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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten
© copyright by
Riverfield Verlag, Reinach BL (CH)
www.riverfield-verlag.ch

Lektorat, Korrektorat & Satz
ihleo verlagsbüro – Dr. Oliver Ihle, Husum (D)

Umschlaggestaltung und Karten
Pascal Scheidegger
Illustrationsstudio, Wichtrach (CH)
www.pascalscheidegger.ch

Greif-Vignette
Marlies Vaucher (CH)

Bildnachweis Umschlag
© stock.adobe.com: TimurD, s_lena, Ronny sefria

E-Book Programmierung
Dr. Bernd Floßmann, Berlin www.IhrTraumVomBuch.de

ISBN 978-3-9523612-1-4 (Print)

ISBN 978-3-9523612-3-8 (E-Book)


Prolog

Giron, Herzogtum Dunkelberg

Als Hangnum die aufgeregten Rufe vom Hafen her hörte, dachte er erst, die Fischerboote seien mit reichem Fang zurückgekehrt. Er legte die Axt, mit der er gerade eine gefällte Pinie bearbeitete, ab, strich sich den Schweiß von der Stirn und ging zum Strand hinunter.

Da erkannte er, dass er sich geirrt hatte: Sechs schmale und langgezogene Schiffe mit hohem Bug und breitem, rechteckigem Segel näherten sich dem Strand. Das waren nicht die Fischer.

»Hätte nicht gedacht, dass wir die noch einmal zu Gesicht kriegen«, hörte er hinter sich. Fardor, der breitschultrige Hüne, der mit ihm die gefällten Baumstämme bearbeitet hatte, war neben ihn getreten und blickte ebenfalls aufs Meer hinaus.

Die Sonne hatte fast ihren höchsten Punkt erreicht und brannte heiß vom Himmel herab. Sie mussten die Hand über die Augen halten, um überhaupt etwas zu erkennen.

»Wieso nicht? Sie hatten doch klargemacht, dass sie Handel mit uns treiben wollen«, entgegnete Hangnum. »Zudem ist Gernum mit ihnen gegangen und hat immerhin seine Frau und seine beiden Kinder zurückgelassen. Mindestens er hatte sicher die Absicht zurückzukommen.«

»Eben. Gernums Alte würde ich nicht zurückwollen, wenn ich er wäre.« Fardor grinste. »Und seine beiden frechen Bälger erst recht nicht. Kein Wunder hat er sich freiwillig gemeldet, um mit den Fremden mitzugehen.«

Hangnum schüttelte lachend den Kopf.

»Du bist sehr boshaft, Fardor. So schlimm ist Gernums Frau nun auch wieder nicht.«

»Nein, da hast du recht, sie ist schlimmer.« Er lachte. »Ich bin gespannt, was die Schiffe für Waren mitgebracht haben. Vielleicht einen fremdländischen Schnaps?«

»Du denkst immer nur ans Trinken.«

»Nein, das stimmt nicht. Zuweilen denke ich auch an Weiber. Hm«, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Vielleicht haben sie Sklavinnen dabei?«

Hangnum machte ein abfälliges Geräusch. »Als ob du Geld für sowas hättest.«

Er beobachtete, wie die fremden Schiffe näher kamen. Bald wurden die Segel eingezogen und auf beiden Seiten Ruder ausgefahren, mit denen die Schiffe in den Hafen einfuhren. Mittlerweile hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Alle wollten die Neuankömmlinge von jenseits des Ozeans sehen. Auch Hangnum und Fardor legten die letzten Schritte zum Hafen zurück und versuchten über die Köpfe der vor ihnen Stehenden einen Blick auf die Schiffe und deren Besatzung zu werfen.

Hangnum konnte sich noch gut an die erste Ankunft der Fremden erinnern. Es war gut ein halbes Jahr her, als sie zum ersten Mal solch ein Schiff am Horizont gesehen hatten. Es war rasch nähergekommen und er sowie die anderen Männer hatten ihre Waffen ergriffen und waren damit zum Hafen gegangen. Als das Schiff angelegt hatte, war ein groß gewachsener Mann vom Schiff gesprungen. Sein Gesicht war voller verschlungener Tätowierungen, die Seiten des Kopfes kahl rasiert, das schwarze Haar darauf fiel ihm allerdings lang ins Gesicht, wo er es von Zeit zu Zeit zur Seite schob. Er trug einen schwarzen, sorgsam gestutzten Schnauz-, Unterlippen- und Kinnbart und hatte die Hände erhoben, um zu signalisieren, dass von ihm keine Gefahr ausging. Dann sagte er etwas in einer fremdartigen Sprache, die niemand verstand. Gernum trat vor und versuchte, sich mit dem Mann zu verständigen, was über Gebärden und Grimassen leidlich funktionierte. Die gut zwanzig Männer der Schiffsbesatzung waren allesamt stark und groß gewachsen, ihre Haut braun gebrannt und wettergegerbt. Die Fremden blieben mehrere Tage. Gernum verstand sich immer besser mit ihnen und schließlich kam sogar Herzog Valor zu Dunkelberg, sah sich die Fremden und ihr Schiff an und sprach mit ihnen, so gut es ging. Die Männer kamen von jenseits des Großen Ozeans, von einem Land, wo noch nie zuvor jemand von hier gewesen war. Sie schenkten Herzog Valor einen Sack mit einem rötlichen, scharfen Gewürz, zudem eine Kette mit einem Anhänger aus einem blau schimmernden Stein, wie man ihn hierzulande noch nie gesehen hatte. Im Gegenzug stellte Valor ihnen ausreichend Nahrungsmittel für die Rückreise bereit und schenkte ihnen einen silbernen Armreif. Sie kamen überein, dass sie mit mehr Waren wiederkommen würden, und Gernum meldete sich, um mit ihnen in ihre Heimat zu segeln, ihre Sprache zu lernen und ihnen seine beizubringen. So hatte es sich damals zugetragen.

Mittlerweile waren die Schiffe fast da. Die vorderen zwei sahen aus wie das Schiff, das vor einem halben Jahr hier angelegt hatte. Sie besaßen sechzehn Riemenpaare, hatten einen runden Rumpf, der an Bug und Heck spitz zulief und waren aus glatten Planken aus Kiefernholz, die durch Stahlnägel miteinander verbunden waren, gebaut. Sie hatten einen Mast mit einem blau und schwarz gefärbten Segel und waren etwas mehr als zwanzig Schritt lang und gut drei Schritt breit. Doch die hinteren vier waren größer und hatten mehr Tiefgang. Vermutlich waren sie mit Waren beladen. Sie hatten nur vier Ruderbänke, eine höhere Bordwand und hinten ein kleines Kastell. Zudem besaßen sie im hinteren Teil ein großes Gebilde aus Gitterstäben. Dahinter bewegte sich etwas, doch Hangnum konnte auf die Entfernung nicht ausmachen, was es war.

