war später Nachmittag und sie hatte sich abends mit einer Freundin verabredet. Pamela setzte sich in der Küche nieder und griff frustriert nach der Zigarettenschachtel. Der Aschenbecher auf dem kleinen Tisch quoll beinahe über. Sie schenkte ihm einen verächtlichen Blick, dann zündete sie sich eine Zigarette an und blies den Rauch geräuschvoll zum Plafond hinauf. Der Magen machte sich plötzlich mit einem lauten Knurren bemerkbar. Pamela fiel ein, dass sie seit dem Frühstück keinen Bissen mehr gegessen hatte. Vor einer halben Stunde hatte sie das Geschäft verlassen, in dem sie als Schuhverkäuferin arbeitete. Es war ein schöner, großer Laden, mit ausgesuchten Modellen, kein Konsumtempel, wo von jeder Größe zehn gleiche Paare an Frauenfüßen den Shop verließen, um sich dann in der Stadt an jeder Ecke wiederzutreffen und den eifersüchtigen Blick des Gegenübers standhalten zu müssen. Pamela arbeitete gerne, auch genoss sie das Vertrauen ihrer Chefin, die sie oft zu Einkäufen als Beraterin hinzuzog. Es erfüllte sie mit Stolz und vor zwei Monaten wurde sie offiziell als Einkaufsassistentin zwei neuen Mitarbeiterinnen vorgestellt. Auch war sie es, die die Auslagen gestaltete, und sie erledigte die ihr übertragenen Arbeiten stets zur Zufriedenheit der Geschäftsleitung. Für die Ordnung in den Regalen war ihre Arbeitskollegin Melanie zuständig, deren Arbeit fast im selben Ausmaß gewürdigt wurde.
Melanie war mehr eine Freundin als eine Kollegin, und in ihrer Freizeit trafen sich die beiden Frauen mehrmals die Woche. Die Wochenenden verbrachten sie fast immer gemeinsam. Es gab sogar Überlegungen, dass sie gemeinsam in eine Wohnung ziehen sollten, da beide Singles waren. Obwohl jede froh gewesen wäre, die Abende nicht mehr allein vor dem Fernseher verbringen zu müssen, scheiterte das Zusammenziehen dann doch an Melanie, die zu bedenken gab, dass eine der Freundinnen eine Beziehung haben werde, und es dann nur zu Komplikationen kommen würde. Also blieb es bei den abendlichen Treffen in der Stadt, bei Kinobesuchen und den Wochenendausflügen.
Pamela dämpfte die Zigarette aus, griff zum Telefon und wählte Melanies Nummer. Doch anstatt Melanies meist fröhliche Stimme zu hören, antwortete die Mobilbox. Pamela legte das Handy ärgerlich auf den Tisch und fingerte nervös in ihren Locken herum. Sie wusste selbst nicht, warum sie so schlecht gelaunt war. Das mochte vielleicht am Wetter liegen, oder …
Warum hob Melanie bloß nicht ab?
Ein seltsames, brennendes Gefühl machte sich in Pamelas Brust breit. Fast fühlte es sich an wie Eifersucht. Sie starrte zum Fenster hinaus und sah, dass es leicht zu nieseln begonnen hatte. In letzter Zeit kam es öfter vor, dass Melanie nicht erreichbar war, was Pamela sehr seltsam fand. Der Verdacht lag nahe, dass Melanie etwas zu verbergen hatte. Vielleicht hatte sie jemanden kennengelernt, was sie Pamela nicht sagen wollte, damit sie sie nicht verletzte? Pamela stand auf und trat näher ans Fenster. Sie fröstelte. Was, wenn es wirklich so war? Was, wenn ihre beste Freundin plötzlich nicht mehr so viel Zeit mit ihr verbringen wollte?
Pamela bekam ein schlechtes Gewissen, denn sie wusste, dass sie es ihr nicht wirklich vergönnen würde. Sie war die Ältere und seit zwei Jahren Single. Hätte sie nicht als Erste etwas Glück verdient? In dem Moment, als ihre Stimmung den Nullpunkt erreichte, läutete ihr Handy. Am anderen Ende meldete sich mit gewohnt fröhlicher Stimme ihre beste Freundin. Aller Trübsinn war wie fortgeblasen, als Melanie erklärte, das Telefon nicht gehört zu haben, da sie unter der Dusche stand. Pamela seufzte. Sie machte sich ständig sinnlose Sorgen. Sie verabredeten sich für halb acht zum Essen beim Chinesen in der Innenstadt.
