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Klaus Holz
Thomas Haury

ANTI
SEMI
TISMUS
GEGEN
ISRAEL

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2021 by Hamburger Edition

© der Print-Ausgabe 2021 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung: Lisa Neuhalfen, Berlin

Inhalt

IEinleitung: Antisemitismus gegen Israel

IIEin Blick in die Geschichte: Die zionistische Bewegung, ihre Gegner und ihre Feinde

1. Die Entstehung der zionistischen Bewegung, ihre Fraktionen, ihre Ambivalenz

2. Jüdische Kritiker und Gegner des Zionismus

3. Die sozialdemokratische Kritik des Zionismus

4. Antisemitismus gegen Zionismus

5. Bis zur Gründung Israels

IIIPostnazistischer Antisemitismus

1. Täter-Opfer-Umkehr

2. Kommunikationslatenz und Paradoxie der Normalisierung

IVAntisemitismus von links

1. Der spätstalinistische »Antizionismus«

2. Antiimperialistischer »Antizionismus« der DDR

3. Antiimperialistischer »Antizionismus« in der neuen Linken Westdeutschlands

VIslamistischer Antisemitismus

1. Die Entstehung des islamistischen Antisemitismus

2. Muster der islamistisch-antisemitischen Weltanschauung

3. Antisemitismus und Migration

VIIdentitätspolitik: Antisemitismus oder Rassismus?

1. Das unglückliche Bewusstsein der Rassismuskritik

2. Vereinseitigungen und Verhärtungen

3. Antisemitismuskritischer Imperativ statt Identitätspolitik

VIIChristen für und wider Israel

1. Antijudaistisches Christentum

2. Religiöses und Säkulares: Zeitgenössische Rekombinationen

3. Antijudaistische Palästina-Solidarität

4. Antijudaistischer Zionismus

VIIINeue Rechte: Zurück zur Weltanschauung

1. Rückgewinnung des »nationalen Selbstbewusstseins«

2. Rückgewinnung der antisemitischen Weltanschauung

IXSchluss: Bedingter Universalismus

Quellen und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Danksagung

Zu den Autoren

I

Einleitung: Antisemitismus gegen Israel

Im Frühjahr 2020 begann die bislang heftigste Kontroverse über Antisemitismus gegen Israel. Der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung, Felix Klein, warf einem der international bekanntesten postkolonialen Theoretiker, Achille Mbembe, vor, in dessen Schriften finde »man alle Merkmale des israelbezogenen Antisemitismus: Israel wird dämonisiert, es wird ein doppelter Maßstab angelegt, und das Land wird als Ganzes delegitimiert«. Überdies relativiere Mbembe den Holocaust und unterstütze die Bewegung »Boycott, Desinvestment und Sanctions« (BDS), die vom Deutschen Bundestag 2019 als antisemitisch verurteilt worden war. Zwei Monate nach Beginn der Kontroverse kommt Klein zum Ergebnis: »Für mich ist die Angelegenheit leider eindeutig.«1 In diesen zwei Monaten war eine Vielzahl von Stellungnahmen in nahezu allen deutschen und vielen internationalen Medien erschienen. Viele Antisemitismusforscher*innen beteiligten sich an der publizistischen Auseinandersetzung und kamen – wie alle anderen Beteiligten auch – zu widersprüchlichen Einschätzungen. So heißt es in einem offenen Brief jüdischer Wissenschaftler*innen und Künstler*innen an Bundesinnenminster Seehofer über die Schriften von Mbembe: »We wish to be very clear: such study isn’t a trivialization of the Holocaust and certainly not antisemitism.«2 Darüber hinaus erhob dieser offene Brief die Forderung an den Bundesinnenminister, er müsse Klein von seinem Amt als Antisemitismusbeauftragter abberufen, was auch eine Petition von Hunderten afrikanischer Intellektueller verlangte.3

In der Kontroverse um Mbembe und Klein verzahnen sich schwierige Fragen. Ist es dämonisierend und delegitimierend, wenn Israel in eine antikoloniale Perspektive gerückt und die Besatzungspolitik mit kolonialen Maßnahmen verglichen wird? Tendiert der Vergleich kolonialer Verbrechen mit dem Holocaust4 zur Gleichsetzung, mithin Relativierung des Holocaust? Läuft umgekehrt die Zurückweisung solcher Äußerungen als antisemitisch auf eine Tabuisierung jeder Kritik an Israel hinaus? Birgt der Stolz auf die deutsche Erinnerungskultur und die Schärfe der Antisemitismuskritik einen blinden Fleck, der Kolonialgeschichte und andauernden Rassismus ausblendet? Oder sind solche Kontroversen nicht überhaupt irreführend? Verzerren sie nicht, indem sie auf »postkolonialen«, »gebildeten« und »linken« Antisemitismus fokussieren, das Gesamtbild angesichts der islamistischen Bedrohung Israels wie der Judenheit und eines wachsenden rechten Antisemitismus? Oder handelt es sich bei alldem letztlich um dasselbe, um einen israelbezogenen Antisemitismus, der sich in den unterschiedlichsten politischen Strömungen und sozialen Milieus zur heute dominierenden Gestalt des Antisemitismus entfaltet?

Diese Fragen, und viele werden noch zu nennen sein, lassen sich nicht alle auf die eine reduzieren, gravitieren aber um sie: Was ist Antisemitismus gegen Israel? Damit Antworten auf diese Frage Orientierungen für den angedeuteten Fragekomplex bieten, müssen zwei Beschränkungen vermieden werden. Zum einen ist Antisemitismus gegen Israel in den unterschiedlichsten Strömungen und Milieus jeweils in seiner Spezifik und vergleichend zu betrachten. Zum anderen treten die Konturen von Antisemitismus gegen Israel erst dann deutlich hervor, wenn Antisemitismus bestimmt wird. Es bedarf eines hinreichend allgemeinen und tiefenscharfen Begriffs von Antisemitismus, um den israelbezogenen in seiner antisemitischen Qualität erfassen zu können.

