Roman
Teil 1 »Vielleicht …«
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Teil 2 »Kannst du bitte nicht Raupe sagen?«
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Teil 3 »Du bist schuld, wenn ihr etwas passiert.«
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Teil 4 »Mama ist gleich wieder da.«
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Danksagung
»Bleib stehen!«
Josefs Nägel krallen sich in ihre Haut. Sie steigt auf die Bremse. Ein Ruck geht durch ihre Körper, die Gurte halten sie zurück.
Auf der Straße steht ein Reh. Das Auto ist knapp vor ihm zum Stehen gekommen. Es sieht Amira an, blinzelt mit langen Wimpern. Erst dann springt es zwischen die Baumstämme und ist nicht mehr zu sehen.
»Was ist los mit dir?«, fragt Josef.
Amira spürt das Pochen ihres Herzschlags in den Ohren.
»Das Reh – es war auf einmal da.«
»Du hast das Reh nicht gesehen?«
»Wie denn? Es ist gerade aus dem Wald gelaufen.«
Josef schüttelt den Kopf.
»Es ist schon dagestanden, als wir um die Kurve gebogen sind. Das musst du doch gesehen haben?«
Amira blinzelt. Das Reh ist aus dem Nichts aufgetaucht. Wie bei diesem billigen Kameratrick in den ganz alten Schwarz-Weiß-Filmen – im einen Bild noch nicht, im nächsten plötzlich da.
»Du hast geträumt«, sagt Josef.
»Nein!«
Josef verzieht den Mund zu einem Lächeln. »Jetzt wissen wir wenigstens, dass die Bremsen funktionieren.« Er greift zum Türgriff. »Lass mich weiterfahren.«
»Blödsinn«, sagt Amira und dreht den Zündschlüssel.
Der Weg schraubt sich weiter in den Wald hinein. Links und rechts stehen hohe Kiefern. Überall karge Stämme, die dichten Wipfel lassen kaum Licht herein. Daran muss es liegen, dass sie das Reh nicht gleich gesehen hat. An der Dunkelheit im Wald. Der Schreck sitzt ihr noch in den Gliedern. Wie ruhig es geblieben ist. Als wäre ein Auto nichts, das ihm Schaden zufügen kann. Wie es sie angesehen hat. Als wollte es sie warnen. Sie schüttelt den Gedanken ab. Sie versucht sich auf die Straße zu konzentrieren. Über vier Stunden sind sie schon unterwegs. Sie ist die ganze Strecke alleine gefahren. Kein Wunder, dass sie müde geworden ist. Jetzt ist es fast geschafft.
Der Wald verändert sich. Unter die Kiefern mischen sich Laubbäume. Auf dem Boden liegen Blätter, die Stämme sind mit Moos bewachsen. Es gibt Inseln aus grünen Farnen und Licht. Hier endet der asphaltierte Weg und gabelt sich. Amira muss anhalten, damit Josef in der Beschreibung nachsehen kann, die ihm seine Mutter über das Telefon angesagt hat. Aber da steht nichts von einer Weggabelung. Ihre Handys haben keinen Empfang. Amiras Rücken schmerzt vom langen Sitzen. Sie kann Josef zuschauen, wie er in seiner Erinnerung kramt. Sie kurbelt das Fenster hinunter. Die Luft ist warm und gleichzeitig erfrischend. Es riecht nach Erde und Kiefernnadeln. Sie nehmen die linke Abzweigung. Der Weg wird schmaler und schmaler. Die Bäume stehen so nah beisammen, dass gerade noch ein Auto dazwischen passt. Hoffentlich irrt sich Josef nicht. Sollte der Weg eine Sackgasse sein, wäre es eine ziemliche Herausforderung, hier wieder umzudrehen. Doch dann mündet der Pfad in eine geschotterte Zufahrt und zwischen den Bäumen taucht die Hütte auf.
Das ist sie also.