„Ich muss dir etwas gestehen“, begann Pamela, nachdem sie die Stäbchen zur Seite gelegt, und sich mit der Serviette den Mund abgewischt hatte. Melanie steckte den letzten Bissen Reis in den Mund und sah sie fragend an. Als Pamela nichts sagte, nuschelte sie etwas Unverständliches und legte das Besteck beiseite. Sie hasste diese doofen Stäbchen, dir ihr andauernd durch die Finger rutschten und alles, was sie bereits mühevoll aufgeladen hatte, wieder auf das Teller zurückplumpsen ließ. Melanie lehnte sich zufrieden in ihren Sessel zurück und der Kellner eilte sofort herbei, so als hätte er nur darauf gewartet, dass sie endlich den letzten Bissen gegessen hatten. Mit einer freundlichen Verbeugung servierte er die leeren Teller ab.
„Was willst du mir denn gestehen?“, fragte Melanie nun wirklich gespannt. Pamela bereute es bereits, dass sie damit angefangen hatte. „Ich denke wir bekommen ein Problem, wenn eine von uns beiden einen Mann kennenlernt“, begann sie und versuchte, sich auf die kleine tanzende Flamme der Kerze in der Mitte des Tisches zu konzentrieren. Melanie setzte sich etwas auf, um ihrer Freundin besser in die Augen sehen zu können.
„Was genau meinst du damit?“, fragte sie etwas gereizt, obwohl sie wusste, auf was Pamela anspielte. Als diese aber nicht gleich antwortete, beschloss Melanie, ihr diese Arbeit abzunehmen.
„Nicht WIR bekommen ein Problem, sondern DU bekommst eins! Ich nehme an, dass du mir damit sagen möchtest, dass du es mir nicht vergönnen würdest, einen Freund zu haben. Ich, im Gegenteil, würde mich für dich freuen“, sagte sie und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Sie war sehr ärgerlich. Pamela hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Ihre Freundin hatte recht, es war egoistisch. Sie schämte sich dafür.
„Es tut mir leid, Melanie. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich habe eine furchtbare Phase. Vor ein paar Wochen noch dachte ich, dass es jetzt endlich bergauf geht. Ich dachte, ich sei glücklicher. Ich lese schlaue Bücher, ich versuche dankbar zu sein. Ich … aber irgendwie schaffe ich es trotzdem nicht“, sie machte eine Pause. „Du bist meine beste Freundin und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich dich verliere. Wenn du nichts mehr mit mir unternimmst, dann habe ich überhaupt keine Lebensfreude mehr“, sie starrte weiter in die Flamme. Melanie sah sie etwas befremdet an. Irgendwie gefiel ihr dieser Charakterzug an Pamela überhaupt nicht. Was sollte diese Eifersüchtelei, noch dazu, wo momentan überhaupt kein Grund dazu bestand.
Von einem Nebentisch aus hatte ich die ganze Unterhaltung mitangehört. Eine meiner Stärken – oder man konnte es auch Schwächen nennen – bestand darin, dass ich mich uneingeschränkt in das Gefühlsleben meiner Mitmenschen hineindenken konnte. Vielleicht hatte das aber auch etwas mit meiner Andersartigkeit zu tun, die mich zu emotionalen Höchstleistungen anspornte. Wieder stieg dieses Gefühl in mir hoch, welches ich Angst nannte, das mich auf eine seltsame Weise reizte und weitertrieb. Eine leise Stimme, die mich zwang Sachen zu tun, die eine „nette“ Augustine, nie machen würde.
Diese Melanie gefiel mir ausgesprochen gut. Sie wirkte mit ihren eng beieinanderliegenden, dunkelbraunen Augen, wie eine zarte Elfe. Sie war blass, sehr blass sogar, fand ich, aber das ließ sie nur noch lieblicher erscheinen. Ich verspürte einen momentanen Drang, sie beschützen zu müssen.
Gleichzeitig fiel mein Blick auf ihre Schuhe.
Ich schloss die Augen, mir wurde übel.
Mir wurde umgehend klar, vor was ich sie beschützen wollte.
Vor mir!
Sabina knallte meine Bürotür zu. Ich hörte ihre Absätze hart auf dem Parkettboden auftreten, was mich bei jedem „Klack-Klack“ zusammenzucken ließ. Ich verstand ihre Wut und ich wusste es zu schätzen, dass sie sich Sorgen um mich machte, wo sie doch instinktiv spürte, dass ich mich von ihr abwandte. Ich musste versuchen, den Schaden, den ich mit meiner Flucht aus ihrem Leben anrichten würde, in Grenzen zu halten. Wie schlecht würde ich sie behandeln müssen, damit sie froh wäre, wenn ich aus ihrem Leben verschwinden würde, fragte ich mich.
