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Gábor Fónyad
Als Jesus in die Puszta kam

Roman

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Gefördert von der Stadt Wien Kultur.

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Gábor Fónyad

 

Als Jesus in die Puszta kam

 

Roman

Verlag

Elster & Salis Verlag GmbH Wien
info@elstersalis.com
www.elstersalis.com

Lektorat

Anja Linhart

Korrektorat

Gertrud Germann, für torat.ch

Satz

Peter Löffelholz, für torat.ch

Gestaltung

 

Umschlag und Logo

Michael Balgavy, DWTC

 

1. Auflage 2021

 

© 2021, Elster & Salis Verlag GmbH, Wien

 

Alle Rechte vorbehalten

 

eISBN 978-3-03930-025-9

For, after all, how do we know that
two and two make four?
Or that the force of gravity works?
Or that the past is unchangeable?

(George Orwell, 1984)

Meinen Eltern

INHALT

Erster Teil:
Du bist jemand anderer

Zweiter Teil:
Noahs verschwiegener Sohn

Dritter Teil:
Mohnstrudel und Bohneneintopf

Vierter Teil:
Die Hunde beißen zu

Fünfter Teil:
Zeit, ein paar Pferde zu stehlen

Epilog

ERSTER TEIL: DU BIST JEMAND ANDERER

1

Jedes Mal, wenn die Räder über eine der stetig mehr werdenden Weichen ratterten, war ein lautes Knattern zu hören, die Waggons wurden ruckartig mal nach links, mal nach rechts geworfen, bis der Zug, als hätte er sich nach wiederholtem Hin und Her endlich entschließen können, auf dem Gleis ausrollte und mit einem lauten Quietschen vor dem Prellbock zum Stehen kam. Fast vermeinte ich, das erschöpfte Schnaufen einer Dampflokomotive zu hören und das Wiehern von aufgeschreckten Pferden, die neben dem Bahnsteig grasten und in deren Sätteln zwielichtige Gestalten auf jemanden warteten.

In der großen, offenen Halle ertönte aus dem Lautsprecher eine weibliche Stimme und verkündete: »Budapest – Ostbahnhof – dieser Zug endet hier.« Es war nicht mehr die vertraute Bahnhofsstimme aus meiner Kindheit, und die Fahrgäste, die ausstiegen, waren nicht mehr, wie damals, ausschließlich heimkehrende Ungarn – die waren sogar in der Unterzahl –, sondern Touristen aus der ganzen Welt, die sich mit ihren Rollkoffern und mit auf ihr Handy geheftetem Blick zur Tür drängten, die sie per Knopfdruck öffneten.

Eines hatte sich jedoch nicht verändert: Der Bahnhof war immer noch so dreckig, so laut und so ungastlich – fast bedrohlich – wie vor gut fünfzehn Jahren, als ich das letzte Mal mit meiner Mutter hier angekommen war, um ihre Verwandten zu besuchen. Seit ihrem Tod war ich nicht mehr hier gewesen. Der Grund für meine Reise war jetzt aber ein ganz anderer.

Ich ertastete mit meiner rechten Hand Elle und Speiche des linken Arms und drückte an der Stelle, wo das Muttermal war, meinen Zeigefinger in den Spalt zwischen den beiden Knochen. Ich stellte mir immer wieder vor, wie sich das anfühlen musste, wenn hier ein Nagel hineingeschlagen wurde.

Meine Körperhaltung dürfte den Eindruck der Orientierungslosigkeit vermittelt haben, was nicht ganz falsch war, denn innerhalb kürzester Zeit wurde ich von einem Mann in Trainingshose und einem ausgeleierten rosa Adidas-T-Shirt in gebrochenem Deutsch gefragt, ob ich ein Taxi brauche, er würde mich jetzt gleich in ein Hotel fahren, das beste Hotel in der Stadt, sehr günstig. Er wollte mir auch schon die Tasche aus der Hand reißen, was ich gerade noch verhindern konnte. Schnell stammelte ich auf Ungarisch etwas davon, dass ich schon ein Zimmer hätte und dass ich lieber die Metro nehmen würde, und suchte das Weite. Ich konnte ihm ja schwer sagen, wohin ich in Wahrheit unterwegs war.

Ich drängte mich durch die Massen. Es war wie im Wellenbad, wenn man hin und her geworfen wurde, nur hatte hier jeder seine eigene Welle, die ihn einem jeweils anderen Ziel entgegentrieb, ohne Rücksicht auf die anderen Badenden. Einige standen auch einfach nur herum, wie Pfeiler mitten im Becken, denen man ausweichen musste – eine Fehlkonstruktion –, und boten ihre fragwürdigen Dienste an: ungarische Forint zu einem einmalig günstigen Wechselkurs, selbstgebrannten Schnaps oder originale italienische Designerbrillen für zwei Euro fünfzig. Man kollidierte unweigerlich mit ihnen, wodurch sie ihre Produkte einem nur noch aggressiver, sozusagen als Entschädigung für das Angerempeltwerden, aufdrängten und einen beschimpften, wenn man sich auf kein Geschäft mit ihnen einließ.

