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Zum Buch:

Auf, in die Alpen! Genüsslich wandern, wellnessen, Ski fahren oder Gipfel erklimmen: Es könnte so schön sein, wenn nicht überall Touristen wären. Entlegene Berggebiete wiederum leben von ihnen. Mahlknecht stellt sich in ihrem Essay diesem Dilemma. Sie analysiert die unstillbare Sehnsucht nach dem Reisen – ohne erhobenen Zeigefinger: Welchen Widrigkeiten des Alltags versuchen wir zu entfliehen? Wie geht es denen, die dort leben, wo andere Urlaub machen? Lässt sich heute noch ethisch vertretbar reisen?

Es liegt an uns, den Tourismus der Zukunft mitzugestalten!

» amüsant, pointiert, anregend

» erhellende Einsichten, kluge Denkanstöße

» notwendige Reflexionen, die uns alle betreffen

Selma
Mahlknecht

BERG

AND

BREAK-
FAST

Ein Panorama
der touristischen
Sehnsüchte
und Ernüchterungen

Mit Illustrationen von Armin Barducci

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Inhalt

Vorwort: Berge um uns, Berge in uns

oder: Der erbärmliche Anblick der Alpen

Alpenblick image

Mythos Berg

1Magical Mystery Mountain

oder: Thronen wie Gott in Frankreich

2Der Gipfel der Läuterung

oder: Petrarca besteigt einen Berg und erfindet den Alpinismus

3Der Gipfelsturm als Schwergeburt

oder: Gondeln gilt nicht!

4Einrichten und zurichten

oder: Der dressierte Berg

5In und aus der Welt

oder: Sieh, das Ferne liegt so nah

Wilder Kaiser image

Menschen auf Reisen

1Bei den Ägyptern hätte es das nicht gegeben

oder: Reisen als moralischer Imperativ

2In der Maske des Touristen

oder: Arm der Mensch, der Urlaub nötig hat

3Der überforderte Überforderer

oder: Herr und Frau Tantalos unterwegs

4Qualitätstourismus für Qualitätstouristen

oder: Der Gast als Feudalherr

5Ein Bild von einem Urlaub

oder: Ausstrahlung to go

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Arbeit am Gast und Gastarbeit

1Tourismus als Bauerntheater

oder: Geteiltes Leid ist doppelte Freude

2Tourismus als Motor der Emanzipation

oder: Am Beispiel meiner Großmutter

3Sloweninnen im Dirndl

oder: Arbeit am Gast als Gastarbeit

4Der gastronomische Blick

oder: Genug ist nicht genug

5Die Riesenmaschine

oder: Von Wurzeln und Pilzen

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Im Schatten der „Piefke-Saga“

1Wer braucht die Piefkes?

oder: Das Erbe einer Kultserie

2Wo deutsche Eichen stehen

oder: Der Tourismus als Retter des „Deutschtums“ in Südtirol

3Identitätssuche zwischen Vereinnahmung und Abgrenzung

oder: Sag mir, wer ich sein soll, und ich sag dir, wer ich bin

4Raus aus der Touristenfalle!

oder: Der (Alb)Traum vom Leben, wo andere Urlaub machen

5Fifty Shades of Alpine Living

oder: Von Zombies und Raufußhühnern

Panorama image

Die weiteren Aussichten

1Der perfekte Sturm

oder: Die Corona-Pandemie und ihre Folgen

2Das Ende der Scham

oder: Von Heuschrecken und Hamsterkäufern

3Wollt ihr den totalen Urlaub?

oder: The Algorithm of Life

4Touricultura Oeconomica

oder: Die Mär vom sanften Tourismus

5Viertelstundenstädte und Halbjahrestouristen

oder: Nie wieder Urlaub!

Nachwort: Berge versetzen

oder: Die Angst ums Schnitzel

Zu guter Letzt

Dank

Die Autorin

Gottfried Benn, Reisen

Meinen Sie Zürich zum Beispiel

sei eine tiefere Stadt,

wo man Wunder und Weihen

immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,

weiß und hibiskusrot,

bräche ein ewiges Manna

für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Rueen,

Boulevards, Lidos, Laan –

selbst auf den Fifth Avenueen

fällt Sie die Leere an –

ach, vergeblich das Fahren!

Spät erst erfahren Sie sich:

bleiben und stille bewahren

das sich umgrenzende Ich.

