cover

image

image

Das kann unmöglich ein Schauspieler sein.

Zwar trägt der Mann einen makellos weissen Tropenanzug, aber er befindet sich nicht auf Safari.

Sondern mitten in Berlin.

Er stakst so ungelenk über die Bühne, als hätte er noch nie zuvor eine Theaterrolle gespielt.

Er ist der Neuling auf der Bühne, der Anfänger, obwohl er ergraut und bestimmt schon fünfzig Jahre alt ist. Trotz aller Unbedarftheit hat ein renommiertes Blatt gerade ihn als den «Gipfel aller Sensation» angekündigt.

Weil er so unbegabt ist?

Weil sich hier einer zur Belustigung des Publikums zur Schau stellt?

Der peinlich wirkende Darsteller mobilisiert die Massen. Er sagt im Stück nicht viel mehr als «Bitt’ schön, meinerseits, ganz meinerseits!». Doch das genügt schon, um verlegen zu wirken.

So wenig.

Und das Publikum tobt.

Die eine Hälfte lacht.

Die andere Hälfte schämt sich für ihn.

Das Stück «Hoheit kehrt wieder!» hat auf der Berliner Kabarettbühne Die Rakete den «Gipfel» erklommen. Wir schreiben das Jahr 1921, Krieg und Krise sind überstanden, Berlin will sich auf rund 180 Kabarettbühnen und in den Varietétheatern amüsieren. Angesichts dieser sehr lebendigen Berliner Kleinkunstszene hat das Prädikat «Gipfel aller Sensation» grosses Gewicht, gerade wenn es vom Berliner Brettl-Brief stammt.

Denn der Brettl-Brief spiegelt wöchentlich die deutsche Kabarettszene, liefert Informationen, giesst aber auch viel Häme und Spott über die Welt der Berliner Bühnen, allseits «Brettl» genannt. Das Lob für die «Rakete» bezieht sich darauf, was Theaterdirektor Siegbert Wreschinski mit grossen Lettern im elektrisch beleuchteten Schaukasten vor dem Theater annonciert hat: das Stück «Hoheit kehrt wieder!» – veredelt mit dem exklusiven Bühnenauftritt «Seiner Hoheit». Wirklich beispiellos für die halbseidene Varietészene.

Der neue Bühnenstar ist niemand anders als eine europäische Hoheit höchstpersönlich, nämlich der «Kaiserliche Prinz und Erzherzog von Österreich, Königlicher Prinz von Ungarn und Böhmen, Grossherzog von Toskana und Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies». In halb Europa bekannt und berüchtigt, sorgt er unter seinem bürgerlichen Namen Leopold Wölfling immer wieder für Furore und Schlagzeilen.

Mit der vollmundigen Ankündigung hat der geschäftstüchtige Wreschinski, der «Kabarettkönig von Berlin», für einmal mit keinem Wort übertrieben: Denn der angepriesene Adlige tritt wirklich in der «Rakete» auf, in diesem kleinen, schummrigen Kabarettlokal, das hinter dem bekannten Kurfürstendamm in einer Seitenstrasse liegt.

Ein echter Royal in einem solchen Etablissement? Dort, wo zuvor der Skandalstar Anita Berber mit wilden Nackttänzen von sich reden gemacht hat?

Das sieht nach einem tiefen Fall des kaiserlichen Prinzen aus. Und das ist es auch.

Was das Ganze noch schlimmer macht: Der Adlige Leopold spielt nicht im Kabarett mit, weil er sich neu orientiert und auf eine ernsthafte Karriere als Schauspieler aspiriert.

Nein. Er gehorcht der Not.

Er braucht dringend die Auftrittsgage.

Deshalb ist es einerlei, wie schlecht er spielt.

Hauptsache, das Publikum strömt ins Varietétheater.

Leopold Wölfling, der ehemalige Erzherzog Leopold Ferdinand, ist zwei Mal geschieden und hat mit seiner Familie gebrochen; er sitzt dermassen in der Bredouille, dass er sich für Geld sogar zum Affen macht.

Er bietet ein erbärmliches Schauspiel als Revuestar. Drei Österreicherinnen senken nach der Vorstellung nur noch ihre Köpfe und weinen. So sehr schämen sie sich für den Habsburger.

Auch Leopolds Schwester Luise, ehemalige Herzogin von Habsburg-Toskana und Kronprinzessin von Sachsen, geht sehr emotional durchs Leben und heult viel. Während ihr Bruder in der Berliner Tingeltangel-Szene seine peinlichen Auftritte absolviert, wohnt sie zurückgezogen in einem Vorort von Brüssel, an der Avenue des Klauwaerts 19 in Ixelles. Sie ist 51-jährig, geht aber vornübergebeugt wie eine Achtzigjährige und versteckt ihr Gesicht hinter grossen Hüten mit breiten Krempen.

Die vorzeitig gealterte Frau hat viel Pech gehabt in ihrem Leben; und wie ihr Bruder ist sie bereits zwei Mal geschieden. Sieben Kinder brachte sie zur Welt, zu denen sie kaum Kontakt hat. Das erfüllt sie mit grosser Trauer und lässt sie immer wieder wegträumen.

Die älteren sechs Kinder, die sie mit dem letzten Sachsenkönig, Friedrich August III. hat, wuchsen ohne sie beim Vater und am Hof in Dresden auf; jetzt wohnen sie in ganz Deutschland verteilt. Der jüngste Sohn, den sie mit dem italienischen Musiker und Komponisten Enrico Toselli gezeugt hat, lebt ebenfalls weit entfernt von ihr. Er ist bei seinem Vater in Italien gross geworden und lebt jetzt in Florenz.

Zeitlebens war die einstige Prinzessin von einem grossen Hofstaat mit Bediensteten, Banketten und von edlen Festen umgeben; nun darbt sie in einem bescheidenen Reihenhaus mit einer einzigen Angestellten, die ihr die Treue hält.

Zwar gibt es in Luises Wohngemeinde Ixelles eine Prachtsallee mit dem Namen Avenue Louise. Doch diese Paradestrasse wurde nicht nach ihr benannt, sondern nach Prinzessin Louise, der Tochter König Leopolds II. von Belgien. Unsere Luise ist hier in Brüssel ein «No Name», in Vergessenheit geraten und dem internationalen Adel, dem sie angehörte – und dem sie einst mit einem grossen Skandal den Atem raubte –, egal. Ein Skandal, der sich in der Schweiz ereignete und die Zeitungsspalten in ganz Europa füllte. Luise hielt damit Adelswelt, Geheimpolizei, Rechtsanwälte, Reporter und Ärzteschaft auf Trab.