Ich irrte bestimmt eine gute halbe Stunde auf dem Bahnhofsgelände und auf dem Vorplatz herum. Zugesagt hatte ich schließlich nicht, ich löste nur das Bahnticket, das sie für mich besorgt hatten. Was, wenn ich einfach hier in Budapest bliebe? Ich konnte mich aber nicht überwinden, in eines der überall lauernden Taxis einzusteigen, zu keinem der Fahrer vermochte ich Vertrauen zu fassen – der eine erweckte den Eindruck, er sei hauptberuflich Zuhälter und verdiene sich hier lediglich etwas dazu, ein anderer saß im dunklen Anzug im Auto und wirkte so übertrieben seriös, dass er sicher alles andere als vertrauenswürdig war, und ein Dritter war so sehr in sein Handy vertieft, dass er ganz offensichtlich nicht gestört werden wollte. Das Taxi schied also aus. Für die Metro hätte ich ein Ticket benötigt, dafür hätte ich aber noch länger herumstreunen müssen, denn ein Ticketautomat war weit und breit nicht zu sehen, und die Menschenschlange vor dem einzigen offenen Schalter war so lang, dass ich mich ebenso gut zu Fuß auf den Weg hätte machen können. Nur – in welche Richtung sollte ich in diesem Fall losgehen? Ich hatte ja nichts vor in Budapest, keine Freunde, und ich kannte mich auch überhaupt nicht aus.

Was hatte ich hier eigentlich zu suchen? Ich bereute es bereits, hergefahren zu sein, und fluchte leise vor mich hin. Alles hatte damit begonnen, dass dieser altmodisch gekleidete Mann mit dem Schnauzer das Geschäft betreten hatte und ich mich von ihm hatte anquatschen lassen, statt ihn klar und deutlich darauf hinzuweisen, dass wir geschlossen hatten. Ich hätte ihn höflich hinauskomplimentieren und die Türe schließen sollen, dann wäre das alles gar nicht passiert, das Ganze wäre im Keim erstickt worden und ich würde jetzt nicht ohne Rückfahrkarte auf diesem Bahnhof herumirren.

Ein Fahrer, der mein Unbehagen bemerkt zu haben schien, sprach mich an und riss mich aus meinen Gedanken, sehr höflich und ohne aufdringlich zu sein. Man müsse aufpassen, meinte er, es gebe leider viele Betrüger, es sei heutzutage so leicht wie nie zuvor, an einen Gewerbeschein zu gelangen. Einige würden auch ohne Genehmigung fahren, ja, manche sogar ohne Führerschein, so weit sei es in diesem Land gekommen. Und die Regierung unternehme nichts dagegen. Er schäme sich für seine Landsleute. Ich wagte einen Versuch und fragte ihn nach dem Preis für eine Fahrt in die Innenstadt, doch er winkte beleidigt ab und hielt mir einfach nur die Autotür auf. Daran solle es nicht scheitern, sagte er. Als er aber schließlich doch auf mein Beharren hin und weil ich nicht einsteigen wollte, einen Betrag murmelte, für den ich von hier bis nach Wien und wieder retour hätte fahren können, riss ich ihm meine Tasche aus der Hand und machte kehrt. Der gerade noch so freundliche und vertrauenserweckende Mann schrie mich unvermittelt an, ich solle mich mit meiner eigenen Mutter fortpflanzen, die sich ja ohnehin beruflich auf solche Tätigkeiten spezialisiert habe, ob ich denn glaube, dass ich etwas Besseres sei, am besten wäre es allerdings, wenn ich mit dem Geschlechtsteil eines Pferdes irgendetwas machen würde – aber um zu verstehen, was genau, reichten meine Ungarischkenntnisse nicht aus.

Wo war ich da nur hineingeraten? Was hatte ich mir dabei gedacht? Das waren doch Wahnsinnige, Fanatiker, Anhänger einer wirren Verschwörungstheorie, denen man keine weitere Beachtung schenken durfte. Spätestens, als sie mich hatten wissen lassen, für wen sie mich hielten, hätte ich aufstehen und gehen sollen. Oder war das alles nur ein Scherz? Diese Möglichkeit wollte ich noch nicht ganz ausschließen. Vielleicht war es eine Art »Versteckte Kamera«, und morgen würde meine Geschichte im Internet kursieren und der Taxifahrer war einer der beteiligten Schauspieler, ein Eingeweihter. Aber sie waren ganz ernst gewesen, als sie das gesagt hatten, da war kein Anflug von Ironie zu erkennen. Der Alte wäre am nächsten Tag ganz bestimmt wiedergekommen. So, wie die sich darauf vorbereitet hatten, hätte er nicht so schnell aufgegeben. Und am Tag darauf wäre er auch im Geschäft aufgekreuzt. Immer wieder. Ich hätte nie wieder meine Ruhe gehabt.

Nein, ich hatte zu schnell nachgegeben. Ich würde die Reise einfach hier abbrechen, einen Vertrag unterschrieben hatte ich ja nicht. Den Preis für den Fahrschein würde ich ihnen zurückzahlen, dann stünde ich auch nicht in ihrer Schuld. Mit Hilfe meines Handys würde ich schon ins Zentrum finden und mich dort ein wenig umsehen, etwas trinken und dann wieder heimfahren. Oder ich blieb ein, zwei Nächte hier und fuhr am Dienstagabend wieder zurück nach Wien. Ungarisches Geld hatte ich zwar keines, aber wenn ich weit genug von diesem Bahnhof entfernt war, der mir immer ungeheurer wurde, könnte ich in Ruhe Forint abheben. Und am Mittwoch in der Früh würde ich wieder im Geschäft stehen, das ließ sich nicht vermeiden, aber immerhin hätte ich ein paar Tage Freiheit genossen. So gesehen hatte das Ganze auch etwas Gutes.