Über dieses Buch

Der Tourismus ist ein ewiges Dilemma. Seine Widersprüche, seine Doppelbödigkeit, seine Präpotenz fordern heraus. Es ist leicht, ihn zu verdammen. Aber es ist schwer, ihm gerecht zu werden. Dieses Buch unternimmt den Versuch, ihn zu umzingeln. Auf fünf Pfaden nähere ich mich diesem kuriosen Ungetüm, das manchmal zahm und harmlos wirkt und manchmal alles zu verschlingen scheint. Ich untersuche den Mythos Berg, frage danach, warum Menschen auf Reisen gehen, schaue mir die Seite der Gastgeber an und erkunde, was es bedeutet, dort zu leben, wo andere Urlaub machen. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf die nächsten Entwicklungen der Tourismusindustrie, die gerade erst begonnen haben und dabei sind, Fahrt aufzunehmen.

Am Ende jedes Themas stelle ich eine Expertin oder einen Experten vor, die als Forschende und/oder als Praktiker jahrelange Erfahrungen auf dem von mir zuvor behandelten Gebiet gesammelt und ihre Einsichten im Rahmen eines Gesprächs mit mir geteilt haben. Ihre Stimmen bilden eine Ergänzung, manchmal auch einen Widerspruch zu meinen eigenen Überlegungen und Überzeugungen – und weiten damit den Blick auf andere Perspektiven.

So wird dieses Buch selbst zur Reise, zu einer Tour d’Horizon über ein schier unerschöpfliches Thema mit seinen Glanzpunkten und Abgründen.

Um festes Schuhwerk wird gebeten.

Vorwort

Berge um uns, Berge in uns oder: Der erbärmliche Anblick der Alpen

Vielleicht ist Sesshaftigkeit ein Irrtum. Vielleicht liegt tief in unserem Erbgut verankert ein Gen-Baustein, der uns unstet macht, rastlos, zu Wanderern. Einer, der uns immer dann, wenn wir stillzustehen drohen, als Unruhe ins Herz sticht, als unbestimmte Sehnsucht nach dem Anderswo.

Ich komme aus den Bergen. Wie viele, die aus den Bergen kommen, bin ich ein Heimweh-Mensch. „Ihr Südtiroler, ihr habt ein ganz besonderes Heimweh“, hat einmal ein Wiener Mitstudent zu mir gesagt. Vielleicht ist es aber gar nicht Südtirol, wonach wir Heimweh haben. Vielleicht sind es einfach die Berge. Denn Heimweh, das können auch die Menschen in Graubünden, wo ich seit vielen Jahren lebe, sehr gut. „Heimweh-Bündner“, das ist ein Wort, das in der ganzen Schweiz verstanden wird. Wir Heimweh-Bergler gelten als besonders sesshaft, tief verwurzelt, bodenständig – im günstigen Fall. Die Kehrseite ist eine gewisse Unflexibilität, Starrköpfigkeit, Rückwärtsgewandtheit, die uns nachgesagt wird. Wir stehen mit beiden Beinen fest im heimischen Misthaufen, wortwörtlich und im übertragenen Sinn, so stellen sich das viele vor.

Dabei wird eines übersehen: Wer in den Bergen lebt, muss sich bewegen. Von einem Dorf zum nächsten, von einem Tal ins nächste, hin zu den Städten, wo die Bildungseinrichtungen, die Arbeitsplätze, die Krankenhäuser sind. Das romantische Bild vom knorrigen Hutzelmännchen, das auf dem Balkon seines Bergbauernhöfchens sitzt und Pfeife schmauchend ins Alpenglühn schaut, ist nicht von vorgestern, sondern von vorvorgestern und hat wahrscheinlich sogar damals nicht immer gestimmt. Als Kind aus Plaus, in den Achtzigerjahren ein 300-Seelen-Dörfchen, musste ich mich früh ans Wandern gewöhnen. Der Bus brachte uns Kinder zuerst nach Naturns, dann nach Meran in die Schule. Die Universität besuchte ich in Wien. Das Wieder-Heimkommen dauerte länger und länger. Das Ankommen gelang irgendwann nicht mehr. Empfand ich mich als Migrantin? Nein, denn jeden Aufenthalt, sogar den über mehrere Jahre, verbuchte ich als „vorläufiges Nicht-zu-Hause-Sein“. Fünf Jahre Wien. Zwei Jahre Chur. Neun Jahre Zernez. Allesamt gefühlte Zwischenstationen, obwohl ich mittlerweile nicht mehr weiß, zwischen was.

Das Heimweh bleibt. Wonach? Ist es überhaupt noch ein „Heim“weh? Oder ist es schleichend in dieses unbestimmte Fernweh übergegangen, das uns zu Reisenden macht, zu Suchenden? Denn wer reist, begibt sich auf die Suche. Nach dem Unbekannten, sagen die einen. Nach dem Versprochenen, sagen die anderen. Nach dem Anderen, auf jeden Fall. Doch das Andere, das wir in der Fremde suchen, braucht, um uns zu beglücken, auch ein Quantum Vertrautes. Unser jeweiliger Aufenthaltsort ist ein Spiegel, in dem wir uns selbst sehen wollen – eingebettet in einen anderen Rahmen. Wer bin ich, wenn ich in der Welt bin?