Die Anfänge der heutigen Kontroversen über Israelfeindschaft liegen in den 1960er Jahren, die wiederum auf die Staatsgründung Israels, die Dynamik der israelisch-arabischen Konflikte und auf Debatten über Zionismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg zurückverweisen. Nach dem Sieg der israelischen Armee im Junikrieg 1967 betrieben nicht mehr nur die an der Sowjetunion orientierten Staaten und Parteien, sondern jetzt auch Gruppen der neuen Linken in den westlichen Ländern einen vehementen antiimperialistischen Antizionismus. Die Warnungen und Kritiken von (links-)liberalen Intellektuellen der älteren Generation wie z. B. Jean Améry, Walter Dirks, Helmut Gollwitzer oder Léon Poliakov, dass sich hier antisemitische Tendenzen äußerten, stießen kaum auf Resonanz. Eine erste, anfangs vor allem innerlinke Auseinandersetzung begann in Deutschland 1982 im Gefolge des Libanonkriegs; sie wurde anlassbezogen – im Zuge der ersten Intifada, des zweiten Golfkriegs, der mit der Wiedervereinigung und den rassistischen Pogromen anhebenden Debatte um Nationalismus in Deutschland – zunehmend breiter und oft überaus leidenschaftlich, ideologisiert und polemisch geführt.

Seit der Jahrtausendwende – angefacht durch die zweite Intifada, die Anschläge vom 11. September 2001, den Krieg der USA gegen den Irak und antisemitische Vorfälle und Straftaten in den westlichen Ländern – entspann sich eine internationale Debatte um einen »neuen Antisemitismus«, der sich nunmehr gegen Israel als imaginierten »collective Jew« richtete.5 Auch in Deutschland werden seitdem in der Politik, in den Medien und auch innerhalb der damit befassten Wissenschaften immer wieder mitunter heftige Kontroversen um Antisemitismus und »Israelkritik«6 geführt – erinnert sei an die Möllemann-Karsli-Affäre, die Auseinandersetzungen um antisemitische Tendenzen in der globalisierungskritischen Bewegung, um antiisraelische Positionen in der Partei Die Linke, um die Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler, um Günter Grass’ Gedicht »Was gesagt werden muss« oder um die Platzierung von Jakob Augstein unter den »Top Ten Anti-Semitic / Anti-Israel Slurs« durch das Simon Wiesenthal Center.7 Parallel dazu wurde Wolfgang Benz, langjähriger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, vorgeworfen, er verharmlose den Antisemitismus unter Muslimen und damit die existenzielle islamische Bedrohung Israels, indem er den Rassismus gegen Muslime mit dem Antisemitismus gegen Juden vergleiche beziehungsweise gleichsetze. Solche Anschuldigungen setzten sich auch gegen die nachfolgende Direktorin, Stefanie Schüler-Springorum, fort. Im Streit über das Jüdische Museum in Berlin, der von heftigen Angriffen in deutschen Leitmedien befeuert wurde und im Rücktritt des Direktors, Peter Schäfer, kulminierte, ging es um die Fragen, inwieweit ein jüdisches Museum in Deutschland ein widersprüchliches Bild von Israel zeichnen und den Bundestagsbeschluss gegen BDS kritisch reflektieren dürfe. Kritisiert wurde zudem, dass das Jüdische Museum auch Rassismus thematisiere, seine Aufgabe aber sei die Arbeit gegen Antisemitismus. Mit solchen Aktivitäten untergrabe das Jüdische Museum die Besonderheit des Antisemitismus resp. Israels und des jüdischen Lebens in Deutschland nach der Shoah. Bereits in diesem Streit offenbarten sich die »Potentiale der Uneinigkeit«8, die in der Kontroverse um Mbembe vollends aufbrach. Micha Brumlik, einer der prominentesten jüdischen Intellektuellen Deutschlands, sah in der Haltung des Zentralrats der Juden in Deutschland gegen das Jüdische Museum einen neuen »McCarthyismus« am Werke, der jede kritische Debatte über Israel durch einen Antisemitismusvorwurf unterbinden wolle.9 In früheren Auseinandersetzungen wie etwa dem Historikerstreit standen sich nicht deutsche Juden, wissenschaftliche und staatliche Institutionen, Rassismus- und Antisemitismusforscher*innen in schwer durchschaubaren, verhärteten Lagern gegenüber. Inzwischen jedoch ist eher typisch: Der US-jüdischen Philosophin Judith Butler wird der nach dem wichtigsten deutsch-jüdischen Antisemitismusforscher benannte Adorno-Preis verliehen, während ihr die Unterstützung von BDS vorgehalten wird, den der Deutsche Bundestag (auch die AfD) als Antisemitismus gegen Israel verurteilen.

Gemeinsam aber ist den älteren wie den jüngeren Kontroversen: Sie alle sind identitätspolitische Debatten. In den Auseinandersetzungen über Antisemitismus, die Shoah oder Israel werden Schlüsselfragen der jeweiligen Selbst-Verständnisse verhandelt – als jüdische wie nichtjüdische Deutsche, aber auch als Intellektuelle, als Wissenschaftler*in, als Kritiker*in von Antisemitismus, Rassismus und / oder Kolonialismus, als Vertreter*in von Staaten und Organisationen, als liberale, linke, konservative oder rechte, junge oder alte, christliche, muslimische oder agnostische Person (und vieles andere wäre noch zu nennen). Diese identitätspolitische Dimension ist für die Härte der Auseinandersetzungen entscheidend. Das Kernthema all dieser Auseinandersetzungen ist »Israel«, genauer die Frage, welche Äußerungen über Israel als Antisemitismus nach der Shoah zu verstehen, mithin scharf zurückzuweisen und nicht als kritische Haltungen zur israelischen Politik diskutabel sind. An »Israel« wird diskutiert, was das richtige Selbstverständnis ist.

So klar das Kernthema ist, so komplex sind die damit aufgeworfenen Fragen. Die sichtbar gewordene Uneinheitlichkeit unter Jüdinnen und Juden für sich genommen ist kein Problem, warum auch sollten Jüdinnen und Juden einer Meinung sein. Aber Nichtjüdinnen und Nichtjuden hören zurecht besonders auf jüdische Stimmen, wenn es um Antisemitismus geht, nur sind auch diese in allen einschlägigen Fragen divergent, in der Haltung zu Israel oder BDS ebenso wie in der zum Jüdischen Museum in Berlin. Ein solcher Meinungsstreit findet im Kontext antisemitischer Propaganda- und Gewalttaten statt, und zugleich ist in der Judenheit wie der Forschung strittig, inwiefern die antisemitische Bedrohung in Deutschland zunehme und von wem – Muslimen, Rechtsextremen, allen Extremisten, Linken, Gebildeten, der Mitte der Gesellschaft – die eigentliche Gefahr ausgehe. So hält Moishe Zimmermann Monika Schwarz-Friesel eine »methodisch problematische Analyse« vor und bezweifelt das Ergebnis, »dass Antisemitismen in den letzten 10 Jahren stark zugenommen haben«. Die Antisemitismusforschung neige »zur künstlichen Ausdehnung des Begriffs und vor allem zur inflationären Verwendung der Kategorie ›israelbezogener Antisemitismus‹«. Im Nahostkonflikt sehe Schwarz-Friesel nur »den Auslöser eines für den Islam charakteristischen ›klassischen‹ Antisemitismus«, der zugleich der Inbegriff des europäischen, säkularen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts ist. Solche Begriffsbildungen entsprächen politischen Verzerrungen. Der Blick werde vornehmlich auf »Araber, Moslems und Migranten aus der muslimischen Welt« gerichtet, »parallel zur Marginalisierung des ›klassischen Antisemitismus‹ im rechtskonservativen Lager«.10