Wie es zu diesem offenkundig tiefen Fall des Habsburger Geschwisterpaars Luise und Leopold kommen konnte, das ist – verständlicherweise – eine längere Geschichte. Würde man diese erfinden, gälte sie als schlecht erdacht und unglaubwürdig. Als süssliches Märchen mit viel royalem Personal taugt sie nicht, denn sie ist gespickt mit Tragik und Trauer.

Doch die Geschichten rund um Luise und Leopold sind mit all ihren Irrungen und Wirrungen, mit ihren Skandalen und Verrücktheiten wirklich so geschehen. Alle Fakten haben sich so ereignet, nichts ist hier erfunden. Um ihre wirklich aussergewöhnlichen Leben aufzurollen, müssen wir etwas zurückblenden, nämlich in den Dezember 1902. Dieser geht in die Annalen ein, weil er ausserordentlich kalt ist.

Und weil sich ein Skandal ereignet.

Der für Aufsehen sorgt.

In ganz Europa und sogar in Amerika.

Davon ist hier die Rede.

Eine nächtliche Flucht

Nach Mitternacht, vom 11. auf den 12. Dezember 1902, schleichen zwei Gestalten auf Socken durch die Salzburger Residenz. In diesem Schloss bewegt man sich für gewöhnlich selbstbewusst, sodass die Absätze klackend durch die Gänge hallen, schliesslich handelt es sich um eine repräsentative Palastanlage für Österreichs Hochadel.

Das nächtliche Herumschleichen ereignet sich im Toskanertrakt, im Anbau gegen Norden, wo der Habsburger Zweig der sogenannten Toskaner wohnt und wirkt, der bis vor wenigen Jahrzehnten in Florenz lebte und bis 1859 die Toskana regierte. Die zwei Gestalten eilen wie Nachtgespenster durch die langen Gänge; nur stecken sie nicht unter Leintüchern, sondern tragen bequeme Reisekleidung, in der einen Hand einen kleinen Koffer, in der anderen ihre Schuhe.

Das sieht nicht nach Einbrechern oder Kindern beim Gespensterspielen aus, sondern nach einem Wegschleichen, das keiner bemerken soll. Keine Kammerzofe, kein Obersthofmeister, kein Minister, kein Hofrat, kein Hofmeister, kein Geheimrat, kein Kämmerer, keine Palastdame, kein Edelknabe, kein Herzog – niemand nimmt Notiz von den beiden. Es handelt sich um die Flucht von zwei erwachsenen, gestandenen Persönlichkeiten, die nicht anders können, als auf diese Weise Reissaus zu nehmen. Die zwei Fliehenden sind unsere Protagonisten Luise und Leopold, das später so bekannte Geschwisterpaar: Erzherzogin Luise von Österreich-Toskana und Kronprinzessin von Sachsen und Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana. Sie ist zum Zeitpunkt des Geschehens 32 Jahre alt, er 34. Eigentlich tragen sie die adelsüblichen Namenskaskaden: Sie hat nicht weniger als elf Vornamen, nämlich Luise Antonia Maria Theresia Josepha Johanna Leopoldine Karolina Ferdinande Alice Ernestina; er bringt es sogar auf zwölf Vornamen, mit vollem Namen heisst er Leopold Ferdinand Marie Joseph Johann Baptist Zenobius Ruprecht Ludwig Karl Jacob Vivian.

image

image

Leopold und Luise in jungen Jahren: Sie sorgen für den Skandal des Jahres.

Luise und Leopold, um ihre üblichen Kurznamen zu verwenden, haben in aller Heimlichkeit ihre Koffer mit den allernötigsten Kleidern gepackt, sie hat auch noch ihren Schmuck mitgenommen – als Angehörige des Habsburger Hochadels, die für gewöhnlich mit unzähligen Koffern und Kisten, Taschen und Schachteln reisen, bedeutet das eine grosse Umstellung und zeigt die Not, in welcher sich die beiden befinden. Bald versetzen sie den Adel in Aufruhr und werden in ganz Europa bekannt.

Ja, sogar darüber hinaus. Selbst der New York Herald wird über sie und ihre klandestine Flucht berichten.

Es ist nachts um halb ein Uhr, als Luise und Leopold über eine Bedienstetentreppe vom Palast in den Schlosshof und in die kalte Winternacht gelangen; das Thermometer zeigt in dieser klaren Mondnacht eisige 16 Grad unter null. Die fliehenden Geschwister steigen vor der Salzburger Residenz in eine geschlossene Kutsche, an die zwei Araberpferde geschirrt sind. Luise trägt ein warmes, schwarzes Kleid aus Serge-Gewebe, diesem robusten Wollstoff, dazu eine Boa um den Hals und einen Pelzmuff, um die Hände darin warmzuhalten. Miteinander besteigen sie die heimlich bestellte Kutsche, die rund eine Stunde für die Fahrt von Salzburg zum Bahnhof Hallein benötigt. (Dass Luise später in ihren Memoiren von einer dreistündigen Kutschenfahrt berichtet, ist wohl dem subjektiven Empfinden geschuldet.)

Vor zwei Uhr nachts treffen die Geschwister am nächtlich verlassenen Bahnhof ein. Der Zug fährt erst um 3.45 Uhr, deshalb setzen sie sich in den einzigen geöffneten Raum zu dieser Stunde, in einen Wartesaal dritter Klasse, mit Holzbänken ohne Rückenlehnen, dort haben sie sich zuvor wohl noch nie aufgehalten. Leopold ist gross gewachsen, er ist ein stattlicher Mann; das in die Länge gezogene Gesicht und die hohe Stirn mit den Geheimratsecken, in der Mitte der grosse Schnauz an dessen Enden, die sorgfältig nach oben gezwirbelt sind, fingert er jetzt vielleicht nervös herum. Luise zeigt in jeder Situation Kontrolle im Körper, sie hat eine bewusste Haltung, streckt Rücken und Nacken durch, sodass man ihr die Aristokratin ansieht; sie hat ein freundliches, rundes Gesicht mit wachen Augen und wird, um ihre Aufregung in dieser kalten Nacht zu überdecken, die Hände im Muff gerieben haben.

