Weiße Federn
Halo Fulbridgt
WREADERS TASCHENBUCH
Band 104
Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen
Vollständige Taschenbuchausgabe
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2021 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Druck: BoD – Books on Demand, Norderstedt
Umschlaggestaltung: Emily Bähr
llustrationen: Konstantina Stefou
Landkarte: Jasmin Kreilmann
Lektorat: Hannah Koinig, Marta Kubis
Satz: Leoni Triltsch
www.wreaders.de
ISBN: 978-3-96733-204-9
Prolog
Mit dem Wind kam der Regen.
Kalt peitschte er ihm von vorne direkt ins Gesicht, füllte seine Augen und vermischte sich mit den salzigen Spuren auf seinen eiskalten Wangen. Sie froren allmählich ein.
Seine Haare hingen ihm klamm ins Gesicht und seine Kleidung bedeckte seinen Körper lediglich in Fetzen – auf seinem Arm trug er ein durchweichtes Bündel, einen leblosen Körper.
Azriel stöhnte kurz auf und hob seinen Kopf nur ein wenig, um dem Wind zu trotzen. Seine Flügel hatte er zwar zum Teil um sich und die Gestalt in seinem Arm gelegt, aber an vielen Stellen fehlten Federn und die Fetzen ließen den Regen hindurch.
»Wir sind bald da«, flüsterte er und hustete, als sich die kalte Luft beißend in seinem Rachen breitmachte. Vor ihnen tat sich ein kleines Haus aus reinstem Marmor auf, doch die Tür aus dunklem Holz hing in den Angeln und die einst bunten Fenster waren eingeschlagen. Nur kurz blieb Azriel stehen, um zu schaudern. Er wollte hier nicht hin, aber es war der einzige mögliche Ort, an dem er es tun konnte. Der einzige Ort im gesamten Himmel.
»Kommt rein – na los, kommt rein! Das Wetter frisst euch sonst noch auf!«
Ein alter Engel war vor die Tür getreten und sogleich wieder im Haus verschwunden. Azriel eilte ihm hinterher, nun mit ein wenig mehr Motivation und Zielstrebigkeit in seinen Schritten. Nur kurz darauf umhüllte ihn Wärme wie eine schützende Decke.
Azriel strauchelte und der Engel trat aus den Schatten einer Ecke, um ihm das durchnässte Bündel aus den Armen zu nehmen und auf einen großen Tisch in der Mitte des Raumes zu legen.
»Azriel, du bist es.«
Der Engel mit den goldenen Augen nickte nur ein wenig und riss sich dann die durchweichte Jacke vom Leib. Sie landete auf dem Boden wie all die Gefallenen der letzten Schlacht. Er steuerte direkt auf den brennenden Ofen zu, aber sein Blick verließ den Tisch nicht einmal.
»Na los, Junge, rede mit mir! Was – wer ist das? Und was machst du hier? Ich dachte, du seist tot. Der Kampf … Tearneyl …«
»Wir haben ihn besiegt – Laiylah hat … ja.«
Für einige Sekunden schwieg Azriel, dann setzte er jedoch erneut zum Reden an: »Ich dachte, man hätte dir schon davon erzählt. Wir haben Boten geschickt, um es allen zu verkünden. Aber … dich findet natürlich keiner. Dich erreicht man nicht. Das hat man noch nie.«
Er schnaubte ein wenig und schüttete seine Flügel. Für keine Sekunde stoppte ihn der Gedanke an den teuren Boden und die seidenen Teppiche, die er mit Dreck, Blut und Regenwasser beschmutzte.
»Hey! Pass doch auf!«
»Stell dich nicht so an …«
Azriel rollte einmal mit den Schultern und sah dann endlich den Engel anstelle des Tisches an.
»Du willst etwas von mir, nicht andersherum. Also benimm dich gefälligst.«
Er schnaubte und knirschte mit den Zähnen, doch eine längere Antwort wurde ihm vergönnt.
»Wenn du nichts willst, dann geh. Du verdreckst mir die gesamte Bruchbude.«
Der Alte grinste und nun, endlich, entspannte sich Azriel ein wenig. Sein Blick jedoch blieb finster.
»Du bist … Bestatter. Du weißt, weshalb ich dich brauche. Wir haben – es sind einige unserer Leute gestorben im Kampf und … ja.«
Nun runzelte Azriels Gegenüber doch ein wenig die Stirn und in seine goldenen Augen trat ein seltsamer Glanz.
»Wieso ich? Es gibt hunderte meiner Leute in Aclondoh und … im ganzen Himmel. Du weißt, ich habe mich nicht ohne Grund zurückgezogen.«
Es war Misstrauen. Azriel erkannte diesen Ausdruck ohne Zweifel.
»Bitte. Ich weiß, dass es niemand sonst tun wird. Niemand sonst wird sie beerdigen und … sie muss beerdigt werden.«
Schluckend trat er auf den alten Engel zu und biss sich ein wenig auf die Unterlippe.
»Bitte, Vater.«
Der alte Engel schwieg für einige Sekunden und schüttelte seinen Kopf.
»Wer ist es?«
»Das weißt du bereits … oder nicht?«
Ein schmatzendes Geräusch erklang und dann noch eines. Ohne zu fragen oder weiter zu warten, riss Azriels Vater achtlos an der durchnässten Decke herum, in die der Engel eine Leiche gehüllt hatte. Stille machte sich erst dann breit, als sie frei lag.
Blasse Haut, gerahmt von silbernen Strähnen. Fahle Lippen und blutdurchtränkte Kleidung. Schnell wandte Azriel den Blick ab.
»Sie?! Das war die Anführerin der Rebellen – natürlich wird sie niemand beerdigen.«
»Wir haben gewonnen, Vater, das ist nicht das Problem!«
Dann stockte Azriel. Nein, Laiylah war das Problem. Was sie getan hatte. In seinem Kopf rasten die Gedanken und dann schüttelte er sie mit einem Mal ab.