Es tat weh.
Ich wollte meine beste Freundin weder verletzen, noch verlieren. Ich musste einfach Zeit gewinnen. „Frau Schreiber, haben Sie über mein Angebot nachgedacht?“, säuselte mein Chef, indem er den Kopf bei meiner Tür hereinsteckte und mich durch seine dicke, unmoderne Brille lächelnd ansah. Ich schüttelte langsam den Kopf, denn ich musste mich zuerst wieder fassen, dachte ich doch, Sabina wäre zurückgekommen, um mit mir zu sprechen. „Bitte geben Sie mir noch ein paar Tage Bedenkzeit. Ich war so überrascht über Ihr Angebot, dass ich mich erst an den Gedanken gewöhnen muss“, sagte ich etwas zaghaft, räusperte mich und schluckte den „Frosch“ hinunter, der mir in der Kehle saß. Eigentlich störte mich mein Chef beim Weinen, denn ich war gerade im Begriff mich in Selbstmitleid zu suhlen und meinen Tränen freien Lauf zu lassen. „Solange Sie wollen. Ich werde auf Sie warten“, flötete er, als wäre er mein Bräutigam und wartete hoheitsvoll auf das „Ja-Wort“ seiner Braut. Unwillkürlich musste ich lächeln, denn ich fand ihn rührend, meinen – ach, so väterlichen - Chef. Irgendwie fühlte ich mich meiner Tränen beraubt, denn weinen konnte ich nun vergessen. Er hatte mich auf völlig andere Gedanken gebracht.
Ich schweifte ab in die Vergangenheit. Mein Gehirn versuchte Bruchstücke der Erinnerung an meinen Vater zu rekonstruieren, die sich aber nicht fassen ließen und mir nach schemenhaften Darstellungen wieder entglitten. Er war nie da, er trank und spielte. Erst als ich erwachsen war verstand ich, dass er mit seinem Leben und einer Tochter überfordert war, die bis zum zehnten Lebensjahr kein Wort sprach. Meine Mutter hatte ich nie kennengelernt - angeblich bei der Geburt verstorben. Ich zweifelte jahrelang an dieser Botschaft an ein kleines Mädchen, dass sich nichts sehnlicher wünschte als eine Familie. Die Jahre nach dem Tod meines Vaters sind mir nur ganz verschwommen in Erinnerung. Man gab gut acht auf mich, man erzog mich, man lehrte mich zu arbeiten. Man war froh, als ich mein Leben selbst in die Hand nahm und aus dem Heim auszog.
Im Alter von neunzehn Jahren wusste ich noch nicht einmal, dass es ein ICH gab. Ich konnte mich allein durchbringen. Mein Job als Buchhalterin erwies sich als eine gute Sache, denn ich bekam in jeder Stadt Arbeit, ohne lange suchen zu müssen. Ich war nicht glücklich, aber ich erfüllte meine normalen Bedürfnisse auf eine recht zufriedenstellende Art. Meine Wohnung richtete ich genau wie auf einem Bild in einem dieser Hochglanzwerbeprospekte ein, das ungefragt in meinem Postkasten landete. Meine Fantasie war diesbezüglich sehr begrenzt, denn ich hatte nie gelernt, mich zu entfalten. Ich konnte nicht wirklich kochen, deshalb nahm ich den Großteil meiner Mahlzeiten in einem kleinen, heruntergekommenen, aber deshalb spottbilligen Lokal ein, das in meiner Straße lag. Ich kann mich noch genau an diesen schicksalhaften Tag erinnern, als alles begann:
Es war ein Samstag, drückend schwül. Die Sonne brannte auf den Gehsteig und ich sputete mich, in den Hinterhof „meines“ Lokals zu kommen, damit ich der sengenden Hitze endlich entfliehen konnte. Hier war es sehr kühl, denn der kleine, enge Hof ließ die Sonne nur am Vormittag kurz hineinscheinen, den restlichen Tag lag er im Schatten. Die alten Steinmauern waren vom letzten Regen noch feucht und gaben eine herrliche Kühle ab. Ich nahm an einem der vier winzigen Tische Platz und beachtete die anderen Gäste nicht. Meistens nahm ich ein Buch mit, denn ich las lieber, vergrub mich in meinen Fantasien, als mich mit meiner Umgebung auseinanderzusetzen. Ich unterhielt mich nicht gerne mit anderen Menschen, denn ich war schüchtern und desinteressiert. Ich blieb lieber allein. An jenem heißen Sommertag las ich also in meinem Buch, aber ich spürte, dass ich vom Nebentisch aus beobachtet wurde. Ich konnte mich kaum mehr auf das Buch konzentrieren, so intensiv und unangenehm spürte ich den Blick auf mir. Um jeden Preis wollte ich vermeiden hinüberzublicken, doch ich wurde immer unruhiger. Als der Kellner mir das Essen auf den Tisch stellte und mir sein leidenschaftsloses „Mahlzeit“ dazu servierte, riskierte ich einen Blick und sah in die lebhaften Augen einer alten Frau. Ich warf ihr einen wütenden Blick zu, ehe ich zu essen begann.