Vielleicht haben sich Luise und Leopold nochmals ihre persönlichen Fluchtgründe erzählt, sie redeten womöglich über ihre unglücklichen, nicht gesellschaftskonformen Lieben, die sie ins Unglück stürzten und die auf komplettes Unverständnis der näheren und weiteren Umgebung stiessen, wie wir noch sehen werden.

Eine Bahn mit vertrautem Namen

Hier in Hallein startet die Salzburg-Tiroler-Bahn, die auch «Erzherzogin-Gisela-Bahn» heisst. Natürlich kennen Luise und Leopold diese Gisela, welche die zweite Tochter von Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Elisabeth, besser bekannt als Sisi oder Sissi, ist. Gisela trägt den Titel einer Erzherzogin von Österreich und einer Prinzessin von Bayern, sie ist damit eine Verwandte von Luise und Leopold, denn sie – die Flüchtigen – sind ebenfalls Habsburger Hochadlige, nur eben von einem anderen Stamm, von jenem der Toskaner. Dennoch kennt man sich von royalen Empfängen, Festtafeln und Banketten. Während Gisela einen bayrischen Adligen heiratete, mit dessen Zweig sie mütterlicherseits verwandt ist, musste auch Luise standesgemäss und taktisch klug heiraten, nämlich den sächsischen Thronfolger Friedrich August III. Das Einheiraten ins Königreich Sachsen passte politisch ins Konzept, so wurde sie mit 21 Jahren die Gattin von Kronprinz Friedrich August III. und damit Kronprinzessin von Sachsen, auch wenn sie ihren Mann nie liebte. So liegt die Vermutung nahe, dass Luise in der kalten Nacht auf dem Bahnhof Hallein mit ihrem Bruder über das Leben am Hof in Dresden sprach. Wie kontrolliert sie sich vom Hofstaat fühlte. Wie ihr Schwiegervater sie ständig kritisierte.

Dass sie ihre Kinder nicht stillen durfte.

Ihr das Radfahren untersagt war.

Sie nicht selbst einkaufen durfte.

Sie ständig zu hören bekam:

«Das gehört sich nicht für eine Kronprinzessin.»

Sie beklagte wohl die fehlende Unterstützung seitens ihres Gatten Friedrich August. Und vielleicht schwärmte sie, die 32-Jährige, auch von André Giron, dem 24-jährigen Sprachlehrer ihrer ältesten Kinder, einem schnauztragenden Schönling, in den sie sich so sehr verliebt hat. Weil ihr alles zu eng war, aber auch seinetwegen, hat sie Dresden verlassen – und damit auch den königlichen Hof, ihre Stellung, ihren Ehemann und ihre fünf Kinder.

Was die Geschichte noch brisanter macht: Mit dem sechsten Kind ist Luise bereits schwanger. Hätte sie in Sachsen die Wahrheit über ihre neue Liebe preisgegeben, Schwiegervater König Georg hätte sie mit Sicherheit in ein Irrenhaus eingewiesen. Oder in ein Kloster gesteckt.

Die Wahl zwischen Irrenhaus und Kloster war keine; so hat sie sich zur Flucht entschieden. Das reale Leben als Kronprinzessin kann sich so sehr von den Idealvorstellungen in den Märchen unterscheiden!

Bevor der Rauch ausstossende Dampfzug eingefahren ist, hat vielleicht auch Leopold von seinen Fluchtgründen gesprochen. Auch er ist des höfischen Zeremoniells längst überdrüssig. Seit er sich in Wilhelmine Adamovic verliebt hat, stehen die Zeichen im Hause Habsburg auf Sturm. Er nennt sie eine «Künstlerin», dabei ist sie eine staatlich registrierte Prostituierte. Als Habsburger darf man nur jemanden heiraten, der dem Hochadel angehört; das wird einem ungeschriebenen Familiengesetz gemäss so bemessen, dass vier Generationen zuvor ausschliesslich blaues Blut aufweisen müssen, 16 Vorfahren also müssen vollständig adelig sein. Es gibt etliche in Leopolds Verwandtschaft, die sich nicht an diese Regel hielten und beispielsweise zwar eine Adlige, aber keine Hochadlige ehelichten – mit der Konsequenz, dass die Angeheirateten und deren Kinder nicht erbberechtigt und von der Thronfolge ausgeschlossen sind.

Doch Leopold will noch weiter gehen: Seine Wilhelmine ist nicht nur eine Bürgerliche, sondern ein Strassenmädchen, eine Liebesdienerin oder, wie man in Wien sagte, eine «Hübschlerin» oder, wenn sie am Wiener Gürtel anschaffte, «a Gürtlschnalle». Regelmässigen Umgang mit solchen Frauen zu haben, war unter Adligen durchaus beliebt und auch toleriert. Aber eine solche Frau zu ehelichen, das kam niemals infrage. Zuerst schickte Kaiser Franz Joseph, als er von der Beziehung erfuhr, seinen Verwandten Leopold ins Exil, darauf in ein Irrenhaus, damit er zur Besinnung komme. Es half nichts, seine Liebe zu Wilhelmine blieb, sodass er jetzt fest entschlossen ist, das Imperium der Habsburger mit all seinen Annehmlichkeiten für immer zu verlassen.

Als Reiseziel der nächtlichen Flucht haben Luise und Leopold die Schweiz auserkoren; nicht, weil der Stammsitz der Habsburger in der Schweiz liegt. Sondern weil sich die Schweiz neutral und vergleichsweise liberal gibt, weil sie «das Land der Freiheit, der Arbeit und des persönlichen Kampfes ist», wie Leopold es später einem Journalisten diktiert.

Deshalb setzen sich die Geschwister in dieser Nacht in die Eisenbahn und fahren quer durch Österreich in die Schweiz. Als Flüchtige fürchten sie sich davor, dass österreichische Beamte sie unterwegs entdecken und zurückschicken könnten. Ironischerweise hat Luise bereits zwei Jahre zuvor das Gedicht «Auf der Flucht» des bayrischen Dichters Karl Stieler vertont. Darin flieht eines Nachts ein Mönch.

«Sie setzen ihm nach; er wich und wich
Bis an den frühen Morgen,
Schon sind sie ihm nah’ – da hat er sich
In einem Gezweig verborgen.

Und drunten jagten die Reiter vorbei
Und schalten in lautem Grimme!
‹Den geben wir nimmer sein Lebtag frei!›
Und dann – verklang ihre Stimme.