Sehr treffend heißt ein Buch des italienischen Journalisten Marco D’Eramo daher „Die Welt im Selfie“: Die Schauplätze wechseln, werden zu austauschbaren Hintergründen. Das Ich ist der Angelpunkt, um den sich die Welt dreht. Was nach einer narzisstischen Behauptung klingt, ist in Wahrheit eine bittere Erkenntnis: Viele brechen auf, um sich selbst zu entfliehen. Doch die Flucht aus der Welt endet immer in der Welt – und das Ausbrechen aus dem Ich wirft das Ich auf sich selbst zurück.

In diesen scheinbaren Widersprüchen bewegen wir uns, wenn wir auf Reisen gehen. Vielleicht ist deshalb das Ankommen schwierig, und vielleicht ist das die Quelle des Wehs, ob nach dem Heim oder nach der Ferne. Wer bin ich also, wenn ich in der Welt bin? Die Konstante. Die Unentrinnbarkeit des eigenen Ichs ist gleichzeitig kränkend und tröstlich. Geborgenheit finden wir letztlich nur in dem, was Bestand hat.

Für uns Menschen der Alpen ist der Inbegriff des Beständigen: der Berg. Unverrückbar und unübersehbar behauptet er sich im Landschaftsbild, gibt Orientierung, Ausrichtung, Halt. Man kann ihn ersteigen oder unterwandern, ihn stürmen oder ihm den Rücken kehren. Bezwingen kann man ihn nie. Möglich, dass wir ihn damit zu unserem Alter Ego mystifizieren, zum Unentrinnbaren, Schicksalshaften. Möglich, dass wir deswegen nicht von ihm loskommen, wir Bergler nicht, aber auch alle anderen nicht, die die Sehnsucht in die Berge führt.

Wer über den Tourismus in den Alpen schreibt, muss daher bei ihnen beginnen, bei den Bergen. Denn die Alpen, das hat schon Loriot festgestellt, bieten einen ganz erbärmlichen Anblick, wenn man sich die Berge wegdenkt.

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ALPENBLICK

Mythos Berg

Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos.

(Und es gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu sehen und die gewaltigen Fluten des Meeres und die breit dahinfließenden Ströme und die Weite der Ozeane und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.)

Augustinus, Confessiones X, 8

1

Magical Mystery Mountain
oder: Thronen wie Gott in Frankreich

Über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte hinweg waren Berge vor allem eins: hinderlich. Sie versperrten den Weg, machten das Reisen umständlich und mühsam, zu einer beschwerlichen, gefährlichen Angelegenheit. Davon kann nicht nur die Gletschermumie Ötzi ein tiefgefrorenes Liedlein singen. Wie viele Elefanten starben bei Hannibals Überquerung der Alpen? Freilich, irgendwie musste man drüber, wenn man von Norden nach Süden, von Süden nach Norden wollte, Handel treiben, frohe Botschaften bringen, sich zum Kaiser krönen lassen oder auf irgendeine andere Weise sein Glück versuchen. Angesichts schlecht befestigter Saumpfade, rascher Wetterwechsel und unbefriedigender Gasthausdichte dürfte sich das Verkehrsaufkommen auf den Bergpässen allerdings in Grenzen gehalten haben.

Doch nicht nur für Reisende waren Berge herausfordernd. Auch für die Sesshaften war das Dasein an den steilen Hängen, auf denen ein paar Ziegen herumsprangen und nicht viel wuchs, ein ständiger Kampf. Freilich enthielt mancher Berg auch wertvolle Erze, Edelmetalle und Salz, die man auszubeuten trachtete – für die zahllosen Kinder und Erwachsenen, die man tief in die Eingeweide des Berges schickte, um dort Eisen, Silber, Salz und dergleichen abzubauen, blieben jedoch meist nur ein karges Auskommen und ein zerschundener Körper.

Waren des Berges Tiefen düster und gefährlich, so waren des Berges Höhen erst recht lebensfeindlich. Am angenehmsten lebte es sich auf halber Höhe über den Sümpfen des Tales und unter der zerklüfteten Ödnis der Felsen, wo Steilacker, Wald und Weide noch einiges hergaben und der Berg frische Wasserquellen, Schutz vor äußeren Bedrohungen und schöne Aussichten bot. Über der Waldgrenze, in der Nähe der Gipfel wohnten die Winde und der ewige Winter, dorthin verirrte sich kaum ein Mensch. Kein Wunder, dass man in den schroffen Felsen dämonische Wesen vermutete, Riesen, Zwerge, Geister, die mit den Menschen Schabernack trieben, sie in die Irre führten, in Abgründe stürzten, aber manchmal auch reich beschenkten.