Diese Fragen werden oft meinungsstark gegeneinander beantwortet statt als ein Fragenkomplex aufgeworfen. Darin spiegelt sich neben politischen und normativen Einstellungen ein wissenschaftlicher, insbesondere hermeneutischer Mangel: Einerseits gilt Antisemitismus zu Recht als ein fundamentales Problem, das sich über Jahrtausende in unsere Kultur eingeschrieben hat, andererseits werden die regelmäßig aufkommenden Antisemitismusdebatten lediglich als »Streit um einige Textpassagen« geführt. Es käme jedoch als Erstes darauf an, solche »Textpassagen« nicht einfach auf Vorurteile abzuklopfen, sondern sie tiefenscharf in ihrem kulturell verankerten Sinn zu verstehen. Deshalb ist eine hermeneutische, d. h. sinnverstehende Analyse für die Antisemitismusforschung konstitutiv. Das (vor)schnelle Urteil, diese oder jene Passage sei antisemitisch beziehungsweise nicht antisemitisch, marginalisiert das Sinnverstehen dieser Zusammenhänge. Daran partizipieren Verteidigungsreden, die kaum etwas zur Sache sagen, ebenso wie Kritiken, die schlichte und partielle Definitionen von Antisemitismus als Maßstab der Beurteilung anlegen. So endet z. B. ein Hintergrundgespräch über die Vorwürfe von Klein gegen Mbembe unter dem Titel »Streit um einige Textpassagen« mit der Bemerkung des Journalisten René Aguigah, um die Sache zu klären, »wäre ein Einstieg in die Textarbeit [nötig], die wir hier nicht leisten können«.11

Man muss sich nicht zur These versteigen, man könne durch »Textarbeit« die Kernfrage nach »Antisemitismus gegen Israel« umfassend und eindeutig beantworten. Aber die wissenschaftliche Aufgabe ist, die »Potentiale der Uneindeutigkeit«, die Hans-Joachim Hahn12 im Anschluß an Czolleks »Potentiale dieser Uneinigkeit« in diesen Kontroversen zu Recht am Werke sieht, zu reflektieren und – soweit dies empirisch ausgewiesen und theoretisch begründet gelingen mag – in eindeutigen Einsichten und im Verstehen der Uneindeutigkeiten aufzuheben. Hermeneutik ist nicht erst am Ziel, wenn sie eine einzige Wahrheit angibt. Sie ist überdies an Positionierung wenig interessiert. Sie zielt auf ein reflektiertes, explizit ausgewiesenes Verstehen (hier) der juden- und israelfeindlichen Deutungen unserer Zeit. Ein »Maßstab«, ein Katalog abprüfbarer Kriterien wird immer an der Komplexität des Antisemitismus scheitern und damit auch der politischen und normativen Bewertung in identitätspolitischen Kontroversen einen Bärendienst erweisen. Als Wissenschaft tendiert der kriteriologische Ansatz zur hermeneutischen Verweigerung und zur Blockade einer Reflexion auf die Uneindeutigkeiten. Solche Wissenschaft trägt zur Identitätspolitik statt zu deren Reflexion bei. Davon haben wir schon genug. Politisch und normativ ist aus wissenschaftlicher Perspektive als Kernforderung das exakte Gegenteil anzumahnen: eine Reflexionspflicht sowohl für jede Kritik des Antisemitismus wie für jede Zurückweisung von Antisemitismuskritik. Das wäre sowohl der Komplexität als auch der normativen und politischen Bedeutung von Antisemitismus angemessen. Dies schließt zum einen zwingend Selbstreflexion auf die eigene Positionierung ein, zum anderen aber klare Urteile mitnichten aus. Unser primäres Anliegen aber sind nicht normative Urteile, sondern deren Voraussetzung: verstehen, was gegen Israel gerichteter Antisemitismus bedeutet. Unser Buch ist deshalb nicht als Überblick über die Kontroversen, sondern als Darstellung verschiedener Sinnzusammenhänge angelegt, innerhalb derer Israel antisemitisch konzipiert wird.

Hierfür müssen wir die hermeneutische Perspektive in zwei Hinsichten weiten. Zum einen sind Begriffe des Antisemitismus, die diesen als Katalog von Stereotypen, Vorurteilen und Kriterien bestimmen, zwar hilfreich, aber unzureichend. So gilt zu Recht als ein Kennzeichen der antisemitischen Israelfeindschaft, dass der Staat Israel delegitimiert wird. Dies zu konstatieren, schließt aber nicht die Sinnzusammenhänge auf, die diese Aussage bedeutsam erscheinen lassen. Wie wir im Folgenden vielfach sehen werden, steht diese Aussage regelmäßig und systematisch in Sinnzusammenhängen, die insgesamt Antisemitismus ausmachen. Israelbezogener Antisemitismus ist eine Ausgestaltung des modernen Antisemitismus überhaupt und findet sich dementsprechend systematisch, seit es die Frage nach einem modernen israelischen Staat gibt, also seit Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Gemeinsamkeit hält die divergenten Spielarten des israelbezogenen Antisemitismus und den Antisemitismus im Allgemeinen zusammen und unterwirft sie zugleich den Wandlungsprozessen, die der moderne Antisemitismus überhaupt vom 19. ins 21. Jahrhundert durchlief. In einer hermeneutischen Rekonstruktion können solche Sinnzusammenhänge aufgeklärt und ein tiefenschärferes Verständnis von Antisemitismus gegen Israel entwickelt werden. Uns geht es in diesem Buch darum, die eingeschliffenen Muster zu rekonstruieren, die aufgrund der Gesamtgeschichte des Antisemitismus kulturell naheliegen, wann immer Israel Thema wird.

