Foto: Paul Voie
Herstellung und Verlag:
BoD- Books on Demand GmbH, Norderstedt, Allemagne
ISBN: 9783753493060
© Kerstin Chavent
Bisher erschienen
Die Enthüllung. Neue Normalität oder neues Bewusstsein? Futurum 2021
Was wachsen will, muss Schalen abwerfen. Die Enthüllung eines Krustentieres, BoD 2021
Voyager Léger, BoD 2020
In guter Gesellschaft. Wie Mikroben unser Überleben sichern, Scorpio 2020
Sur la Place, BoD 2020
Nur Mut! Wenn wir uns verändern, verändert das die Welt, Rubikon-Betriebsgesellschaft 2019
Und freitags kommt der Austernwagen, BoD 2019
Die Waffen niederlegen. Die Botschaft der Krebszellen verstehen, Scorpio 2019
La feuille qui ne voulait pas tomber de l’arbre, BoD 2018
Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist. Zuversicht für eine neue Zeit, Europa-Verlag 2017
Traverser le miroir. De la peur du cancer à la confiance en la vie, L’Harmattan 2016
La maladie guérit. De la pensée créatrice à la communication avec soi, Quintessence 2014
Krankheit heilt. Vom kreativen Denken und dem Gespräch mit sich selbst, Omega 2014
Spanisch lernen mit guten Freunden. Ein besonderes Lern- und Wörterbuch, Kindle 2011
Für die Mutigen, die den Rubikon überschreiten
Seit Anfang 2018 engagiere ich mich ehrenamtlich für das unabhängige Internetmagazin Rubikon. Gemeinsam mit Elisa Gratias und Isabelle Krötsch bin ich für die Redaktion Aufwind verantwortlich. Hier werden Texte veröffentlicht, die in einer Zeit des grundsätzlichen Wandels Mut machen, zuversichtlich zu bleiben. Ende 2019, kurz vor Ausbruch der Corona-Krise, erschien das gemeinsame Buch Nur Mut. Wenn wir uns verändern, verändert das die Welt. Es ist eine Auslese wegweisender Artikel und eine Einladung, den Wandel in aktiver Weise mitzugestalten.
Wind unter den Flügeln ist eine Sammlung meiner Texte. Auch sie möchten vor allem eines: Mut machen. Es ist kein Sonntagsspaziergang, sie zu lesen. Keine gut gemeinten Ratschläge und Tipps sagen, wo es langgeht. Es geht nicht darum, sich damit zu trösten, dass alles irgendwann vorbei und die Welt eine bessere ist. Es ist kein Versüßen der Zeit des Abwartens, sondern die Konfrontation auch mit unbequemen Wahrheiten. Meinen Wahrheiten. Sie entspringen meiner Erfahrung und reflektieren, wie ich die Welt erlebe. Sie erheben keinen Anspruch auf Objektivität und wollen vor allem dazu anregen, sich mit dem eigenen Denken und Fühlen auseinanderzusetzen.
In einem lebendigen Kommunikationsprozess bringe ich aus mir heraus, was gesagt werden will. Auch wenn ich mit meinen Worten bisweilen provoziere: Meine Absicht ist es nicht, zu brüskieren oder gar zu verletzen. Es ist mein aufrichtiges Streben, einen Beitrag dafür zu leisten, dass wir in Harmonie und Frieden zusammenleben. Mit meinem Leben setze ich mich dafür ein, dass die verlorenen Verbindungen wieder aufgenommen werden: zu uns selbst, zu unseren Nächsten und zur Natur, die ein Teil von uns ist. Hier gibt es neben blühenden Wiesen und fruchtbaren Ebenen auch dunkle Wälder, reißende Flussläufe und trockene Steppen. Es gibt schroffe Felsen, Morast, in dem wir versinken können und Gestrüpp, das uns gefangen hält. Es gibt Stürme und Gewitter, Hagel und Wolkenbrüche und immer wieder Sonnenschein. Alle zusammen machen das Leben zu einer abenteuerlichen Herausforderung, die uns bisweilen aufwühlt und durchschüttelt. In diesen Momenten wissen wir, dass die Dinge gerade dabei sind, in ein neues Gleichgewicht zu finden.
