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Lieber Mensch, groß oder klein,

schimpfe nicht, lass’ es sein.

Oft ist es leider so: »Hoppla, jetzt komm’ ich!«

Sitze ich auf dem Rad, ist der Autofahrer der Dussel.

Sitze ich im Auto, ist der Radfahrer der Dussel.

Ja, was denn nun?

Kann der denn nicht mal warten?

Wieso fährt die Tante so dicht an mir vorbei.

Wieso ist der dicke Spiegel nicht eingeklappt?

Kann der mir nicht mal Vorfahrt geben?

Alle müssten doch mehr Rücksicht zu nehmen.

Egal ob im Auto oder auf dem Fahrrad.

Ganz egal, ob Mann oder Frau.

Auf dem Fahrrad bist du der Schwächere.

Poch deshalb lieber nicht auf dein Recht.

Mach nicht den dicken Willi.

Komm gesund nach Haus – dann bist du clever.

Passt auf euch auf – ich wünsch euch was

Ulli

PS zum Bild:

Ein Fahrradfriedhof? – Kunst am Bau? – Schrott?

Aber was hätte das alles zu erzählen!

kunstvoll arrangierte und an einem Metallgestell festgeschweißte verrostete Fahrräder und Fahrradteile

ULLI KRAUSE

Lass dir was

vom Rad erzählen

Geschichten und Informationen

zum Radfahren

Originalausgabe

E-Book-ISBN: 978-3-948218-36-2

Print-ISBN: 978-3-948218-33-1

Mit redaktionellen Beiträgen von Peter Jäger, Rainer Neumann, Günther Döscher;

Informationsquellen: Bundesinnenministerium, Hartje, ADAC u.a.

Lektorat/Korrektorat und komplette Gestaltung: Günther Döscher

Bildmaterial Ulli Krause (privat und freundlich überlassen),

weitere Bilder von Rainer Neumann, Peter Jäger, sowie ergänzt durch

Bilder aus iStock by Getty-Images und Depositphotos.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

https://portal.dnb.de abrufbar.

© 2021

Kadera Verlag, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.kadera-verlag.de

Der Kadera Verlag ist ein Imprint der

Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

http://www.bedey-media.de

Danke

Nach einigen Monaten ist ein buntes Bündel an Geschichten und Informationen

über das Fahrrad zusammengekommen. Noch besser, als ich es mir vorgestellt hatte.

Ein herzliches Dankeschön an Nachbarn und Freunde,

die mich dabei mit Geschichten unterstützten und inspirierten.

Roland Ende (Hartje KG) und Frank Hahn (ADAC) halfen bei Sachfragen.

Auch Kollegen im Kadera-Verlag steckte meine Fahrradbegeisterung an:

Peter Jäger (pja) gab illustrierte Geschichten hinzu,

Rainer Neumann stellte fotografische Rad-Entdeckungen zur Verfügung,

und Lektor Günther Döscher hatte neben viel Geduld und Engagement auch noch

ein Rad-Gedicht in der Schublade, dem eigentlich die Melodie fehlt.

Es fühlt sich gut an, mit meiner Rad-Liebe nicht allein zu sein.

Ulli Krause

»He, Alter,

wir kennen uns doch

von früher…«

Wer war das? Wer sprach mich da an?

Niemand da.

Nur ein altes Fahrrad, das bunt an einem Schaufenster lehnte.

»Hast du was gesagt, oder ist dir nur Luft aus dem Reifen gezischt?«, fragte ich.

»Wir Fahrräder können dir allerhand über uns erzählen«, sagte das Rad.

»Na, dann erzähl mir mal was…«

Und das Fahrrad fing an…

Ein altes drahtiges Fahrrad steht auf einer Rasenfläche vor einem Zaun.

Ich war der Drahtesel, weil ich so drahtig war

1951 kam ich als Fahrrad auf die Welt. Es soll eine schwierige Geburt gewesen sein. Man hat mich aus den brauchbaren Einzelteilen vieler zerstörter Fahrräder zusammengebastelt. Und doch war ich gut in Form. Damals gab es noch nicht so viele unterschiedliche Fahrräder. Aus drei fahruntüchtigen Rädern konnte man oft zwei fahrbereite machen.

Mein Besitzer hieß Ulli, war zehn Jahre alt, nicht unbedingt ein Leichtgewicht und ziemlich wild. Er nannte mich »Drahtesel« und galoppierte gern so gewagt mit mir durchs Gelände, dass ich Angst hatte, er würde mir aus dem Sattel fliegen.