»Aber natürlich dauert es bis alle davon erfahren. Von unserem Sieg, meine ich. Und sie verdient es so schnell es geht beerdigt zu werden. Und bevor man sie zelebriert – sie soll nicht ausgestellt werden.«
Die Lüge fühlte sich perfekt an auf seiner Zunge.
»Laiylah war eine Heldin; sie hat uns alle befreit. Sie hat den gesamten Himmel befreit und Tearneyls Schreckensherrschaft beendet. Verstehst du? Jeder wird sie noch einmal sehen wollen und sie hat sich … Ruhe verdient. Sie verdient es zu ruhen. Das ist deine Aufgabe, Vater, ihnen Ruhe zu geben! Willst du das denn nicht?«
»Junge … das ist nicht – noch wird sie als Verbrecherin geahndet. Sie hat den Himmel verraten.«
Die beiden starrten einander für einige viel zu lange Momente an und niemand sprach ein Wort. Dann seufzte der Alte letztlich resigniert auf.
»Nun gut.«
»Danke, Vater.«
Azriels Augen wanderten zu Laiylahs Gesicht und dann schloss er sie schaudernd.
»Sie war eine Heldin.«
Azriel
Azriels goldene Flügel leuchteten prachtvoll im Sonnenlicht, als er elegant landete. Er streckte seine Flügel und schüttelte sie wie ein nasser Hund, spreizte seine Federn und schloss sie dann hinter seinem Rücken.
Anders als seine Haare, die eher ein wenig verfilzt und fettig waren, wirkten seine Flügel inzwischen wieder ordentlich und gepflegt. Er streckte sich ein bisschen und sah mit einem Seufzen auf das Gebäude vor ihm.
Der Rat hatte zu einer erneuten Versammlung gerufen, offensichtlich hatte es den ein oder anderen Vorfall gegeben. Azriel war stolz auf das, was sie erschaffen hatten, doch jedes Mal überkam ihn ein leiser Schmerz. Sie alle wussten, dass Laiylah den Grundstein für ihr heutiges Leben gelegt hatte. Doch sie war tot und er hatte mit den Folgen zu leben. Den Lügen, die er selbst verbreitet hatte, weil sie in seinen Augen schon immer eine Heldin gewesen war.
Azriel schüttelte den Kopf und richtete sich auf, konnte quasi fühlen, wie seine Gedanken ihn verließen und die Konzentration zurückkehrte. Das Treffen war wichtig, der Himmel hatte mit vielen Problemen zu kämpfen. Der Krieg hatte Zerstörung hinterlassen und nun mussten sie aufräumen.
Er seufzte erneut und betrat das Gebäude. Sofort wurde er von einigen Engeln begrüßt. Sie lächelten höflich und da war Mitleid in ihren Augen. Natürlich bedauerten sie ihn, weil er seine beste Freundin verloren hatte. Nicht nur. Für ihn war Laiylah immer mehr gewesen – viel mehr.
Schnell wanderte er durch mehrere Gänge, bis er vor einer großen Doppeltür aus Holz stand. Sie erinnerte ihn an die große Burg. Damals, als er die Rebellion noch angezweifelt hatte. Nun vertrat er ihre Gedanken und Ideen im Rat.
Seine Finger fuhren über das Holz und er schloss die Augen. Er tat es jede Versammlung, wann immer er vor diesem Zimmer stand. Er wurde die Vergangenheit einfach nicht los.
Nach einer Weile – es fühlte sich an wie eine Ewigkeit – öffnete er endlich entschlossen die Tür und trat hinein. Er war der Letzte. Die anderen warteten bereits auf ihn, doch niemand fragte nach, warum er so spät kam. Er wurde von allen gegrüßt, nur Ibrahel durchbohrte ihn wortlos mit seinem Blick.
»Tut mir leid«, entschuldige er sich leise und er wusste, dass die anderen keinen Grund wissen wollten. Er setzte sich schnell an den großen Rundtisch zu den anderen elf Engeln und sah erwartungsvoll zu Ibrahel, doch er saß auf dem gelblichen Sofa am anderen Ende des Raumes und schien sich nicht bewegen zu wollen.
Azriel seufzte und nickte in die Runde.
»Die Sitzung ist eröffnet.«
Es war für einen kurzen Moment still, dann erhob sich Mihr. Er hatte neben Ibrahel gesessen und nur auf den Beginn der Versammlung gewartet. Azriel bewunderte den älteren Engel für sein Verhalten und seine Stärke. Er war wie zum Führen gemacht, doch er weigerte sich noch immer, sich dem Rat anzuschließen, nahm jedoch an gewissen Sitzungen teil. Er überwachte lieber das Wetter, half den Engeln und kontrollierte hin und wieder die Grenzen.
Nun lief Mihr durch den Raum und blieb vor einer großen Landkarte stehen, die eine ganze Wand abdeckte. Er war noch immer leise, hob seine Hand und berührte mit dem Zeigefinger eine fette Linie. Er zeigte auf die nördliche Grenze, das nördliche Ende, des Himmels. Die Linie glühte an einer Stelle auf und er fuhr mit der Hand über die Stelle.
»Hier«, begann er mit seiner tiefen Stimme und drehte sich zu den Ratsmitgliedern um, ein intensiver Blick lag in seinen Augen. »Hier gab es einen Aufstand. Teriesh selbst hat eine Gruppe an die Grenze geführt und mehrere unserer Wachen angegriffen und verwundet. Ich konnte zwei retten, doch die Gruppe war zu stark. Ich musste mich um die Verletzten kümmern.«
Hamon verzog das Gesicht, als er nachdachte und den Kopf schüttelte.