Immer dann, wenn wir uns besonders getroffen fühlen, sind wir besonders betroffen. Was uns trifft, das betrifft uns. Hier haben wir etwas zu klären. Hier wurde ins Schwarze getroffen. Ich wünsche mir, dass wir hier nicht stehenbleiben, sondern dass wir weitergehen durch den dunklen Wald. Die Auflösung dessen, was uns zu schaffen macht, finden wir nicht dort, wohin die Scheinwerfer leuchten, sondern da, wo es am Dunkelsten ist. Hier müssen wir hindurch. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie es ist, durch die Dunkelheit zu gehen. Ich kenne das Gefühl der Beklemmung, der Orientierungslosigkeit, der Enttäuschung und auch der Hoffnungslosigkeit. Ich weiß, wie es ist, wenn alle Stricke reißen. In diesen Passagen, so habe ich es für mich entschieden, versuche ich, fliegen zu lernen. Ich übe mich darin, von außen kommende Zwänge dazu zu benutzen, mich innerlich zu befreien.
Damit der Befreiungsprozess kollektiv gelingt, müssen wir lernen zu akzeptieren, was ist – um dann unsere Aufmerksamkeit dem zuzuwenden, was unsere Vision für ein besseres Leben ist. Füttern wir nicht die alte, zerstörerische Matrix mit unserem Protest. Trocknen wir sie aus. Verschwenden wir nicht unsere Energie damit, gegen Windmühlen anzukämpfen, sondern machen wir innerlich die Leinen los. Lassen wir hinter uns, was uns hart und schwer macht und uns daran hindert, unser Höchstes und Schönstes zu leben.
Hierzu möchten meine Texte ermutigen. Ich wünsche mir, dass sie auf offene Herzen und fruchtbare Böden treffen. So stelle ich mir vor, wie hinter der dunklen und engen Passage, die wir gerade kollektiv durchqueren, bunte Wiesen entstehen, auf denen unzählige Wahrheitsblumen wachsen, eine ebenso schön wie die andere. Der Wind streift durch Gräser und Blätter, in den Bäumen singen Vögel und durch die Wolken strahlt eine alles durchdringende Sonne, die uns ein neues Leben schenkt.
Puilacher, Frankreich, im Sommer 2021
An der voranschreitenden Zerstörung unseres Planeten zeigt sich die Orientierungslosigkeit, von der wir uns haben erfassen lassen. Die Lösungen für unsere Probleme, ob individuell oder kollektiv, können nicht von außen kommen. Sie entspringen der Bereitschaft jedes einzelnen, Verantwortung für seine Haltung und sein Handeln zu übernehmen.
Forscher wie Stephen Hawkins geben unserer Zivilisation noch 100 Jahre. Dann soll es vorbei sein mit der Menschheit. Wenn wir so weiter machen. Der französische Filmemacher Yann Arthus Bertrand erwidert, dass es zu spät ist, um pessimistisch zu sein. Wir brauchen Hoffnung und Ermutigung, um uns nicht in Ohnmacht, Schuldzuweisungen, Wehklagen oder Sarkasmus zu verlieren. Keine Flucht in irgendwelche künstlichen Paradiese, keine blutige Revolution, die doch nur den Mächtigen zuspielen würde, und kein schulterzuckendes Zurückziehen in unsere Wohlstandsblasen können uns aus dieser gigantischen Krise befreien. Niemand wird uns aus dem Schlamassel, den wir alle zusammen angerichtet haben, retten: kein Politiker, kein Wissenschaftler, kein Star, kein Gott, keine Technik. Die Lösung unserer Probleme wird nicht von außen kommen. Sie kann nur aus uns heraus kommen.
Martin Luther King, Gandhi, Nelson Mandela: alle großen politischen Führer unserer Zeit wussten, dass der Wandel, den wir uns wünschen, zuerst in unserem Inneren stattfinden muss, bevor sich in der Welt etwas ändern kann. Nur wenn wir das Problem annehmen und uns in seine Dunkelheit hineinwagen, können wir unser Seelenlicht, wie Clarissa Pinkola Estés es nennt, in sie hineintragen. Eine einzige Kerze reicht aus, einen ganzen Raum zu erleuchten. Millionen haben die ihre bereits angezündet. Niemals zuvor in unserer Zivilisation haben sich so viele Menschen für das Wohl aller engagiert. Überall auf der Welt erwachsen mutige und klarsichtige Initiativen, die sich für den Schutz des Lebendigen einsetzen.
In den großen Medien wird davon nur selten gesprochen. Es liegt im Sinne derer, die von dem kranken System profitieren, die Menschen misstrauisch zu machen und gegeneinander aufzubringen. Seit jeher besitzen jene die größte Macht, die sich der Angst der Menschen zu bedienen wissen. Ihnen nützt es, wenn wir glauben, wir seien schwach, von Grund auf schlecht und einer dem anderen ein Wolf. Denn was würde geschehen, wenn wir uns von unserer Angst befreien würden? Wenn jeder erkennen würde, wer er ist und welche Möglichkeiten in ihm stecken? Wenn wir, zu unserer vollen Größe aufgerichtet, unsere Seelenlichter anzünden und auf dem dunklen Ozean sichtbar würden? Wenn wir uns zusammenschließen würden?