Die ersten beiden Schiffe legten an und Hangnum erkannte den Mann wieder, der vor einem halben Jahr mit Gernum und Her Valor verhandelt hatte, Charkhôn Ulvjatar, wie er sich damals vorgestellt hatte. Doch hatte er beim letzten Mal noch einfache Seemannskleider getragen, so zierte nun eine blau-schwarze Lederrüstung seinen kräftigen Körper. Reliefartig aufstehende, schwarze Schuppen stachen daraus hervor. An der Seite trug er ein Schwert, dessen Scheide beidseitig leicht gewölbt war, in der Form eines länglichen Wassertropfens.

Hangnum stand auf den Zehenspitzen und versuchte zu erkennen, ob Gernum auf einem der Schiffe war, konnte ihn jedoch nirgends ausmachen.

Charkhôn sprang auf den Landesteg, während die anderen vier Schiffe langsam in den Hafen einliefen.

»Volk von Giron«, sagte Charkhôn mit voller, wohltönender Stimme in gebrochenem Darisch. Hangnum war erstaunt, wie schnell dieser Mann ihre Sprache gelernt hatte. Gernum schien ein guter Lehrer zu sein. »Grüße euch.« Er hob die Hand und Jubelrufe erklangen. »Wo ist Valor Finsterfels?«, fragte er und Hangnum grinste ob des falschen Namens, doch jedermann wusste, wen der Seemann meinte.

Hernum, ein älterer Fischer, trat vor. »Er ist nicht hier, Her«, sagte er und benutzte den Adelstitel Her in Anbetracht der prächtigen Rüstung Charkhôns, die ihm ein wahrlich ritterliches Aussehen verlieh.

Hangnums Blick wanderte wieder zu den hinteren vier Schiffen und den Gitterkonstrukten darauf. Dahinter schienen sich Tiere zu befinden. Warum hatten die Fremden Tiere mitgebracht? Nun fiel ihm auch auf, dass nicht nur Charkhôn, sondern auch seine Männer bewaffnet und gerüstet waren.

»Wo ist er?«, wollte Charkhôn wissen. »Möchte mit ihm reden.«

»Vermutlich auf seiner Burg, Her», antwortete Hernum. »Wir können einen Boten zu ihm senden.«

Charkhôn schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht nötig.«

»Wo ist Gernum?«

Wida, Gernums Frau, war neben Hernum getreten und ließ ihren Blick neugierig über die Schiffe gleiten. Neben sich hatte sie ihre beiden Söhne, fünf und sieben Jahre alt. Charkhôn richtete seinen Blick auf sie und nickte.

»Gernum kommt gleich. Er ist auf einem der hinteren Boote.«

Hangnums Blick glitt wieder zu den Schiffen. Männer sprangen von Bord auf den Landungssteg und befestigten die Schiffe mit dicken Tauen an den großen Holzpflöcken, die aus dem Wasser ragten. Hangnum wandte den Blick wieder Charkhôn zu, da sah er plötzlich weiter hinten am Horizont etwas aufblitzen. Als er genauer hinsah, hielt er erstaunt inne. Weitere Masten waren dort aufgetaucht. Einer, zwei, drei, ein Dutzend, immer mehr erschienen und näherten sich rasch. Es war eine ganze Flotte, Dutzende Schiffe! Hangnum stieß Fardor neben sich an und deutete darauf.

»Das gefällt mir nicht. Schau mal!«

Fardor nahm seinen Blick unwillig von Charkhôn und runzelte dann die Stirn.

»Was zum …?«

Doch weiter kam er nicht. Die Käfige auf den hinteren Schiffen wurden geöffnet und vier riesige Kreaturen trotteten langsam ins Sonnenlicht hinaus. Hangnum und auch Fardor hielten den Atem an. Die Wesen waren so lang wie ein Pferd, doch nur halb so hoch, hatten schuppige Haut, vier Beine, einen Schwanz und eine gespaltene Zunge, die beständig aus ihrem Maul züngelte. Sie trotteten langsam über das Deck und wurden von jeweils zwei Männern mit langen Stangen, an deren Enden eiserne Halsbänder an den entsetzlichen Geschöpfen befestigt waren, auf den Landungssteg geführt. Die Menge wich erschrocken zurück, als sie die Kreaturen erblickte. Diese schienen die Anspannung der Anwohner zu fühlen, denn sie scharrten unruhig mit den Beinen und zerrten an den Stangen, an denen die Seeleute sie hielten.

Dann trat ein weiterer Mann auf den Landungssteg. Er war alt und von schmächtiger Statur. Sein Kopf wies nur noch vereinzelte weiße Haarsträhnen auf. Seine Haut war faltig. Er trug weite, rote Gewänder und sobald er festen Boden unter den Füßen hatte, blieb er stehen. Was nun folgte, ließ Hangnum schaudern. Der Mann schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, waren Pupille und Iris verschwunden. Die Augen des Mannes waren völlig ausgefüllt von einem tiefen, dunklen Rot.

»Was sind das für … Kreaturen?«, fragte Hernum und Hangnum konnte hören, dass er allen Mut zusammennehmen musste, um die Frage zu stellen.

Charkhôn lachte. »Weiß nicht genau, wie ihr sie in eurer Sprache nennen würdet, doch in unserer nennen sie Truchan, was etwa so viel bedeutet wie Todesechse.«

»Todes…echse?«, wiederholte Hernum und wurde bleich.

Hangnum sah hektisch zwischen den monströsen Echsen, Charkhôn, dem Mann mit den roten Augen und den Schiffen am Horizont hin und her.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, murmelte er. »Und wo ist Gernum?«

»Wieso habt ihr diese … Wesen mitgebracht?«, fragte Hernum.

»Setzen die Truchan im Kampf ein«, fuhr Charkhôn ungerührt fort.

Der Mann mit den weiten, roten Gewändern begann, seine Arme und Hände zu bewegen, und plötzlich erklangen wie aus dem Nichts seltsame Töne und Klänge. Es war Musik, erkannte Hangnum, doch er sah keine Instrumente, welche die Musik erzeugten, da war nur dieser seltsame Mann, der seine Arme und Hände rhythmisch hob und senkte, worauf die Musik sich veränderte, an- und abschwoll. Es waren verhaltene, tiefe und dunkle Töne. Doch nicht nur die Klänge reagierten auf die Handzeichen des Mannes, auch die Echsen wurden plötzlich still. Sie hörten auf zu scharren und blieben wie erstarrt stehen.

Zu Hangnums Entsetzen lösten die Seeleute die Halsbänder der vier Echsen und traten mit ihren Stangen rasch zurück. Derweil wurden die Gebärden des Mannes größer und schneller. Die Musik steigerte sich, wurde immer lauter und rasender, bis sie in einen wilden, galoppierenden Rhythmus mündete. Plötzlich rannten die geschuppten Kreaturen los und am Strand brach Chaos aus. Die vier Echsen rannten auf ihren kurzen Beinen erstaunlich schnell auf die Anwohner Girons zu und fielen über sie her. Hangnum sah, wie die vorderste Echse Hernum anfiel. Sie rannte auf ihn zu, sprang und landete auf seiner Brust, was ihn zu Boden gehen ließ. Dann stieß sie ihren Kopf herunter und biss ihm in den Hals. Eine rote Fontäne schoss daraus hervor. Panik breitete sich unter den Zuschauern aus. Sie drehten sich um und suchten ihr Heil in wirrer Flucht.