„Lassen Sie es sich gut schmecken!“, sagte sie freundlich und ich begriff erst gar nicht, dass sie wirklich mich meinte. Ich murmelte ein unfreundliches „Danke!“ und vergrub meinen Blick in dem unappetitlich aussehenden Linsenbrei, der dampfend heiß einen sehr harmonischen Geruch verbreitete. Ich überlegte kurz, wie ein so ekelhaft aussehendes Gericht so gut schmecken konnte. Ein schizophrenes Essen also – schmunzelte ich über meinen eigenen Witz. Als der Kellner wieder kam und meinen mit Akkuratesse ausgeputzten Teller mit sich nahm, richtete die alte Frau das Wort abermals an mich.
„Wie heißen Sie denn, junge Frau?“, fragte sie mich und rückte mit dem Stuhl ein wenig näher. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Keiner sprach mich normalerweise aus heiterem Himmel an, so etwas war ich nicht gewohnt. Einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich ihr einfach einen Fantasienamen entgegenschleudern und mich demonstrativ in mein Buch vertiefte sollte, damit sie kapierte, dass es zwecklos war, mit mir eine Unterhaltung anzufangen. Aber dann siegte doch die Neugierde, denn ich fand es ungewöhnlich, dass ich das Interesse von jemand auf sich zog.
„Augustine“, sagte ich kurz und streckte ihr die Hand entgegen. Ich hatte keine Ahnung, wieso sich meine Hand selbständig machte und warum mein Gesicht lächelte. „Das habe ich mir gedacht“, sie nickte freundlich und nahm meine Hand. Sie war nicht feucht, wie ich es bei diesem Wetter erwartet hatte. Ihre kühle Hand ließ die meine nicht los, sondern hielt sie lange fest. Überraschenderweise war es mir nicht unangenehm. In den Augen dieser alten Frau lag etwas, das mich beruhigte. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Was hatte sie gesagt? Ich war verwirrt.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte sie dann und rückte, ohne auf meine Antwort zu warten, mit dem Stuhl zu meinem Tischchen herüber. „Kennen Sie mich denn?“, fragte ich sie, jetzt wirklich neugierig geworden. „Nicht direkt“, sagte sie und schmunzelte geheimnisvoll.
Ich fand, das war eine seltsame Antwort. Entweder man kannte jemanden, oder er war einem fremd, aber indirekt jemand zu kennen schien mir mehr als merkwürdig. „Darf ich „Du“ sagen, mein Kind?“, ihre warmherzige Stimme wirkte fast hypnotisierend auf mich. Ich nickte automatisch.
„Mein Name ist Amalia und ich habe lange auf dich gewartet“, sagte sie geheimnisvoll. Ich schluckte. Kein Mensch hatte bisher auf mich gewartet. Meine unsichtbare Anwesenheit auf dieser Erde war Ausdruck meiner nicht vorhandenen Persönlichkeit. Ich war für andere nichts weiter als ein Individuum, dass ausgebildet werden musste, um sich selbst erhalten zu können. Aus dem Nest geworfen, war ich für immer vergessen. So empfand ich es jedenfalls, auch wenn mein Herz sich danach sehnte, Spuren hinterlassen zu haben, bei jenen, die mich jahrelang betreuten. Doch die Anrufe der Betreuer wurden immer seltener, bis das Telefon für immer verstummte.
„Ich weiß, dass du es nicht leicht hattest“, riss sie mich aus meinen Gedanken, „aber dein Leben fängt gerade erst an und du wirst sehen, es wird fantastisch werden! Was redet sie da, fragte ich mich und fühlte mich plötzlich sehr unwohl. Die Demenz dieser Frau war wohl schon etwas fortgeschritten, dachte ich, denn wie sollte sie mich kennen, wo ich doch erst seit ein paar Wochen in dieser Stadt wohnte. Krampfhaft suchte ich nach einer Möglichkeit sie wieder loszuwerden.
„Ich wohne noch nicht lange hier“, sagte ich und fing an mit dem Salzstreuer zu spielen. „Ich weiß“, sagte sie und rief nach dem Kellner. „Magst du Kaffee, Augustine?“, fragte sie mich und bestellte gleich zwei große „Braune“, ohne meine Antwort abzuwarten.