Niemand würde mehr die Lösungen für seine Probleme einkaufen und damit versuchen, die innere Leere mit Besitz, Komfort, Absicherungen, Tand und billigem Amüsement zu füllen. Niemand würde mehr andere manipulieren, unterdrücken und ausbeuten. Wer die Zusammenhänge erkennt würde nicht mehr die Natur zerstören, Tiere unter abscheulichen Bedingungen halten und in jeder Hinsicht versuchen, das Lebendige zu dominieren. Vor allem aber würde niemand mehr an der allgemeinen Orientierungslosigkeit und Ohnmacht verdienen. Das jahrtausendealte Gesellschaftsmodell der Pyramide würde von ganz alleine in sich zusammensinken. Wenn wir nur von unserer Fähigkeit Gebrauch machten, unsere eigene innere Dunkelheit auszuleuchten.
Eigentlich wollen wir immer nur das Eine: Ein erfülltes Leben. Schauen wir uns die einzelnen Aspekte an, bedeutet das, wir möchten gesund sein, eine wunderbare Beziehung führen, Freunde, mit denen wir Spaß haben und auf die wir uns verlassen können, ein harmonisches Familienleben, Frieden in der Nachbarschaft, einen interessanten Job und genug Geld für ein paar Reisen im Jahr. Glücklich sein eben. Doch nur wenige scheinen zu leben, was sich alle wünschen. Geben wir uns nicht genug Mühe?
Niemand will unglücklich sein und arm und krank in einer düsteren Ecke vereinsamen. Alle wollen wir, dass es uns gut geht und wir glücklich sind, oder doch wenigstens sehr zufrieden. Oft laufen wir dem Glück hinterher und versuchen, es einzufangen. Wir wollen es erobern, erhaschen, erkaufen, aushandeln und strengen uns dafür gewaltig an. Das, was wir im Gegenteil nicht wollen, was uns Angst macht oder wir als bedrohlich empfinden, bekämpfen wir, schieben es weg oder ignorieren es. So regelt es der Teil unseres Gehirns, den wir von unseren Vorfahren, den Reptilien, geerbt haben: angreifen, weglaufen oder sich tot stellen.
Was uns Probleme bereitet, hat für uns keinen Sinn. So glauben wir. Trennung, Entlassung, Krankheit, Unfall, Konflikt, Verlust – diese Dinge wollen wir möglichst nicht erleben. Die kleinen Unannehmlichkeiten des Alltags machen uns das Leben schließlich schon schwer genug. Also bitte nicht auch das noch. Und so versuchen wir eben, möglichst weit wegzuschieben, was wir nicht haben wollen. Doch es ist wie verflixt: Kaum glauben wir, eine unangenehme Sache losgeworden zu sein, steht schon die nächste vor der Tür. Wir versuchen, die Tür möglichst gut verschlossen zu halten und verbarrikadieren uns dahinter. So meinen wir, verhindern zu können, dass uns das erreicht, was wir im Leben nicht haben wollen. Doch meistens funktioniert das nicht. Wenn wir die Tür geschlossen halten, kommt das Problem früher oder später zum Hinterfenster hinein.
Und wenn wir einmal umdenken und die Tür aufmachen? Wenn wir nicht mehr von uns weisen, was wir nicht wollen, sondern versuchen, es anzunehmen? Wenn wir nicht mehr fliehen, sondern auf das Problem zugehen? Wenn wir also nicht mehr nur auf die Dinge reagieren, sondern von uns aus ins Handeln kommen?
Bei meiner Erfahrung mit Krebs war die Entscheidung, die Tür zu öffnen und auf das zuzugehen, was mir passierte, der Beginn meiner Heilung. Ich war nicht mehr das Opfer, mit dem etwas geschah und das hilflos einem gemeinen Schicksal oder einem blöden Zufall und ausschließlich den Kompetenzen anderer ausgesetzt war. Mit der Öffnung konnte ich die Sache in die Hand nehmen. Die ganze Sache. Nicht nur einen Teil davon. Indem ich alles annahm, so wie es in dem Moment eben war, konnte ich beginnen, aus der Situation Kraft zu schöpfen.
So wandelte sich die Katastrophe: Das Monster entpuppte sich als eine Art Entwicklungshelfer. Wie nah gut und schlecht zusammenliegen können! Ich erfuhr, wie schnell sich das Blatt wenden kann und die Geschichte in eine andere Richtung weiter geht. Das, was sich bisher auszuschließen schien, waren zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das eine gab es nicht ohne das andere. Die Dinge waren nur im Doppelpack zu haben.