Zum anderen genügen solche Begriffe des Antisemitismus nicht, die allein auf juden- beziehungsweise israelfeindliche Aussagen fokussieren. Denn der Sinn von Judenbildern ist die Konstruktion von Selbstbildern. Ein seinem Gegenstand angemessener Antisemitismusbegriff muss daher nicht nur das negative Feindbild, sondern ebenso auch das diesem gegenüber entworfene positive Selbstbild in die Betrachtung mit einbeziehen. In jedem einzelnen Fall von Antisemitismus gibt es ein »Ich« oder »Wir«, das sich seine ihm selbst passende Vorstellung vom »Juden« entgegensetzt. Antisemitismus ist der Sinnzusammenhang eines negativen Judenbildes und eines positiven Selbstbildes, die zu einer Weltdeutung zusammenstimmen. Die Varianz des Antisemitismus wird maßgeblich von divergenten Selbstbildern bestimmt, die sich jedoch durch ihre Judenbilder nahe treten. Die Selbstbilder zu vernachlässigen, verzichtet auf Erkenntnisse, mindert die Qualität der Kritik und das Potenzial an Aufklärung. Es genügt nicht, darauf zu verweisen, dass der Kritisierte als postkolonialer Theoretiker, Muslim, evangelikaler Christ oder deutscher Nationalist bekannt ist. Damit allein wird kein Verstehen angeboten, ob und wie postkoloniale Theorie, islamischer Glaube, christlicher Antijudaismus oder deutscher Nationalismus sich durch das Gegenbild »Jude« ausgestaltet. Genauso unzureichend sind die Verteidigungen gegen Antisemitismuskritik, die die Reflexion auf eigene Selbst- und Weltdeutungen unterlassen.

Diese These impliziert, dass Antisemitismus eine Identitätspolitik ist. Identitätspolitik tritt nicht unter besonderen Umständen hinzu, ist nicht erst typisch für Kontroversen oder erinnerungspolitische Debatten. Vielmehr ist jeder Antisemitismus, indem er dem Judenbild ein Selbstbild kontrastiert, Konstruktion und Kommunikation von Identität und Weltdeutung. Damit sind der Kritik des Antisemitismus auf zwei Ebenen identitätspolitische Fragen gestellt. Sie muss Identitätspolitik bereits in der Analyse ihres Gegenstandes durchdringen, d. h. die antisemitischen Selbstbilder aufarbeiten. Zudem kann sie keinen schlechterdings neutralen, von allen normativen und politischen Fragen enthobenen Standpunkt für sich reklamieren. Wie auch immer man das generelle wissenschaftstheoretische Problem der normativen (Nicht-)Neutralität von Wissenschaft beurteilen mag, spezifisch für wissenschaftliche Arbeit über Antisemitismus scheint uns eine normative Prämisse unabweisbar: Die wissenschaftliche Analyse des Antisemitismus erfordert eine anti-antisemitische Perspektive. Diese kann nicht als unproblematisch gegeben und gewiss unterstellt werden, wie ja gerade die Kontroversen zeigen, die bis hin zu Antisemitismusvorwürfen unter Antisemitismusforscher*innen reichen. Dieses Problem ist nicht prinzipiell lösbar, sondern erfordert eine prinzipiell unabschließbare selbstreflexive Haltung als Wissenschaft von Antisemitismus. Eine solche Haltung macht darauf aufmerksam, dass auch die Antisemitismusforschung zur Identitätspolitik beiträgt. Wir ziehen daraus die wissenschaftsethische Schlussfolgerung: Antisemitismusforschung hat die Pflicht zur Reflexion ihrer normativen und identitätspolitischen Sinnzusammenhänge, um sich nicht von ihnen zulasten ihrer wissenschaftlichen Nüchternheit prägen zu lassen. Dies soll verhindern helfen, dass Forschung und wissenschaftliche Kritik zum Mäntelchen von Identitätspolitiken gleich welcher (vermeintlich) antisemitismuskritischen Couleur verkommen.

Aus diesen beiden Vorüberlegungen folgt der Aufbau unseres Buches. Wir verstehen Antisemitismus gegen Israel als eine Ausprägung des modernen Antisemitismus überhaupt in allen seinen (vermeintlichen) Typen, wie z. B. dem klassischen, rassistischen, sekundären und islamistischen Antisemitismus. Die Rekonstruktion der Spezifik dieser Ausprägungen kann deshalb nur im Rahmen einer Analyse der allgemeinen Sinnzusammenhänge des modernen Antisemitismus überhaupt gelingen. Dementsprechend wäre eine Gliederung des Buches nach Vorurteilen oder Typen unangebracht. Eine Gliederung nach Kontroversen würde eher politischen Prämissen aufsitzen als die ganze Breite des Antisemitismus gegen Israel in die Betrachtung einbeziehen, was in den Kontroversen keineswegs geschieht. Stattdessen orientieren wir uns an der Divergenz der Selbstbilder: postnazistischer Antisemitismus (Kap. III), Antisemitismus von links (Kap. IV), Islamismus (Kap. V), Antirassismus (Kap. VI), Christen wider und für Israel (Kap. VII) und neue Rechte (Kap. VIII). Aber auch diese Unterscheidungen darf man nicht als gegeneinander abgeschottete Typen missverstehen. Vielmehr zeigen die Quellen vielfältige Verknüpfungen, so dass in allen Kapiteln Querverbindungen deutlich werden. Die je spezifisch konturierten Gegenbilder »Jude« resp. »Israel« treffen, befruchten, überlappen, unterscheiden und rekombinieren sich, weil in diesen Gegenbildern allgemeine Muster des Antisemitismus realisiert werden. Unsere Analyse lässt eine Konstellation von Ausprägungen des Antisemitismus im Allgemeinen in spezifischen Antisemitismen gegen Israel sichtbar werden.

Ganz allgemein gesprochen betrachten wir Antisemitismus als eine Selbst- und Weltsicht, in der die Identität eines Ich und Wir in ein Weltverständnis integriert ist, in dem die angeblichen Übel »unserer« Welt den »Juden« zur Last gelegt werden. Diese Perspektive unterscheidet sich wesentlich von den derzeit gebräuchlichen Definitionen des Antisemitismus. Dezidiert kriteriologisch, als Maßstab konzipiert, ist etwa der häufig herangezogene »Drei-D-Test« des israelischen Politikers Nathan Sharansky.13 Er soll bereits die christlich-mittelalterliche Judenfeindschaft charakterisieren, wird aber meist zur Beurteilung des zeitgenössischen, gegen Israel gerichteten Antisemitismus verwendet. Die drei »D« sind:

(1) Dämonisierung Israels durch völlig haltlose oder überzogene Anklagen, wie z. B. die Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus oder die Behauptung, Israel sei die größte Gefahr für den Weltfrieden oder der Inbegriff des Kolonialismus.