»Wieso war Teriesh mit einer seiner Gruppen außerhalb?“, fragte er und richtete sich ein wenig mehr auf. „Bisher hat er sich kaum selbst aus seiner Deckung gewagt. Nur, wenn es absolut sicher für ihn war. Sicher und notwendig«
»Bald ist die Gedenkfeier. Weniger Engel sind unterwegs. Teriesh müsste von der Feier wissen.«
Alle Augenpaare richteten sich auf Hester und sie blinzelte ein wenig, räusperte sich und sah zu Mihr. Der lächelte lediglich. Vielleicht hatte der Krieg doch ein paar gute Dinge mit sich gebracht. Hester schien nach dem Blickwechsel mit Mihr entspannter und nickte.
»Wir werden langsam wieder stärker. Zumindest Tearneyls Anhänger werden nicht mehr lange gegen uns ankommen können und –«
»Sie sind uns jetzt schon unterlegen. Schon lange«, unterbrach Erathaol sie und verschränkte seine Arme vor der Brust. Der Engel mit den rosanen Flügeln hatte sich schon bei der Gründung des Rates stark daran beteiligt und vermehrtes Interesse an der Regierung gezeigt. Er war nie ein großer Freund von Hester gewesen, aber dafür ein strategisches Genie. Manchmal tat Azriel sich damit schwer, ihn wirklich zu mögen, aber die meisten seiner Ideen hatten ihn über die Zeit unersetzlich werden lassen.
»Lass sie ausreden.«
Mihr reagierte schnell und scharf auf Erathaols Worte, welcher hastig nickte und sich ein wenig weiter in seinem Stuhl zurücklehnte.
Hester seufzte und sah wieder in die Runde.
»Seine Anhänger müssen sich beeilen, wenn sie noch irgendetwas ausrichten wollen. Also ist es notwendig, dass sie etwas unternehmen. Und die meisten Engel bereiten sich auf die Gedenkfeier vor. Deshalb ist es sicher. Sicher und notwendig, wie du gesagt hast, Hamon.«
Hamon nickte ihr zu und es erklang zustimmendes Gemurmel.
»Mihr, wie viele Engel hast du gesehen?«, fragte Azriel leise.
»Es waren viele, ich konnte sie nicht zählen. Nicht in der Hektik. Auf jeden Fall mehr als 30.«
Azriel nickte und schien für einen Moment in Gedanken versunken.
»Also müssen wir eine Gruppe zusammenstellen, um den Aufstand zu beenden. Wir geben ihnen eine Chance, wie immer«, meinte Tartys und ihre Stimme war fest, als sie in die Runde sah. Auch sie war neu – und sie schaffte es immer wieder, Azriel zu erstaunen. Vielleicht belasteten ihn seine eigenen Vorurteile zu sehr, aber ihre ruhige Art wollte in seinen Augen einfach nicht zu einem ehemaligen Anhänger Tearneyls passen.
»Ich mach das.«
Drei Stimmen überschnitten sich und die Engel sahen sich schweigend an. Schnell schüttelte Sabrael, der vermutlich vor allem wegen Artys im Rat war, den Kopf. Er war intelligent, sicher, und meist auch eine große Hilfe. Aber er hatte nun mal kein herausragendes Talent und seine Ambitionen beschränkten sich auch eher auf seine Gefühle als den Rat.
»Vergesst es. Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch einiges zu tun habe. Ich kann die Gruppe nicht anführen«, meinte er hastig.
Azriel und Ibrahel starrten sich noch immer leise an. Goldene und tiefbraune Augen funkelten bedrohlich und es war angestrengt still. Für einige Sekunden wagte es niemand ein Wort zu verlieren.
Hamon klatschte in die Hände und alle sahen ihn an.
»Führt die Gruppe zusammen. Ihr habt oft Seite an Seite gekämpft. Und wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben. Gemeinsam seid ihr stärker.«
Azriel schloss seine Augen und atmete tief ein, bevor er langsam nickte: »Okay.«
Ibrahel starrte ihn noch immer wortlos an und Azriel rutschte unruhig auf seinem Platz umher. Einige der anderen Ratsmitglieder schluckten, Flügel zuckten als deutliches Zeichen von Nervosität.
Dann erhob sich Celisteal, der bis jetzt gänzlich geschwiegen hatte.
»Danke, Mihr«, meinte er mit einem Lächeln und der Wetterengel nickte. Er sah Hester für einen kurzen Moment an und seine Federn spreizten sich kaum merklich, bevor er den anderen zunickte und den Raum verließ.
Celisteal nahm Mihrs Platz ein, auch wenn er die Karte nicht benötigte. Er sah die anderen Engel an und lächelte ein wenig.
»Ich habe auch noch gute Nachrichten für euch. Wie ihr wisst, hängen nur die wenigsten noch an Tearneyl fest. Die meisten Engel haben sich uns bereits angeschlossen. Und unsere Suchen auf der Erde haben weitere Erfolge ergeben.«
Einige der Ratsmitglieder schienen erfreut und lächelten ebenfalls.
»Meine Leute und ich haben zwei weitere kleine Gruppen gefunden und haben sie zu uns in den Himmel gebracht. Wir sind gerade dabei, ihnen alles zu erklären, aber bis jetzt haben sie sich ohne Probleme integriert. Wir wachsen wieder. Wir werden stark.«
Klatschen wurde vernehmbar und die Engel applaudierten, auch Ibrahel lächelte und wirkte fast schon entspannt.
»Also gut, das wäre dann alles, richtig?«, fragte Azriel in die Runde und alle Blicke wandten sich ihm zu. Niemand meldete sich zu Wort und er nickte.