„Verwirrung stiften ist normal nicht meine Art“, sagte sie und legte ihre kühle Hand auf meinen Unterarm. Sofort spürte ich wie sich mein Herzschlag beruhigte und ich sah sie fragend an, harrend der Dinge, die da noch kommen mochten. Sie beugte sich wie eine Verschwörerin zu mir und flüsterte, sich vorher umsehend: „Du bist etwas Besonderes, mein Kind. Du hast eine große Chance verdient, da dich das Leben bisher nicht auf Rosen gebettet hat.“
Ich verstand überhaupt nichts.
Ich war nichts Besonderes.
Ich war das Einfachste und Unscheinbarste, was die Welt bisher gesehen hatte. Möglichst nicht auffallen, war meine Devise. Damit kam ich bis jetzt sehr gut klar. Konflikte ging ich mit bravouröser Sicherheit aus dem Weg, wohl wissend, dass ich stets den Kürzeren ziehen würde, war doch meine Rhetorik von Kindheit an verstümmelt worden. Körperlich war ich nie missbraucht worden, aber meine Seele wurde zerstückelt, durch den Fleischwolf gedreht und anschließend gebraten. Wer sie gegessen hat, kann ich nicht mit genauer Sicherheit sagen, es war wohl ein Gelage, das sich über Jahre hinzog. Und dann waren nur noch ein paar Krümelchen übrig, denen keiner mehr Beachtung schenkte. Vermutlich landeten sie im Biomüll.
„Ich bin nichts Besonderes und werde auch nie etwas Besonderes sein“, sagte ich trotzig und entzog ihr meinen Arm. „Ich kenne dich besser, als du glaubst“, sagte sie sanft. „Und woher sollten Sie mich kennen? Ich lebe erst seit Kurzem hier“, wiederholte ich, fast ein wenig zu grob. Durch meine schroffe Art ließ sie sich aber nicht beirren und redete mit ruhiger Stimme weiter.
„Du hast deine Mutter viel zu bald verloren und dein Vater war ein armer, getriebener Mann. Er meinte es gut mit dir, konnte dir aber keine Liebe geben, da er selbst eine gebrochene Seele war. Ich hoffe, du kannst ihnen eines Tages verzeihen.“, „Wieso wissen Sie von meinen Eltern?“, meine Neugierde flammte erneut auf und nährte meine Hoffnung, doch etwas von ihnen zu erfahren. „Ich weiß es einfach“, lächelte sie geheimnisvoll. „Kannten Sie sie?“, fragte ich hoffnungsvoll. Wie sehr wünschte ich, etwas von meiner Mutter zu wissen! „Viele Leute haben dich verletzt, und einige haben nicht immer die Wahrheit gesagt, was dich daran zweifeln ließ, dass deine Mutter nicht mehr lebt. Ich bin überzeugt davon, dass sie dir eine gute Mutter gewesen wäre, wenn sie nicht so bald von dieser Erde gegangen wäre. Es stimmt: deine Mutter ist bei deiner Geburt gestorben“, tröstend legte sie ihre Hand auf meine Schulter. Alte Gefühle kamen in mir hoch und schnürten meine Kehle zu. Ich musste unaufhörlich schlucken, aber der Kloß in meinem Hals brannte immer mehr, bis ich endlich resignierte und meinen Tränen freien Lauf ließ. Heiße Tränen, die jahrelang unter meinen Augenlidern brannten, die ich chronisch unterdrückte, bahnten sich nunmehr ihren Weg die Wangen hinab zu meinen Mundwinkeln. Mittlerweile hatten die anderen Mittagsgäste den Hof verlassen, was mir dabei half, meine Tränen hemmungslos laufen zu lassen. Ich sah alles nur mehr verschwommen, meine Nase lief und mein Körper wurde von einem unendlich befreienden Schluchzen geschüttelt. Die Welt um mich versank in einem weißen Schleier, meine Gedanken waren einem Schmerz gewichen, der mit aller Gewalt aus mir herauswollte. Ich spürte meinen Körper, wie er mit den Gefühlen einen Kampf austrug, den nur ich gewinnen konnte.
Nach einer schier endlosen Zeit griff ich nach dem Taschentuch, das mir gereicht wurde und putzte mir die Nase. Ein seltsames Gefühl des Friedens hatte sich in mir und um mich herum ausgebreitet. Die alte Frau sah mich zufrieden an.