Berge bergen – Geheimnisse, Schätze, das Göttliche. In ihrer Geborgenheit konnte man sich sicher fühlen, fern aller irdischen Verblendungen, dem Ewigen nahe. Vom holden Musenhort des Parnass zu den entfesselten Hexentänzen des Blocksbergs ist es freilich nur ein kleiner Schritt. Die Nymphen, Faune, Geister und Dämonen, die man in den Höhen vermutete, waren im gleichen Maße bezaubernd und beängstigend wie die belebte Natur, der man sie zuordnete. Über allen Wolken aber, dem Blick der Menschen entrückt, weilten die Unsterblichen. Der Berggipfel als Sitz der Götter ist eine Vorstellung, die nicht nur die alten Griechen kannten. Kann es einen majestätischeren Thron geben, von dem aus man auf die Welt hinabblickt? Wo aber die Götter thronen, da ist für den Mensch kein Aufenthalt. Heilige Berge galten (und gelten teilweise bis heute) als unbetretbar, verboten, zumindest den Uneingeweihten. Für Rituale und Zeremonien konnte man die mystischen Orte aufsuchen, aber auch dann nur nach sorgfältiger Vorbereitung und nur, wenn man wahrhaftig würdig war. Eremiten lebten ihr asketisches Leben in Berghöhlen, Klosterbrüder zogen sich in die steinerne Wüste zurück, um Gott zu schauen, doch unbedarfte Laien, oft vor allem Frauen, mussten dem heiligen Bezirk fernbleiben.

Bis heute gibt es weltweit Pilgerstätten auf Bergeshöhen, die unzählige Heil und Heilung Suchende anziehen. Längst ist aus der persönlichen spirituellen Reise selbst in entlegenen Winkeln der Erde eine durchorganisierte und kommerzialisierte Industrie geworden, Wanderhändler und Rastlokale verkaufen bis knapp vor der Erleuchtung Wegzehrung, Ausrüstung, rituelle Gegenstände. Doch auch jenseits dieser sakralen Bezirke umgibt die Berge eine Aura des Majestätischen, Weihevollen, Überirdischen. Instinktiv fühlen wir, dass wir uns in eine entrückte, magische Sphäre begeben, wo das Göttliche gegenwärtig ist, bereit, zu segnen oder zu zerschmettern. Der Mensch schrumpft angesichts der Naturgewalt zum Stäubchen zusammen, den Elementen ausgeliefert, dem Unberechenbaren. Er erlebt sich als unbedeutend und endlich, zugleich aber auch als in etwas viel Größeres eingebunden – eine geradezu transzendente Erfahrung. An seine Grenzen zu gehen, einen Teil der Kontrolle abgeben zu müssen, sich einer höheren, ungreifbaren Macht auszuliefern und sich zugleich auf eine Art zu spüren, wie es im sicheren Bereich der eigenen Komfortzone nie möglich wäre, darin liegt denn auch ein beträchtlicher Teil der Faszination, die uns in die Berge treibt.

Das Gefühl, dem Heiligen zu begegnen, ist auch heute noch tief in uns verwurzelt, und es schwingt jedes Mal unausgesprochen mit, wenn wir über die Berge sprechen. Dabei kann man die freizeittauglich gemachten Berge unserer Zeit nicht mit den schroffen, abweisenden Gebirgen vergangener Tage vergleichen. Wer heute in Turnschuh und T-Shirt losmarschiert, der kann sich auf bequeme Seilbahnen und wanderfreundliche, gesicherte Wege freuen, ausgeschildert und mit Zeitangaben versehen. Es winken Einkehrmöglichkeiten und Unterstände, und für den schlimmsten Fall steht der Helikopter der Bergrettung bereit. Aus dem gefährlichen, strapaziösen Geschäft der Bergüberquerung ist betreutes Wandern geworden. Sogar im Himalaja führt ein Schritt für Schritt vorbereiteter Weg mit Seilen, Leitern, Sauerstoffflaschen aufs Dach der Welt, und die Minuten des Gipfelsiegs sind gezählt und durchgetaktet, damit alle Wandergruppen rechtzeitig abgefertigt werden können.