»Dann ist die Versammlung hiermit beendet. Wir sehen uns später auf der Gedenkfeier.«
Ibrahel
Ibrahel hielt die Lügen nicht mehr aus. Nur kurz nachdem Azriel die Versammlung beendet hatte, war er aus dem Raum gestürmt und mit ausgebreiteten Flügeln verschwunden. Er hatte noch ein wenig Zeit bis zu Laiylahs Gedenkfeier.
Sein Herz schmerzte bei dem Gedanken daran. Sie war einst seine beste Freundin gewesen, doch sie hatte ihn getötet. Schlimmer war, dass Azriel sie verteidigte. Sie als eine Heldin darstellte – doch die Laiylah, die eine Heldin war, war lange vor ihrem Tod durch ihre eigene Klinge gestorben.
Und nach seinem eigenen Tod hatte Azriel ihn zurückgebracht. Etwas, das nur in Ausnahmefällen getan wurde und meistens viele Konsequenzen mit sich zog. Einen toten Engel wiedererwecken? Niemand wollte das tun. Und nun war es geschehen und die meisten im Himmel misstrauten Ibrahel. Er misstraute sich selbst. Jederzeit könnte die Dunkelheit des Totenreichs seine Seele verbrennen, doch bis jetzt ging es ihm gut.
Bis auf seine Wut, die ständig da war. Er war wütend auf Azriel und auf Laiylah, aber am meisten auf sich selbst. Doch einen Grund dafür hatte er nicht wirklich. Seit seiner Auferstehung war er einfach wütend.
Er schüttelte seinen Kopf und seine Gedanken verirrten sich im Nirgendwo. Er war in den Wald nahe des Ratsgebäudes geflogen und mit dem Ende seiner Gedanken gelandet. Der Boden war weich unter seinen Füßen und er sog die kalte Luft ein. Er kam oft hier her, der Ort beruhigte ihn.
Seine Flügel zuckten, als erneut unerwünschte Erinnerungen durch ihn strömten. Auch die drängte er beiseite, bevor er sich hinsetzte und die großen Flügel zu beiden Seiten streckte. Er zupfte an einigen Federn, bis eine einzelne plötzlich in seinen Händen landete. Er zuckte ein wenig und rieb dann über die Feder, schüttelte den Kopf erneut. Was war nur aus ihm geworden? Er biss die Zähne zusammen und faltete seine Flügel, bog sie um seinen Körper, bis er eingehüllt war. Er zupfte wieder an Federn und die Zeit verging im Flug.
Eine Stunde später hatte Ibrahel seine Flügel gerichtet und war auf den Friedhof der Engel gegangen. Viele Tote ruhten hier, doch nur die wenigsten von ihnen erhielten Gedenkfeiern an ihrem Todestag. Gerade jetzt war es eigentlich nur Laiylah. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen und seine Flügel zuckten, aber er hielt sie starr hinter seinem Körper. Er konnte sie nicht erneut verwüsten.
Um ihn herum standen zahlreiche Engel. Die meisten davon waren hinter ihm. Als einer von Laiylahs besten Freunden stand er in der zweiten Reihe, direkt hinter Azriel. Er hatte sich vor ihnen allen positioniert.
Ibrahel konnte es sehen. Da war ein Funke Schmerz in seinen Augen, nicht Trauer – Schmerz. Den meisten Engeln war er verborgen, doch er kannte Azriel nun schon seit einer ganzen Weile. Doch er hatte diesen Weg selbst eingeschlagen.
Azriel hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und seine Flügel waren ebenfalls gefaltet, allerdings noch enger als die der meisten Engel. Die Spitzen berührten fast den Boden. Ein Zeichen der Trauer.
Und dann kehrte Stille ein. Das ohnehin schon ehrfürchtig leise Gemurmel der Engel verstummte vollends und alle sahen Azriel erwartungsvoll an.
»Laiylah war eine gute Freundin«, begann er und seine Stimme brach ein wenig. »Sie hat viel für uns getan. Laiylah war ... Nein, ist eine Heldin. Sie hat uns all dies hier ermöglicht. Weil sie gekämpft und gewonnen hat. Sie hat nie aufgegeben und wir leben das Leben, das sie sich erkämpfen wollte.«
Ibrahels Flügel zuckten erneut und er schloss für eine Sekunde seine Augen. Vielleicht war es länger, denn das Blut rauschte in seinen Ohren und übertönte jedes Wort, das Azriel von sich gab. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren und verzog das Gesicht, als auch noch ein pochender Schmerz durch seinen Schädel donnerte.
Es klang, als würde ein Bach neben ihm rauschen. Genauso fühlte es sich auch in seinem Kopf an. Ihm war schwindlig und er drohte in seinen Gedanken zu ertrinken, die tosend um ihn wirbelten und gnadenlos an ihm zerrten.
Hektisch öffnete er die Augen und ein kalter Schauer jagte durch seinen Körper, ließ ihn und seine Flügel erneut zucken. Seine Finger zitterten ein wenig und er ballte sie zu Fäusten, bohrte die Nägel in seinen Handballen, um sich selbst von seinen Flügeln fernzuhalten.
Er starrte nach vorne und sein Atem stockte. Azriels Blick durchbohrte ihn regelrecht. Seine goldenen Augen lagen auf ihm, fixierten ihn. Er redete noch immer, ein trauriges Lächeln lag auf seinen Lippen. Doch Ibrahel verstand kein Wort, obwohl seine Aufmerksamkeit allein auf Azriel gerichtet war und dessen Aufmerksamkeit auf ihn. Es war, als trennten sie Welten.
Und Ibrahel hielt es nicht mehr aus. Das Donnern in seinem Kopf wurde immer lauter.
»Ibrahel!«
Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und er starrte auf die Person zu seiner Rechten. Mihr hatte ihn sanft am Arm berührt, Verständnis lag in seinem Blick.