(2) Doppelte Standards bei der Beurteilung: Wenn etwa allein das Verhalten Israels unter aufmerksamster Beobachtung steht, als unrechtmäßig oder amoralisch gebrandmarkt wird, während Rechtsverstöße und Gewalttaten anderer Staaten oder politischer Organisationen kaum beachtet, nicht kritisiert oder gar gerechtfertigt werden.14

(3) Delegitimierung Israels, indem explizit oder implizit, auf welche Art und Weise auch immer, dessen Existenzrecht infrage gestellt wird. Das ist explizit der Fall, wenn »ganz Palästina« befreit werden soll. Als implizite Negierung Israels bzw. des Selbstbestimmungsrechts der Israelis gelten etwa die Gleichsetzung mit dem NS, Ausdrücke wie »Apartheidstaat«, »letzter Kolonialstaat« oder »künstliches Gebilde«.

Diese Kriterien können gerade in ihrer Kombination als ein erstes heuristisches Instrument häufig durchaus praktikabel sein. Unerläutert und unklar bleibt, warum gerade diese und nicht andere Kriterien Antisemitismus treffsicher aufweisen sollen. Dämonisierungen, doppelte Bewertungsstandards und Delegitimierungen des Gegners ließen sich in vielen Konfliktsituationen finden. Man könnte sie z. B. in der Propaganda des Kalten Krieges auf beiden Seiten ebenso aufzeigen wie in den Angriffen von US-Präsident Trump auf die New York Times. Ihre spezifisch antisemitische Gestalt bleibt unbestimmt. Diese sieht z. B. so aus: Da das »Wesen der Juden« Geld, nicht aber Blut, Boden und Geschichte ist, kann ihr Staat nicht wie unserer, sondern nur ein Mittel zu bösen Zwecken, zu »internationalen Lumpereien«15 sein. Eine Beschreibung der antisemitischen Signatur der drei D verweist auf antisemitische Muster – im Beispiel: »Wesen«, »Geld«, Gegensatz zu »wir«, »national / international« –, die den drei D mitnichten inhärent sind. Zudem zeigt das Beispiel, dass in einem einzigen Satz mühelos eine Reihe komplexer Muster aufgerufen werden können, die viel mehr besagen, als »bloß gegen Israel« zu sein.

Die ebenfalls häufig angeführte »Arbeitsdefinition« der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) beschreibt Antisemitismus sehr allgemein als »eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken« und sich in Wort und Tat gegen jüdische Personen, Institutionen wie auch gegen Israel richten kann. Zur Bestimmung werden danach verschiedenste Beispiele konkreter Äußerungsformen aufgelistet: Gewalttaten gegen Juden, das Phantasma einer jüdischen Weltverschwörung, das Verantwortlichmachen aller Juden für das Fehlverhalten einzelner, die Verwendung traditioneller antisemitischer Stereotype sowie auch die »Drei D« von Sharansky.16 Auch wenn manches in diesen Beispielen zutreffend beschrieben wird, kann doch eine Aufzählung von Einzelphänomenen keinen klaren und kohärenten Begriff von Antisemitismus ergeben. Darüber hinaus werden israelbezogene Phänomene deutlich in den Vordergrund gerückt, während z. B. Geld, Presse, Liberalismus und Internationalismus, die in unendlich vielen antisemitischen Texten als jüdisch gebrandmarkt werden, kaum oder gar keine Erwähnung finden. Typische Texte z. B. der neuen Rechten scheinen aus Perspektive der IHRA-Definition randständig oder eher wenig antisemitisch zu sein, obwohl sie nach unserer Deutung umfassend und eindeutig antisemitisch sind.

Auch innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften existiert kein allgemein konsentierter Begriff von Antisemitismus. Es hat sich nicht einmal, wie es sonst für Forschungsbereiche typisch ist, eine kleine Anzahl ausgearbeiteter Begriffstraditionen trennscharf herausgebildet.17 Seine Kennzeichen, Bestandteile, historischen Formen und Ursachen sowie sein Verhältnis zum christlich-mittelalterlichen Antijudaismus, zum Rassismus und zum Nationalismus und manches andere werden kontrovers diskutiert. Häufig zu findende Definitionen wie »Feindschaft gegen Juden, weil sie Juden sind« oder »alle sprachlichen Äußerungen, mittels derer Juden als Juden entwertet, stigmatisiert, diskriminiert und diffamiert werden«, geben einen wichtigen Grundsatz – Jüdinnen und Juden werden als Juden angegriffen – an, bleiben aber inhaltlich unbestimmt.18 Die inhaltliche Bestimmung erfolgt dann meist über eine Auflistung von Phänomenen, Stereotypen und Vorurteilen oder durch eine Unterscheidung von Typen des Antisemitismus.

Solche Typen-Klassifikationen – derzeit gängig ist die Unterscheidung zwischen einem christlichen, klassischen, modernen, rassistischen, sekundären und israelbezogenen Antisemitismus – führen deutlich die theoretischen Mängel derartiger Sichtweisen vor Augen. Denn auch hier ist wiederum abstrakt einzuwenden: Die Unterscheidung von Typen (oder Phänomen, Vorurteilen usw.) begründet nicht, dass sie Typen desselben sind. Der Begriff des Obstes erschöpft sich nicht in der Aufzählung von Äpfeln, Birnen und Bananen. Damit alle Typen gemeinsam Antisemitismus genannt werden dürfen, müsste ihr Allgemeines angegeben werden. Eben dieses Gemeinsame aber bleibt in der Regel unterbestimmt oder ganz unklar.