Haben die Berge dadurch ihre Aura, ihre Magie verloren? Sind sie durch das Gewusel der Wanderwütigen entweiht, gar geschändet? Immer wieder hört man diesen Vorwurf von unterschiedlichen Seiten. Schon der Dichter Rainer Maria Rilke klagte, „kein Berg ist ihnen mehr wunderbar“.

Schulden wir den Bergen mehr Ehrfurcht? Sind wir überheblich geworden? Haben wir aus der Naturgewalt einen Lunapark gemacht? Der sprichwörtliche Wanderer in Flipflops ist zur Ikone des Leichtsinns geworden, mit dem wir uns dem Berg nähern. Kann ja nichts schiefgehen, irgendwer holt uns da schon raus.

Doch ein Restrisiko bleibt. Noch immer kann man sich im Gebirge Arme, Beine und den Hals brechen, noch immer kann man sich verirren, vom Steinschlag getroffen werden, abstürzen, erfrieren. In der Todeszone des Everest steigt man an Leichen vorbei, und auch der stolze Preis von mehreren Zehntausend Dollar für die Teilnahme an der Expedition gibt keine Garantie auf eine sichere Rückkehr. Nein, es ist weder schiere Vergnügungssucht noch eine Laune, die den Menschen in die Berge treibt. Es gibt bequemere Wege von Norden nach Süden, es gibt angenehmere Arten des Zeitvertreibs, es gibt risikoärmere Sportarten.

Warum also faszinieren uns die Berge, warum streben nach wie vor und immer mehr Menschen den Gipfeln zu? Wegen des Naturerlebnisses? Der schönen Aussicht? Oder weil es zur Sucht wird, nach und nach? Alle diese Gründe mögen eine Rolle spielen. Trotzdem glaube ich, dass der Hauptantrieb nach wie vor derselbe ist: Wir gehen in die Berge, um dem Göttlichen zu begegnen – und uns selbst.

Zum Beweis rufe ich in den Zeugenstand: Francesco Petrarca und Dante Alighieri.

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2

Der Gipfel der Läuterung
oder: Petrarca besteigt einen Berg und erfindet den Alpinismus

Francesco Petrarca, der große italienische Dichter des 14. Jahrhunderts, ist wohl den meisten zusammen mit Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio als Teil der toskanischen Poeten-Triade des „Aureo Trecento“ bekannt. Er ist Autor zahlreicher Sonette, deren Form nach ihm benannt ist und von denen sich viele um eine ins Mythische überhöhte Schönheit namens Laura ranken. Petrarca gelingt es dabei meisterlich, die Natur als Kulisse seiner Seufzer, als Sichtbarwerdung seiner inneren Turbulenzen zu inszenieren.

Es ist ein wiederkehrender Topos der Literatur, dass Phänomene der Natur als Spiegel- bzw. Gegenbild einer seelischen Befindlichkeit dargestellt werden. Es ist daher oft nicht zu entscheiden, ob ein Dichter in seinen Werken von einer tatsächlichen Naturbeobachtung ausgeht oder aus einer Seelenstimmung das Naturbild entwirft. Meistens ist das für das Verständnis des literarischen Textes auch unerheblich. Verba volant und Papier ist geduldig – dass man Worte oft nicht wörtlich nehmen muss, ist uns bewusst. Wir rechtfertigen ja selbst sachliche Ungenauigkeiten gerne mit dem Begriff der „dichterischen Freiheit“ und nehmen diese auch in eigener Sache reichlich in Anspruch, wenn wir von unseren Abenteuern erzählen.

Wie verhält es sich nun mit einer der berühmtesten Episoden aus Petrarcas Leben, nämlich der selbsterklärten Erstbesteigung des 1.909 Meter hohen Mont Ventoux in Südfrankreich? In einem in lateinischer Sprache verfassten und von Experten auf 1352/53 datierten Brief an seinen Freund Dionigi di Borgo San Sepolcro schildert Petrarca diese Expedition, die er um das Jahr 1335 herum zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gherardo durchgeführt haben will. Dabei gerät alles zum Omen, zur symbolisch aufgeladenen Begebenheit. Der Berg ist sturmumtost, der Weg steil und steinig. Gherardo, der jüngere, unbeschwerte Wanderer, der sich früh für ein geistliches, Gott zugewandtes Klosterleben entschieden hat, steigt leichtfüßig voran. Francesco, gedankenschwer und an weltliche Güter gefesselt, kommt nur mühselig vorwärts. Immer wieder muss er innehalten und seine Kräfte sammeln. Dennoch gelingt den Brüdern gemeinsam der Aufstieg zum Gipfel. Dort angelangt, schlägt der Dichter sein geliebtes Buch „Confessiones“ aus der Feder des Kirchenlehrers Augustinus auf, auf das er offensichtlich auch auf der Bergtour nicht verzichten wollte. Die Fügung – oder Petrarcas Erfindungsgeist – will es, dass das Buch sich an einer Stelle öffnet, an der zu lesen ist: Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos.