Ich stolperte geradewegs in den Mann mit der Trainingshose von vorhin. Er grinste mich mit seinen Zahnlücken an und fragte zweideutig, ob ich ihn denn nicht begleiten wolle, er würde mir die schönsten Orte von Budapest zeigen und mir einen unvergesslichen Aufenthalt bereiten. Er fasste mich dabei an der Schulter und massierte mit seinem Daumen mein Schulterblatt. Ich riss mich von ihm los und warf mich wieder in das Wellenbad in der Bahnhofsvorhalle. Aus einem Reflex heraus kramte ich meine Geldbörse hervor und überprüfte ihren Inhalt, wobei ich mich sofort wegen meines Vorurteils schämte. In dem Moment wurde ich von drei Kindern in zerlumpter Kleidung umzingelt, die an meinem Ärmel zerrten, mit ihren kleinen Fingern nach meiner Geldbörse griffen und abwechselnd unterwürfig bettelten und mich wüst beschimpften. Da bemerkte ich den spöttischen Blick des Mannes mit dem rosa T-Shirt, der sich langsam und unbeirrt mitten durch die Wellen seinen Weg zu mir hin bahnte, ohne nach links oder nach rechts zu schauen, als zöge er sich an einem Seil immer näher an mich heran. Jetzt schien er nicht mehr zu Kompromissen bereit zu sein, ich hatte meine Chance gehabt.

Kurz, bevor er mich erreichte, entdeckte ich auf der Anzeigetafel den Zug nach Szeged. Darunter blinkten in kleinen Buchstaben der Reihe nach die Namen der Orte auf, in denen der Zug hielt. Ich las das Wort »Kiskunfélegyháza« und verglich es schnell mit dem Ticket. Ja, das war mein Zug. Abfahrt war in zwei Minuten. Das verschwitzte rosa T-Shirt war nur mehr wenige Meter von mir entfernt. Ich stieß die drei Kinder weg und machte mir mit dem Ellbogen den Weg frei zum Bahnsteig. Ohne mich umzublicken, wusste ich, dass der Mann mir auf den Fersen war. Ich erreichte den letzten Waggon und sprang hinein. Das Signal ertönte, die Türen schlossen sich und der Zug setzte sich in Bewegung. Durch das Fenster sah ich, wie mir der Mann höhnisch hinterherschaute, als wollte er mir sagen: Du entkommst mir nicht.

2

Einmal noch schaute ich aus dem Fenster, als wollte ich mich versichern, dass auch wirklich keine Banditen mit Halstüchern vor dem Gesicht und Pistolen in der Hand dem davonfahrenden Zug hinterherritten, um sich auf das Trittbrett des letzten Waggons zu schwingen, die Notbremse zu ziehen und mich zu entführen. Aber außer Wohnsiedlungen aus der Zeit des Kommunismus, deren Fassaden abbröckelten, und vereinzelten modernen Einkaufszentren, die fast noch trostloser wirkten, war nichts zu sehen als eine sich ausbreitende ausgestorbene Betonlandschaft, die mir schon jetzt, an der Peripherie der Hauptstadt, einen leichten Vorgeschmack auf die Einsamkeit der ungarischen Puszta gab. Auf verwaisten Parkplätzen, die nirgendwo dazuzugehören schienen, standen einzelne Autos, und eine rostige Schaukel zwischen zwei Plattenbauten bewegte sich im Wind leicht hin und her.

Aber ich war in Sicherheit. Ich lehnte mich erleichtert zurück, schlummerte unruhig vor mich hin und ließ die Vororte von Budapest, durch die wir mittlerweile fuhren, an mir vorüberziehen.

Mir war immer schon klar gewesen, dass ich mich für die Stelle eines Spielwarenverkäufers weder durch ein ausgeprägtes Verkaufstalent noch durch besondere Kenntnisse auf dem Gebiet des Kinderspielzeugs auszeichnete. Vielmehr hatte ich diese Anstellung der Tatsache zu verdanken, dass ich Ungarisch sprach, das ich von meiner Mutter und vor allem von meiner Großmutter gelernt hatte. Daraus machte Herr Pospischil, der Besitzer des Spielzeuggeschäftes Murmeln & Co., auch kein Geheimnis. Er war der Ansicht, dass es einem traditionellen Spielzeuggeschäft in der Wiener Innenstadt Glaubwürdigkeit verlieh, wenn sich unter seinen Mitarbeitern ein Ungar befand.

»Wenn du eine russische Mutter gehabt hättest, wäre das natürlich besser, keine Frage«, sagte er einmal. »Russen sind kaufkräftiger als Ungarn. Aber es stattet dich zumindest mit einem gewissen Charme aus, der dir sonst ganz fehlen würde. Den alten Damen gefällt das. Die mögen es, wenn sie von einem jungen Ungarn bedient werden, der ihnen einige Redewendungen für ihren Urlaub am Plattensee beibringt. Es hat etwas von unserer guten, alten Monarchie.«

Ich machte mir nichts vor, meine Karriere hing an einem seidenen Faden, der spätestens dann reißen würde, wenn die letzte dieser Damen gestorben sein würde oder jemand herausfände, dass ich in Wahrheit Ungarn nicht viel besser kannte als Sri Lanka, wo ich zwischen Matura und Zivildienst einige Monate herumgehangen war, ohne zu wissen, was ich eigentlich suchte. Es störte mich außerdem, dass ich nicht bei meinem richtigen Namen gerufen wurde. »László« stand zwar auf dem Schildchen, das meinen Pullover durchlöcherte, und Herr Pospischil rief gerne, wenn eine dieser älteren Damen eintrat, quer durch das Geschäft: »László! Kommen Sie bitte einmal?« (Er verwendete vor Kunden gerne den Vornamen, während er mich gleichzeitig siezte. Er dachte wohl, dadurch an Exklusivität zu gewinnen.) Aber in Wahrheit hieß ich einfach Ludwig. Dass Ludwig auf Ungarisch nicht László, sondern Lajos hieß, interessierte niemanden.