Er sprach: ‹Weiss Gott, wo ich weiter Welt
Noch mein Obdach finde –
Nun flink! – Leb wohl, du grünes Gezelt,
hab Dank, du getreue Linde!›»

Hatte sie damals schon eine Ahnung davon, was kommen würde? Und dass sie dereinst selbst «auf der Flucht» sein würde? Allerdings müssen sich die fliehenden Geschwister nicht unter einen Baum ducken, sondern reisen komfortabel mit der Eisenbahn. Zwischen Schaan und Buchs überqueren sie die Schweizer Grenze. Sie werden erleichtert sein, dass sie kein Österreicher aufgehalten hat, denn die Arme der Habsburgerdynastie und ihrer Geheimpolizei reichen weit. Entlang des Zürichsees liegt dichter Nebel, je nach Überlieferung treffen Luise und Leopold um die Mittagszeit oder um 17 Uhr an ihrem vorläufigen Ziel Zürich ein. Am Hauptbahnhof fühlt sich Luise unwohl. In ihren Memoiren notiert sie dazu: «Für mich war kein Empfang bereit, kein roter Teppich und keine Freunde oder Verwandte, die auf mich warteten.»

Dazu muss man wissen: Luise war zuerst Erzherzogin, dann Kronprinzessin, sie war ständig verwöhnt, verzärtelt und auf Händen getragen. Doch hier im geschäftigen Zürich bemerkt zunächst niemand, dass es sich bei den Reisenden um zwei echte Royals handelt. Damit erfährt die Prinzessin sogleich eine der Grundeigenschaften der Neutralität und der demokratischen Gesellschaft der Schweiz: Hier sind alle gleich!

Leopold hat das Hotel ausgewählt, damals eines der besten in Zürich: das Grandhotel Bellevue. Es steht im Strassendreieck am südlichen Ende des Limmatquais und hat dem benachbarten Bellevueplatz den Namen gegeben: Denn vom Hotel mit seinen vier Etagen und den markanten drei Türmchen aus hat man tatsächlich eine «belle vue» auf den See und die Berge – viel besser als vom Platz aus, der heute noch den Namen mit der schönen Aussicht trägt.

Im Grandhotel folgt die nächste Überraschung. Die noblen Geschwister treffen auf eine Frau, von deren Anwesenheit Luise nichts wusste. Dafür freut sich Leopold umso mehr, denn es handelt sich um seine Geliebte Wilhelmine Adamovic.

image

Im Strassendreieck gelegen: das wuchtige Grandhotel Bellevue in Zürich.

Luise zeigt sich perplex, weil er sie nicht darüber informiert hat. Als Wilhelmine freudigen Schrittes auf Luise zugeht und sie überschwänglich begrüsst, ist Luise irritiert und schreibt später von einem «Paar madonnenhaft schöner, dunkler Augen, die aus einem regelmässigen Gesicht, das von dichtem, prachtvollem und tizianrotem Haar eingerahmt war, leuchteten». Der schönen Erscheinung zum Trotz mag Luise die wie aus dem Nichts aufgetauchte Frau überhaupt nicht: «Die Neuangekommene gehörte sicher nicht in meine Welt», da sie ganz offensichtlich weder eine Ahnung habe von einer gepflegten Konversation unter Damen noch von den einfachsten Anstandsregeln zu Tisch. Eine (ehemalige) Prostituierte benimmt sich eben ganz anders als eine (geflohene) Kronprinzessin.

Leopold hingegen ist in Gesellschaft seiner Geliebten Wilhelmine voller Glücksgefühle. Sein Übermut zeigt sich, als er sich etwas verwegen als verheiratetes Ehepaar ins Fremdenbuch einträgt, nämlich als «Herr und Frau Wölfling». Luise lässt mehr Vorsicht walten und benützt den Decknamen «Frau von Oppen».

Sie fühlt sich schlecht: Als sie in ihr Hotelzimmer geht, lässt sie sich nach der aufregenden Nacht und der Eisenbahnfahrt auf das Bett fallen und weint in ihr Kissen. Sie empfindet alles als schrecklich fremdartig, «keine Kammerfrau, die mir alles herzurichten gewohnt war, kein seidenes Hausgewand, damit ich nur hineinzuschlüpfen brauchte, keine Kristall- und Silberflaschen voll duftender Essenzen» – die verzogene Prinzessin hat nur mitnehmen können, was in ihrem Handkoffer Platz fand. Dass sie ihre Kinder vermisst oder von der Flucht mit allen Konsequenzen überfordert ist, erwähnt sie mit keinem Wort.

Später kehrt das Trio vielleicht im hoteleigenen Café de la Terrasse ein, dem Treffpunkt der Reichen und Schönen im damaligen Zürich. Überliefert ist, dass sie das Hotel verlassen, um die Stadt Zürich zu erkunden und noch ein paar Weihnachtsgeschenke zu kaufen: Wilhelmine und Leopold sind übermütig aufgrund ihrer Wiedervereinigung, während Luise sich unsicher fühlt, ob das alles gut geht. An diesem Freitagabend im Dezember dunkelt es früh ein, dennoch tummeln sich viele Leute auf Zürichs Strassen. Denn der Tag trägt das magische Datum 12.12., was den Zürcher Postämtern Bevölkerungsaufmärsche unbekannten Ausmasses beschert. Unzählige Menschen mit einer Schwäche für Zahlenmagie oder Aberglauben wollen Briefmarken mit dem Datumsstempel versehen haben, dafür stehen sie bis auf die Strasse hinaus vor den Postschaltern Schlange. Bald wird sich auch Leopold bei einem Postamt einreihen müssen.

Ein folgenreicher Brief

Der Erzherzog hat hier in der Stadt Zürich einen weitreichenden Entscheid getroffen, den er schon seit längerer Zeit erwogen hat. Er geht zum Hotel zurück, um einen wichtigen Brief an Kaiser Franz Joseph, das Oberhaupt des Herrscherhauses Habsburg, aufzusetzen.

Die Zeit sei reif für diesen Schritt, findet Leopold und setzt sich an den Schreibtisch im Zimmer des Grandhotels Bellevue, blickt hinaus auf den Zürichsee und erahnt die Berge, hinter denen sich auch das Grossreich Österreich-Habsburg befindet, von dem er sich endgültig lossagen will. In seiner gleichmässigen, nach rechts geneigten, aber nicht sehr leserlichen Schrift richtet er sich an Kaiser Franz Joseph I. Wörtlich schreibt er mit Tinte: «Ich bitte Eure Majestät, meine Stellung und Rang als Erzherzog ablegen und den Namen Wölfling annehmen zu dürfen.»