Vor seinem inneren Auge spielte sich ab, wie Azriel ihn angesehen hatte. Etwas gesagt hatte. Seine Lippen hatten sich bewegt. Doch es hatte sich wiederholt, immer und immer wieder. Er hatte Ibrahels Namen gerufen.
Erst als Mihr ihn erneut ansprach, schüttelte Ibrahel den Kopf und war vollkommen zurück in der Wirklichkeit. Der Wetterengel lächelte ein wenig und drückte seine Schulter vorsichtig.
»Azriel fragt, ob du auch etwas über Laiylah zu sagen hast.«
»Ich –« Ibrahels Stimme versagte und er schluckte, bevor er hastig den Kopf schüttelte.
»Es ... tut mir leid. Ich sollte gehen«, meinte er hektisch und er fuhr auf dem Absatz herum, schüttelte die kräftige Hand einfach von seiner Schulter. Ein paar heiße Tränen strömten über sein Gesicht und er bahnte sich einen Weg durch die Menge, doch die meisten wichen ihm ohnehin aus.
»Halt dich von ihm fern«, zischte ein junger Engel und die weibliche Gestalt sprang zur Seite, riss am Arm ihrer Tochter und zog sie so mit sich. Während sich die Augen der Kleinen weiteten, sah die Mutter ihn mit zusammengezogenen Brauen funkelnd an.
Ibrahels Schultern sackten nach unten.
Wann würden sie ihn endlich sein lassen?
Sobald er genug Abstand hatte, genug Platz für seine Flügel, breitete er eben diese aus und schwang sich mit wenigen kräftigen Schlägen in die Luft. Das Atmen fiel ihm noch immer schwer. Er musste einfach weg, musste diesem schrecklichen Ort entfliehen. Er konnte all die Lügen nicht mehr aushalten.
Claire
Wachsame Augen lagen auf dem kleinen Spiegel, der in ih-rem Schoß ruhte. Sie nagte auf ihrer Unterlippe und starrte angestrengt auf das Glas. Das Ritual erforderte ihre ge-samte Konzentration und sie konnte es kaum durchführen.
Zu ihren Füßen brannte ein kleines Feuer. In ihm waren Steine und eine Feder, die eines Engels. Vereint mit ein we-nig Erde und der Zeichnung einer wahrlich komplizierten Rune. Die Flamme war nicht groß, doch heiß genug, um sie zum Schwitzen zu bringen. Aber vielleicht war es auch ein-fach die Anstrengung, die Hitze durch ihren Körper strö-men ließ.
Der Spiegel zeigte ihr viel mehr als ihr eigenes Bild. Sie sah eine kleine Wiese, umrundet von zahlreichen Bäumen. Nahe am Waldrand – sie hielt es zumindest für einen Wald – stand eine kleine Hütte. Die Wiese war bedeckt mit Grab-steinen. Und zwischen den Steinen, vor einem ganz be-stimmten Grab, stand eine Ansammlung der Kreaturen, die sie wohl am meisten verabscheute.
Die Engel waren deutlich an ihren Flügel zu erkennen, die sie allesamt hinter ihrem Rücken gefaltet hatten.
In diesem Moment spürte Claire Wut und nichts anderes. Engel. Wie sehr sie sie hasste.
Einer der Engel wirkte mehr als gestresst, als er davon-stürmte und sich in den Himmel erhob. Die anderen starr-ten ihm noch für eine Weile hinterher, doch dann widme-ten sie sich wieder dem Grab.
Claire schüttelte den Kopf und da war nichts als Verach-tung in ihren Bewegungen, als sie mit einer einfachen Handbewegung das Feuer löschte und den Spiegel in die Glut legte. Sie brauchte ihn nicht mehr.
Schnell sah sie sich in dem kleinen Zimmer um und be-gann sich zurecht zu suchen, was sie brauchte.
Von ihrer Geburt an hatte sie gelernt, dass es Engel zu hassen galt. Ihr Lehrmeister hatte ihr von Anfang an beigebracht, die Kreaturen zu verabscheuen. Sie war kaum alt genug gewesen, als sie sich auf die Suche gemacht hatte. Hatte andere Leute nach Engeln gefragt. Gläubige, Atheis-ten, Wissenschaftler und sogar Dämonen. Sie hatte heraus-gefunden, was sich die Menschen unter Engeln vorstellten und was sie eigentlich waren. Oh, sie hatte alles gelernt und sie kannte die Wahrheit. Sie war immerhin damit aufge-wachsen.
Kopfschüttelnd nahm sie einen weiteren Stapel Federn und schmunzelte ein wenig, als sie mit kaltem Blut eine wei-tere Rune auf den Boden zeichnete. Sie verbreitete die Fe-dern und fügte noch einige weitere Gegenstände hinzu. Wenn Menschen bloß wüssten, wie einfach es war, in den Himmel zu gelangen. Wenn es die Engel wüssten – doch die würden wohl überrascht werden.
Sie kniete sich auf den Boden und legte ihre Hände auf den blutigen Haufen. Sie schloss die Augen und kon-zentrierte sich, spürte wie ihre Magie in ihre Arme und dann ihre Hände floss.
Es war schmerzhaft, sie zitterte nach wenigen Sekunden und gab einen gequälten Laut von sich. Doch sie kämpfte mit ihrer Magie und schickte alles in das Ritual und mur-melte ein paar leise Worte.
Claire schrie auf und ihr wurde schwindlig. Sie verlor das Gleichgewicht und taumelte ein wenig. Ihre Magie jagte zu-rück in ihren Körper und verkroch sich dort.
Sie fluchte und ballte die Hände zu Fäusten, brach einige Federn zwischen ihren dünnen Fingern.