Auf Herrn Pospischil war ich jedoch angewiesen, denn was würde aus mir werden, wenn sich tatsächlich eines Tages eine hübsche Russischstudentin mit langen Beinen und kurzem Rock um meine Stelle bewerben würde? Vielleicht würde sie aus Übereifer auch noch einen Ungarischkurs belegen – es soll solche Menschen geben, die für ihren Arbeitgeber alles tun –, und der László konnte seine Koffer packen.

An besonders schlechten Tagen malte ich mir aus, wie das wäre, wenn ich wirklich gekündigt werden würde und mich auf einmal woanders bewerben müsste. Damit hatte ich wenig Erfahrung, schließlich war ich an die Anstellung bei Herrn Pospischil, wie das in Österreich eben so üblich war, ausschließlich durch die Vermittlung eines Freundes gelangt. Eines Abends setzte ich mich sogar an den Computer und begann, einen Lebenslauf zu schreiben. Das war nach einem Streit mit Sandra, meiner Ex-Freundin, die gemeint hatte, ich könne doch nicht mein Leben lang Murmeln verkaufen, und mir mangelnde Eigeninitiative bei der Karriereplanung vorgeworfen hatte.

Geburtsort und -datum – das hatte ich schnell. Familienstand: ledig. Beruf: Das war schon schwieriger. Den Rest des Abends verbrachte ich damit, ein passendes Foto zu finden. Schließlich fand ich ein Bild von mir und Sandra im Tiergarten Schönbrunn vor dem Eisbärengehege, auf dem ich einen recht seriösen Eindruck machte. Ich schnitt meinen Kopf und ein Stück von meinem Hals aus und fügte das in das Dokument neben meine Geburtsdaten ein. Wenn man genau hinsah, konnte man im Hintergrund ein Stück weißes Fell erkennen, aber fürs Erste genügte es.

Als Jugendlicher tagträumte ich davon, allen Problemen, die in erster Linie aus Schularbeiten und der Nichtbeachtung durch das andere Geschlecht bestanden, als Cowboy davonzureiten, weit weg, über eine Prärie ohne Horizont. Vielleicht würde ich einmal Indianern auf dem Kriegspfad begegnen oder sogar Desperados, wenn ich zu nah an die mexikanische Grenze ritt, aber mit denen würde ich schon fertig werden, ich könnte mich ihnen auch einfach anschließen. Wer weiß, vielleicht wartete in einer Siedlung jenseits des Rio Grande ein schönes Mädchen mit hüftlangen schwarzen Haaren und in einem weißen, bis zum staubigen Boden reichenden Leinenkleid auf mich, um sich hinter mich auf mein Pferd zu schwingen und mit mir der untergehenden Sonne entgegenzureiten. Klapperschlangen und Kojoten würde ich einfach abknallen – ich hätte ja einen Colt an meinem Patronengürtel aus braunem Leder umgeschnallt – und die schöne Mexikanerin könnte uns daraus einen scharfen Eintopf mit Chili kochen.

Anders als die meisten meiner Klassenkollegen besuchte ich keine Universität, der Abschnitt »Ausbildung« endete mit »Matura« (ohne Auszeichnung). Das heißt, ich hatte eine Universität besucht, allerdings im wörtlichen Sinn, wie man seine Tante im Krankenhaus besucht, und zwar ein Mal. Nachdem ich die Schule gerade eben so abgeschlossen hatte und in Sri Lanka mit meiner Sinnsuche auch nicht weitergekommen war, schrieb ich mich für ein Studium ein – ich glaube, es war Kunstgeschichte (oder Biologie?) –, da meine damalige Freundin gerade zu studieren begann und ich sie beeindrucken wollte. Ich hatte zudem spätpubertäre Fantasien, was während einer Vorlesung unter dem Tisch alles geschehen könnte. Aber die erste und letzte Vorlesung in meinem Leben verlief ganz anders. Vorne stand ein alter Mann im Sakko und las etwas von einem Blatt Papier ab, ohne in den anderthalb Stunden auch nur ein einziges Mal den Blick zu heben. Manchmal drehte er sich um, nahm aus seiner Sakkotasche ein Stück Kreide und kritzelte etwas Unleserliches auf die Tafel. (Vielleicht waren es doch mathematische Formeln?) Meine Freundin schrieb auch noch alles mit und hörte ihm interessiert zu, während ich Luft für sie war und sie nach der Vorlesung statt mit mir auf der Toilette allein in der Bibliothek verschwand.

Der Zug in den Wilden Westen war inzwischen längst abgefahren und ich saß im Murmeln & Co. fest. Berufserfahrungen: »Spielwarenfachhandel«.

In meiner Not klagte ich mein Leid zuweilen den Stofftieren in Herrn Pospischils Laden, am liebsten einem ganz bestimmten Lemuren, der mich, so bildete ich mir ein, verstand. Er hatte, im Gegensatz zu den leeren Knopfaugen der anderen Lemuren, einen verständnisvollen Blick. Auch war sein weißer Bauch flauschiger. Ich achtete darauf, ihn im Regal immer so zu positionieren, dass man ihn übersehen musste und er somit nicht gekauft werden konnte.

