DIE GLÄSERNE STADT

ZERBRECHT WAS EUCH ZERBRICHT

ZERBRECHT WAS EUCH ZERBRICHT

ZERBRECHT WAS EUCH ZERBRICHT

Prolog

Wenn sich das Sonnenlicht in den Häusern brach, blitzte und strahlte die Stadt wie die Oberfläche eines Diamanten. Jeden Winkel erreichte das Licht, jede Gasse. Sogar die Tiefgaragen. Licht und Schatten wurden zu lebendigen Wesen, die miteinander spielten. Jedes dieser Wesen wurde aus dem anderen geboren, löschte das andere aus. Licht und Schatten. Schatten und Licht.

wenn licht in tausendfachem licht sich bricht ...

So lautet die erste Zeile eines Gedichtes aus dieser Zeit. Doch Poesie war nur die eine Seite der Gläsernen Stadt. Die andere hieß 'Sicherheit'. Die Gläserne Stadt bot keine Verstecke, keine undurchsichtigen Mauern. Ein Albtraum für Verbrecher. Für die große Mehrheit ihrer Bewohner erschien sie damals allerdings wie ein Segen. Die Straftaten gingen zurück. Häusliche Gewalt hörte fast ganz auf. Doch auf die Dauer waren die Bewohner der Gläsernen Stadt wohl nicht zufrieden, denn wären sie zufrieden gewesen in ihrer Stadt der vollkommenen Sicherheit, dann hätten sie die 'Gläserne Stadt' nicht zertrümmert.

Der Schatten des Ungeheuers ...

Jahrhundertelang bestand die Gläserne Stadt aus Steinen und Beton, wie andere Städte auch: Mauern, die wie Felswände in den Himmel ragten. Millionen Bürger konnten Tätigkeiten nachgehen, die niemand sah. Dabei handelte es sich nicht immer um Straftaten, um deren Vorbereitung, oder deren Vertuschung - trotzdem blieb ein Hauch von Unsicherheit darüber, was im Verborgenen geschah. Man konnte auch sagen: Was im Verborgenen ausgeheckt wurde. Mauern schlucken nicht nur das alltägliche Leben, die Nacktheit der Bürger und die harmlosen Vergnügungen. Sie verbergen mehr. Kaum etwas dringt nach draußen. Manchmal ein Lachen, oder ein Streit, der zu laut geworden ist. Doch das ist die Ausnahme. In aller Regel schweigen Mauern und starren die Sicherheitsbehörden, die Nachbarn und die Erfinder von Verschwörungstheorien herausfordernd an. Hinter diesen starrenden, schweigsamen Mauern bleibt alles im Ungefähren. Sogar das, was man hört bleibt im Ungefähren. Das Lachen und die laute Musik in den Räumen, das Schreien und Weinen. Das alles sind nur die Umrisse von Leben. So wie man unter Wasser nur den Schatten eines Meeresungeheuers erkennt. Da kommt dann die Phantasie ins Spiel. Sie erschafft sich ihre eigene Wirklichkeit, die mehr mit der Wirklichkeit des Phantasierenden zu tun hat, als mit der Wirklichkeit der im Verborgenen Schreienden und Weinenden und mit der Wirklichkeit der lauten Musik. Die phantasierte Wirklichkeit schürt vor allem die Angst vor dem, was man nicht kennt, was man nicht hört und nicht sieht. In der steinernen Stadt wurde diese phantasierte Wirklichkeit übermächtig.

, erwiderten die Stammtischbrüder,

Deinen Kopf will keiner, schrie jemand in die virtuelle Welt des Internets.

Die Antwort kam prompt:

Idioten wie dich muss man vierteilen und den Hunden zum Fraß vorwerfen. Und das alles bei lebendigem Leib. Ich hasse dich!!!

Die Unvernunft der Politiker kennt keine Grenzen, versuchte ein Dritter zu vermitteln.

Deshalb muss man sie alle abschlachten, schlug jemand vor. Ich hasse sie alle!

Danach wurden weitere Kommentare untersagt.

Der Gläserne Bürger wäre bereits zu bewundern, schrieb ein Journalist auf seinem Blog. Und zwar im Internet.

Die meisten Bewohner der Stadt kamen schließlich zu dem Schluss, dass die Vorteile einer gläsernen Stadt die Nachteile überwogen. Den Gegnern wurde dann und wann unterstellt, Gewaltverbrechen zu planen. Das war natürlich nur eine Zuspitzung. Doch die Zuspitzung war so spitz, dass sie für manche Gegner einer gläsernen Stadt sozial gefährlich wurde. Morddrohungen fanden sich an ihren Hauswänden und in ihren E-Mail-Postfächern.

Der Widerstand gegen eine Stadt aus Glas schwand. Nur die Studenten streikten noch eine Zeitlang, unterstützt von Professoren und Dozenten. Doch als die Prüfungen nahten, kehrten sie in die Hörsäle zurück. Einige Professoren streikten weiter, vor allem die, die unkündbar waren.