Charkhôn begann zu lachen und gab ein weiteres Zeichen, worauf seine Männer kurze Bögen hervornahmen und Pfeile auf die Flüchtenden schossen. Hangnum, der beinahe zuhinterst gestanden hatte, war bisher wie erstarrt stehen geblieben, doch nun drehte auch er sich um und begann zu rennen.

»Wartet«, rief Charkhôn hinter ihm, »ihr wolltet doch Gernum sehen.«

Hangnum warf einen Blick über die Schulter und bereute es im selben Moment. Auf dem Schiff, auf dem Charkhôn gekommen war, wurde am Mast etwas hochgezogen. Jemand. Es war Gernum, erkannte Hangnum, obschon dieser längst tot sein musste. Vielmehr war es ein blutiges, nacktes Bündel. Hangnum hörte Wida kreischen, doch er drehte den Kopf zurück und rannte weiter. Aus den Augenwinkeln sah er, wie jemand von einem Pfeil getroffen wurde und zu Boden sank. Er wandte sich um und erkannte Fardor, was seinem Herz einen Stich versetzte, doch er ignorierte ihn und rannte weiter. Weg, nur weg von hier! Weg von diesen mörderischen Fremden, die Tod und Verderben unter seine Leute brachten. Er musste zu Tordis, seiner Frau, musste sie warnen und mit ihr fliehen, er …

Eine unsichtbare Faust traf ihn am rechten hinteren Schulterblatt und wirbelte ihn herum und zu Boden. Ein ungeheurer Schmerz durchfuhr ihn und er schrie gepeinigt auf.

Ein Pfeil. Ein Pfeil muss mich getroffen haben.

Er versuchte sich aufzurichten, doch dann fiel ein Schatten auf ihn. Als er aufsah, erkannte er Schuppen und eine gespaltene Zunge, die vorschnellte. Dann folgte ein noch größerer Schmerz und endlich gnädige Dunkelheit.

Erster Teil

Die Versammlung der Könige

Greif

1

Montag, ter Sipte. tis ist ter tunkelste Tag in ter Geshichte Tariens.

si kamen unerwartet, us tem Nichts. es gap kiine Anziichen, kiine Forwarnung.

ich hape gesehen, wi Tranant turch ti Shtrasen fon Griifenhiim geshliift, wi er an iinen Pfal gepunten unt in Prant geshtekt wurte. ich hape siine Shriie gehort, siine Piin gefult. unt ich wiis, er ist nicht ter iinzige unt wirt nicht ter lezte siin.

Altenburg, Bündnis befreundeter Staaten

Der Reiter war Arken bereits aufgefallen, ehe er vor der Herberge »Zum schützenden Arm« angehalten und umständlich abgesessen war. Er war vornübergebeugt geritten, als würde eine schwere Last auf seinem Haupt liegen, und es hatte ausgesehen, als würde er jeden Moment aus dem Sattel kippen und in den Schlamm fallen. Sein Pferd machte ebenfalls einen abgekämpften, erschöpften Eindruck und trottete müde auf die Herberge zu. Doch der Grund, warum er Arken aufgefallen war, war seine edle Kleidung. Auch wenn sie nun von Schlammspritzern verdreckt und an vielen Orten zerrissen war, hatte Arken sofort erkannt, dass der Mann ein beträchtliches Vermögen besitzen musste – oder besessen hatte –, da er sich solche Kleider leisten konnte. Die Kapuze des wollenen Mantels hatte er hochgeschlagen, so dass Arken seine Gesichtszüge nicht erkennen konnte, doch gerade dieser Mantel beeindruckte Arken tief. Er hätte seine rechte Hand für so einen warmen, dicken Wollmantel gegeben. Die Stiefel des Fremden waren hoch und aus hellem, nun verschmutztem Leder gefertigt, die Beinkleider aus blauer Seide, die sich nicht wirklich zum Reiten eigneten, und auch sein Wams war aus vormals wohl weißem Samt gemacht. Der Mann machte auf Arken auch nicht den Eindruck, als wäre er schon oft in seinem Leben geritten. Zu ungelenk saß er auf dem Pferd, nicht wie ein Reiter, sondern eher wie ein Sack Kartoffeln.

Arken lehnte gegenüber der Herberge an einer Hauswand, seinen Schlapphut tief in die Stirn gezogen, so dass sein Gesicht im Schatten des Hutes lag und ihm der Regen nicht ins Gesicht lief. Er fror, denn im Gegensatz zum Fremden hatte er keinen Mantel, der die klirrende Kälte, die seit ein paar Tagen vorherrschte, abhielt. Dennoch stand er seit über einer Stunde hier, lauerte, um genau für diesen Fall gewappnet zu sein: einen dicken Fisch ausfindig zu machen und zu sehen, wo er abstieg – im »Schützenden Arm« oder in der benachbarten Schenke »Zum bettelnden Hund«. Arken kratzte sich an der schwarzen Augenklappe, die sein linkes Auge bedeckte, und fragte sich, wer der Fremde sein mochte. Er war nicht von hier, das war offensichtlich. Allein seine Kleidung passte nicht zu Altenburg. Dazu war sie viel zu farbenfroh. Er war ein Reisender und somit kein gewöhnlicher Bürger. Wie ein Söldner sah er nicht aus, wie ein Prediger oder Geweihter ebenfalls nicht. Auch einen wandernden Handwerksgesellen konnte er ausschließen. Vielleicht ein niederer Edelmann auf der Flucht? Oder ein Kurier, ein Spielmann oder ein Gelehrter? Wie auch immer – der Mann besaß definitiv mehr als er, weswegen Arken ihn zu seinem Opfer erkor. Arken war offenbar der Erste, der den Fremden entdeckt hatte, somit der Erste, der seine Hand an dessen Börse würde legen können. Und das hatte er sich redlich verdient, schließlich stand er seit Stunden hier auf seinem Posten. Er musste nur dafür sorgen, dass ihm in der Herberge niemand zuvorkam.

Als der Fremde vor dem »Schützenden Arm« anhielt und mehr vom Rücken seines Pferdes stürzte als abstieg, setzte sich Arken bereits in Bewegung und ging langsam auf ihn zu. Der Mann klopfte müde an die Tür. Arken sah, dass er mit der anderen Hand eine kleine, lederne Tasche festhielt, die er vergeblich unter dem Umhang zu verbergen versuchte.

Die Tür öffnete sich. Der Mann übergab dem herauseilenden Knecht die Zügel seines Pferdes und schlüpfte dann in die warme Stube. Arken folgte ihm.