3

Dass ich nicht auf einen ungarischen Namen getauft worden war, lag am heftigen Widerstand meines Vaters. Er sagte, es reiche ihm, dass er eine Frau geheiratet habe, die sich mit ihren Verwandten in einer ausländischen Sprache unterhalte, ja, es reiche ihm schon überhaupt, dass er eine Frau und jetzt auch noch ein Kind habe (zumindest erzählte mir das Nagymama, die Mutter meiner Mutter), da wolle er wenigstens keinen Szabolcs oder Dragan oder Gábor als Sohn haben. Dass Dragan kein ungarischer Name war, schien ihn nicht zu stören. Kurz nach meiner Geburt verließ mein Vater meine Mutter. So gesehen hätte ich auch ruhig Gábor heißen können, das hätte keinen Unterschied mehr gemacht. Die paar Monate, die es mein Vater noch bei uns aushielt, hätte er mich ja nennen können, wie er wollte.

An meine sporadischen Ungarnbesuche hatte ich nur eine sehr verschwommene Erinnerung. Meine Mutter setzte sich mit mir am Südbahnhof in den Zug, wir fuhren gute anderthalb Stunden, bis auf einmal die Kontrolleure Ungarisch sprachen. Einige Zeit danach stiegen wir irgendwo im Niemandsland aus und jemand fuhr uns zu Nagymama. Diese Fahrten waren dabei das Aufregendste, weil es solche Autos bei uns nicht gab. Die Sitze waren höher, sodass ich hinausschauen konnte, während ich in den österreichischen Autos bestenfalls mit der Türklinke auf Augenhöhe war. Die Landschaft ähnelte jener, durch die der Zug jetzt fuhr: keine Berge, dafür weite, flache Ebenen und viel Trockenheit. Die ungarische Puszta …

Ein paar Mal waren wir auch in Budapest, wo wir steinalte Großtanten und Großonkel besuchten. Sie hausten in muffigen kleinen Wohnungen, die vollgeräumt waren mit dunklen Möbeln, Vasen und Porzellan, an den Wänden verstaubten Bücher und Bilder. Die Erwachsenen tranken Kaffee aus kleinen, dicken Gläsern, schwarz und mit viel Zucker. Mir gaben sie Obstsaft, den ich widerwillig trank, denn ich war skeptisch gegenüber Nahrungsmitteln aus dem Ostblock. Die Schokolade, die ich manchmal bekam und die ich unter dem strengen Blick von Nagymama hinunterwürgen musste, schmeckte nach altem Brot und zerbröselte im Mund. »Schaut euch nur diese verweichlichte westliche Rotznase an!«, schienen Nagymamas Augen sagen zu wollen. Vielleicht war das auch eine unbewusste Solidarisierung mit meinem Vater, vielleicht verbündete ich mich mit ihm gegen die Ostblock-Verwandten, die mich während dieser Besuche die meiste Zeit über ignorierten oder mich dafür bemitleideten, in diesem Österreich leben zu müssen, fernab der alleinseligmachenden Heimat, in diesem Land, wo man eine hässliche, primitive Sprache sprach.

Ein Großonkel hielt mir einmal einen Vortrag darüber, dass die elendigen Habsburger schuld daran seien, dass Ungarn auf der Bühne der Weltpolitik so unbedeutend geworden sei, sie hätten ihnen alles weggenommen, sogar die Burgen und Schlösser hätten sie Stein für Stein abgetragen und in ihrem scheußlichen Land wieder aufgebaut, von den geraubten Kunstwerken ganz zu schweigen, mit denen jetzt ihre Museen prahlten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und fragte den alten Mann, ob die Österreicher nicht vielleicht auch die Berge gestohlen hätten, denn mir sei aufgefallen, dass Ungarn sehr flach war, während es bei uns so gebirgig sei. »Frecher Lümmel!«, rief der Alte und deutete mit seinem Stock einen Hieb über meinen habsburgisch verseuchten Schädel an. »Aber was soll man von jemandem erwarten, der Ludwig heißt«, sagte er schließlich angewidert.

Das Schlimmste aber war, dass ich diese Greise, die jeden Moment zu sterben drohten und die angeblich mit mir verwandt waren, küssen musste – sogar die Männer. Jeweils links und rechts auf die Wange. Vielleicht war das mit ein Grund, warum ich fast sechzehn Jahre alt war, als ich mich endlich überwinden konnte, zum ersten Mal ein Mädchen zu küssen.

Einen ungarischen Namen sollte ich erst dreißig Jahre später von Herrn Pospischil bekommen, der im Übrigen trotz seines alles andere als germanisch klingenden Nachnamens ausschließlich Deutsch sprach. Die Verwandten meiner Mutter hätten sich über »László« gefreut.

4

Immer wieder schob ich die Haare auf dem Rücken meiner rechten Hand zur Seite und betrachtete die Narbe. Eine lange waagrechte Naht und vier kürzere, die diese im rechten Winkel kreuzten.