Übersetzt lautet der Satz: „Und es gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu sehen und die gewaltigen Fluten des Meeres und die breit dahinfließenden Ströme und die Weite der Ozeane und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.“ Nun bedeutet „relinquere“ freilich nicht wörtlich „vergessen“, sondern genaugenommen „verlassen“ oder „zurücklassen“. Damit knüpft das „relinquunt“ an das „eunt“ vom Satzanfang an: Die Menschen gehen fort (um Berge, Ströme, Ozeane usw. zu betrachten) und verlassen dabei sich selbst.

Im Kontext seiner Bergbesteigung kommt Petrarca also zum Schluss: Das letzte Ziel der Reise kann nicht die Selbstvergessen- heit, das Außer-sich-Geraten, das Nicht-bei-sich-Sein des Reisenden sein, vielmehr muss der Weg, um vollendet zu werden, letztlich ins Innere zurückführen. Nur so wird das Naturerlebnis zu einer geistig erfüllenden Erfahrung transformiert.

Doch hat Petrarcas Bergabenteuer überhaupt stattgefunden? Oder ist der Aufstieg zum Gipfel einfach nur eine sehr anschauliche Metapher für die innere Suche nach dem Göttlichen? Ich habe es schon geschrieben: Das ist schwer zu entscheiden. Tatsache ist: Manchen gilt Petrarca aufgrund seiner Reisebeschreibung als „Vater der Bergsteiger“ und gar als „Erfinder des Alpinismus“. Ob zu Recht oder Unrecht, spielt dabei nicht einmal eine Rolle. Viel wesentlicher ist, welche Weltanschauung sich darin offenbart, wenn ein geradezu metaphysisches Erlebnis zur Geburtsstunde einer Bewegung mystifiziert wird. Der Bergsteiger ist somit nicht etwa jemand, der einfach gerne aufwärts über Stock und Stein geht und am Ende von oben runterschaut. Seine Wanderung ähnelt jener legendären ersten Bergbesteigung Petrarcas, wird zur spirituellen Reise, die im Idealfall zur Begegnung mit dem Göttlichen, zur Katharsis führt – vorausgesetzt, man hat ein gutes Buch dabei.

Bergsteigen zur Seelenläuterung? Ist das nicht etwas hoch gegriffen?

Man muss nicht weit suchen, um einen weiteren Beweis für diese These zu finden. Petrarcas zeitlicher Vorgänger Dante Alighieri ist den meisten mit seiner „Divina Commedia“ ein Begriff. Weniger bekannt ist, dass dieses zwischen 1307 und 1321 entstandene Werk sich keineswegs in der als autobiographisch dargestellten Schilderung einer Reise ins Inferno erschöpft. Der gewaltige Höllentrichter, in den Dante mit seinem Begleiter Vergil im ersten Teil hinabsteigt, findet im zweiten Teil der Commedia seine Entsprechung in einem ebenso großen Berg, dem Purgatorio oder Fegefeuer, den Dante hinaufsteigen muss. Dieser „Läuterungsberg“ führt über sieben „Terrassen“, die jeweils eine reinigende Aufgabe haben, hinauf zum irdischen Paradies: Dort angelangt und von der Last aller Sünden befreit, kann Dante im dritten Teil zu den Sternen fliegen.

Die Ähnlichkeiten zwischen Dantes fiktionaler Besteigung des „Läuterungsbergs“ und Petrarcas angeblicher oder tatsächlicher Besteigung des Mont Ventoux sind unübersehbar. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich Petrarca zur Schilderung seiner Katharsis nicht einer offensichtlich erfundenen Natur bedienen muss – an die Stelle der rein symbolischen Landschaft tritt eine reale Landschaft, die symbolisch aufgeladen wird. Indem er seine Geschichte im Gegensatz zu Dante im Bereich des Möglichen ansiedelt, öffnet Petrarca neue Deutungsspielräume. Vor allem stellt er es uns frei, seine Reise nachzuvollziehen und uns selbst auf den Weg zum Mont Ventoux zu machen. Er ist damit vielleicht tatsächlich der erste alpinistische Influencer.