Die Gaststube war gut gefüllt. Wer einige Münzen besaß und keiner dringenden Beschäftigung nachzugehen hatte, hatte sich vor dem andauernden Regen und der Kälte hier hineingeflüchtet und genehmigte sich einen Krug Wein, ein abgestandenes Bier oder einen starken Weringer, den Apfelschnaps, für den das Bündnis weitherum berühmt war. Der Fremde hatte sich in den hinteren Teil der Gaststube begeben und sich einen der wenigen freien Tische gesichert. Nun saß er müde mit dem Rücken an die Wand gelehnt da und bestellte eben etwas beim Wirt.

Arken ließ seinen Blick durch die Gaststube schweifen. Ein Lächeln zuckte über seinen Mund, als er hinter dem Tresen Arla erblickte. Sie war einer der Gründe, warum sich Arken meist vor dem »Schützenden Arm« auf die Lauer legte und nicht anderswo. Sie hatte ihre langen, schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr bis zur Hüfte reichte. Gerade ergriff sie zwei Bierhumpen und machte sich damit auf den Weg zu einem Tisch. Ihr Blick hob sich und kreuzte den seinen. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und sie nickte ihm freundlich zu. Arken legte grüßend die Finger an seinen Hut und neigte den Kopf ebenfalls. Sein Blick folgte ihr, doch als er sah, an wem sie vorbeiging, gefror sein Lächeln: Vidal, der am hinteren Ende der Gaststube stand. Zu seiner Erleichterung schien er bisher weder vom Fremden noch von Arken Notiz genommen zu haben. Seine Aufmerksamkeit galt zwei Händlern, die auf der anderen Seite in ein Gespräch vertieft waren. Arla stellte die beiden Bierkrüge vor den Händlern ab, wobei sie sich nach vorne beugte. Arken schluckte, als ihr Mieder ihm einen tiefen Einblick gewährte. Sie sagte etwas zu den Händlern, ehe sie wieder zurück zum Tresen schritt, nicht ohne Arken ein erneutes Lächeln zuzuwerfen. Eine Wärme breitete sich in ihm aus und er schmunzelte. Er würde auch heute wieder auf Arla warten, wenn sie ihren Dienst beendet hatte, und sie nach Hause geleiten. Er würde sie erneut fragen, ob er sie nach drinnen begleiten dürfe, und vermutlich würde sie ihn wieder abweisen, wie all die Male zuvor. Doch irgendwann würde auch ihre Mauer bröckeln, da war er sich sicher, und er würde Zugang zu ihr erhalten. Er grinste. Letzte Woche hatte sie ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange gegeben. Das war doch immerhin etwas.

»Ich kann dich nicht mit hineinnehmen«, hatte sie ihm gesagt. »Mein Vater würde dich umbringen.«

»Er muss es ja nicht merken. Ich bin sicher, er schläft schon«, hatte Arken grinsend geantwortet.

Arla hatten den Kopf geschüttelt, so dass ihr schwarzer Zopf umherhüpfte. »Zu gefährlich.«

»Dann gehen wir zu mir?«

Sie hatte sich ein Grinsen nun auch nicht mehr verkneifen können. »Zu dir? Unter die Brücke im Abfall? Danke, aber ich gehe lieber in die Wärme.«

»Ist dir die Brücke im Abfall nicht gut genug? Sie wurde vor über hundert Jahren gebaut, ist stabil, bietet Schutz vor Regen und gleichzeitig hörst du das Plätschern des Flusses, das dich sanft in den Schlaf wiegt. Gib der Brücke eine Chance, Arla.«

Sie hatte lachen müssen. »Du bist ein Charmeur, Arken, und ich mag dich, aber du weißt, dass es nicht sein kann. Mein Vater will eine bessere Partie für mich.«

»Besser als der Lautlose Schatten?« Er hatte gespielt entrüstet die Augenbrauen hochgezogen. »Das wird er hier in Altenburg nicht finden. Ich bin auf der Straße eine Legende.«

»Das ist das Problem, Arken: die Straße. Ich will nicht auf der Straße leben.«

Arken seufzte. Sie hatte recht. Was konnte er ihr schon bieten? Vielleicht musste er sich wirklich bald mit Berla zufriedengeben. Die junge Hure ließ ihn zwischendurch umsonst ran, weil sie in ihn verliebt war. Wenn es nach ihr ginge, wären sie schon verheiratet und hätten Kinder. Berla war zwar hübsch anzusehen – mit ihren großen, grünen Augen, den vollen Lippen und den prallen Brüsten –, doch er empfand nichts für sie.

Er schob den Gedanken beiseite, als er sah, wie Vidal sich an den Tisch neben demjenigen der Händler setzte und sich dessen rechte Hand langsam der Geldbörse näherte, die am Gürtel des einen Händlers hing. Arken runzelte die Stirn, blickte wieder zum Fremden hin und bahnte sich dann einen Weg durch die lärmenden Männer. Die Tische unmittelbar neben dem Fremden waren besetzt, aber etwas weiter hinten war ein Tisch frei, und Arken setzte sich so hin, dass er den Mann stets im Auge behalten konnte. Dieser stellte die lederne Tasche eben auf den Boden und schob sie zwischen seine Füße, so dass er sie jederzeit spüren konnte.

In dieser Tasche musste sich etwas ungemein Wertvolles befinden. Arken musste sie haben!

Er beobachtete, wie Glorin, der Wirt, dem Mann einen Krug Wein brachte, danach den Blick hob und Arken erkannte. Das fette Gesicht des Wirts färbte sich rot, und er trat an Arkens Tisch.

»Arken! Was tust du hier? Verzieh dich, ehe ich den Schlichter rufe!«

Glorin hatte das tatsächlich schon getan und den Schlichter gerufen, Arken des Diebstahls bezichtigt. Doch man hatte ihm nichts beweisen können, und der Schlichter hatte Arken nur nahegelegt, die Herberge zu verlassen und nicht zurückzukehren. Der ersten Aufforderung hatte Arken Folge geleistet, doch die zweite hatte er natürlich ignoriert.

»Warum denn gleich so unfreundlich, Meister Glorin?« Arken zog seine letzte Münze aus der Tasche, ein Zehn-Kral-Stück, und legte sie auf den Tisch. »Ich würde gerne einen Weringer bestellen. Ich glaube, das ist nicht verboten, oder irre ich mich?«

Glorin sah abschätzig auf die Münze. »Dafür kriegst du höchstens einen halben Becher Bier«, knurrte er.

»Einen halben Becher Bier dann«, sagte Arken und lächelte, »und vielleicht ein Stück Brot dazu?«

Der Wirt schüttelte angewidert den Kopf und ging davon. Arken sah wieder zum Fremden hin und zog seine Pfeife aus der Tasche. Arla brachte dem Reisenden gerade einen Teller Suppe. Arkens Magen zog sich knurrend zusammen. Er hatte heute den ganzen Tag noch nichts gegessen und eben seine letzte Münze für einen halben Becher Bier ausgegeben, damit er noch eine Weile hierbleiben und den Fremden im Auge behalten konnte. Er hoffte, dass Arla ihm das Bier bringen würde und nicht Glorin, stopfte sich die Pfeife mit seinem letzten Rest Wehrfurter Kraut, als sich ein Schatten über seinen Tisch legte. Als Arken aufsah, erkannte er Vidal.