Woher wussten sie von dieser Narbe? Sie war längst zugewachsen und versteckt zwischen den Härchen. Sandra war sie erst nach vielen Monaten aufgefallen, nachdem sie sich schon mit ganz anderen Stellen meines Körpers vertraut gemacht hatte. Aber dieser Typ hatte ohne zu zögern und zielgenau auf die Narbe gezeigt. Und er kannte auch die Geschichte rund um den operativen Eingriff von damals. Und dann das Muttermal auf dem Unterarm der anderen Hand … Ich betastete wieder Elle und Speiche. Ob ein Nagel dazwischen das ganze Körpergewicht halten konnte? Aber angeblich schoben ja die Römer ein Podest unter die Füße, damit das Sterben länger dauerte, wie ich in der Zwischenzeit im Internet nachgelesen hatte.

Die Landschaft im Zugfenster glich mittlerweile einer Tischplatte, die letzten Hügelketten südlich von Budapest waren vom Horizont verschluckt, wie mit einer großen Hand vom Tisch gewischt, dafür war jeder noch so kleine Erdhügel kilometerweit zu sehen. Wir holperten auf den Rand der Platte zu, die Ortschaften wurden immer kleiner und der Abstand zwischen ihnen immer größer. Ich sah jetzt mehr und mehr weiß gestrichene Zäune ganz aus Beton, die aus irgendeinem Grund stets entlang von Bahnstrecken errichtet waren. Als Kind verband ich mit diesen Zäunen, die ich nirgendwo in Österreich gesehen hatte, den Grenzübertritt nach Ungarn. Damals stiegen noch bewaffnete Soldaten ein, untersuchten alle Reisepässe ganz genau, leuchteten mit Taschenlampen unter die Sitze, öffneten Koffer und durchwühlten deren Inhalt, stellten allerlei Fragen, während draußen, auf dem Bahnsteig, weitere Soldaten mit geschulterten Maschinengewehren patrouillierten.

Als Kind fand ich das wahnsinnig aufregend. Ich stellte mir einen Überfall auf einen gepanzerten Zug mit einem wertvollen Transport vor, zum Beispiel von Shoot Out Town nach Santa Fe. Einer der Männer würde uns Fahrgäste in Schach halten, während die anderen das Gold aus dem gepanzerten Waggon der Bank auf die Pferde luden und sich anschließend alle johlend und in die Luft ballernd aus dem Staub machten.

Doch jetzt war ich nicht nach Shoot Out Town unterwegs, sondern nach – ich holte den zerknitterten Fahrschein hervor – nach Kiskunfélegyháza.

Es war vor wenigen Tagen, kurz vor Ladenschluss. Ein älterer Herr betrat das Geschäft. Er trug einen langen beigen Mantel, der ein wenig an Columbo erinnerte, und hatte eine altmodische Cordmütze auf dem Kopf, die dafür gar nichts Detektivartiges an sich hatte; eigentlich schlich er durch die Tür und schloss sie so vorsichtig, dass die Glocke, die über dem Türstock befestigt war, nicht klingelte. Herr Pospischil war gerade im Magazin und ich versuchte so zu tun, als würde ich den Herrn nicht bemerken.

Ich drehte mich vom Eingang weg und ging auf die Ecke mit den Stofftieren zu, um die Lemuren von den Eidechsen zu trennen und jede Spezies in ihr vorgesehenes Regal einzusortieren. »Früh stellt er fest, dass er noch ein Geschenk für das Enkelkind braucht …«, sagte ich zu meinem Lieblingslemuren und brachte ihn in der letzten Reihe in Sicherheit. Es gab immer wieder Eltern, die mit ihren Kindern hierher kamen, sie spielen ließen und das Geschäft dann wieder verließen, ohne etwas zu kaufen. Dabei musste ich natürlich stets höflich bleiben, verständnisvoll nicken und im Hintergrund stehend darauf warten, eventuell doch etwas verkaufen zu können. Ich verstand nicht, warum manche Menschen ihre Kinder überhaupt mitnahmen. Wollten sie ihnen die Überraschung beim Auspacken der Geschenke nehmen? »Wir sollten an der Eingangstür ein Schild anbringen: ›Kinder verboten‹«, flüsterte ich zum Lemuren.

Auf einmal spürte ich einen Atem in meinem Nacken, der nach scharfem Essen roch. Ich drehte mich um. Der Herr stand dicht vor mir. Wie zur Tarnung hielt er eine Holzlokomotive in der Hand, die, wenn man den Rauchfang hineindrückte, Dampfgeräusche von sich gab und tutete.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, brachte ich hervor und hoffte, dass er den rhetorischen Charakter meiner Frage heraushörte. Er war mir nicht ganz geheuer, obwohl ich schon viele Arten von Eltern, Großeltern, Tanten, Onkeln und Taufpaten erlebt hatte. Ich konnte ihn keiner Kategorie zuordnen. So desinteressiert und dennoch verkrampft hatte noch kein Kunde eine Holzlokomotive in der Hand gehalten. Einige Sekunden lang blickte er mir in die Augen, als ob er mich prüfen wollte. Der Atem, den er mir unter seinem Schnauzer entgegenschnaufte, roch nach Nervosität und Paprika. Er legte die Lokomotive in den Schoß eines Lemuren – ich wollte »Nicht!« rufen, ließ es dann aber sein –, nahm seinen Hut in die Hand, fuhr mit seiner Zunge über die Lippen und fragte mit einer Stimme, die so leise war, dass nur ich es hören konnte: »Bist du Ludwig?«

Ich erkannte sofort den ungarischen Akzent. Mehr aber überraschte mich, dass er meinen richtigen Namen kannte, da man mich im Umfeld des Geschäftes nur unter László kannte und dieser Name ja auch auf meine Brust geheftet war. Dass er mich gleich duzte, erschien mir unter diesen Vorzeichen nicht weiter bemerkenswert.