Abgesehen davon halten wir einen typologischen Zugang zu unserem spezifischen Thema »Antisemitismus gegen Israel« für empirisch nicht haltbar, wenn damit eine abgrenzende Unterscheidung von israelbezogenem Antisemitismus von modernem, rassistischem, sekundärem usw. Antisemitismus behauptet wird. Versteht man unter »Typus« distinkte Formen des Antisemitismus ist israelbezogener Antisemitismus sicher kein Typus, sondern in allen »Typen« des modernen Antisemitismus nachweisbar. Antisemitismus gegen Israel ist nicht endemisch, beschränkt auf ein bestimmtes Gebiet, sondern pandemisch für den gesamten Antisemitismus seit dem späten 19. Jahrhundert. Das heißt nicht, dass er überall und immer gleich bedeutsam ist, aber er ist generell präsent. Den Grund hierfür sehen wir darin, dass diese »Typen« gemeinsame Deutungsmuster haben, die die Erörterung Israels, des Zionismus, der Jüdinnen und Juden als »Volk« so präformieren, dass israelbezogener Antisemitismus das Ergebnis ist. Eine Bestimmung dieser spezifischen Ausprägung des Antisemitismus kann somit nur tiefenscharf gelingen, wenn sie allgemeine, den diversen »Typen« gemeinsame Deutungsmuster sichtbar werden lässt. Das wiederum, so unser hermeneutischer Anspruch, kann nur als gelungene Abstraktion der empirischen Vielfalt gelten, wenn sie diese Vielfalt nicht gleichmachen muss, sondern als differierende Besonderungen zueinander wie zu diesem abstrakten Allgemeinen aufzeigen kann. Eben deshalb haben wir oben auf zwei hermeneutische Anforderungen hingewiesen: Wir betrachten Antisemitismus als einen allgemeinen kulturellen Sinnzusammenhang, in dem die antijüdische Thematisierung Israels grundiert ist und der nur hinreichend in den Blick kommen kann, wenn die in ihm konstituierten Selbst- wie Judenbilder als ein Sinnzusammenhang analysiert werden. Es geht uns um eine sinnverstehende Rekonstruktion des ideologischen Gesamtgebäudes »Antisemitismus gegen Israel«: Nach welchen Regeln ist diese Weltsicht aufgebaut, in welchem Sinnzusammenhang sind die einzelnen Stereotypen und Ausprägungen verortet, welche Bedeutung wird ihnen eben dadurch zugewiesen, wie variieren und verknüpfen sie sich in diesem Sinnzusammenhang?19

Wir sprechen von »Mustern« und synonym von »Regeln« der Semantik, die den antisemitischen Sinnzusammenhang von Selbst- und Judenbild in einer Weltdeutung ordnen. Was mit »Muster« und »Regel« gemeint ist, kann man sich in Analogie zu einem Spiel, aber auch zur Grammatik einer Sprache vorstellen. Jeder Satz, soll er innerhalb einer Sprache als Satz erkannt werden können, folgt einer Reihe von Regeln etwa der Wortstellung und der Semantik von Bedeutungen. In einer (gar nicht so großen) Zahl von Sätzen findet man einen beträchtlichen Teil der Regeln dieser Sprache (und sicherlich auch den einen oder anderen Regelverstoß, die eine oder andere umgangssprachliche Variation). Ohne hinreichende Konstanz der Regeln wären die Sätze untereinander nicht anschlussfähig, für die Kommunizierenden unverständlich. Trotz Konstanz der Regeln aber ist eine unendliche Vielzahl von Sätzen, von Regelanwendungen möglich. Immer wieder werden neue Sätze erfunden, wofür keine einzige Regel geändert werden muss (aber natürlich kann). Dies gilt auch für die wesentlich einfacheren Regelwerke etwa eines Spiels wie Skat oder Schach. Die Zahl der Partien ist unabsehbar, die Zahl der Regeln überschaubar. Die Virtuosität von Spieler*innen liegt nicht darin, andere Regeln zu verwenden, sondern die Komplexität, die die Regelkombinationen ermöglichen, in der Regelanwendung auszureizen.

Wir behaupten nicht, dass die Bestimmung der Muster antisemitischer Semantik eine umfassende Theorie des Antisemitismus ist. Aber sie ist die konstitutive, hermeneutische Dimension, von der empirisch ausgegangen werden muss. Nur angesichts der bestimmten kulturellen Muster kann gefragt werden, was sie emotional und unbewusst bzw. sozial und gesellschaftsgeschichtlich zu attraktiven Selbst- und Weltverständnissen hat werden lassen.20 Bleibt die hermeneutische Bestimmung vage, ist alle weitere Theorie auf Sand gebaut.

Was sind die wesentlichen Muster, die den Antisemitismus allgemein kennzeichnen und innerhalb derer sich der israelbezogene als spezifische Ausformung bildet? Diese Muster, deren Bezeichnung wir kursiv setzen, werden hier in großer Abstraktheit dargestellt; die Anwendungen dieser Regeln und ihr variantenreiches Zusammenwirken werden wir in den folgenden Kapiteln konkretisieren.

Im Antisemitismus werden die Juden als Verursacher der modernen Gesellschaft verstanden, soweit die Modernität der Gesellschaft abgelehnt wird. Abgelehnt wird, was eine vermeintlich harmonische, kollektiv, moralisch und emotional integrierte Lebensweise zersetzt. Inbegriffe dieser Zersetzung sind die abstrakten Medien und Vermittlungsformen, durch die sich moderne, bürgerliche und kapitalistische Nationalstaaten organisieren, als insbesondere Geld heckendes Geld (statt ehrlicher Arbeit), Presse (statt »Volksmeinung«), repräsentatives Parlament (statt »Wir sind das Volk«). Dieses Muster kann auf unterschiedlichste Themen angewandt werden, so dass z. B. abstrakte Kunst oder Hollywood als Angriff auf »unsere« kulturelle Selbstverständigung, käufliche Liebe und großstädtische Verrohung als Gift für »unsere« Moral erscheinen. Wir nennen dieses Muster den Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft. Die als »jüdisch« deklarierte Gesellschaft erhält ihren Sinn durch die entgegensetzte Vorstellung, »wir« seien eine Gemeinschaft: Imaginiert wird eine partikulare Wir-Gruppe, meist »Volk« genannt, die sich auszeichnet durch ein eigenes Wesen, eine ihr eigene Lebensweise, Geschichte und Tradition und die uns moralisch und personal integriert. Die nationalsozialistische Vorstellung der Wir-Gruppe als »Volks-Gemeinschaft« ist nur eine spezifische Ausprägung dieses Musters. Generell kann man sagen: »Der Antisemitismus kritisiert Gesellschaft aus der Perspektive von Gemeinschaft.«21

Der Antisemitismus ist also darin modern, dass er antimodern ist. Er ist eine moderne Ideologie mit antimoderner Stoßrichtung und »setzt auf dem Schema der antimodernen Kulturkritik auf«.22 Das macht ihn z. B. für christliche Traditionalisten, die sich um die Sexualmoral sorgen, ebenso attraktiv wie für islamische Strömungen, die mit westlichem Kolonialismus und westlicher Moderne die Zerrüttung der Umma einhergehen sehen. Im Antisemitismus wird die abstrakte Gesellschaft der konkreten Gemeinschaft entgegengestellt und durch eine spezifische Verkehrung verstanden: Abstrakte Gesellschaft wird personalisiert im »Juden«. Die sich subjektlos vollziehenden gesellschaftlichen Entwicklungen, der systemische Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse werden dem Handeln von Personen zugeschrieben. Personen verursachen, sei es intentional oder weil es ihr Wesen ist, das, was »uns« bedrängt und zerstört. So wird z. B. aus dem gesellschaftlichen Verhältnis »Kapital« der »Kapitalist«, ein totales Missverständnis, wie Marx gleich im Vorwort seines gleichnamigen Buches betont. Im Antisemitismus wird aus dem personalisierten Kapital, nimmt man das Muster »Gemeinschaft versus Gesellschaft« hinzu, der Finanzkapitalist. Denn nur das abstrakte Kapital scheint die Arbeit auszubeuten, so dass die konkrete Arbeit gemeinsam mit dem schaffenden Kapital dem abstrakten, raffenden Kapital entgegengesetzt ist.23 Beide Seiten werden personalisiert, so dass sich das arbeitsfreudige, dem Gemeinwohl verpflichtete »Volk« das von Moral, Blut und Boden abgelöste Finanzkapital in konkreten Akteuren (Rothschild, IWF, Weise von Zion, Soros …) vorstellen kann.