Während ich die letzten Tränen trocknete, musste ich plötzlich, der grotesken Situation wegen, lachen. „Es tut mir so leid“, sagte ich, noch immer lachend, „ich kenne Sie ja gar nicht und Sie müssen sich meine Gefühlsausbrüche anhören. Ich schäme mich.“ Eigentlich schämte ich mich gar nicht, aber ich hatte das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, wobei sich das Verlangen in den Vordergrund drängte, mich zu bedanken.
„Tränen können sehr befreiend sein, Augustine. Kein Mensch sollte sich dafür rechtfertigen müssen. Umsonst hat uns der liebe Gott diese seltsame Funktion nicht geschenkt“, sie schenkte mir ein gütiges Lächeln. Ich sah ihr forschend in die liebevollen Augen, die von unzähligen kleinen Fältchen umgeben waren. Sie hatte ein rundes Gesicht und auch um den Mund zahlreiche Falten, die ihrem Aussehen einen Zauber verliehen, dem ich mich nicht entziehen konnte. Bei Amalias Betrachtung hatte ich keine Angst mehr, einmal alt auszusehen. Ja, genauso wollte ich werden. „Wie alt sind Sie eigentlich, Amalia?“, entfuhr es mir plötzlich und ich wollte mich gleich dafür ohrfeigen, dass mir so eine dumme Frage herausgerutscht war.
„Sehr alt!“, sagte sie nur und trank bei ihrem Kaffee, der in der Zwischenzeit kalt geworden war. Auch ich nippte an meiner Tasse und war froh, dass das Thema Alter damit erledigt war. „Haben Sie meine Mutter wirklich gekannt?“, fragte ich etwas zaghaft und wusste nicht, ob ich wollte, dass sie die Frage mit Ja oder Nein beantwortete. Amalia nickte bedächtig mit dem Kopf. „Deine Mutter wollte, dass ich dir ein Geheimnis verrate, deshalb bin ich hier“, sie beugte sich etwas vor und flüsterte beinahe. „Sie hatte eine Gabe“, sie räusperte sich ein wenig und sah sich um, obwohl keiner mehr im Hof war, „und deine Mutter hat sie an dich weitergegeben.“
Mein Herz begann wie wild zu schlagen.
Was für eine Gabe denn?
Was sollte das eigentlich?
Ich glaubte nicht an Märchen!
Mein Blick musste eine Mischung aus Erstaunen, Skepsis und Lächerlichkeit widergespiegelt haben, denn die alte Frau sah mich an und begann herzhaft zu lachen. „Genauso hat mich deine Mutter damals auch angesehen. Du siehst ihr sehr ähnlich, weißt du“, sagte sie und tätschelte beruhigend meine Hand. Krampfhaft durchstöberte ich mein Gehirn, eine Ausrede zu finden, um hier augenblicklich vor dieser Wahnsinnigen zu verschwinden. Aber eine unbekannte Kraft hielt mich auf dem Sessel. Ich war noch immer unfähig irgendetwas zu sagen. Tausend Fragen formierten sich in meinem Kopf, doch war es mir unmöglich nur eine zu stellen.
Warum war sie hier?
Doch nicht wegen einer unscheinbaren Person wie mir? „Du musst wissen: diese Gabe kann einen Fluch oder einen Segen bedeuten. Du musst selbst herausfinden, welche Möglichkeiten dir offenstehen und wie du sie einsetzt. Doch hüte dich vor ihrer Macht!“, sagte sie gedämpft und lehnte sich wieder in ihrem Sessel zurück. Ich starrte sie an.
Sie war eindeutig nicht recht bei Sinnen.
Man hatte mich immer vor Irren gewarnt: `Sprich nicht mit Fremden!´, `Die Leute lügen!´, `Lass dich nicht ausnützen!´ Wie um alles in der Welt sollte ich zu meiner Umwelt je Vertrauen aufbauen, wenn man mir von Kindheit an gelehrt hatte, vor meinen Mitmenschen auf der Hut zu sein. Es gab nicht viele Menschen, die es gut mit mir meinten. Ich war ein Job wie jeder andere. Man passte auf mich auf und erzog mich adäquat, oder auch nicht. Wenigstens war ich selbständig und konnte mich allein durchs Leben bringen. Also: Aufgabe erfüllt! Augustine liegt uns nicht länger auf der Tasche!
Wütend starrte ich Amalia an, unfähig nur ein Wort zu sagen. „Ich weiß, mein Kind, dass du mich für verrückt hältst, aber ich bin dir nicht böse“, wieder lächelte sie mich freundlich an. Schön langsam ging sie mir auf die Nerven, mit ihrem ewigen Lächeln. Ich war wütend, konnte aber nicht genau sagen auf wen oder was. Ich hatte keine Ahnung, von was diese alte Frau sprach und was ich damit zu tun hatte. Kannte sie denn meine Mutter? Dann sollte sie gefälligst von ihr erzählen.