Noch anstrengender war manches Wochenende, wenn es über Land zum Hamstern ging. Nach dem Krieg war ich das wichtigste und wertvollste Fortbewegungsmittel. Ulli wusste das und behandelte mich wie einen guten Freund. Nie lag ich irgendwo herum. Und auf den Hamstertouren musste ich alles transportieren, was zum Überleben gebraucht wurde.

Von meinen Kumpels habe ich gehört, dass das heute immer noch in vielen Ländern auf dieser geschundenen Welt so ist. In Deutschland haben sich die Fahrräder ja von Generation zu Generation eher zu Sportgeräten entwickelt. Das ist gut fürs Herz – und billiger als das Auto.

Wenn wir Fahrräder heute beim Einkaufen in einem Fahrradständer und mit dickem Schloss gesichert auf die Rückkehr unserer Besitzer mit einem Korb voller Lebensmittel warten, staunen wir immer wieder, wenn dicke Geländewagen neben uns parken, um dann – mit vier Brötchen beladen – mit Dieselduft davonbrausen.

Dann muss ich immer aufpassen, dass mir nicht vor Lachen die Ventile rausfliegen und mir die Luft ausgeht.

Meine Reifen hatten Narben. Die Schläuche waren mehrfach geflickt. An porösen Stellen entwich die Luft. Die Fahrradkette war ausgeleiert, manchmal gerissen und mit Nieten repariert. Eigentlich war ich reif für die Intensivstation. Ich hatte damals vorn und hinten einen selbst gebauten Gepäckträger für schwere Lasten. Ulli fand das gar nicht toll, weil das so unsportlich aussah.

Aber was ist das schon im Vergleich zu einem echten Lastkraft-Fahrrad in China. Da bringt selbst Ulli nicht genug Gewicht auf die Pedalen, um damit voran zu kommen.

Dreirädiges Lastkraft-Fahrrad steht beladen auf einer Straße. Schwarzweiß Bild.

Das chinesische Lasten-Dreirad war eine so tolle Erfindung, dass der Typ von der Deutschen Post übernommen wurde. Ob mit oder ohne Lizenz – daran will ich nicht klingeln. Natürlich in knallharter Stahl-Konstruktion. Davon konnten wir in den Nachkriegsjahren nur träumen. Und ganz bestimmt gab es kein Strafticket, wenn es direkt vorm Schild stand, auf dem es hieß: »Bitte keine Fahrräder abstellen!« Schon das leuchtende Post-Gelb ist doch die eingebaute Park-Berechtigung.

Ein hellblaues Fahrrad mit zwei Körben steht auf einem Feldweg.

Die heutigen City-Bikes protzen mit Korb vorn und bei Bedarf noch zwei weiteren neben dem Gepäckträger – wir »Räder von damals« waren viel bescheidener und haben nicht einmal davon geträumt.

Ein gelbes Lasten-Dreirad von der Deutschen Post steht auf einem Gehweg.

»Wir sind das Gelbe von der Post!«

Jeden Morgen werden unsere riesigen Gepäckträger mit Briefen, Werbung und Postkarten beladen. Alle haben wir das gleiche Outfit, gelb ohne Ende, seit der »Christel von der Post« ist das so. Genau sogar seit dem Heiligen Römischen Reich, als Kaiser Maximilian I. das Postwesen an Thurn und Taxis übertrug und alles in den kaiserlichen Wappenfarben Gelb und Schwarz glänzte.

In Deutschland gab es 1895 die ersten honiggelben Posträder. Daran erinnerte man 100 Jahre später mit einer Briefmarke. 1933 fanden die Nazis gelb nicht gut – sie ließen alles auf Rot umstreichen. Nach dem Krieg gefiel das den Alliierten nicht. Sie ließen alles auf Raps-Gelb umfärben. Dieser Ton entstand aus Kadmium, ein sehr giftiger Stoff, der uns Rädern und auch unseren Tretern nicht gefiel.

Zeichnung auf einer Briefmarke und Bild von Postbotinnen auf dem Fahrrad.

Seit 1986 ist bei der Post alles ginstergelb. Das sollte die posteigene Hausfarbe werden. Acht Jahre hatte man darum gekämpft, dass die Farbe RAL 1032 in Logistik und Transport nur von der Post benutzt werden darf.

So um die zehn Jahre bin ich jetzt schon im Dienst und werde immer gut gepflegt. Waren aber immer wieder andere, die bei mir auf dem Sattel saßen. Meistens Männer, die mich nicht gerade streichelten.