Die Hütte ist aus Holz, an den winzigen Fenstern sind grüne Fensterläden angebracht. Das Dach ist mit roten Ziegeln gedeckt. Ein Knusperhäuschen wie im Märchen, wären da nicht die Sonnenkollektoren, die das Bild stören. Hinter der Hütte erhebt sich ein grasbewachsener Hügel, der zurück in den Wald führt. Amira sieht die Hütte zum ersten Mal. Sie kennt sie nur aus Josefs Geschichten. Er hat die Sommer seiner Kindheit hier verbracht. Es ist Jahre her, seit er das letzte Mal hier war. Amira sagt es nicht, aber irgendetwas an der Hütte macht sie beklommen. Drinnen ist es besser. Es gibt einen Wohnraum mit Küchenzeile, ein Schlafzimmer, ein winziges Kinderzimmer und in einem Anbau, der nachträglich hinzugefügt wurde, sogar ein Bad mit Duschbadewanne und Klo. Die Bauernmöbel geben ihr ein heimeliges Gefühl. Ja, da ist Staub auf den Oberflächen, aber der lässt sich leicht wegwischen. Sie tragen die Taschen hinein. Josef räumt die mitgebrachten Lebensmittel aus. Amira hilft, sie plaudert vor sich hin, was sie alles machen können. Spazieren gehen. Blumen pflücken. Pilze sammeln. Sich von einem Axtmörder umbringen lassen. Josef atmet tief ein.
»Das war ein Scherz«, sagt sie.
Josef greift sich in den Nacken.
Er öffnet die Kühltasche und hält Amira ein Bier hin.
»Ich muss kurz allein sein, okay?«, sagt er.
Amira schaut auf das Bier. Dann auf ihn.
»Okay«, sagt sie.
Aus einem kleinen Schuppen, der direkt an die Hütte anschließt und in dem der Speicher für die Photovoltaikanlage steht, – es gibt Strom, Gott sei Dank gibt es Strom – holt Amira zwei Liegen. Mit einem Fetzen wischt sie die Spinnweben ab. Sie setzt sich und nimmt einen großen Schluck Bier. Lauwarm, aber es geht. Sie blickt auf den Hügel vor sich. Die Sonne steht schon ganz schön tief. Bald wird sie hinter den Wipfeln verschwunden sein. Amira kann sich das gar nicht vorstellen, diese tiefe Dunkelheit hier im Nirgendwo. Damit hat Josef sie geködert, mit der Beschreibung des Sternenhimmels in der Nacht. Sie nimmt noch einen Schluck, dann zieht sie ihr Handy hervor. Sie öffnet den Browser, aber er kann sich nicht verbinden. Sie steht auf, geht ein paar Schritte in die eine, dann in die andere Richtung. Nichts. Sie lässt sich wieder auf der Liege nieder. WLAN gibt es im Wald keines, das hat sie gewusst. Aber dass sie keinen Empfang haben könnte, daran hat sie nicht gedacht. Sie schließt die Augen. Sie arrangiert sich mit der Aussicht, drei Tage von der Außenwelt abgeschieden zu sein. Vielleicht hat es ja auch etwas Gutes, denkt sie sich. Digital Detox. Andere Leute zahlen Geld dafür. Als sie die Augen wieder öffnet, ist da jemand. Oben, am Waldrand, im Schatten. Amira legt die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. Es ist ein Mann. Er steht zwischen den Bäumen, als ob er einer von ihnen wäre. Wie lange steht er da schon? Unverhohlen blickt er sie an. Weiß er nicht, dass auch sie ihn sehen kann? Amira starrt auffällig zurück. Er rührt sich nicht. Sie hebt ihre Hand. Sie ruft: »Hallo!« Keine Antwort. Sie überlegt aufzustehen und auf ihn zuzugehen. Da wendet er sich ab und verschwindet zwischen den Bäumen.
Josef kommt mit Decken nach draußen. Daran, wie schnell es abkühlt, wenn die Sonne untergeht, merkt man, dass der Sommer vorüber ist. Er reicht ihr ein frisches Bier, ihre Hände berühren sich. Sie lächelt ihn an. Er setzt sich neben sie. Sie zeigt auf die Sandkiste, fragt, ob er da schon als Kind gespielt hat. Er schüttelt den Kopf. Seine Mutter muss sie für die Urlauber aufgestellt haben, genauso wie Anbau und Stromversorgung für die Urlauber gemacht worden sind.