So oder so: Wir können festhalten, dass bereits im Mittelalter, Jahrhunderte vor dem Aufkommen des Alpinismus, der Erzählrahmen für das Bergerlebnis abgesteckt war. Und dieser Rahmen gilt bis heute: Wer sich den schroffen Felsen stellt, den eisigen Höhen, dem majestätischen Massiv, der begibt sich auf eine spirituelle Reise, in der Muskelkraft und körperliche Fitness nur eine Nebenrolle spielen. Gefordert sind die mentale Stärke, mithin der Charakter und die Persönlichkeit, die im Zuge des Bergerlebnisses eine Transformation, möglicherweise sogar eine Läuterung durchlaufen und das Göttliche erfahren. So erzählen wir es uns wieder und wieder, und ich vermute, dass vielleicht nicht alle, aber doch die meisten, die mit Funktionsjacken und moderner Ausrüstung die gesicherten Wege hinaufwandern, diesem inneren Drehbuch folgen. Kommen sie tatsächlich geläutert zurück? Sie wollen es zumindest glauben. Und auch im Alpen-Tourismus ist nichts so mächtig wie der Placebo-Effekt.

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Der Gipfelsturm als Schwergeburt
oder: Gondeln gilt nicht!

Wie wir etwas erleben, hängt stark davon ab, wie wir davon erzählen. Das scheint zunächst paradox, doch wenn wir uns klarmachen, dass Erlebnisse einerseits im Vornhinein phantasiert und andererseits im Nachhinein mystifiziert werden, ergibt das durchaus Sinn. Nur sehr selten stürzen wir uns wirklich blindlings in ein Abenteuer; im Großteil der Fälle haben wir tradierte Vorstellungen bei der Hand, die uns einen Leitfaden darüber geben, wie wir das Durchzumachende bewerten sollen. Meistens werden uns diese Vorstellungen in Form von – eben nachträglich mystifizierten – Bildern geliefert, die uns das Unfassbare des Noch-nicht-Erlebten zumindest visuell fassbar machen sollen. Imagination – in diesem Wort steckt der Begriff „Imago“ für Bild – ist hier der Schlüssel. Wir imaginieren, was uns bevorsteht, und wenn wir es dann erleben, versuchen wir, das vorgeformte Bild mit dem tatsächlich Erlebten in Einklang zu bringen.

Das gilt, wie wir gesehen haben, auch und gerade für unsere Vorstellung, was Bergsteigen bedeutet. Ob wir uns die angebotenen Bilder aneignen wollen oder nicht, hängt wiederum von der Vereinbarkeit des eigenen und fremden Bildrepertoires ab.

Ein Aha-Moment in dieser Hinsicht war für mich eine Diskussion mit einem befreundeten Ehepaar, das kurz vor der Geburt seines ersten Kindes stand. Ich fragte arglos nach, ob die Frau in Erwägung ziehe, den Geburtsvorgang durch schmerzlindernde Mittel zu unterstützen. Die geradezu empörte Reaktion kam für mich völlig unerwartet. Niemals käme sie auf so eine abstruse Idee, wurde ich belehrt. Eine Geburt sei wie Bergsteigen. Nur wenn man aus eigener Kraft zum Gipfel gelangt sei, könne man die Aussicht wahrhaft genießen. Wer die Seilbahn nehme, könne die tiefere Bedeutung des Aufstiegs nicht nachvollziehen. Liebe Leserinnen und Leser, ihr seht: Wir waren wieder bei Petrarca.

Ich wandte – nun freilich schon deutlich eingeschüchtert – ein, dass man die Geburt des Kindes doch nicht als Höhe- und Endpunkt des Weges betrachten könne, da der Weg hier doch eigentlich erst anfange. Und an eine Seilbahn (im Sinne einer medikamentösen Unterstützung des an seine Grenzen stoßenden Körpers) sei von da an nicht mehr zu denken. Das wollten unsere Freunde nicht gelten lassen. Die Geburt, beharrten sie, sei der Gipfel und basta.

Ich sagte nichts mehr. Allerdings war ich doch sehr beeindruckt, was die Macht eines Bildes ausrichten konnte. In meinem Kopf ging es freilich weiter. Ich stellte mir vor, wie die frischgebackene Mutter mit ihrem Neugeborenen auf dem Gipfel steht, sturmumtost, abgekämpft, erschöpft. Und jetzt? Lang kann man sich auf einem Berggipfel nicht aufhalten, um das Panorama zu genießen, man muss auch wieder runter. Das war in der Geburt-als-Gipfelsturm-Phantasie allerdings nicht vorgesehen. Mich erstaunt bis heute, dass diese löchrige Metapher tatsächlich so wirkungsvoll war, dass mit ihr im Hintergrund der Einsatz von Schmerzmitteln unter der Geburt als völlig inakzeptabel angesehen wurde.

Was hat das nun mit dem Thema des Bergtourismus zu tun? Doch einiges.