Ein Satz mit ungeheurer Sprengkraft.

Der Erzherzog will nicht mehr.

Verzichtet auf Titel und Rang.

Will bürgerlich leben.

Vielleicht hat Franz Joseph beim Lesen des Briefs seinen berühmten Spruch ausgerufen: «Mir bleibt gar nichts erspart!» Auf jeden Fall wird er sich darüber geärgert haben, dass schon wieder ein Erzherzog aus der Reihe tanzt. Die unglaublich lange Zeit von 54 Jahren wirkt er schon als Kaiser, sodass eine gewisse Amtsmüdigkeit nachvollziehbar ist. Dazu haben ihn die verlorenen Kriege in Italien und gegen Preussen ebenso erschüttert wie tragische Ereignisse im Privaten. Sein Leben gleicht einer unendlich langen griechischen Tragödie, die im Übermass mit Unglücken befrachtet ist. Die erste Tochter, die ihm Elisabeth gebar, war Sophie Friedericke. Doch die Kleine bekam im Alter von zwei Jahren heftigen Durchfall und Fieber und starb daran.

Danach übernahm Franz Josephs Bruder Maximilian die Kaiserkrone von Mexiko; doch er scheiterte in dieser ihm so fremden Umgebung. Die Aufständischen nahmen ihn gefangen, verurteilten ihn zum Tode und richteten ihn hin.

Für den nächsten Schicksalsschlag war sein einziger Sohn, Thronfolger Rudolf, besorgt. Dieser hatte zwei grosse Probleme: Er war zu liberal für einen zukünftigen Kaiser, und er hatte Syphilis. Weil er keinen Ausweg sah, brachte Rudolf zuerst seine Geliebte und dann sich selbst um – ein Unglück sondergleichen, das Franz Joseph nur schlecht vertuschen konnte.

Und schliesslich hatte der Kaiser noch das Drama mit seiner Frau Elisabeth zu verkraften: Eine ihrer vielen Auslandsreisen führte sie 1898 in die Westschweiz. Von ihrem Hotel in Montreux aus machte sie einen mehrtägigen Ausflug nach Genf. Hier stach sie ein hasserfüllter Anarchist auf dem Quai du Mont-Blanc mit einer einfachen Feile nieder.

Doch damit nicht genug: Im Gebälk der jahrhundertealten Habsburgermonarchie knirscht es seit Jahrzehnten bedenklich. Angesichts der demokratischen Revolutionen in ganz Europa haben Kaiser- und Königshäuser einen schweren Stand. Luise und Leopold stellen mit ihrer Flucht Paradebeispiele für das allmähliche Zugrundegehen der Monarchien dar, für den Niedergang des Unhinterfragten, für den Abgesang auf den höfischen Kitsch. Der österreichische Publizist Karl Kraus nennt das Wien der Jahrhundertwende eine «Experimentierstation für den Weltuntergang». Das ist zugespitzt formuliert, aber zielt darauf, dass das Vielvölkerreich Österreich-Ungarn auseinanderzubrechen droht; die Menschen in Österreich, Ungarn, der Slowakei, in Rumänien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Bukowina, Böhmen, Mähren, Schlesien, Serbien, Bosnien und Siebenbürgen haben unterschiedliche Interessen; die Völker des Reiches arbeiten deshalb mehr gegen- als miteinander.

Franz Joseph versucht mit eiserner Disziplin das zusammenzuhalten, was nach links und rechts wegzubrechen droht. Er hält den Mythos der – angeblich – unsterblichen Habsburger aufrecht. Seit 1848 ist er schon im Amt, sodass er als Langzeitkaiser die integrative Kraft des Reiches verkörpert. Franz Josephs Regierungszeit ähnelt dem damals so beliebten Walzertanz: Dabei geht es nach links, nach rechts und dann im Kreis herum, doch alles bleibt im eng bemessenen Rahmen, trotz viel Bewegung. Die Form bleibt allen Emotionen zum Trotz immer gewahrt. So geht es auch dem Vielvölkerreich Habsburg-Österreich, wo der Kaiser die Form, wenn nicht sogar einen ausgeprägten Formalismus, aufrechterhält.

Deshalb regt sich Franz Joseph so sehr auf über diejenigen Familienmitglieder des Hauses Habsburg, die neben der Spur laufen. Vor allem viele der Erzherzöge benahmen und benehmen sich nicht so, wie er es erwartet.

Eine «Künstlerin»

Jetzt folgt Leopold Wölfling mit seinem Austrittsschreiben. Wie hatte sich Kaiser Franz Joseph schon früher mit dem Kerl herumgeärgert! Als dieser zum ersten Mal mit dieser besonderen «Künstlerin» Wilhelmine Adamovic ankam, die unübersehbar aus dem horizontalen Gewerbe stammte, hatte Franz Joseph seinen unartigen Verwandten in die unbeliebte Garnisonsstadt Przemyśl versetzt, einen befestigten Vorposten gegen Russland (heute an der Südostecke Polens gelegen).

Es half nichts.

Ein nächster Plan musste her.

Eine geschlossene Anstalt.

Auch das ohne Wirkung.

Leopold hielt seiner Wilhelmine die Treue.

Franz Joseph hatte durchaus selbst Erfahrung mit unschicklichen Beziehungen und Affären. Neben der ehelichen Beziehung mit seiner Frau Elisabeth – Sisi – pflegte er während Jahren sexuellen Umgang mit Anna Nahowski, der Frau eines Eisenbahners. Ihre Liebesdienste verdankte der Kaiser mit teuren Geschenken, einer Villa und einem Sommerhaus. Nach 14 Jahren regelmässigen Kontakts liess er sie kurzerhand mit einem Schmerzensgeld von umgerechnet 1,6 Millionen Franken sitzen.

Danach hatte der Kaiser eine Beziehung mit der Burgschauspielerin Katharina Schratt, übrigens mit ausdrücklicher Billigung seiner Frau Elisabeth. «Die Schratt», wie man sie in Wien nannte, arbeitete zuerst am Wiener Stadttheater und dann aber, als sich die Beziehung mit Franz Joseph vertiefte, am renommierteren Wiener Burgtheater. Nach Elisabeths Ermordung in Genf heiratet Franz Joseph nicht mehr, sondern führt eine Art Geheimehe mit Katharina Schratt. Sie nimmt unübersehbar Einfluss am Hof, sodass die hohen Beamten den Kaiser neckischerweise «Herr Schratt» nennen, wenn er es nicht hört.