»Lautlos«, sagte Vidal und setzte sich Arken gegenüber.

»Und tödlich«, vollendete Arken den Wahlspruch der Dunklen Gilde.

Vidal lächelte, legte seine zur Faust geballte Hand auf den Tisch und öffnete sie. Ein halbes Dutzend Münzen lag darin. Arken riss die Augen auf. Das waren keine Kral, es waren Greifen! Sechs Greifen. Ein kleines Vermögen. Ehe Arken etwas sagen konnte, schloss Vidal die Faust wieder und ließ die Münzen unter seinem Wams verschwinden.

»Alles klar, Arken?«, feixte Vidal. »Soll ich dir einen ausgeben?«

»Verzieh dich«, knurrte Arken, zündete sich die Pfeife an und hoffte, dass Vidal den Fremden noch nicht erspäht hatte und aufgrund der eben gemachten Beute die Herberge bald verlassen würde. Doch natürlich tat er ihm diesen Gefallen nicht.

»Du denkst, du kannst den Fremden dort drüben ausnehmen, was?«, sagte Vidal und grinste, als er Arkens schockierten Blick sah. »Hast du geglaubt, ich hätte ihn nicht bemerkt?« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Mal sehen, wer ihm die Tasche zuerst abjagt, hm? Ich tippe auf mich. Ich würde ja wetten, aber ich fürchte, du kannst dir keinen Einsatz leisten.« Wieder lachte er und erhob sich. »Also, man sieht sich.«

Vidal ging zu Arkens Entsetzen direkt auf den Tisch zu, an dem der Fremde saß. Arken sah, wie Vidal etwas zu dem Mann sagte, worauf er sich ihm gegenüber hinsetzte.

»Ein Becher Bier, bitte schön.«

Arken zuckte zusammen, sah auf und blickte in zwei grüne Augen, die ihn freundlich ansahen. Arla stellte das Bier vor ihm ab und legte eine Scheibe Brot sowie ein Stück Trockenfleisch vor ihn hin. Dabei stellte sie die Esswaren hinter den Krug, so dass sie vom Tresen aus nicht sofort ersichtlich waren. Arken runzelte die Stirn.

»Ich habe kein Fleisch bestellt«, sagte er und wunderte sich, dass Glorin ihm überhaupt das Stück Brot hatte zukommen lassen. Auch der Becher Bier war randvoll statt nur halbvoll.

»Nicht?« Arla runzelte die Stirn. »Dann muss ich wohl was verwechselt haben. Aber ich kann die Sachen gerne wieder mitnehmen.« Sie zwinkerte ihm schelmisch zu.

»Nein, nein, aber … ich … habe nur zehn Kral, also …«

»Das muss dein Glückstag sein«, sagte Arla strahlend. »Heute gibt’s zu jedem Becher Bier Brot und Trockenfleisch umsonst.« Sie streckte die Hand aus und fügte hinzu: »Ich bin angewiesen worden, bei dir sofort einzukassieren, also …«

Arken nickte und ergriff das Zehn-Kral-Stück, das immer noch vor ihm auf dem Tisch lag. »Vielen Dank«, sagte er und legte es ihr in die Hand. Dabei berührten sich ihre Finger und ein wohliges Schaudern durchlief Arken. Arla schloss die Hand um das Geldstück und lachte.

»Nichts zu danken. Auf Wiedersehen, Arken.« Damit drehte sie sich um und wollte davongehen, doch Arken rief sie zurück.

»Soll ich auf dich warten und dich nach Hause begleiten, wenn du hier fertig bist?«

Arla drehte sich noch einmal zu ihm um, hielt einen Moment inne, dann lächelte sie und nickte.

»Warum nicht? Danke.«

Sie ging zurück zum Tresen, und Arken konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Fremde fiel ihm wieder ein. Er riss seinen Blick von Arlas Hinterteil und richtete ihn wieder auf den fremden Mann, dem er hier hinein gefolgt war. Dieser wechselte gerade einige Worte mit Vidal. Arken legte die Pfeife auf den Tisch, nahm einen Schluck Bier, biss ein Stück vom Brot und vom Fleisch ab und beobachtete, was weiter geschah. Der Fremde nickte, ehe er sich wieder seiner Suppe zuwandte und Vidal nicht weiter beachtete. Arken sah, wie Vidals Fuß sich langsam unter dem Tisch in Richtung der Tasche bewegte. Er entschloss sich, nicht länger zuzuwarten, steckte sich Brot und Fleisch in die Tasche, stürzte den Krug Bier hinunter, machte die Pfeife aus und steckte sie sich wieder in die Tasche. Dann schoss er hoch und ging zum Tisch des Fremden.

»Entschuldigen Sie«, sagte er.

Der Mann sah hoch. Er sah müde aus. Tiefe Ringe lagen unter seinen Augen, ein Dreitagebart wucherte dort, wo er vermutlich normalerweise glattrasiert war. Das kurz geschnittene Haar war an den Schläfen leicht ergraut.

»Da ist gerade eine Ratte unter Ihrem Tisch durchgekrochen.«

Die Augen des Fremden wurden groß. Er hob seine Tasche hoch, stellte sie sich auf den Schoss und hob auch noch die Füße an, während sein Blick suchend den Boden abtastete.

»Wo?«, fragte er angeekelt.

Arken beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Er deutete auf die Rückenlehne des Stuhls, auf dem der Fremde saß.

»Da ist sie.«

Der Mann schoss entsetzt hoch, die Tasche entglitt seinen Händen. Arken fing sie auf, griff in einer blitzschnellen Bewegung hinein und ließ den Gegenstand, der darin lag, unter sein Wams gleiten. Dann stellte er die Tasche in einer fließenden Bewegung auf den Tisch. Er hörte Vidal hinter sich wütend die Luft einziehen; doch der sagte nichts.

»Wo ist sie?«, kreischte der Fremde panisch.

»Sie ist weg«, sagte Arken und deutete Richtung Ausgang, »dort ist sie hingelaufen. Nichts für ungut.«

Er ging in die Richtung davon, in die er gezeigt hatte, öffnete die Tür und verließ die Herberge. Ein kalter Wind schlug ihm entgegen und Regentropfen prasselten auf ihn ein, als er auf die Straße trat. Raschen Schrittes überquerte er sie und wollte gerade in eine Seitengasse eintauchen, als hinter ihm die Tür der Herberge erneut aufgerissen wurde. Schnell zog Arken eines seiner Wurfmesser aus der verborgenen Scheide, die er unter dem Hemd am Unterarm trug, holte aus und – hielt inne, als er Vidal erkannte. Raschen Schrittes kam der Dieb auf Arken zu.