»Und? Kommen viele Urlauber hierher?«
»Ich glaube, sie hat es sich lukrativer vorgestellt.«
Amira blickt wieder hoch zum Waldrand.
»Klar, wer hat schon Lust, sich von einem Axtmörder umbringen zu lassen.«
»Wir sind hier nicht in Texas«, sagt er.
Sie schielt zu ihm rüber und sieht das kleine Schmunzeln, das er schnell versteckt.
»Den hast du dir jetzt aber überlegt«, sagt sie.
Er zuckt mit den Achseln. »In Texas ist es allerdings ein Kettensägenmörder.«
»Trotzdem ganz lustig«, sagt sie und entschließt sich dagegen, ihm vom Wanderer zu erzählen.
Josef hebt seine Flasche.
»Auf unseren Urlaub«, sagt er.
Sie lässt sich tiefer in ihre Liege sinken, spürt, wie sie langsam loslassen kann und sich entspannt. Den Abend gemeinsam zu verbringen, ohne Ablenkung und mit dem Wissen, dass der nächste Ort Kilometer weit entfernt liegt, ist anders, als gemeinsam auf dem Sofa vor dem Fernseher einzuschlafen. Worte sind entbehrlich. Sie blicken in den Himmel. Amira wundert sich, wie viele Sterne es gibt. Der ganze Himmel ist voll mit leuchtenden Punkten. Sternenmeer – dieser Ausdruck fällt ihr ein.
»Siehst du?«, fragt Josef und deutet nach oben. »Das Sternbild des Schwans.«
Amira nickt. Der Himmel scheint zu wogen und endlos weit. Und da ist dieses vertraute Gefühl, gemeinsam einen Augenblick zu erleben, den sie gleich empfinden, anstatt Menschen auf zwei verschiedenen gedanklichen Kontinenten zu sein. Sie greift nach seiner Hand.
»Wollen wir ins Bett?«
Sie lächelt verführerisch. Aber als Amira aus dem Badezimmer kommt, liegt Josef mit offenem Mund und geschlossenen Augen unter der Decke. Die frische Luft macht ganz schön müde. Sie zieht ihren BH aus und schlüpft in ihren Pyjama. So legt sie sich neben ihn. Morgen ist auch noch ein Tag, denkt sie, und Sekunden später ist auch sie eingeschlafen.
Es ist dunkel, als sie die Augen aufschlägt. Schemen zeichnen sich ab. Das Bett ist nicht ihr Bett. Sie lauscht, aber sie hört nur Josef neben sich atmen. Ein bekanntes Geräusch an einem fremden Ort. Das hilft ihr, sich zurechtzufinden. Sie muss aufs Klo. Es fällt ihr nicht leicht, die wohlige Wärme des Bettes zu verlassen. Sie strampelt sich frei. Ihre nackten Füße auf den Holzdielen. Erst im Badezimmer tastet sie nach dem Lichtschalter. Der Raum ist winzig. Die Armaturen sind dunkelgrau. Großflächige grüne Fliesen mit weißen Blumen darauf. Amira findet sie ein wenig geschmacklos, sie hätte andere ausgesucht. Aber wenn man das Bad betritt, fällt der Blick zuerst durch das Fenster über der Toilette in den Garten hinaus und zum Hügel hinauf. Und dieser Waldblick ist unbezahlbar. Sie betätigt die Spülung und macht das Licht aus, doch anstatt wieder ins Bett zu gehen, bleibt sie und wartet, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Die Baumkronen setzen sich schwarz gegen den dunkelblauen Nachthimmel ab und wogen sacht im Wind. Das kann sie sehen, aber nicht, was zwischen den Baumstämmen ist. Dort herrscht eine tiefere Dunkelheit. Der Wanderer könnte noch immer dastehen und hinunter auf die Hütte schauen.