In Anbetracht dieser eigenen Erfahrungen könnte man von Franz Joseph mehr Verständnis für Leopold Wölfling erwarten, der wegen einer unakzeptablen Liebe den Ausbruch wagt. Doch nach aussen wahrt der Kaiser mit eiserner Disziplin die Etikette, da lässt er die Zügel keinen Millimeter schleifen. Das Haus Habsburg dürfe keine Schwäche zeigen, ist er überzeugt. Franz Joseph versucht deshalb zusammenzuhalten, was noch zu halten ist. Dazu gibt er sich sehr standesbewusst, wenn nicht sogar elitär.

Er ernennt zeitlebens nur Adlige zu Ministerpräsidenten und zeigt auch sonst viel Standesdünkel. Aus seiner Sicht ist beispielsweise der Handschlag des Kaisers eine Art Auszeichnung, die nicht jede oder jeder verdient. So reicht Franz Joseph bei Empfängen nur Hochadligen die Hand; Bürgerliche, die als Landeshauptleute oder als hohe Beamte den Aristokraten machtmässig überlegen sind, müssen sich mit einem kurzen Kopfnicken des Kaisers begnügen.

Angesichts seines Standesbewusstseins dürfte ihn das Austrittsbegehren seines Verwandten ungemein ärgern. Dass Leopold Ferdinand «Stellung und Rang als Erzherzog ablegen» will, sei wegen einer Liebelei völlig unnötig; dieser Schritt errege vermeidbares Aufsehen und schwäche erneut die Aussenwirkung des Hauses Habsburg. Das hat tiefgreifende Folgen, die Leopold noch lange beschäftigen werden.

Ein nicht standesgemässes Verhältnis

Der nächste Tag in diesem Dezember 1902 ist Freitag, der Vierzehnte. Nach dem Frühstück fährt die Dreiergruppe zum Hauptbahnhof Zürich, um André Giron abzuholen – Luise freut sich ausserordentlich, dass ihr Liebhaber mit einem Tag Verspätung doch noch nach Zürich gefunden hat.

Der junge Belgier ist seit Anfang 1902 Sprachlehrer von Luises Kindern am Hof in Dresden. Sein Unterricht interessierte Luise, und er gab ihr ausgesprochen höflich und sympathisch über den behandelten Stoff und die Lernfortschritte der Kinder Auskunft. Dieser 24-jährige Lehrer verhielt sich so anders als Luises Ehemann Friedrich August, der schroff und abweisend wirkte und weder Interesse für seine Frau noch für die Kinder zeigte und lieber tagelang durch seine Jagdreviere streifte.

So sahen sich Luise und der Privatlehrer jeden Tag, die Gespräche nahmen an Intensität, Verbindlichkeit und Vertraulichkeit zu. Als dann im Mai die royale Familie vom weitläufigen Taschenbergpalais in Dresden gewohnheitsmässig in die Villa Wachwitz umzog, kam auch André Giron mit, und der Kontakt zu Luise gestaltete sich noch familiärer. So geschah es, dass sich Luise von Sachsen und André Giron ineinander verliebten. Wie sie später zugaben, kamen sie sich in diesem Mai auch körperlich näher.

Zunächst konnten sie das komplett unschickliche Verhältnis geheim halten, doch irgendwann im Herbst tuschelten die Hofangestellten so sehr, dass Oberhofmeisterin Henriette Florentine Freifrau von Fritsch von dieser Beziehung erfuhr und gleich mit grösstmöglicher Empörung dem Kronprinzen Friedrich August III. Bericht erstattete.

Dieser reagierte erstaunlich gelassen und betrachtete die angebliche Affäre als eine weitere Laune seiner Frau, die sicher bald vorübergehe. Das Gerede erschien ihm wenig glaubhaft, schliesslich sei Giron acht Jahre jünger als seine Frau und erst noch ein eitler Geck, den er nicht ernst nehmen könne – eine kolossale Fehleinschätzung, die sich nun rächt, da seine Frau mit genau diesem Giron sogar ins Ausland getürmt ist, bis nach Zürich.

Jetzt ist das Quartett vollständig: der unverheiratete Erzherzog Leopold mit seiner Geliebten Wilhelmine, der «Künstlerin», sowie Sachsens Kronprinzessin Luise mit ihrem Geliebten, dem Privatlehrer ihrer Kinder, die sie in Dresden zurückgelassen hat. Auch wenn sie sich in Zürich frei bewegen können, nehmen Journalisten ihre Anwesenheit wahr und schreiben über sie: «Eine zweifelhafte Ehre ist der Stadt Zürich dadurch zu teil geworden», urteilen beispielsweise die Neuen Zürcher Nachrichten.

Vor dem Hauptbahnhof besteigen Luise, Leopold und ihre Begleiter einen Pferde-Omnibus (also einen Buswagen, der von einem Pferd gezogen wird). Der Zufall oder das Pech will es, dass sie ausgerechnet jenen Pferde-Omnibus wählen, der an diesem Nachmittag mit einem Tramwagen zusammenstösst. Auch das noch! Ein komplett unnötiger Unfall. Aufgrund der niedrigen Geschwindigkeit kann das Unglück den Fahrgästen nichts anhaben. Doch müssen die königlichen Hoheiten das letzte Wegstück zum Hotel zu Fuss zurücklegen.

Um den Aufenthalt in Zürich zu vertuschen, greift die aussergewöhnliche Reisegruppe zu einer ausgeklügelten Finte. André Giron hat einem Freund den Auftrag gegeben, im Namen von Luise in Brüssel ein Telegramm aufzugeben. Darin benachrichtigt sie – angeblich! – den sächsischen Hof ihres verlassenen Gattens, dass sie definitiv nicht mehr nach Dresden zurückkehren wolle.

Der Inhalt des gefälschten Telegramms verbreitet sich in ganz Europa und schlägt – gemäss der sonst um Zurückhaltung bemühten Neuen Zürcher Zeitung – ein «wie eine Bombe»; denn bislang vermutete man Luise noch immer in Salzburg und bestimmt nicht in Brüssel, wo ihr Liebhaber André Giron herkommt.

Thronfolger Friedrich August schickt seine Leute sofort nach Belgien: Für die delikate Mission bestimmt er Hofmarschall Wolf Ferdinand von Tümpling, den Kammerherrn Luises, zudem Baronin von Fritsch, die Oberhofmeisterin, und den sächsischen Kriminalkommissar Arthur Schwarz. Sie sollen seine Frau möglichst diskret zur Umkehr bewegen und einen grösseren Skandal verhindern.