»Du hast mir den Fang vor der Nase weggeschnappt«, ereiferte dieser sich, »ich war drauf und dran, die Tasche zu erbeuten. Was ist mit dem Kodex, hm? Sich nicht an der Beute eines anderen zu vergreifen, verdammt! Ich hätte gute Lust gehabt, dich zu verpfeifen!«

»Ich soll dir die Beute weggeschnappt haben?« Arken schüttelte ungläubig den Kopf und verstaute das Messer wieder in der Scheide. »Ich habe stundenlang hier draußen gestanden, den Mann ausfindig gemacht und bin ihm dann nach drinnen gefolgt. Du wolltest mir meine Beute wegnehmen!«

»Ach, Blödsinn! Komm, wir machen halbe-halbe. Schließlich habe ich den Mann abgelenkt.«

»Du hast ihn überhaupt nicht abgelenkt, das war …«

»Was war denn überhaupt drin in der Tasche?«

Arken zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ich habe noch nicht nachgesehen.«

Vidal trat ihm voraus in die Seitengasse und machte eine auffordernde Handbewegung.

»Na los, schau schon nach! So wie der Mann die Tasche bewacht hat, müssen da gut und gerne hundert Greifen drin gewesen sein.«

Arken folgte Vidal in die Seitengasse und zog den Gegenstand heraus, den er aus der Tasche entwendet hatte. Es war eine kleine, flache Schatulle. Vidals Augen begannen gierig zu blitzen. Arken machte einen Schritt von ihm weg, doch der Dieb folgte ihm. Arkens Blick glitt an Vidal herab, zu dem Dolch, den er am Gürtel trug. Er nahm sich vor, ihn gut im Auge zu behalten. Dann öffnete er den Deckel der Schatulle.

2

»Nein, Vater, das kann nicht Euer Ernst sein!« Kendra beugte sich empört vor, bis ihr Gesicht ganz nah an dem ihres Vaters war. Ihr blonder Zopf schoss nach vorne und baumelte neben ihrem erregten Antlitz. »Ich werde ihn nicht heiraten.«

Der Kaiser sah sie mit seinen goldenen Augen müde an und zuckte mit den Schultern.

»Das privilegierte Leben, das du führst, Kendra, hat seinen Preis. Sieh hinaus.«

Der alte Mann deutete durch das Fenster der geschlossenen Kutsche nach draußen. Kendras Blick folgte widerwillig seinem ausgestreckten Arm. Sie hatten eben die äußeren Bezirke von Altenburg erreicht und fuhren durch dessen Straßen. Rechts und links waren ärmliche Behausungen zu sehen, löchrige Bretterbuden, durch die der Wind pfiff und Regenwasser eindrang. Sie fuhren an einer Frau mit fettigen Haaren, magerer Gestalt und fauligen Zähnen vorbei. Sie stand im strömenden Regen und streckte bettelnd den Arm in Richtung der Kutsche, doch einer der Soldaten des Kaisers trieb sie zurück.

»Der Abfall. Altenburgs ärmstes Viertel«, sagte der Kaiser. »Hast du die Frau mit den verfaulten Zähnen gesehen? Diese Frau durfte sich ihren Mann selbst aussuchen, so sie denn einen gefunden hat. Und der Alte dort drüben ebenfalls.«

Sein Finger zeigte auf einen älteren Mann, der vor einer Holzhütte mit schiefem Dach auf dem Boden saß. Das vorstehende Dach hielt den größten Teil des Regens von ihm fern, dennoch war er durchnässt, wie das dunkle Hemd verriet, das ihm am ausgemergelten Körper klebte. Er hatte nur ein Bein, das andere reichte lediglich bis zum Knie und endete dort in einem Stumpf. Ein Stock lag neben ihm auf dem Boden. Als die Kutsche an ihm vorbeifuhr, ergriff er ihn, drückte sich damit in die Höhe und streckte ebenfalls bettelnd die Hand vor.

»Einen Kral, die feinen Herren! Nur einen Kral, ich bitte euch!«

»Verzieh dich!«, fuhr ihn ein Soldat an.

Kendra sah, wie der Soldat so nah an dem Bettler vorbeiritt, dass dieser von der Flanke des Pferdes getroffen und in eine Pfütze zu Boden geschleudert wurde.

»Ich habe für Euch gekämpft«, schrie der Krüppel, als sie an ihm vorbeiritten, »in der Schlacht zu Hohenheim! Ein Bein hat es mich gekostet! Und was ist es Euch wert? Nicht einmal einen Kral. Nicht einmal einen Kral!« Die Stimme wurde leiser, als sie sich weiter von ihm entfernten, und der Kaiser sah Kendra nun wieder in die Augen.

»Diese Frau und dieser Mann leben in alten Hütten, durch die des Nachts der Wind zieht und der Regen eindringt. Sie hungern jeden Tag und fürchten selbst dann um ihr Leben, wenn sie etwas zu essen ergattern können, denn ihre Nachbarn wären bereit, für einen Laib Brot zu töten. Dafür können sie sich ihre Lebensgefährten aussuchen. Und du? Du wohnst in einem Palast, hast drei Kammerzofen, isst jeden Tag, so viel du magst, verfügst über die schönsten Gewänder, trägst funkelndes Geschmeide, kannst den lieben langen Tag machen, was du willst, ohne einen Finger für irgendeine Arbeit krümmen zu müssen. Und du begehrst auf, wenn Wir dir vorschreiben, wen du heiraten sollst?«

Kendra öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, schloss ihn dann aber wieder und schwieg. Der Kaiser nickte zufrieden, lehnte sich zurück und faltete die altersfleckigen Hände über seinem Bauch, der in den letzten Jahren immer umfangreicher geworden war. Einst war er ein großer, starker Mann gewesen, vor dem die Feinde gezittert hatten, doch nun waren seine Haare und sein Bart weiß geworden, der einst kräftige Körper beleibt. Kendra schluckte und kniff die Augen zusammen.

»Ich weiß, was Ihr meint, Vater, aber nur weil ich das Glück hatte, in eine reiche Familie geboren worden zu sein, soll ich nie erfahren dürfen, was Liebe ist?«

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Aber nein, Liebes. Wir sprechen hier von Heirat, nicht von Liebe. Das eine hat mit dem anderen doch nichts zu tun. Du wirst König Randiz IV. heiraten und mit ihm Kinder zeugen. Doch was du daneben machst und mit wem, das ist eine ganz andere Sache. Als künftige Königin stehen dir genug Möglichkeiten offen, Schäferstündchen mit Liebhabern abzuhalten, glaube Uns.«

»Das ist doch nicht dasselbe, Vater. Ich spreche von Liebe, nicht von Liebe machen.«

»Wir wissen dies, Tochter, doch so ist nun mal unser Schicksal, das Schicksal der Mächtigen, das Schicksal der Goldaugen, das Schicksal von Kaisern, Königen und Königinnen.«

»Ich weiß, dass dem so ist, Vater, und ich weiß, dass ich einen König heiraten soll. Dagegen habe ich auch nichts, im Gegenteil. Doch ausgerechnet Randiz? Er ist alt, fett, hat eine Glatze und eine rote Nase. Er ist eine Beleidigung für eine junge, gut aussehende Prinzessin, wie ich es bin. Vater! Schämt Ihr Euch denn gar nicht, mir einen solchen Mann ins Bett legen zu wollen?«

Der Kaiser seufzte und breitete die Arme aus. »Welchen König hätten Wir denn sonst auswählen sollen? König Borkuf und König Rakmar Hedanhir sind bereits verheiratet. Glaube Uns, Kind, König Randiz ist die einzige valable Option, so leid es Uns tut.«

»Was ist mit König Hant?«, warf Kendra verzweifelt ein. »Er soll jung und gut aussehend sein.«

Ihr Vater lachte und verwarf die Hände. »Sein Königreich ist Teil des Kaiserreichs. Was würde Uns eine solche Heirat nutzen?«

»Immer muss alles etwas nutzen!«, schrie Kendra wütend.