»Du?«
Sie flüstert, worauf Josef verschlafen grummelt. Sein Josef-Grummeln. Gut. Es ist Josef, der neben ihr liegt und kein Fremder, kein Schatten, kein Monster. Seit sie denken kann, zieht sie den Duschvorhang zur Seite, um nachzusehen, ob sich niemand dahinter versteckt. Als Kind hatte sie eine lebhafte Fantasie. Heute glaubt sie nicht mehr an Geister. Die Rituale aber sind ihr geblieben. Sie schmiegt sich an Josefs Rücken. Ja, sie kennt diesen Körper. Sie will ihm nahe sein. Sie kann sich nur vorstellen, was dieser Ort für ihn bedeutet, an dem vor zweiundzwanzig Jahren der Unfall passiert ist. Sie muss es ihm nicht noch schwerer machen. Sie kann sich zurücknehmen und für ihn da sein. Deswegen hat sie ihm nichts von dem Wanderer erzählt. Er soll nicht glauben, dass sie sich unwohl fühlt. Sie muss über sich schmunzeln. Vielleicht sieht sie doch noch immer Geister, wo keine sind.
Warme, weiche, holzige Luft. Surren, Knistern, Zwitschern. Mit jedem ihrer Schritte gibt der Waldboden ein wenig nach und federt sie weiter. Josef geht neben ihr her. Sie kann seine Unruhe spüren. Er lässt den Blick über die Bäume schweifen. Beim Frühstück hat er ihr von der Lichtung erzählt, auf der wilde Himbeeren wachsen. Da hat er noch entspannt geklungen. Jetzt ist da ein verbissener Ausdruck auf seinem Gesicht. Er findet den Weg nicht. Es sieht anders aus als in seiner Erinnerung. Für Amira sieht sowieso alles gleich aus. Nein, das stimmt nicht ganz. Jeder Baum ist einzigartig. Es sind so viele verschiedene Pflanzen, die am Waldboden wachsen. Dazwischen gibt es besondere Plätze. Moosbewachsene Steine, die so groß sind wie Hocker. Ein ausgehöhlter Baumstamm, in dem sich das Wasser staut. Am Ende sind es aber doch alles Bäume. Wenn Amira über ihre Schulter schaut, nach jeder Biegung des Weges, hinter jedem Baum ein weiterer.
»Die Lichtung muss irgendwo sein. Wenn wir sie heute nicht finden, dann eben morgen«, sagt sie. Es soll aufmunternd klingen.
Josef stapft wortlos weiter. Er will nicht zugeben, dass es wichtig für ihn ist. Sie geht ihm hinterher und lässt dabei ihren Blick wandern. Plötzlich bleibt sie stehen. Sie hat sich nicht geirrt, die Farne bewegen sich. Josef dreht sich zu ihr, sieht ihren versteinerten Blick, sieht ihm nach und entdeckt auch den Hund, der aus dem Unterholz hervorkommt, auf den Pfad trottet und seinen kantigen Kopf hebt. Amira ist wie erstarrt. Sie hat Angst vor Hunden, seit sie denken kann.
»Du, du Großer«, sagt Josef und geht auf den Hund zu, der sich von ihm streicheln lässt. Er kann gut mit Hunden. Er hätte gerne einen, aber nur über Amiras Leiche.
»Komm. Der ist ganz lieb.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Feig«, ruft er.
Als der Hund sich auf den Rücken rollt, die Pfoten abwinkelt und die Zunge aus dem Maul hängen lässt, verdreht Amira die Augen und gibt sich einen Ruck. Er nimmt ihre Hand und führt sie über das Fell. Sie spürt die Haarspitzen gegen ihre Handfläche streichen.
»Das Fell ist ganz weich«, sagt sie.
Sie vergräbt ihre Finger darin.
»Sie ist trächtig«, sagt er.
»Ihr Bauch ist gar nicht dick.«
»Hundewelpen sind ganz klein. Du siehst es an den Zitzen.«
Josef schiebt das Fell am Unterbauch zur Seite. Die Zitzen sehen aus wie rote geschwollene Pusteln.
»Du wirst eine Mama«, sagt sie zur Hündin, die ihr, wie zur Antwort, über die Hand leckt.
»Magst du sie jetzt lieber, oder was?«
»Irgendwie schon«, sagt sie mit einem Lächeln.