„Bitte…, meine Mutter…, wie war sie?“, brachte ich zögernd hervor. Amalia ließ sich gemütlich in den Sessel zurück und dachte kurz nach. „Sie war eine liebenswürdige, junge Frau. Dein Vater hat sie geliebt, sehr sogar. Ihren Tod hat er nicht verkraftet, deshalb war dein Vater so, wie du dich an ihn erinnern kannst. Er zerbrach daran, dass er sie verloren hatte. Die Liebe zu dir konnte er deshalb nicht aufbringen, weil sie bei deiner Geburt gestorben ist. Er begann zu trinken, um zu vergessen. Den Rest kennst du ja“, sie machte eine kurze Pause und seufzte.
„Deine Mutter dagegen liebte das heranwachsende Kind in ihrem Bauch mehr als ihr eigenes Leben, das kannst du mir glauben.“ Wieder stiegen Tränen in mir hoch, aber ich schluckte sie tapfer hinunter. Ich sah meinen Vater vor mir, betrunken, mit gequältem Gesichtsausdruck. Intuitiv hatte ich immer gewusst, dass es nicht an mir lag, dass er trank. Aber meine Sehnsucht nach seiner Liebe, nach Anerkennung und Trost waren so groß, dass ich mich auch heute noch oft in den Schlaf weinte. Ich hatte niemanden. Der Schmerz in meiner Brust war so groß, dass ich es fast nicht ertragen konnte.
„Du wirst deinen Weg gehen, mein Kind. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir! Das Glück ist in dir, du brauchst es nur zu finden“, ihre Stimme klang zuckersüß, was mir aber auch kein Trost war. Ich schnaubte verächtlich.
„Wann hatte ich schon Glück!“, stieß ich wütend hervor. „Du kannst in den Schuhen der anderen gehen“, sagte sie geheimnisvoll und legte einen Finger auf die Lippen, um zu demonstrieren, dass es nur für meine Ohren bestimmt war. Der Kellner kam mit der Rechnung und verhinderte meine brennenden Fragen. Plötzlich überkam mich eine starke Müdigkeit und ich war wohl ein paar Minuten eingenickt.
Als ich erwachte saß ich allein in dem schäbigen Hof.
Diese Melanie ging mir nicht aus dem Kopf. Sie war hübsch, jung, hatte eine Figur, die alle Blicke auf sich zog. Sie kleidete sich dementsprechend exzentrisch und sexy. Genauso wollte ich auch immer sein! Seit ich sie gesehen hatte, schlich ich jeden Abend um das Chinarestaurant und wurde dafür bereits nach fünf Tagen belohnt. Ich war achtunddreißig, hatte ein paar Kilo zu viel, meine dunkelbraunen Haare waren mit ein paar Silberstreifen (wie ich sie beinahe liebevoll nannte) durchzogen und ich kaufte nur mehr Anti-Aging-Cremes für mein Gesicht. In meinem Wäscheschrank fanden sich Push-Up-BHs und gegen meine aufkommende Cellulite trieb ich Sport, was ich allerdings nicht regelmäßig schaffte.
Ich war ein „Quartalsläufer“.
Es gab Phasen, in denen ich täglich Sport trieb, meinen Körper bis zu Erschöpfung quälte, nur um Wochen später jeden Abend auf der Couch zu verbringen, ungesundes Zeug in mich hineinstopfend. Dann hasste ich mich abgrundtief. Diese Melanie hingegen schien perfekt. Ich setzte mich zwei Tische weiter, von wo aus ich sie ungestört beobachten konnte. Mein Blick fiel auf ihre Schuhe: hochhakige, auberginefarbene Pumps. Ihre zarten Fesseln und die gleichzeitig sportlichen Unterschenkel gaben dem Bild eine Perfektion, dass ich meinen Blick kaum davon abwenden konnte. Melanie gähnte und aus der Unterhaltung konnte ich schließen, dass sie nicht mehr zu einem Lokalwechsel mit ihrer Freundin gewillt war. Pamela konnte ihren Unwillen darüber kaum verbergen und Melanie schien ihr diese Verständnislosigkeit wirklich übel zu nehmen. „Ich muss morgen bald raus“, verteidigte sich Melanie und fragte den Kellner nach der Rechnung. „Glaubst du, ich weiß nicht, wann du zu arbeiten beginnst?“, fragte Pamela zynisch und knallte ihre Geldtasche auf den Tisch. Melanie wollte es vermeiden sich diesbezüglich auf eine Diskussion mit ihrer besten Freundin einzulassen und biss sich auf die Lippen. „Ach komm schon, nur ein Drink“, versuchte Pamela sie nun mit freundlichen Worten umzustimmen. „Nein, es tut mir leid, aber ich möchte heute wirklich nicht mehr. Ich will nach Hause!“ Melanie bemühte sich um einen sicheren, entschlossenen Ton in ihrer Stimme. Viel zu oft hatte sie sich umstimmen lassen. Sie wollte an diesem Abend nicht und damit BASTA!