»Nun warte doch erst mal die Versammlung der Könige ab und dann sehen wir weiter.« Er strich sich über den sauber gestutzten, weißen Bart und sah demonstrativ zum Fenster hinaus. Kendra wusste, was das hieß: Der Wille des Kaisers würde geschehen, egal wie sehr sie sich dagegen sträubte.

Die Kutsche hielt an und gleich darauf klopfte jemand an die Kutschentür. Der Kaiser bedeutete Welendar, seinem Leibdiener, der bisher still neben ihm gesessen hatte, aufzumachen. Vor der Kutsche stand Her Valor zu Dunkelberg, der Schwarze Panther, Kriegsherr des Reiches. Er trug seine schwarze Rüstung, jedoch ohne Helm. Halblange, weiße Haare klebten nass in einem schmalen, harten Gesicht, das von zwei Narben teilweise entstellt wurde: Die eine prangte zwischen seinen Augen und die andere nahm ihren Anfang unter seinem rechten Auge und zog sich bis zum Mundwinkel herab, wo sie in seinem weißen Vollbart eine schmale Lücke geschaffen hatte.

Kendra liebte Valor fast wie einen Vater. Zu ihrem zwölften Geburtstag hatte ihr der Kriegsherr einen weißen Syrländer Hengst geschenkt. Es war der schönste Tag in ihrem Leben gewesen. Kendra hatte ihn Sturmwind genannt und war unzählige Male auf ihm über die Wiesen und Felder rund um Greifenheim galoppiert.

»Majestät«, sagte Valor mit seiner tiefen Stimme, »es ist so weit.«

Der Kaiser nickte und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Tut Uns leid, Liebes, wir können ein andermal weiterreden.«

Er gab seinem Diener einen Wink, worauf dieser die Kutsche verließ und einen Schemel davor auf den Boden stellte. Der Kaiser folgte ihm in den Regen hinaus. Ein Soldat brachte das Pferd des Kaisers. Es trug einen goldenen Rossharnisch, der sowohl die Flanken als auch den Rücken, den Hals und den Kopf seines Pferdes beinahe komplett bedeckte und schützte.

Als ob sein Pferd Schutz brauchen würde, dachte Kendra, alles nur, um Eindruck zu schinden.

Ein zweiter Diener eilte heran und hängte dem Kaiser eine goldene Kette um den Hals, wo sie auf dem braunen Hemd mit den goldenen Borten zu liegen kam. Dann legte er dem Kaiser den purpurnen, hermelingefütterten Samtumhang um die Schultern und setzte ihm den prunkvollen Stirnreif mit dem goldenen Greifen auf der Vorderseite auf den Kopf. Der andere Diener stellte den Schemel nun vor das Pferd und hielt dem Kaiser gleichzeitig seine beiden Hände helfend hin. Der Kaiser trat mit dem rechten Fuß auf den Schemel und mit dem linken in die Hände des Dieners, ehe er sich mühsam auf sein Pferd schwang. Rasch richteten die Diener den langen Umhang, so dass er nach allen Seiten gleichmäßig über den Pferderücken fiel. Dann reichten sie ihm das Reichszepter, ehe er nach vorne ritt, an die Spitze der tausend Soldaten, die ihn begleiteten.

Kaiser Gundran IV. hatte Altenburg erreicht.

3

Herzog Draqùo III. zu Sargund nahm sich ein Kristallglas gefüllt mit Schaumwein und scheuchte den Diener mit seiner rechten Hand davon. Dann trat er, gefolgt von zwei Rittern, auf König Borkuf II. und König Randiz IV. zu. Die beiden standen an der Brüstung einer Balustrade, die auf den Hof hinunterging, und sprachen angeregt miteinander. Auf der Grünfläche unter ihnen gingen weitere Bedienstete geschäftig unter den adligen Gästen umher, die den Hof des Kaiserlichen Schiedsspruchs bevölkerten. Der Regen hatte aufgehört und eben war sogar die Sonne kurz hervorgekommen. Hinter den beiden Königen, aber außer Hörweite, stand ein halbes Dutzend Leibwachen und musterte gelangweilt die Gäste. Einen Moment lang wartete Draqùo ab, ob die beiden Könige, die ihn zu sich gerufen hatten, ihn bemerkten, doch als er sah, dass dem nicht so war, räusperte er sich.

»Majestäten.«

Die Könige hielten in ihrem Gespräch inne und drehten sich zu ihm um. Borkuf war ein großer, kräftiger Mann mittleren Alters. Er hatte einen sauber gestutzten Vollbart und dunkle, stechende Augen. Auf dem Kopf trug er den Königsreif, geschmiedet aus Silber und Tartium, das in der Dunkelheit zu leuchten vermochte. Nun, im hellen Sonnenschein, schien der Stirnreif nicht besonders zu sein. König Randiz war etwas jünger, er mochte kaum vierzig Jahre alt sein, doch seine Haare hatten sich bereits stark gelichtet. Nur noch ein Kranz grauer Härchen war rund um seinen kahlen Kopf zu sehen. Er war etwas beleibt, glattrasiert und hatte stets etwas rote Wangen und eine rote Nase. Vermutlich spricht er dem berühmten syrländischen Wein zu stark zu, dachte Draqùo. Auch Randiz trug seinen Königsreif. Dieser war aus Gold und Tartium gefertigt. Die Schmiede von Draqùos Urgroßvater hatten die Königsreifen hergestellt und sie den Königen für ein Vermögen verkauft.

Eines Tages trage auch ich so einen Reif, dachte Draqùo.

Hergestellt hatte er ihn schon. Sein Königsreif bestand nur aus Tartium und leuchtete so stark, dass der Schein selbst im hellen Sonnenlicht zu blenden imstande war. Der Reif war unbezahlbar, und selbst der Kaiser besaß nichts Vergleichbares. Draqùo hatte den Reif in seiner Schatzkammer gelagert. Er befand sich auf einem purpurnen Kissen in der Mitte der Kammer auf einem Podest. Zuweilen ging er in seine Schatzkammer, setzte den Reif auf und stellte sich vor, wie es wäre, ihn bei seiner Krönung offiziell zu erhalten und hernach auch tragen zu dürfen. Damit würde er seinen Vater überflügeln und als erster König von Sargund in die Geschichte eingehen.