Er schüttelt den Kopf.
Sie wundert sich, dass da niemand ist, kein Mensch, dem die Hündin gehört. Josef meint, es kann schon vorkommen, dass sich ein Hund so weit vom Dorf entfernt. Spätestens wenn sie hungrig wird, findet sie den Weg zurück.
»Aber sie ist schwanger«, sagt Amira.
»Ja, und?«
Sie gehen weiter. Die Hündin läuft hinter ihnen her. Josefs Schritt ist leichter. Sein Blick nicht mehr so angestrengt. Er erzählt von Fibi, der Streunerin, die in Wirklichkeit gar nicht Fibi geheißen hat, er hat sie so genannt. Sie gehörte einem Bauern im Nachbardorf. Zu seiner Familie kam sie, wenn sie trächtig war, brachte ihre Welpen in ihrer Garage zur Welt, immer andere Mischlinge, und blieb noch ein paar Wochen, bis sie eines Tages verschwunden war. Ihre Welpen ließ sie bei Josefs Familie zurück. Falls der Bauer davon wusste, störte es ihn nicht. Er selbst hätte die Welpen ertränkt, wie es am Land viele taten, die kein Geld dafür ausgeben wollten, ihre Hunde sterilisieren zu lassen.
»Ist das normal«, fragt Amira, »dass Hunde ihre Welpen allein lassen?«
»Es ist ungewöhnlich, aber sie war keine schlechte Mutter. Sie hat ihre Welpen zu uns gebracht.«
Bei Josefs Familie waren Fibis Welpen in Sicherheit. Seine Mutter fluchte zwar manchmal, aber der Vater hätte niemals zugelassen, dass einem Tier ein Leid geschah.
»Dann schon eher einem Menschen«, und als er das sagt, ist da auch etwas Bitteres in Josefs Stimme.
Der kleine Josef war für die Hunde verantwortlich, bis sie groß genug waren, um weggegeben zu werden. Es war leichter, einen Platz für stubenreine Welpen zu finden, die auf Kommandos hörten. Deshalb trainierte er sie jeden Tag. Wenn der Vater Josef für die Sommerferien mit in den Wald nahm, kamen auch die Hunde mit. Sie waren seine Aufgabe, aber auch seine Freunde und Spielkameraden. Zur Hütte verirrten sich selten andere Kinder und der Vater verbrachte oft den ganzen Tag im Wald. Die Mutter blieb im Dorf. Sie hatte einen Gemischtwarenladen, den sie nicht einfach zusperren konnte. In Wahrheit wollte sie nicht. Josef wusste, dass der Mutter der Wald unheimlich war. Und wenn man bedenkt, was weiter passierte, sollte sie Recht behalten mit ihrem Gefühl. Als er zwölf Jahre alt war, kam der Vater eines Abends nicht in die Hütte zurück. Josef suchte im Wald. Er wartete auf ihn – umsonst. Die Hütte lag abgelegen. Es war nicht damit zu rechnen, dass jemand vorbeikommen würde, den er um Hilfe bitten konnte. Zu Fuß hätte er mehrere Stunden gebraucht. Er war schon davor mit dem Auto gefahren, aber da war immer sein Vater dabei gewesen, hatte ihm den Sitz ganz nach vorne gestellt und angesagt, welche Pedale er zu betätigen hatte. Bevor es wieder dunkel wurde, stieg er in das Auto und fuhr ins Dorf. Es war nicht Josef, der den Vater fand. Baumstämme hatten sich vom Anhänger gelöst und ihn erschlagen. Es hieß, er wäre gleich tot gewesen. Selbst wenn Josef ihn gefunden hätte, er hätte ihm nicht helfen können. Also war es bestimmt besser so.
Josef verstummt. Sie weiß nicht, was sie sagen soll, deshalb greift sie nach seiner Hand. Obwohl sie die Geschichte kennt, ist es anders, sie hier noch einmal zu hören. Sie stellt sich vor, wie der zwölfjährige Josef genau diesen Weg entlangläuft und nach seinem Vater ruft. Sie drückt seine Hand fester. Die Blätter rauschen, als würden die Bäume ein Geheimnis hüten.