Doch in Brüssel sind die Geflohenen nicht zu finden. Um ihre Spuren noch besser zu verwischen, entscheiden Luise, Leopold und ihre Begleiter, nach Genf weiterzureisen. Zuvor erkunden sie nochmals die Stadt Zürich. Vielleicht haben Luise und André, Leopold und Wilhelmine etwas gegessen und dann das nahe Stadt-Theater besucht, das heutige Opernhaus; dort wird an diesem Abend die Oper «Zar und Zimmermann» gespielt. Diese hätte ausgezeichnet zu ihrer momentanen Situation gepasst, denn in der Oper verstellt sich der mächtige Zar Peter I. und gibt sich als einfacher Zimmermannsgeselle aus, was ihm mal besser, mal weniger gut gelingt.

Luise und Leopold steht ebenfalls ein Leben fernab royaler Höfe bevor. Sie sprechen beispielsweise darüber, in der Schweiz ein Kinderheim zu eröffnen; die Oper mit dem verbürgerlichten Zaren wäre also eine Inspirationsquelle gewesen.

Eine nützliche Bekanntschaft

Tags darauf – der Kalender zeigt den 15. Dezember 1902 – packen die vier ihre wenigen Sachen im Grandhotel Bellevue in Zürich zusammen und fahren mit der Eisenbahn nach Genf. Der Grund für die Reise an den Lac Léman dürfte Leopolds Absicht sein, seine Wilhelmine Adamovic möglichst schnell zu heiraten, was ihm in Genf einfacher erscheint. Deshalb ist er geflohen, deshalb hat er sich an den Kaiser höchstpersönlich gewandt, deshalb will er auf alle seine Privilegien und den Titel eines Erzherzogs verzichten.

In Genf kennt Leopold bereits Rechtsanwalt Adrien Lachenal, der äusserst beschlagen, eloquent und gut vernetzt ist; schliesslich war dieser zuvor Bundesrat und sogar Bundespräsident gewesen. Zudem arbeitete Lachenal als Staatsanwalt, Richter, Grossrat, Nationalrat und Ständerat mit liberalem Parteibuch. Aus dem Bundesrat ist er aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten, jetzt wirkt er als famoser Redner und effizienter Strafverteidiger – unter anderem für Leopold, später auch mehrfach für Luise. Genf gilt zu dieser Zeit als vergleichsweise liberal: Ehebruch wird im Kanton Genf seit 1875 nicht mehr geahndet, was Luise sehr entgegenkommt. Hier kann sie sich sicher fühlen.

Die vier Reisenden kommen im Genfer Hotel d’Angleterre unter, am Quai du Mont-Blanc 17; sie mieten vier Zimmer mit direktem Blick auf den Genfersee, die Berge dahinter und den schon damals speienden Jet d’eau. Das Hotel liegt ganz in der Nähe des «Beaurivage», in welchem Kaiserin Elisabeth 1898 übernachtet hatte. Auf dem Quai direkt davor wurde sie ermordet. Genf, die ganze Schweiz und erst recht das Habsburgerreich waren schockiert und trauerten um die geliebte Kaiserin.

Das tragische Attentat scheint die vier Getürmten überhaupt nicht zu kümmern. Sie führen in Genf ein sorgenfreies, gemächliches Vorweihnachtsleben mit Spaziergängen und Einkäufen in der Stadt. Das erinnert an Joseph Roths Roman «Die Kapuzinergruft»: Dort teilt die adelige Hauptfigur mit ihrer Entourage «den skeptischen Leichtsinn, den melancholischen Fürwitz, die sündhafte Fahrlässigkeit, die hochmütige Verlorenheit, alle Anzeichen des Untergangs, den wir damals noch nicht kommen sahen. Über den Gläsern, aus denen wir übermütig tranken, kreuzte der unsichtbare Tod schon seine knochigen Hände. Wir schimpften fröhlich, wir lästerten sogar bedenkenlos.»

image

Erlebte die «schlimmsten Tage» seines Lebens: Friedrich August III., Luises Ehemann.

So lebt auch unser Quartett «sündhaft fahrlässig» und «bedenkenlos» in den Tag hinein, während im Hintergrund die Drähte heiss laufen. Denn Luises Ehemann Friedrich August III. erlebt «die zwei schlimmsten Tage» seines Lebens, wie er in einem Brief schreibt: Bei einem Jagdunfall hat er den Unterschenkel gebrochen, weshalb er sich kaum fortbewegen kann. Und er hat keine Ahnung, wo sich seine geflohene Frau aufhält. Er weiss nur, dass sie einen Liebhaber hat und Salzburg mit unbekanntem Reiseziel verlassen hat; zudem liess sie ihn mit den fünf Kindern sitzen, das jüngste ist gerade mal ein Jahr alt, das älteste knapp zehn. Sein Vater, König Georg von Sachsen, der ihn schon immer vor Luise gewarnt hatte, welche in dessen Augen eine verweichlichte und unzuverlässige Habsburgerin sei, nervt ihn ausserdem. Trotz des Wissens um ihre Affäre mit dem Sprachlehrer hält Friedrich August zu seiner Frau und schreibt in einem Brief: «Ich hänge an ihr trotz allem, was passiert ist, mit jeder Faser meines Herzens. Sie ist leichtsinnig, sie ist unklug, sie nimmt es mit der Wahrheit nicht immer genau, aber sie ist nicht schlecht von Natur.»

Nach zwei Tagen Ungewissheit findet die sächsische Geheimpolizei heraus, dass sich die entwichene Kronprinzessin nicht in Brüssel aufhält.

Sondern in Genf.

In der neutralen Schweiz.

Mit ihrer föderalen Gesetzgebung.

Im Hotel d’Angleterre.

Sofort reist eine neue Delegation aus Sachsen dorthin und quartiert sich ebenfalls im besagten Hotel ein. Die Leitung der Gruppe obliegt dem sächsischen Kriminalbeamten Arthur Schwarz, der auch schon in Brüssel nach Luise gesucht hat. In Genf entwickelt Kriminalist Schwarz einen Plan, wie er mit seinen Leuten die Kronprinzessin kidnappen und zurück nach Dresden bringen könnte.

Doch die Genfer Polizei ist wachsam, erfährt von der Absicht und bringt den Plan zum Scheitern; denn Genf duldet keine geheimen Aktionen ausländischer Polizei in der Stadt.