Zwei ruhige Atemzüge später konzentrierte sie sich er-neut und ihre Atmung stoppte. Ihr Magen verdrehte sich und sie gab einen erneuten Laut von sich, bevor sie sich fühlte, als würde sie in ein endloses Loch fallen. Dunkelheit umgab sie und sie sackte in sich selbst zusammen. Ihre Welt drehte sich und sie zitterte unkontrolliert. Ein wenig Blut tropfte von ihrer Lippe, wo sie sich selbst gebissen hatte.
Dann leuchtete die Rune auf und ein gleißendes Licht umhüllte sie.
Nathan
Nathan starrte wütend auf seine Hände. Ein kleines Messer tanzte zwischen seinen Fingern durch die Luft und er drehte es geschickt, sorgte dafür, dass es seinem Willen folgte.
Er saß an einem großen Tisch mit mehreren anderen Dä-monen, als ihr Anführer saß er natürlich am vorderen Ende. Sie alle sahen ihn aufmerksam an und redeten. Ver-dammt, sie alle redeten und sie hatten nichts Besseres zu tun, als sich zu beschweren.
Das Messer stoppte, als es deutlich hörbar in den Tisch gerammt wurde und dortblieb. Das Holz splitterte ein we-nig, doch das war ihm egal.
Er sah auf und seine Augen glühten gefährlich. Er war es leid. Seit nahezu einem Jahr hatte er es sich anhören dürfen, jeden verdammten Tag. Sie hatten sich die ganze Zeit be-schwert.
Die Dämonen waren blutdurstig, das lag nun einmal in ihrer Natur. Doch wie konnten sie es wagen, wie konnten sie überhaupt daran denken, ihn in Frage zu stellen – ihn, ihren Anführer! Offensichtlich wurden die Dämonen im-mer dreister und er konnte seine Wut kaum zügeln.
Krieg, das wollten sie. Immer nur Krieg, immer nur ver-nichten. Und noch während er nachdachte, sie mit lodern-den Augen anstarrte, redeten sie noch immer mit ihm. Er konnte es kaum glauben.
»Ihr seid weich geworden.«
Der Vorwurf hallte in Nathans Ohren wider und er ver-engte die Augen zu Schlitzen. »Weich?«, fragte er bedroh-lich und stand auf. Seine Hand krampfte sich um das Mes-ser und er stöhnte leise und vor allem genervt.
»Wie ist dein Name?«
»Drostrith«, meinte der Dämon schnell und hob trotzig das Kinn.
»Gut ... Drostrith. Danke, dass du den anderen eine Lehre sein wirst. Ich bin nicht schwach und so redet man nicht mit seinem Anführer.«
Nathan schnaubte und in weniger als einer Sekunde hatte er das Messer erhoben. Es surrte durch die Luft und bohrte sich in die Brust des Dämons. Er schrie und sackte dann schlaff zu Boden. Die anderen Dämonen verstummten und starrten ihn stumm an.
»Ihr wollt also Krieg«, begann Nathan dann und er mus-terte jeden der anwesenden Dämonen einzeln. Schon wie-der begannen sie zustimmend zu murmeln und er hob ge-bieterisch eine Hand, womit er sie zum Schweigen brachte.
»Krieg mit den Engeln.«
Sie nickten dieses Mal und niemand wagte zu sprechen.
»Habt ihr nicht gelernt? Krieg mit den Engeln geht nie-mals gut aus. Sie sind stark. Und wir? Wir haben alle Zeit der Welt.«
Nathan lachte höhnisch. »Oder auch alle Zeit der Hölle.«
»Die Engel sind in der Unterzahl«, meinte ein Dämon und Nathan sah ihn scharf an.
»Was sagst du da?«
»Die Engel sind in der Unterzahl. Gerade jetzt sind sie schwach, obwohl sie stärkere Kräfte haben. Wir könnten sie einfach überrumpeln und auslöschen, ein für alle Mal. Ihre Flügel abschneiden und sie als Trophäen behalten.«
»Und wieso denkst du, dass sie schwach sind? Ich be-zweifle, dass du schon so viel Erfahrung hast. Ich kenne nicht mal deinen Namen. Drostrith? Den kannte ich we-nigstens«, meinte Nathan schnippisch und er schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bleibe dabei. Es wird vorerst keinen Krieg ge-ben.«
Mit diesen Worten, begleitet von Protestlauten der Dä-monen, verschwand er.
Verdammte Dämonen.
Claire
Schmerz explodierte in ihrem Kopf, ihrem Körper, und Licht brannte hinter ihren geschlossenen Augen. Sie schrie erneut und für einen Moment stockte ihr Atem.
Einige Sekunden später hatte sie sich beruhigt und lag keuchend am Boden. Ihr Körper zitterte noch immer, als sie sich zögerlich aufrichtete und vorsichtig blinzelte. Ihr Kopf dröhnte und sie gab ein leises Stöhnen von sich.
Helles Licht blendete sie, doch sie gewöhnte sich eher schnell daran und starrte in die warme Sonne. Claire schüt-telte sich und stand vorsichtig auf. Sofort stolperte sie und stürzte, doch sie konnte sich gerade noch so auf ihren Hän-den aufstützen und gab einen Schmerzenslaut von sich. Vielleicht war es doch nicht so einfach, in den Himmel zu gelangen. Doch sie hatte es nun geschafft und nur das zählte.
Als sie sich dessen bewusstwurde, waren ihre Schmerzen mit einem Mal vergessen und sie stand kerzengerade. Sie sah sich aufmerksam um und ein leises Schnappen nach Luft entwich ihr. Die Landschaft war wunderschön.
Ihre Augen weiteten sich und sie trat zögerlich einen Schritt nach vorne, doch sie wankte erneut. Sie verharrte, wo sie war, und blinzelte langsam. Die junge Frau befand sich auf einer Anhöhe mit direktem Blick auf ein offenes Tal. Die grüne Wiese direkt unter ihr war mit den buntesten Blumen versehen, die sie sich nicht einmal erträumen konnte. Ein Fluss verlief über die Wiese und sie konnte das leise Plätschern bis zu ihrem Standpunkt hören.