»Ja. Das heißt« – hilfesuchend schaute ich auf mein Namensschild hinunter. »Ja … Ja. Ludwig. Ludwig Neustätter.«

Der Herr trat einen Schritt zurück und betrachtete mich. Aber anstatt mir die Hand zu geben, wie ich es in diesem Moment erwartet hätte – immerhin schienen wir in einer mir noch schleierhaften Weise miteinander verbunden zu sein –, sagte er, mit einem Mal ins Ungarische wechselnd: »Dann bist du es. Ja.« Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. »Du bist es wahrhaftig …«

Was zum Teufel meinte er? Woher wusste er, dass ich Ungarisch sprach?

»Ich – das heißt: wir würden uns ausgesprochen freuen, wenn du dich mit uns treffen würdest. Im ›Paprika-Stüberl‹ ist das Hinterzimmer reserviert. Freitag, neunzehn Uhr.«

Hinterzimmer – ich wusste nicht, ob mir danach war. Doch noch bevor ich antworten konnte, bog auf einmal Herr Pospischil um die Lemurenecke.

»Ludwig, was treibst du – oh. Hier sind Sie also, László.« Und an den Herrn mit dem Schnauzer gerichtet: »Wir haben eigentlich schon geschlossen. Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«

»Sehr danke«, sagte dieser wieder in etwas holprigem Deutsch, und dann, um die richtigen Worte ringend: »Ich fand, was ich suchte. Küss die Hand.« Er drehte sich um, setzte seinen Hut auf und verließ das Geschäft. Und obwohl er mich nicht direkt angeschaut hatte, ahnte ich, dass diese belanglos klingende Antwort etwas mit mir zu tun hatte.

»Na dann …«, sagte Herr Pospischil. Und als der Herr außer Hörweite war, fügte er hinzu: »Und du machst dich an die Arbeit! Was sucht die Lokomotive bei den Stofftieren? Bevor du nach Hause gehst, bringst du mir das hier noch in Ordnung.«

So verwirrt dieser Schnauzbärtige mit der Holzlokomotive auch wirkte, er strahlte Entschlossenheit aus, überlegte ich auf dem Heimweg, wie jemand, der das, was er tut, niemals in Frage stellen würde, auch wenn der Rest der Welt ihn für verrückt hielte – so wie ein Geisterfahrer auf der Autobahn, der überzeugt ist, dass alle anderen in die falsche Richtung fahren. Es war keine Einladung, die man annehmen oder ablehnen konnte, sondern vielmehr ließ er mich wissen, wann und wo man auf mich warten würde.

Wir schlossen zwar um sechs Uhr, vor sieben war ich aber selten aus dem Geschäft, auch freitags nicht. Da ich auch am Samstag arbeitete, konnte ich jedoch Herrn Pospischil sicher überreden, dass er mich ein bisschen früher gehen ließ.

»Und wenn das alles nur eine Falle ist?«, schoss es mir auf einmal durch den Kopf, als ich die Wohnungstür aufsperrte. Wer sagte, dass ich da überhaupt hinging? Man hörte ja immer wieder von kriminellen Banden aus dem Osten. »Paprika-Stüberl«, Hinterzimmer – das klang durchaus nach einem möglichen Hinterhalt. Andererseits: Was hätte man schon mit mir vorhaben können? Als Geisel taugte ich nicht viel, da niemand ein Lösegeld für mich bezahlen würde. Zwar lud Herr Pospischil mich und seine Buchhalterin vor Weihnachten immer zum Abendessen ein, was er gerne als »Betriebsfeier« bezeichnete. Wir saßen dann zu dritt hinten im Magazin auf Klappstühlen und aßen aus Plastiktellern Curry, das Herr Pospischil beim Inder bestellt hatte. Aber ich hatte keinen Grund anzunehmen, dass er für mich ein Lösegeld bezahlen würde. Wahrscheinlich würde er schon nach kurzer Zeit eine Slawistikstudentin anstellen.

Ich hatte Glück, im Kühlschrank befand sich noch eine Packung mit zwei Spinatknödeln. Im Tiefkühlfach lag sogar noch eine Pizza, aber ich hatte in dieser Woche schon zweimal Tiefkühlpizza gegessen. Außerdem lauerten Kohlsprossen im Gemüsefach und eine Packung Grillkäse befand sich ganz oben. Die Kohlsprossen sahen nicht mehr allzu frisch aus. Ich schloss den Kühlschrank, kochte Wasser auf und versenkte die beiden Knödel darin.

Seit ich allein wohnte, ernährte ich mich hauptsächlich von Fertiggerichten – wie die Cowboys, die wochenlang Bohnen aus der Konserve essen und manchmal einen Speck dazu braten. Die Frau, für die ich Kohlsprossen und Grillkäse in ein Festmahl verwandelt hätte, war noch nicht über die Schwelle zum Murmeln & Co. getreten. Das Problem war nur, dass die Kohlsprossen beim nächsten Öffnen des Kühlschranks mich immer noch anstarren würden.