Verschwörungsfantasien sind »nur« die zugespitzte Form der Personalisierung. Sie verwenden explizit, was der Personalisierung inhärent ist: die Konstruktion eines Akteurs als intentionaler Täter, der einem geheimen Plan folgt, den der Antisemit jedoch durchschaut. Das allerdings muss nicht sein, grundlegend aber ist die Vorstellung eines Akteurs, gleichviel ob er sich verschwört oder einfach tut, was seinem Wesen entspricht. Entscheidend vielmehr ist die Täter-Opfer-Dichotomie. »Die Juden« erscheinen als bedrohliche Angreifer, »wir« als ihre schuldlosen Opfer. Da der Angriff existenziell (Gesellschaft gegen Gemeinschaft) ist, ist das Opfer zu seiner Selbsterhaltung, zur »Notwehr« legitimiert. In diesem Grundmuster wurzelt auch die den Antisemitismus nach Auschwitz prägende Täter-Opfer-Umkehr: Nachdem die Jüdinnen und Juden Opfer wurden, muss die Fortsetzung des Antisemitismus nach der Shoah sie wieder in die Täter-Position bringen. Dabei ist insbesondere der Vorwurf attraktiv, sie würden die Shoah gegen »uns« wenden: als Verteufelung aller Kritik an Israel, als Erinnerungsdiktat, als Moralkeule, die »uns« kein »nationales Selbstbewusstsein« mehr gestatte. Gerade im Letztgenannten wird deutlich, dass es auch bei der Täter-Opfer-Umkehr um die Vorstellung einer existenziellen Bedrohung geht. Denn ein »Volk« ohne Selbstbewusstsein ist nach nationalistischer Überzeugung dem Untergang geweiht.

Wichtiger als die Zuspitzung der Personalisierung in Verschwörungsfantasien ist, dass die Juden als besondere Personengruppe gefasst werden. Sie werden meist, oft schon im älteren christlichen Antijudaismus als »Volk« (und nicht bloß als Glaubensgemeinschaft) verstanden. Im Antisemitismus werden die Juden in der Regel als Abstammungsgruppe konstruiert, die wahlweise als »Stamm«, »Volk«, »Nation« oder »Rasse« bezeichnet wird. Diese Regel bezeichnen wir allgemein als Ethnisierung: die Juden werden als historisch-genealogisches Kollektiv konzipiert. Die Rede von »getauften Juden« z. B. verweist darauf, dass man zwar die Religion, aber nicht die Abstammung wechseln könne. Der rassistische Antisemitismus verschärft diesen Abstammungsglauben, indem er ihn als Naturwissenschaft und Biologie von Menschengruppen ausgibt und diesen »Rassen« (meist) weltgeschichtliche Bedeutung beimisst.

Über Ethnisierung werden nicht nur »die Juden« konstruiert, sondern ebenso wird auch die Wir-Gruppe als ein Personenkollektiv mit fester Zusammengehörigkeit und Identität angelegt. Beide Kollektive können dann durch die Zuschreibung einer Vielzahl von Eigenschaften ausgearbeitet und gegeneinander konturiert werden. Welche Eigenschaften dies sind, ordnet die Kombination der anderen Muster und erlaubt eine hohe Variation an Themen und Anpassungen an zeitgeschichtliche und individuelle Umstände. Grundlegend ist die Verkoppelung der ethnischen Definition mit einer Ontologisierung, d. h. der Vorstellung, historisch-genealogische Gruppen hätten ein gemeinsames Wesen, das sich bei den Juden z. B. ausdrücke in ihrer Religion, ihrer Neigung zu Rachsucht und Geldgier oder das sie zu den Trägern des Liberalismus hat werden lassen.

Es mag sein, dass diese Eigenschaften nicht bei jedem »Juden« gleich hervortreten, manch einer wird gar als »guter Jude« zitiert, sei es, weil das Zugeben von Ausnahmen das behauptete Wesen absichert, sei es weil er (vermeintlich) bestätigt, was der oder die Antisemit*in glaubt. Diese Konstruktion ist gerade in jenen Spielarten des Antisemitismus wichtig, die sich gegen den Antisemitismusvorwurf wappnen. Für den Antisemitismus gegen Israel heißt dies, dass die Unterscheidung zwischen »Jude« und »Zionist« oder die Referenz auf jüdische Kritik an der israelischen Politik Antisemitismus verschleiern soll (aber nicht muss). Für jüdische Kritiker*innen bedeutet diese Möglichkeit jedenfalls eine missliche Position, wenn sie sich nicht als »guter Jude« missbrauchen lassen wollen.

Zieht man die bisherigen Muster zusammen, so erscheint »der Jude«, den sich der Antisemitismus vorstellt, als mächtig. Er steckt hinter der Moderne, bedroht »uns« existenziell, beherrscht das Geld- und Pressewesen und steuert die Politiker. Diese Charakterisierung unterscheidet sich klar von rassistischen Fremdbildern. Die »Fremden« des Rassismus werden typischerweise als »uns« unterlegen und nicht als machtvoll »über uns« imaginiert. Sie erfinden nicht die Aktie oder den Kolonialismus, sondern »betrügen« beim Wohn- und Kindergeld, »überfremden uns« dank ihrer Geburtenrate oder sind als Unzivilisierte Kriminelle und Vergewaltiger. Dass sowohl »der Jude« als auch »der Fremde« und die Wir-Gruppe ethnisiert und ontologisiert werden, heißt also nicht, dass überhaupt dieselben Sinngehalte produziert werden. Vielmehr werden diese durch die anderen Muster different. Der »Fremde« personifiziert nicht die »Gesellschaft«, sondern gehört einer anderen, »uns« fremden, »minderwertigen Gemeinschaft« an. Darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus, weshalb Ersterer nicht als Subtyp von Letzterem begriffen werden kann.