Obwohl sie es nur sehr ungern zugeben wollte, fand sie die Landschaft mehr als wunderschön. Sie war einfach ma-gisch und ihre Arme waren mit Gänsehaut bedeckt. Sie zog scharf Luft ein, ihr Atemzug war ein wenig zittrig.
Schnell drehte sie sich um und tat einen erneuten Schritt. Dieses Mal schaffte sie es, ohne zu straucheln. Sie war noch ein wenig wacklig unterwegs, doch nun konnte sie endlich wieder anständig laufen. Sie wollte nicht mehr länger war-ten. Ein Jahr war mehr als genug gewesen - er hatte sie warten lassen, hatte behauptet, dass sie erst lernen müsse. Jetzt konnte sie endlich ihre Rache bekommen. Sie musste nur noch zugreifen.
Ihr Weg führte Claire den sachten Hang hinab und auf den Fluss zu. Der Verlockung konnte sie einfach nicht wi-derstehen. Sie ging in die Hocke und streckte sich, bis ihre Finger das eisige Wasser berührten. Es sandte weitere Schauer über ihren Rücken und sie schnappte erneut nach Luft. Es fühlte sich seltsam an, so fremd. Doch es war ... gut. Es fühlte sich tatsächlich gut an. Vermutlich war das die Verlockung des Himmels.
Sie starrte in das blaue Nass und verharrte so für eine Weile. Sie fühlte sich, als wäre sie an Ort und Stelle festge-froren. Erst als ein blasser roter Schleier das Wasser um ihre Finger trübte, löste sie sich aus ihrer Starre. Ihr Gefühl sagte ihr sofort, dass das blasse Rot nur Blut sein konnte. Es war stark verdünnt, doch sie konnte es noch immer se-hen. Vermutlich war etwas ganz in der Nähe passiert.
Etwas in ihrem Inneren flatterte aufgeregt, fast schon fröhlich, und sie holte tief Luft, bereitete sich mental auf das vor, was passieren würde. Das Blut stammte vermutlich von Engeln. Tote Engel bedeuteten immer etwas Gutes. Dann folgte sie dem Fluss entgegen der Strömung und hielt wachsam Ausschau.
Sie ging in die Hocke, als sie plötzlich Stimmen vernahm. Claire kauerte hinter einigen Büschen und fluchte leise, als sie einen Ast streifte. Doch die Stimmen kamen weder nä-her noch verstummten sie. Die Personen – sie nahm drei Stimmen wahr – hatten sie also nicht bemerkt.
Sie zitterte wieder am ganzen Körper und ihr Herz raste in ihrer Brust, als bereite es sich für einen Kampf vor. Oder eine Flucht, was vermutlich naheliegender war. Sie ballte die Hände zu Fäusten und umschloss einige Grashalme und rupfte an ihnen.
Die Stimmen näherten sich ihr langsam, aber sicher, doch noch waren die Personen – nein, Engel – dahinter in ihr Gespräch vertieft. Nun hörte sie noch eine vierte und sie fluchte mental. Vielleicht sollte sie kämpfen und nicht flie-hen. Die Biester hatten Flügel und waren um einiges schneller. Doch vier? Wie sollte sie gegen die ankommen? »Tearneyl wäre stolz auf uns«, erklang da eine Stimme di-rekt vor ihr und sie kauerte sich noch mehr zusammen, di-rekt hinter den Büschen, die wohl kaum genug Deckung boten. Sie wagte nicht mal, das Seelenmesser aus ihrer Ta-sche zu ziehen. Zuvor war sie zu geschockt gewesen, um daran zu denken. Nun traute sie es sich nicht mehr, weil es sie sicher verraten hätte.
»Aber er ist tot. Er ist nicht stolz auf uns.«
Claire zuckte zusammen. Eine der Stimmen schnappte er-schrocken nach Luft und gab ein leises Winseln von sich. Ein anderer schnaubte wütend. Sie hörte, dass sich mindes-tens zwei der Engel ruckartig bewegt hatten.
»Mag sein, dass er tot ist. Aber wir tun alles in seinem Na-men, oder nicht?«, knurrte ein anderer wütend.
»Ja – Ja, natürlich. Alles in Tearneyls Namen. Lang lebe Tearneyl.«
»Lang lebe Tearneyl.«
Die anderen stimmten mit ein, es wurde leise gemurmelt. Claires Herz sank noch weiter. Es waren weitaus mehr als
vier Engel, die dort standen. Und sie schienen wütend, so-gar aufeinander. Sie konnte sogar die Spitzen einiger Flügel ausmachen, wenn sie aufsah. Doch das traute sie sich kaum.
»Wirst du mir also nochmal widersprechen?«, fragte die wütende Stimme und sie klang noch immer scharf, doch zugleich eisig kalt. Erneut war ein leises Winseln zu hören und dann war es kurz still.
»Nein ... Nein, Theriesh …«, meinte der andere hastig. Er klang, als würde er langsam keine Luft mehr bekommen und das würgende Geräusch, das er machte, bestätigte nur Claires Annahme.
Im nächsten Moment war ein dumpfes Geräusch zu hö-ren, gefolgt von einem leisen Stöhnen.
»Jammer nicht so rum. Das hast du dir selbst zuzuschrei-ben. Jetzt kommt, wir haben nicht mehr lange Zeit. Folgt mir«, wies Teriesh an. Claire vermutete, dass er der Anfüh-rer der Gruppe war.
Sie hielt die Luft an und lauschte ihnen. Sie setzten sich in Bewegung und jeder einzelne Muskel in ihrem Körper spannte sich an, doch dann entfernten sich die Schritte langsam.