„Du bist eine Spielverderberin“, zischte Pamela wütend, „gerade heute ist viel los in dieser Singlebar. Die haben nicht jeden Tag eine Party.“ Neugierig beobachtete ich Melanie, die nervös auf ihrem Sessel hin- und her rutschte. „Warum kannst du ein „Nein“ von mir nicht akzeptieren? Ich möchte heute auf keine Singleparty. Abgesehen davon heißt es Singleparty. Du kannst da ruhig allein hingehen, wenn du unbedingt möchtest.“
„Auf keinen Fall gehe ich allein hin, das weißt du ganz genau!“ Pamela konnte ihre Wut fast nicht mehr im Zaum halten. „Das ist aber nicht meine Schuld, wenn du dich nicht traust ein Lokal ohne Begleitung zu betreten!“ Melanies Stimme wurde eine Oktave höher und etwas lauter. Ich kratzte auf meinem Teller herum und verfolgte gespannt den weiteren Verlauf der Diskussion. Der Kellner näherte sich dem Tisch und unterbrach für eine kurze Zeit das Streitgespräch.
„Weißt du was?“, fauchte Pamela, nachdem er wieder weg war, stand auf und zog sich ihre Jacke an. Melanie blieb sitzen und funkelte sie streitlustig an. „Was?“
„Wenn du heute nicht mit mir auf diese Party gehst, dann kannst du in Zukunft auch allein ausgehen, dann brauche ich dich nicht mehr!“ Einige Leute hoben die Köpfe und sahen in die Richtung der Streitenden. Pamela aber war in Fahrt und merkte gar nicht, dass sie die Aufmerksamkeit des ganzen Lokals auf sich zog. Melanie blieb ruhig sitzen. „Ich lasse mich nicht erpressen. Ich werde jetzt definitiv nach Hause gehen, ob dir das passt oder nicht!“, Melanie bemühte sich um eine feste Stimme.
Pamela knallte einen Geldschein auf den Tisch, so wie ich das aus amerikanischen Spielfilmen kannte, drehte sich auf dem Absatz um und lief aus dem Lokal. Ich merkte, wie schlecht es Melanie in diesem Moment ging. Sie kämpfte mit den Tränen und langsam nahmen die anderen Gäste ihre Gespräche wieder auf. Melanies Hand zitterte, als sie zum halb vollen Glas griff und einen winzigen Schluck nahm. Ich stand auf und bewegte mich auf Melanies Tisch zu, noch nicht wissend, wie ich ein Gespräch mit ihr anfangen sollte. Ein kurzer Blick auf ihre Schuhe gab mir aber Mut und ich griff nach der Lehne des leeren Stuhls.
„Darf ich?“, fragte ich pro forma und setzte mich, ohne ihre Antwort abzuwarten. Melanie sah mich verwundert an. „Es tut mir leid, aber ich habe Ihr Gespräch verfolgt. Es war leider nicht zu überhören“, sagte ich und streckte ihr die Hand hin.
„Augustine“, sagte ich und lächelte aufmunternd. „Melanie“, stammelte sie etwas unsicher. „Vor ein paar Jahren hatte ich mit meiner besten Freundin auch so eine Diskussion, nur in einem anderen Restaurant“, log ich und versuchte ganz ungezwungen zu klingen. „Wirklich?“, fragte Melanie neugierig. Ich spürte, dass sie mir instinktiv vertraute. „Ja. Ich war an diesem Abend sehr müde und sie ließ mich nicht in Ruhe. Immer tat ich das, was sie wollte. Meistens gab ich nach. Meine Freundin war eine sehr dominante Persönlichkeit und sie wusste das auch und nützte es aus. Und ich“, lächelte ich, „ich kann schlecht „Nein“ sagen.“ Mit diesen Worten hatte ich genau den Kern der Sache getroffen. Es kam Leben in Melanie. „Ja, genauso ist es. Pamela bestimmt immer, was wir tun, wohin wir gehen und wann wir nach Hause gehen sollen. Wenn ich einen anderen Wunsch habe, dann übergeht sie ihn meistens. Sie ist egoistisch!“, sagte sie trotzig. Ich nickte zustimmend.
„