Jetzt tritt eine junge Frau meine Pedalen. Sie geht viel liebevoller mit mir um. Wenn es aufwärts geht, steigt sie meistens ab und schiebt. Die Männer haben mich lieber mit aller Kraft nach oben gequält, das ging mir ziemlich auf die Kette. Sie hat auch für neue Reifen gesorgt, als die alten rutschig wurden. Und sie gönnt mir auch mal eine Pause, weil sie selbst gern ein kleines Schwätzchen mit den Briefempfängern hält. Sogar die Hunde mögen sie und freuen sich, wenn sie ein kleines Leckerli für sie hat. Nur der Terrier von Frau Zitzewitz im Hinterhof macht immer ein riesiges Theater. Gut, dass ich vor dem Zaun warten darf, da beißt mir der Kläffer nicht in den Vorderreifen.

Ein wenig neidisch bin ich auf die neuen Räder, die gerade zur Verstärkung hinzugekommen gekommen sind. Die werden nicht allein durch die Waden ihrer Treter angetrieben – sie haben einen kleinen Motor, so, wie es ihn schon länger bei den dicken Lastenrädern gibt. Die neuen Flitzer geben mächtig an, wenn sie an uns vorbei düsen. Schick sehen sie aus, aber sie haben auch nicht mehr Post in ihren Körben als wir Alten aus der Traditionsgeneration. Post-E-Bike nennen sie sich – weil sie so gelb sind, denn das ist was Besonderes. Den kleinen Motor aber – »Den haben bald alle«, hat einer behauptet. Alle wohl nicht, aber bestimmt immer mehr.

Wenn wir am Abend alle in Reih und Glied beieinander stehen, wird natürlich über die Neuen getuschelt. Einer sagte, dass das wohl Chinesen sind, weil das doch das Land der Radfahrer ist, wo man sogar Fahrräder aus Bambus macht. Das kann ich mir für die Post nun gar nicht vorstellen …

Eine Frau in einem gelben Regenmantel und mit einem aufgespannten Regenschirm.

Brandenburger Hamstertour

In den 50er Jahren musste Ulli oft mit Vater und Schwester über Land zu den Bauern, um irgendwas aus dem Haushalt gegen Lebensmittel einzutauschen. Körner, Raps, Kartoffeln, Eier und Fleisch wurden so beschafft. Wer nichts zum Eintauschen hatte, hamsterte auf abgeernteten Feldern die Reste zusammen. Ruck-zuck waren die Säcke voll – noch ein paar Blumen für Mutter und nichts wie nach Hause.

Solch eine Tour war um fünfzig Kilometer lang. Zurück hatte ich armes Rad besonders viel zu schleppen. Hamstergut plus Ulli waren wohl so um achtzig Kilo. Durch meine beiden Gepäckträger war die Last gut verteilt, um das Gleichgewicht zu halten. Ohne Essbarem nach Hause zu kommen, kam nicht in Frage.

In der noch jungen DDR, wo ich in den mageren Jahren nach dem Krieg auf Landstraßen und Wegen unterwegs war, trafen wir während der Kartoffelernte viele russische Militärlastwagen. Auch sie waren randvoll mit Kartoffeln beladen – und deshalb waren sie am Berg etwas langsamer. Dann trat Ulli wie verrückt in meine Pedalen, um sich hinten an solch einen Kartoffel-Lkw zu hängen. Geschickt warf er dann einen leeren Sack auf die Pritsche, wo immer ein paar nette Soldaten kauerten. Ruck-zuck füllten sie den Sack mit Kartoffeln und ließen ihn bei der nächsten Steigung vorsichtig auf die Straße plumpsen. Ulli ließ den Lkw los und dankte mit »Spasibo!«

Dann war ich froh, dass alles gut gegangen war und wir wieder vom Lkw weg waren, denn ich hatte immer Angst, mit dem Vorderrad an den Wagen zu kommen. Ullis Mutter durfte nichts davon wissen, denn das war viel zu gefährlich.

Beim Abladen fiel ich um und meine alte Lampe wurde verbogen. Ulli hat das aber schnell repariert, damit ich in der Dunkelheit wieder strahlen kann. In meiner kleinen Tasche unterm Sattel hatte Ulli immer Werkzeug und Flickmaterial zur Hand.

Die Karbid-Lampe war eine tolle Erfindung mit zwei kleinen Behältern. Aus dem oberen tropfte Wasser auf Karbid im unteren. Dadurch entstand Gas, das über eine Düse vor einem Hohlspiegel in heller Flamme verbrannte und einen Lichtkegel auf den Weg warf.

Hühner, Gänse, Ziegen und Kaninchen hatten immer Hunger und brauchten Futter. Es ging wieder übers Land zu den Bauern. Meine Kette wurde geölt und nachgespannt, der Luftdruck in meinen Reifen wurde erhöht, und die Gepäckträger wurden mit Tauschsachen beladen. Bei Sonnenaufgang ging es los. Ullis Vater und seine Schwester waren mit von der Partie.