Ich setzte mich in der Unterhose und mit den Knödeln auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Ein junger, gutaussehender Mann eröffnete soeben einer ebenfalls jungen und ebenfalls gutaussehenden Frau bei strahlendem Sonnenschein am Strand, dass sie Geschwister seien. Wieso lief nie ein Western? Das Treffen im »Paprika-Stüberl« wäre so gesehen eine willkommene Abwechslung. Und ich müsste nicht wieder Tiefkühlpizza essen. Oder sogar Kohlsprossen. »Wir müssen die Hochzeit absagen«, sagte der Mann und ließ die Hand der Frau los. Mit einem Mal hüllten sich die Kreidefelsen im Hintergrund in Nebel. Ich schaltete den Fernseher wieder aus.

Ich spielte kurz mit dem Gedanken, noch das Fitnesscenter aufzusuchen, immerhin überwies ich monatlich meinen Mitgliedsbeitrag, und kündigen konnte ich nur einmal im Jahr. Diesen Zeitpunkt verpasste ich jedes Mal verlässlich, und dann musste ich immer ein weiteres Jahr lang zahlen. Aber ich hatte keine Lust, meine Hose wieder anzuziehen und die Wohnung noch einmal zu verlassen. Außerdem lagen nun die beiden Knödel in meinem Magen, auch wenn ich mich nicht wirklich satt fühlte.

Natürlich, von solchen Leuten wie mir leben die, dachte ich mir. Wir zahlen brav und benutzen die Geräte nicht. Wir sind ein gutes Geschäft für die. Ich sollte hingehen, auf den Tisch hauen und sagen: Ich kündige! Jetzt, sofort! Aber wir sind ja nicht im Wilden Westen. Leider. Da betritt man mit ins Gesicht gezogenem Hut den Saloon, lehnt sich an den Tresen, stellt einen Stiefel auf den Fußlauf, dass die Sporen klirren, und raunzt dem nervös Gläser trocknenden Barkeeper zu: »Ich möchte deinen Boss sprechen.« Man bestellt nichts. »Er – er ist nicht da.« – »Erzähl keinen Scheiß.« Man schiebt das Gilet zur Seite, der Colt blitzt hervor. »Scheiße Erzählen kann zu Bleivergiftung führen.« Und in diesem Moment erscheint der Boss oben auf der Holztreppe – ein fetter Mann mit Rodeohut, einem scharlachroten Sakko und einer Uhr in der Brusttasche, deren goldene Kette heraushängt. Aus dem breiten Mund ragt eine Zigarre. Das Klaviergeklimper verstummt, die spärlich bekleideten Tänzerinnen halten inne, die Pokerspieler blicken von ihren fünf Assen auf. Es ist still und alle Augen sind auf uns gerichtet. Was will der Fremde?

Aber wir sind nicht im Wilden Westen, sondern in Wien. Und hier ist ein Fitnesscenter kein Saloon. Ebenso wenig ist Herr Pospischil ein Viehbaron, dem man die Zigarre aus dem Mundwinkel schießen kann mit den Worten: »Ich bin nur hier, um meinen Anteil abzuholen. Ich steige aus«, um dann durch die Schwingtür zu gehen, sich auf sein Pferd zu hieven, das gerade noch aus dem Holztrog getrunken hat, und aus der Stadt zu jagen. Herr Pospischil bezahlt einem das Gehalt.

Wenigstens aber könnte ich das »Paprika-Stüberl« in der Vorstellung betreten, ich hätte einen Colt umgeschnallt und mein treues Pferd warte vor der Tür auf mich. Zu verlieren hatte ich immerhin nichts. Womöglich wartete auch niemand in dem Restaurant auf mich und der Mann war doch nur ein Irrer.

Mittlerweile war es schon zu spät, um noch ins Fitnesscenter zu gehen, ich hatte es wieder einmal geschafft, eine Entscheidung lange genug aufzuschieben. Doch dafür hatte ich den Entschluss gefasst, am Freitag hinzugehen und zu schauen, was passierte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich ja noch nicht, für wen sie mich hielten. Hätte ich das gewusst, hätte ich einen weiten Bogen um das »Paprika-Stüberl« gemacht und würde jetzt nicht im Zug Richtung ungarische Puszta sitzen.

5

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich in Wien ein ungarisches Restaurant besuchte. Ich war immer der Meinung gewesen, da gingen nur Touristen hin, aber als ich das Lokal betrat, war ich überrascht, fast ausschließlich Ungarisch zu hören. Die Einrichtung hatte den Charme der 1980er Jahre bewahrt.

Ich hielt Ausschau nach dem Schnauzbärtigen und stellte fest, dass fast alle Männer einen Schnauzer trugen. Es roch nach Gulasch. Der Kellner bemerkte mich und ging auf mich zu.

»Das Hinterzimmer ist da lang«, sagte er auf Ungarisch und wies mit seiner Hand in einen Winkel, in dem ich nur die Toiletten vermutet hätte. Ich schob den rot-weiß karierten Vorhang zur Seite und fand mich in einem kleinen Raum mit in dunklem Holz getäfelten Wänden wieder. In der Mitte stand ein Tisch mit einem Tischtuch im gleichen Muster wie beim Vorhang, von der Decke hing ein ausladender und für diesen Raum eindeutig überdimensionierter Luster aus schwarzem Schmiedeeisen, der die Gesichter von drei Männern beleuchtete.

Der eine war der Herr mit dem Schnauzbart aus dem Geschäft. Er saß am Haupt des Tisches, aber es war ganz offensichtlich, dass er von den dreien am allerwenigsten den Vorsitz innehatte. Er war der Einzige, der mich mit einem freundlichen Zunicken begrüßte. Ich war nahezu erfreut, in ihm so etwas wie einen Bekannten zu erkennen.