Sie gehen noch ein Stück ohne zu reden. Am Hügel hinter dem Haus kommen sie aus dem Wald. Amira ist sich nicht sicher, ob Josef es so geplant hat oder ob sie aus Versehen wieder zurück sind. Er watet voraus durch das hohe Gras. Die Halme reichen ihm bis an die Hüften. Er dreht sich um.
»Na?«, sagt Josef und meint nicht Amira, sondern die Hündin. Aber anstatt ihnen zu folgen, senkt sie ihren Kopf und läuft zurück in den Wald.
»Selber schuld. Dann kriegst du halt nichts zu fressen.«
Josef geht weiter. Amira hält noch einen Moment inne. Ist die Hündin an der gleichen Stelle stehen geblieben wie gestern der Fremde? Sie blickt zur Hütte. Wenn sie die Augen zusammenkneift, kann sie von ihrer Position aus sogar den Waschtisch im Badezimmer erkennen. Sie streicht mit der Hand über ihren Unterarm, auf dem sich Gänsehaut gebildet hat.
»Kommst wenigstens du?«, fragt Josef. »Oder magst du auch zurück in den Wald laufen?«
Amira schlägt vor, einen Mittagsschlaf zu machen. Josef will lieber lesen. Also legt sich Amira allein ins Bett. Sie liebt es, tagsüber zu schlafen. Sie kommt viel zu selten dazu, aber deswegen hat sie es nicht vorgeschlagen. Ihr Eisprung steht kurz bevor. Warum sagt sie nicht einfach, was sie will? Es ist wegen Josefs Satz. »Magst du sie jetzt lieber, oder was?« – Wie er es gesagt hat. Sie dreht sich auf die Seite. Bestimmt übertreibt sie. Bestimmt ist da nichts. Josef ist nur gereizt, weil sie hier sind.
Mit angezogenen Beinen und umschlungenen Armen liegt sie da wie ein Embryo. Ein wenig Speichel tropft aus ihrem Mundwinkel auf das Kissen. Bis sie aufschreckt. Sie ist sofort hellwach. War da ein Scheppern? Die Tür in die Stube steht offen. Dabei ist sie sich sicher, sie geschlossen zu haben.
»Josef?«, fragt sie und bekommt keine Antwort.
In der Stube ist niemand. Sie geht in den Garten. Kein Josef. Seltsam. War das Geräusch nur in ihrem Traum? Aber die offene Zimmertür. Vielleicht hat Josef nach ihr gesehen und weil sie noch geschlafen hat, ist er alleine losgezogen, um noch einmal nach seiner Lichtung zu suchen. Er hat keinen Zettel hinterlassen, keine Nachricht. Sie lässt sich aufs Sofa fallen. Etwas bohrt sich in ihren Rücken. Sie zieht es unter sich hervor und betrachtet den Sperrbildschirm von Josefs Handy. Es ist ein Foto von Amira bei der Arbeit. Sie ist in ihrem Studio, mit der Kamera vor ihrem Gesicht über ein schön ausgeleuchtetes Törtchen gebeugt. Es sieht köstlich aus, aber essen kann man es nicht. Es ist mit Acrylspray und Glycerin besprüht, damit es im Licht glänzt. Amira hat sich auf Produktfotografie spezialisiert. Es schmeichelt ihr, dass Josef ein Bild von ihr als Hintergrund hat. Bei ihr ist es der voreingestellte Sonnenuntergang. Für eine Fotografin ein wenig peinlich, vielleicht sollte sie das mal ändern. Nachdenklich dreht sie das Handy in ihrer Hand. Hat er es absichtlich hiergelassen, oder ist es ihm aus der Hosentasche gerutscht?
Ein Knarren lässt sie zusammenzucken, als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Sie blickt nach oben. Das Geräusch kommt von den schweren Holzbalken.
»Josef«, fragt sie. Und dann noch einmal, etwas lauter: »Josef?«
»Ich bin hier oben!«
Seine Stimme klingt dumpf durch das Gebälk.