Vopo-Kontrolle

auf der Kanal-Brücke

Auf dem Rückweg der erfolgreichen Hamstertour waren ich und die beiden anderen Fahrräder voll beladen mit Getreide, Gemüse und Kartoffeln. Um wieder nach Hause zu kommen, mussten wir über den Oder-Havel-Kanal, wo es auf der Brücke oft Kontrollen durch die Volkspolizei gab.

Und diesmal traf es uns.

Es ging nur sehr oberflächlich darum, die Ausweise zu kontrollieren. Sie wollten auch nicht prüfen, ob die Beleuchtung und die Rücktrittbremse an den Rädern in Ordnung waren. Es ging um die Hamsterware. Die Ordnungshüter befürchteten, dass unsere Familie der übrigen Bevölkerung das Essen wegnahm. Alles, was wir auf unseren Gepäckträgern hatten, sollte beschlagnahmt werden. Wir Fahrräder wurden am Brückengeländer abgestellt und konnten nichts weiter machen als zuzusehen, was nun passierte.

Ullis Vater gehorchte auf seine Weise: Er löste einen Sack nach dem anderen und warf die wertvollen Lebensmittel aus fünfzehn Meter Höhe in den Kanal.

Platsch! Platsch! – versank alles bei den Fischen in den Fluten. Die Volks-Ordnungshüter schauten völlig naturblöde, aber total amtswichtig aus ihren Uniformen und verfrachteten Ullis etwas zappeligen Vater mit Gewalt in den Transporter, der unsere Hamsterware aufnehmen sollte, um sie zu Volks-Hamsterware zu machen. Christel weinte, was die Herzen der Vopo überhaupt nicht erweichte. Sie schimpfte wie ein Rohrspatz. Das war den Vopos zu laut, deshalb haben sie nur Ullis Vater mitgenommen.

Christel und Ulli mussten nun mit drei Fahrrädern nach Hause schieben. Wie ein kleiner Familienausflug. Ohne Säcke und ohne den dicken Ulli im Sattel – das war auch mal ganz schön.

Sagen die Menschen doch immer: Wer sein Rad liebt, der schiebt!

Zu der Zeit gab es in West-Berlin auch für Ostdeutsche Carepakete aus Amerika. Um sie zu bekommen, musste man heimlich über die Grüne Grenze. Am Abend vorher stellte Ulli mich auf den Kopf, ölte meine Kette und prüfte, ob bei mir eine Schraube locker ist.

Morgens um vier Uhr ging es los. Rund fünfzig Kilometer waren es bis Berlin. Eine harte Tour über Kopfsteinpflaster, Wald- und Wiesen-Wege. Oft musste Ulli aus den Sattel, um stehend etwas kräftiger in meine Pedalen zu treten.

In Berlin wurden dann die wichtigsten Lebensmittel auf mich verladen, weil die russischen Grenzposten vor allem die Erwachsenen kontrollierten, und was ihnen gefiel, wurde beschlagnahmt. Die Kinder durften weiterfahren. Ulli und ich hatten die Kontrolle schon hinter uns, als ich seinen Vater mit den Grenzern diskutieren hörten. »Fahr weiter!«, rief der Ulli zu. »Du kennst ja den Weg. Ich komme später.«

Zehn Kilometer vor Eberswalde riss meine Kette. Ulli fummelte sie aus den Zahnrädern und schob mich geduldig nach Hause. Das dauerte fast drei Stunden länger. Ullis Mutter machte sich große Sorgen, schaute immer aus dem Fenster und hoffte im Dunklen auf den Lichtschein meiner Karbidlampe. Mal eben mit dem Handy anrufen – das gab‘s ja nicht.

Ulli Vater musste noch zum Verhör und kam erst morgens nach Hause, reparierte aber noch am selben Tag meine Kette denn ich wurde immer gebraucht und musste fit sein.

Frau Plietsch fährt jeden Tag mit dem Fahrrad über die Grenze. Auf dem Gepäckträger hat sie einen gefüllten Sack.

Immer fragt der Zöllner: »Haben Sie was zu verzollen?«

Immer schüttelt sie den Kopf.

»Und was haben Sie da im Sack?«

»Sand«, sagt Frau Plietsch.

Misstrauisch durchwühlt der Zöllner immer wieder den Sand – und findet immer nur Sand. »Sie schmuggeln doch was«, sagt er schließlich. »Bitte verraten Sie mir, was es ist. Ich werde es keinem verraten. Ehrenwort!«

»Na ja«, lächelt Frau Plietsch. »Weil es sowieso das letzte ist: Ich schmuggelte Fahrräder.«

Erlebnis im Wald