Wenn das Gebären eines Kindes mit dem Besteigen eines Berges verglichen werden kann, gilt das dann auch umgekehrt? Ist der Gipfelsturm eine Art Geburt?

Mit Petrarca könnte man sagen: ja, zumindest im Sinne einer spirituellen Wiedergeburt. Wobei, und das zeigt mein obiges Beispiel auch, es eine wesentliche Rolle spielt, wie man an das Ziel gelangt. Da gibt es nämlich offensichtlich einen richtigen und einen falschen Weg. Der falsche Weg, symbolisiert durch die Seilbahn, zerstört das Ziel oder genauer: den Genuss des Am-Ziel-angelangt-Seins. Wir lernen: Der wahre Genuss stellt sich erst ein, wenn er durch Schmerzen, Opfer, Mühsal errungen wurde. Erst dann weiß man eigentlich, was man an der Aussicht hat.

Man möchte einer angeblich so spaßorientierten Freizeitgesellschaft wie der unseren gar nicht eine derartige masochistische Entsagungsmoral zutrauen. Und doch haben wir sie bis ins Mark verinnerlicht, tradiert über Generationen, und uns klingt der mahnende Tonfall der Mutter im Ohr, wenn es da heißt: Erst die Arbeit, dann das Spiel. Und Arbeit ist sauer, hart und kräftezehrend, sonst gilt sie nicht. Außerdem: Schmeckt das Brot nicht noch einmal so gut, wenn man es im Schweiße seines Angesichts errungen hat?

Mein ewiger Widerspruchsgeist wäre geneigt zu antworten: keineswegs. Wie wir aber gelernt haben, ist das die falsche Antwort. Wer sich an den Gipfel gondeln lässt, hat das Ziel verfehlt. Denn, das wissen wir ja auch, nicht das Ziel ist das Ziel, sondern der Weg (aber nur, wenn er möglichst steil und steinig ist).

Hier zeigt sich eine zutiefst christliche Besonderheit: Der Weg zur Verzückung, zur Ekstase, zur Erleuchtung führt über beschwerliches, gefährliches Gelände, er ist entbehrungsreich und schweißtreibend. Mogeln gilt nicht. Wer mogelt, ist ein Tourist. Und das will nun wirklich keiner sein (dazu später mehr). Der echte Reisende geht überallhin zu Fuß. Wenn er dann mit zerschlissenen Schuhen und kaputten Kniegelenken hinab ins Tal blickt, darf er als Märtyrer der wahren Pilgerfahrt Zeugnis ablegen über die Größe der Natur, das Wunder der Schöpfung und die Metaphysik des Hühnerauges. Sein Leiden legitimiert erst seinen Genuss, sein Opfer macht ihn erst zum Eingeweihten. Alle anderen können nicht mitreden. Oder würden Sie einem Extrembergsteiger zuhören, der noch alle Fußzehen beisammen hat? Na also.

Ich hingegen halte es lieber mit Siddhartha Gautama, genannt der Buddha. Der gelangte nämlich zur Erleuchtung, indem er sich an einem Flussufer unter einen Baum setzte. Einfach so.

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Einrichten und zurichten
oder: Der dressierte Berg

Der Berg als Mysterium und Sitz des Heiligen mag beeindrucken, seine Unzugänglichkeit auf manche anziehend wirken, doch in seiner wilden und ungezähmten Form bleibt er für die meisten ein unnahbarer Sehnsuchtsort. Wo nur schmale Pfade neben Abgründen in die Höhe führen, wo Erdrutsch, Steinschlag und Ungemach drohen, lassen sich keine wandernden Massen anlocken. Anders gesagt: Es nützt den Berglern nichts, wenn ihre Berge schön und imposant sind, solange sie nicht auch zugänglich und gastfreundlich werden. Aber da kann man ja ein bisschen nachhelfen. Der Mensch ist ein Meister darin, sich die Natur nach seinem Bedarf einzurichten – und nicht selten wird aus dem Einrichten ein Zurichten.

Im Fall des Berges beginnt das Einrichten zunächst mit dem Eliminieren von Gefahren und Unannehmlichkeiten, erschöpft sich aber keineswegs darin. Sind die steilen und schmalen Wege erst einmal geebnet und kinderwagentauglich, rutschgefährdete Hänge gesichert, potenziell gefährliche Tiere unschädlich gemacht (sprich: ausgerottet), geht der Spaß erst los. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, um die Wanderer, Erholungssuchenden, Abenteurer und Adrenalinjunkies gleichermaßen in die Berge zu locken. Atemberaubende Luftbilder urtümlicher Felsformationen sorgen für die Sehnsucht, den Rest erledigen Planierraupe, Bagger und Beton.

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