Personalisierung, Ethnisierung und Ontologisierung werden zwar verwendet, um »die Juden« wie auch die Wir-Gruppe zu konstruieren: »Wir« wie »sie« sind eine Personengruppe, ein »Volk«. Doch jegliche Gleichheit mit »den Juden« wird bestritten und durch die Regel der Dichotomie abgewehrt. Antisemitische Texte ordnen Zuschreibungen zum Selbst- und Judenbild als Gegensatzpaare, wie z. B. Gemeinschaft / Gesellschaft, Arbeit / Geld, Täter / Opfer. In diesen Gegensatzpaaren wird ein weiterer wichtiger Sinn der Dichotomie deutlich: Würde »der Jude« siegen, würde er die Dichotomie in einem undifferenzierten Einerlei, einer globalen Wurzellosigkeit bar jeder Tradition und Moral auflösen. Deshalb ist die semantisch zugespitzte Ausgestaltung der Dichotomie als Manichäismus, als totale weltanschauliche Gegenlage des guten und des bösen Prinzips zu bezeichnen.

»Unser Volk« und »Juden« stehen sich im antisemitischen Weltbild nicht als gewöhnliche »Feinde« gegenüber. »Gewöhnliche Feinde« haben bei allen schlechten Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden, das gleiche Grundmuster wie »wir«. Sie sind ihrerseits ein »Volk«, eine »Nation«, ein »Staat«, eine »Rasse«, eine »Religion«. Das gilt z. B. für die nationalistischen Fremd- und Feindbilder, die Deutschland und Frankreich oder Frankreich und England gegeneinander setzten. In »den Juden« jedoch – und dies ist zentral – wird ein kategorial anderer Feind entworfen. Die »Juden« verkörpern alle abgelehnten und verunsichernden Kernphänomene der Moderne – Geld, Geist, Materialismus, Konkurrenz, Gewinnstreben, Vermittlung, Wurzellosigkeit, Kosmopolitismus, Veränderung, Mobilität, Ambivalenz, Konflikt, Uneindeutigkeit, Individualismus, Universalismus –, all das, was die ersehnte »Volksgemeinschaft« permanent dementiert: Sie sind das »Anti-Volk«, nicht das »andere Volk«.24 Der »jüdische« Angriff auf »uns« zielt auf »unsere Identität«. Deshalb werden »die Juden« als »volkszersetzend«, »staatszerstörend«, »kosmopolitisch« und »international« konzipiert. Sie sind zwar ein »Volk« beziehungsweise »Rasse«, doch sie können nicht aus sich selbst heraus existieren. Der »Jude« braucht »uns« wie der Parasit den Wirt, wie das Geld die Arbeit, wie die Unmoral die Moral, die Gesellschaft die Gemeinschaft. Würde die »jüdische« Seite ganz siegen, gäbe es nur noch Parasiten, Geld, Unmoral, Gesellschaft, würde die menschliche Welt untergehen. Deshalb ist das »Anti-Volk« nicht nur eine Bedrohung für »uns«, sondern liegt quer zu all »unseren gewöhnlichen« Feindschaften. Mehr noch, das »Anti-Volk« vereint uns mit unseren »gewöhnlichen Feinden«, denn es bedroht alle »echten« »Völker«, »Rassen« und »Nationen«.

Ganz abstrakt ist dieses Muster als Gegensatz von »identitärer Identität« und »nicht-identischer Identität« zu bezeichnen. Denn der »Jude« wird einerseits notwendig als Identität, als distinkte Gruppe ethnisiert und ontologisiert, andererseits personalisiert er aber gerade jene Wesenszüge, die in der Sicht des Antisemiten die Identität der Wir-Gruppe verunmöglichen. Darin liegt die dämonische Qualität »des Juden«. Der »Jude« wirkt »anti-identitär«, das ist sein Wesen. Das gilt für das Selbstbild von »Volk«, »Volksgemeinschaft«, »Staat« und »Nation«, findet sich aber ebenso in anderen semantischen Feldern, wie z. B. im heteronormativen Geschlechterbild. Bezogen auf dieses werden Juden als »weibliche Männer«, »impotente Lüstlinge«, Jüdinnen als »Mann-weiber« und »Feministinnen«, jene, die die »natürliche Geschlechterordnung« negieren, verstanden. Haben sie Sexappeal, so ist es bloßer Schein, der die Reinheit unseres Blutes zerstören will. Je nach semantischem Zusammenhang werden wir deshalb dieses Muster nicht nur als »Anti-Volk« und »anti-national« bezeichnen, sondern sprechen auch von Anti- und Nicht-Identität. In Verbindung mit dem Manichäismus und dem Täter-Opfer-Muster stellt sich damit immanent im Antisemitismus letztendlich die Frage, ob den Juden überhaupt eine Existenzberechtigung einzuräumen sei. Wird die Frage aufgeworfen, kann sie, kohärent in diesen Mustern zu Ende gedacht, nur verneint werden. Der Rassismus bestreitet typischerweise nicht die Existenzberechtigung »der Anderen« überhaupt. Der eliminatorische Antisemitismus ist nicht die Konsequenz eines spezifisch rassistischen Antisemitismus, sondern die zugespitzte Ausarbeitung der Muster des Antisemitismus überhaupt. Aus Sicht der Identität ist nicht andere Identität, sondern Nicht-Identität des Teufels.

Dieses Grundmuster hat für unser Thema des israelbezogenen Antisemitismus eine entscheidende Bedeutung: Es lässt die Vorstellung von einem »normalen« jüdischen Nationalstaat nicht zu. Die grundlegende Verfassung des Antisemitismus ist auf einen Antisemitismus gegen Israel vorgeprägt. Kommt die Frage auf, was ein jüdischer Staat sei, ist die Antwort bereits orientiert. Die Delegitimation Israels ist als »Kennzeichen« des Antisemitismus stark unterbewertet. Sie gehört in den Kern des Antisemitismus überhaupt. Deshalb wird hinter dem Zionismus und dem jüdischen Staat allenthalben etwas ganz anderes als eine »normale Nation« entdeckt. Das schiere Gegenteil, ein a-, inter- und antinationales Vorhaben scheint plausibel: eine Machtbastion zur Welteroberung, ein imperialistisches Bollwerk, ein koloniales Projekt, ein Staat in Anführungszeichen, eine Gefahr für den Weltfrieden. Während für »uns« die Einheit von »Volk«, »Staat«, »Nation« ein Selbstzweck ist, ist sie bei »den Juden« ein Mittel zu finsteren Zwecken.