Sie seufzte leise und sackte in sich zusammen und bildete einen zitternden Haufen auf dem weichen Boden. Ihre Ge-danken rasten und sie dachte an das Gespräch zurück, das sie soeben belauscht hatte. Tearneyl … Der Name sagte ihr etwas. Bei ihrer Recherche über die Engel hatte sie einiges über ihn erfahren. Er war der Anführer des Himmels. Es hieß, dass er grausam war, doch die Engel waren immer seine treuen Untertanen gewesen. Schoßhunde, die taten, was man ihnen sagte. Jetzt war er wohl tot.
Kopfschüttelnd lehnte sie sich zur Seite und sah an den Büschen vorbei. Die Gruppe, eine große Gruppe, folgte dem Fluss entgegen dem Strom, so wie sie es zuvor getan hatte.
Claire zögerte für einen Moment und machte sich Gedan-ken über das Risiko. Doch die Gruppe schien ihre einzige Chance. Der Himmel sollte riesig sein, fast so groß wie die Erde, und sie hatte keine Karte, keine Anhaltspunkte. Wenn sie zu den Engeln wollte, musste sie wohl oder übel welchen folgen.
Sie zog das große Messer aus ihrer Tasche und zuckte, als die Klinge über das raue Material schabte. Ein Glück, dass sie nun niemand mehr hören konnte.
Erneut spähte sie an dem Busch vorbei und sie fluchte leise vor sich hin. Die wenigen Büsche am Wasser würden ihr wohl kaum die nötige Deckung bieten. Was sollte sie tun? Sie schlich hinter dem Busch hervor und kauerte auf dem Boden, wobei sie noch immer die Gruppe beobach-tete. Adrenalin rauschte durch ihren Körper.
Doch sie hatte keine andere Möglichkeit. Langsam wan-derte sie zu dem Wasser und ließ sich hineingleiten. Ihr Atem stolperte erneut, als sie sofort durchnässt und kalt war, doch gleichzeitig fühlte sie sich seltsam geborgen. Sie schüttelte das Gefühl ab und legte sich flach auf den Bauch. Der Fluss war nicht tief. Wenn sie sich streckte und den Kopf oben hielt, konnte sie gerade noch so atmen. Lang-sam robbte sie durch das Wasser, um der Gruppe zu fol-gen.
Plötzlich hörte sie einen erstickten Schrei und sie presste sich flach auf den Boden, mit ihrer Seite gegen die erdige Wand zu ihrer Rechten. Ein Busch war halb vor ihr, halb über ihr. Sie würde verdeckt bleiben.
Nur einen Moment später trieb erneut das sonst so klare Wasser mit verblasstem Blut an ihr vorbei.
Ibrahel
Ibrahel hielt eine schmale Feder in seinen zittrigen Händen, bevor er die Faust ballte und spürte, wie die Feder zerbrach. Seufzend ließ er sie los und starrte die drei Einzelteile an, die zu Boden flogen und sich dort einfach in Luft auflösten.
Er stand am Tor der Stadt, der Hauptstadt der Engel. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er dort verbracht, wenn er nicht gerade auf Mission war. Oder seine Gedanken im Wald zu sortieren versuchte. Dieses Mal war es alles andere als schön, friedlich oder ruhig.
Sein ganzer Körper war zittrig, doch er konnte es gut verbergen. Gut genug. Um ihn herum hatten sich einige Engel versammelt und sie warteten nur auf seinen oder Azriels Befehl. Letzterer war noch nicht da – zu spät, mal wieder – und Ibrahel wollte am liebsten einfach verschwinden. Die Gruppe ohne seinen ehemaligen besten Freund davon führen. Doch er wusste, dass das zu Fragen führen würde, und Fragen konnte er gerade nicht ertragen.
Als seine Hände außer Kontrolle gerieten, griff er hektisch nach zwei seiner Wurfdolche und umschloss die Griffe eisern, hielt sie fest in seiner Hand. Er beobachtete, wie das heftige Zittern langsam abebbte. Er hatte es gelernt. Es war fast schon ein Instinkt geworden, seine Bewegungen zu kontrollieren, wenn er eine Waffe in der Hand hielt. Beim Zielen zu zittern oder zu wackeln, bedeutete nahezu immer den Tod. Das konnte er sich nicht erlauben. Niemand konnte das.
»Seid ihr bereit?«
Ibrahel zuckte heftig zusammen und verkrampfte sich. Seine Finger gruben sich in seine Dolche und er zwang sich dazu, sich zu entspannen, bevor er die Waffen in seinen bloßen Händen zerbrach. Auch das gäbe zu viele Fragen. Schnell steckte er sie weg und sah auf. Azriel war neben ihn getreten, sein Kopf war nur leicht erhoben. Die anderen Engel schienen ihm bereits ihr Ja gegeben zu haben, denn nun starrte Azriel auf ihn und da lag eine Spur Erwartung in seinem Blick.
»Ja«, antwortete er. Dieses Mal war seine Stimme laut und kräftig. Er klang wieder mehr nach dem, der er einst gewesen war.
»Wir gehen«, fügte er hinzu und ohne ein weiteres Wort, ohne einen Blick zurück, breitete er seine Flügel aus und erhob sich in die Luft. Er hörte ein lautes Rauschen und schauderte. Das gemeinsame Flügelschlagen mehrerer Engel? Es war furchteinflößend.
Minuten später, vielleicht auch eine halbe Stunde, landete die Gruppe an einem klaren Fluss. Der Fluss hatte schon immer die nördlichste Grenze des Himmels gekennzeichnet. Dahinter war ... nichts als Verderben - das Reich der Kreaturen der Nacht, das Reich der Dämonen. Vielleicht würden sie ihnen eines Tages einen Besuch abstatten.