Daraufhin beschwert sich der Kanton Genf in Bern, sodass die Schweiz offiziell beim Königreich Sachsen vorstellig wird und sich wegen dieser Missachtung der Schweizer Souveränität beklagt: Auf Schweizer Boden jemanden zu entführen, stelle im Minimum einen «unfreundlichen Akt» dar, wie das in gewundenem Diplomatendeutsch heisst. Doch das sächsische Ministerium beeilt sich zu betonen, dass gar keine Entführung geplant gewesen sei. Beschwichtigend heisst es, ihre Kriminalkommissare hätten lediglich versucht, Luise zu einer freiwilligen Heimkehr zu bewegen. Danach hat es allerdings nicht ausgesehen.

Der sächsische Kriminalbeamte Arthur Schwarz muss also von einer gewaltsamen Entführung absehen; doch die scharfe Überwachung lässt er sich nicht nehmen. Dazu sitzt er tagelang im Empfangsbereich des Hotels und beobachtet von der Hotelhalle aus, wer wann mit wem ein- und ausgeht. Täglich sendet Schwarz seine Bulletins detailgenauer Beobachtungen dem Polizeipräsidenten von Dresden, Albin Hugo Le Maistre. Meistens unterschreibt der Überwacher seine Beobachtungen mit «Schwarz», manchmal aber auch mit «Niger» – welch fehlgeleitete Ironie! Um mehr Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, fängt Schwarz die Post für die royalen Gäste ab, besticht Telefonistinnen und Zimmermädchen mit üppigen Trinkgeldern, um an weitere Informationen zu gelangen, führt genaue Erkundigungen auf der zweiten Etage des Hotels durch und zeichnet von Hand Pläne der Zimmer 7,8 und 9. Er hält auf den handgefertigten Grundrissen genau fest, welche Zimmer Durchgänge haben und vor allem, wo die Betten stehen: Jenes der Kronprinzessin steht direkt neben jenem von Giron, was er abermals als Beweis für den Ehebruch auslegt.

image

Hier halten sich Luise und Leopold auf: im Hotel d’Angleterre in Genf.

Arthur Schwarz schildert in einem seiner Bulletins die Arbeitsweise: Wenn er der Prinzessin «hier zufällig einmal begegnen muss, benehme ich mich natürlich höchst respektvoll, grüsse sie aber absolut nicht. Die anderen 3 Personen, die mich ja nunmehr alle von Ansehen kennen, ignoriere ich vollständig.» Erzherzog Leopold ärgert sich über die Anwesenheit des lästigen Kriminalbeamten aus Sachsen; deshalb erkundigt er sich bei Hotelier August Reichert, ob er gleich das ganze Hotel mieten könne, um Arthur Schwarz loszuwerden. Doch der Hotelier lehnt das Begehren mit Blick auf die anderen Gäste ab.

Weil die Entführung scheitert und Ehebruch in Genf für eine Verhaftung nicht ausreicht, beschreiten die Sachsen den rechtlichen Weg, um der Kronprinzessin habhaft zu werden. Sie bezichtigen Luise des Diebstahls und beantragen deshalb einen internationalen Haftbefehl. Die Kronprinzessin soll im Zustand geistiger Umnachtung alle sächsischen Kronjuwelen im Wert von 800 000 Mark gestohlen haben.

Doch diese Anschuldigung ist frei erfunden, denn Luise hat nur persönlichen Schmuck mit dabei, den sie geschenkt bekommen hat. Wir erinnern uns: Im Handkoffer hatte sie nur sehr begrenzt Platz. Sie führt viel weniger Werte mit sich, als sie in Dresden zurückgelassen hat. So wird die beantragte internationale Fahndung nach wenigen Tagen wieder aufgehoben, denn die Geisteskrankheit und die Anschuldigungen wegen des Diebstahls sind zu konstruiert und zu wenig glaubhaft. Doch schon agitieren und intrigieren die Sachsen weiter.

Eine offizielle Lüge

Um den Schaden zu begrenzen, sieht sich der sächsische Hof von König Georg jetzt gezwungen, in Dresden eine offizielle Depesche zu veröffentlichen. Am 17. Dezember heisst es über Luise: «Die Kronprinzessin ist, laut von Salzburg hier eingegangener Nachrichten, erkrankt und wird in Folge dessen voraussichtlich erst nach einiger Zeit nach Dresden zurückkehren.» Das ist eine Notlüge, um Zeit zu gewinnen und der geflohenen Luise doch noch eine Rückkehr ohne Gesichtsverlust zu ermöglichen.

Doch Luise reagiert nicht darauf.

Weshalb sollte sie?

Sie liebt André Giron.

Und verlebt in Genf schöne Tage.

Sie sind innig verliebt.

Zudem fühlt sie sich von Rechtsanwalt Lachenal und von der Genfer Polizei geschützt. Zwar haben sie und ihr Geliebter bemerkt, dass der sächsische Geheimpolizist im gleichen Hotel wohnt. André Giron kontert spöttisch: «Er kann uns nichts anhaben, er wartet nur, dass wir Genf verlassen, in diesem Falle würde er uns sofort arretieren.» Denn Genf verhält sich, wie erwähnt, liberaler als die anderen Schweizer Kantone, was Ehebruch angeht. Giron ist sich dessen bewusst, wenn er festhält: «Wir verlassen Genf nicht früher, als bis alles arrangiert ist.»

Damit meint Giron die Annullation der Ehe seiner Geliebten. Denn das Heiraten scheint beim Quartett das grosse Thema zu sein; Leopold will ja möglichst rasch seine Wilhelmine ehelichen. Am gleichen Tag, als der sächsische Hof die Unwahrheit über Luises angebliche Krankheit öffentlich verbreitet, schreibt Kaiser Franz Joseph seinem Verwandten Leopold Ferdinand. Offensichtlich hat sich der 72-jährige Kaiser vom ersten Schock erholt. Es braucht etwas Luft, um dem atemlosen Satz von Franz Joseph zu folgen: «Ich habe seine Verzichtleistung auf die ihm durch die Geburt als Mitglied Meines Hauses zustehenden eventuellen Ansprüche und Rechte, insbesondere auch das Recht, als kaiserlicher Prinz und Erzherzog von Österreich, königlicher Prinz von Ungarn, Böhmen etc. angesehen und behandelt zu werden, genehmigt und ihm die erbetene Annahme des bürgerlichen Namens Leopold Wölfling gestattet.»