Der Tag würde kommen, da war sich Draqùo sicher.

»Hoheit«, begrüßte König Borkuf den Herzog, und auch König Randiz nickte ihm grüßend zu.

Draqùo breitete seine beiden Hände vor sich aus, die Handflächen nach oben zeigend. Borkuf und Randiz hielten einen Moment inne und tauschten verwirrt einen Blick aus. Die Sitte gebot es einem Untergebenen, bei der Begrüßung niederzuknien, doch Draqùo hatte bewusst darauf verzichtet. Er wusste, dass die beiden Könige etwas von ihm wollten, und er stand ihnen an Macht und Reichtum in nichts nach – im Gegenteil. Das Einzige, was ihm noch fehlte, war der Königstitel und seine Unabhängigkeit von den drei Reichen, in denen er seine Lehen hatte. Borkuf zog leicht verärgert die Stirn in Falten, legte dann aber seine Hände auf die Draqùos und umschloss sie kurz. Randiz folgte seinem Beispiel.

»Ihr habt mich rufen lassen?« Draqùo trat neben die beiden und sah hinunter in den dicht bevölkerten Hof.

Borkuf nickte und musterte die beiden Ritter mit einem bedeutsamen Blick. Draqùo lachte und winkte ab.

»Keine Sorge, meine beiden Freunde sind verschwiegen und loyal.« Er deutete nacheinander auf die Ritter. »Her Pendewùo und Her Mahnùo sind meine Stellvertreter im Orden der Zwölf. Ich nehme an, es ist kein Zufall, dass wir uns hier oben befinden, außer Hörweite der anderen. Ich könnte mir vorstellen, dass es dafür einen … kriegerischen Grund geben könnte, habe ich recht?«

Borkuf runzelte die Stirn und nickte. »Ihr seid wie immer sehr scharfsinnig, Hoheit. Genau deshalb schätze ich Euch so sehr. Und es ist auch ein Grund, weshalb ich Euch an meiner Seite haben möchte für das bevorstehende Unterfangen.«

»Mich und meine kleine Armee, meint Ihr?« Draqùo lächelte. Jedermann wusste, dass Draqùo über die am besten ausgestattete Armee der bekannten Lande verfügte. Es war nicht die größte Armee, aber mit Sicherheit die schlagkräftigste. Zudem hatte er die nötigen Finanzen, um sich der Dienste der größten Söldnerheere zu versichern.

Borkuf verzog verärgert den Mund. »Ja, Euch und Eure kleine Armee.«

»Worum geht es denn nun eigentlich?«, fragte Randiz ungeduldig. »Ich habe Hunger, und offenbar wird gleich aufgetragen.« Er deutete auf den Hof hinunter, wo die Adligen begannen, in den Hersaal zu strömen, der an den Innenhof grenzte, und wo das Bankett sowie die Versammlung stattfinden sollten.

»Genau darum geht es«, sagte Borkuf lächelnd.

»Ums Essen?« Randiz sah ihn stirnrunzelnd an.

»Es geht darum, den Kuchen gerechter aufzuteilen.«

»Den Kuchen …« Randiz schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ihr wollt das Kaiserreich angreifen«, stellte Draqùo fest.

»Habe ich das gesagt?« Borkuf runzelte die Stirn. »Randiz, habt Ihr mich das sagen hören?«

Randiz schüttelte den Kopf. »Nein, aber …«

»Stellt Euch vor, jemand würde genau das planen, würdet Ihr Euch ihm anschließen?«, fragte Borkuf süffisant lächelnd.

»Seid Ihr von Sinnen, Borkuf?«, echauffierte sich Randiz. »Ich werde in Bälde die Tochter des Kaisers heiraten!« Randiz’ Augen blitzten plötzlich auf. »Zudem wäre es möglich, dass ich als Ehemann von Prinzessin Kendra vielleicht dereinst sogar zu Kaiserwürden gelange.«

Der und Kaiser? Draqùo schüttelte innerlich ungläubig den Kopf. Eine Vogelscheuche würde sich besser zum Kaiser eignen als Randiz.

»Nun – zum Glück plant ja auch niemand einen Angriff auf das Kaiserreich«, sagte Borkuf und deutete auf den Hersaal, »höchstens auf das kaiserliche Buffet. Hoffen wir, dass es hält, was es verspricht. Warum geht Ihr nicht schon mal vor, Randiz?«

Randiz sah einen Moment zwischen Draqùo und Borkuf hin und her, zuckte dann mit den Schultern und stieg, gefolgt von seinen Leibwächtern, die Stufen in den Hof hinab.

»Er ist ein Dummkopf«, sagte Borkuf, »aber den Versuch musste ich unternehmen. Immerhin befehligt er die größte Reiterei der bekannten Lande.«

Draqùo schwieg und sah Borkuf gespannt an. Was würde ihm Borkuf für einen Pakt gegen den Kaiser bieten?

»Und Ihr, Herzog?«, fragte Borkuf. »Würdet Ihr einem Aggressor gegen das Kaiserreich auch eine Abfuhr erteilen?«

Draqùo wiegte den Kopf hin und her. »Nicht grundsätzlich. Es käme ganz darauf an. Ich pflege mir immer alle Angebote anzuhören, ehe ich über sie urteile.«

»Wie viel würdet Ihr denn wollen?«

»Geld?« Draqùo lachte. »Nicht einen Greifen.« Er sah, wie Borkuf erleichtert ausatmete. Meden war kein reiches Land. Vermutlich war Draqùos persönliches Vermögen größer als die gesamte Staatskasse von Meden.

»Was wollt Ihr dann?«

»Wenn mir ein allfälliger Bündnispartner die Unabhängigkeit meiner Lehen und somit die Königswürde über meine Ländereien vorschlagen würde, dann wäre ich vielleicht gewillt, darüber nachzudenken.«

»Die Königswürde?« Borkuf runzelte die Stirn. »Wie soll das gehen? Eure Ländereien sind über drei Reiche verteilt. Sie befinden sich nicht nur in Meden, sondern auch in Syrland und im Vereinigten Darischen Reich. Ich kann nicht über …«

»Aber das weiß ich doch. Ihr könntet mir aber meine Ländereien, die sich in Meden befinden, überlassen und mich zum König von Sargund ausrufen. Die anderen Ländereien lasst meine Sorge sein.«

Borkuf kniff die Augen zusammen und nickte dann. »Wenn unsere Truppen bis zum Kender vorstoßen und das Land bis dahin erobern, soll es so sein.«

Eine Klingel ertönte aus dem Saal unter ihnen und Draqùo nickte.

»Ich werde es mir überlegen, Majestät. Wollen wir essen gehen?«

4

Her Marchtal zu Wasserfels gab einem Diener einen Wink. Der junge Mann gab das Zeichen weiter und zeitgleich begann ein Dutzend weiterer Diener, die Tische abzuräumen. Teller, Schüssel, Besteck und Essensreste wurden in Windeseile abgetragen. Tische wurden geputzt, Wein nachgeschenkt.