In meinem Alltag erlebe ich immer wieder, dass erst dann Frieden einkehrt, wenn ich die Dinge nicht von mir stoße, wie abscheulich sie mir auch auf den ersten Blick erscheinen mögen. Wenn ich fliehe, verfolgt mich die Sache weiter in meinen Gedanken und Träumen und heftet sich an meine Fersen. Sie bekommt schließlich viel Macht über mich. Nur wenn ich wage, mir das Ungewünschte anzuschauen und es so zu nehmen, wie es ist, lässt es mich letztlich in Ruhe.
Nur das Eine haben zu wollen, das „Gute“, führt letztlich zu Stress, Angst, Unzufriedenheit, Unglück. Mit Argusaugen machen wir unsere Ziele und die Objekte unserer Begierde aus und jagen ihnen hinterher, ohne jemals zur Ruhe zu kommen. Denn an der nächsten Ecke lauert ja bereits die Gefahr, die uns das Angestrebte wieder entreißen könnte. Nur wer seine Tür offen hält und alles empfängt, was in sein Leben tritt, befreit sich von der Angst. Denn Monster überleben nur im Dunkeln. Wer die Dinge anschaut, schickt sie ins Licht. So konnte bei mir aus einem Tumor ein Botschafter werden, der mir mitteilte, was in meinem Leben schief lief und wo ich besser auf mich aufpassen sollte. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich ihm die Tür vor der Nase zugeknallt hätte. Ich weiß nur, dass ich jetzt bestimmt nicht hier sitzen und schreiben würde.
Kontrolle oder Vertrauen? Trennung oder Verbundenheit? Angst oder Liebe? Das ist hier die Frage. Wer sich der Alternativen nicht bewusst ist, der kann sich nicht entscheiden – und dann entscheidet unser Ego für uns. Es will immer, dass wir vor anderen und vor uns selbst „gut dastehen“ und hält uns in Angst vor dem Verlust von Anerkennung. Machen wir Schluss mit dieser Schreckensherrschaft!
„Die Sorge um uns selbst wie um andere kann manchmal eine Ausdrucksform des Ego sein, das sagt: Siehst du? Ich bin ein guter Mensch. Ich bin verantwortungsbewusst, ich bin fürsorglich. Tatsächlich aber ist diese Besorgnis nur eine Verschleierung unserer Angst. Die Sorge um andere macht Angst nicht nur akzeptabel, sie lässt sie als etwas Edles erscheinen. Aber die Wahrheit lautet: Die Fürsorge für andere ist Liebe. Die Sorge um andere ist Angst“ schreibt die amerikanische Autorin Debra Landwehr Engle.
Niemand weiß, sich besser zu tarnen, niemand kommt trickreicher daher und niemand vermag, sich so gut in den tiefen Schichten meiner Persönlichkeit zu verstecken wie mein Ego. „Sieh her“, säuselt es mir zu, „wie gut ich bin. Ich denke immer zuerst an die anderen. Ich will niemanden verletzen und sage daher nicht, was ich wirklich denke. Der andere könnte mich ja für ungehobelt halten und denken, ich sei zu direkt, zu schroff, zu extrem, zu laut, zu ungebildet, zu anmaßend, zu viel dies und zu wenig das.“ Ich will möglichst gut dastehen vor dem anderen, ob guter Freund oder flüchtiger Bekannter. Ich will, dass er mich respektiert und achtet und Gutes von mir denkt. Und so poliere ich mit Hilfe meines Ego mein Image auf Großzügigkeit, Toleranz, Klarsicht, Gerechtigkeit, Klugheit, Geschick, Liebenswürdigkeit, Stärke. Ich will gemocht werden. Und ich brauche es, dass man mich bestätigt. Dafür bin ich bereit, je nach Situation eine bestimmte, immer wieder andere Rolle zu spielen.
Als Gegenleistung dafür erhoffe ich mir die Anerkennung, die ich mir wünsche. Geschieht dies nicht, geht es mir nicht gut. Doch daran ist dann der andere Schuld. Er hat meine Qualitäten nicht erkannt. Wegen dieser Verletzung wetze ich meine Messer. Nun ist es mir egal, was der andere von mir denkt. Wenn er meine Blumen nicht will, bin ich bereit, Gift und Galle auf ihn zu spucken. Und so gibt es keinen Ehekrach, keine Familienfehde, keinen Streit unter Freunden, in denen das Ego nicht die erste Geige spielt. Es schmollt, es zieht sich beleidigt zurück, es rechnet auf, es trägt nach, es kalkuliert. Es will die Situation beherrschen und setzt alles daran, seine Macht weiter auszubauen, auch wenn sie auf Schwäche beruht. Es identifiziert sich über seinen Besitz, über das, was es hat, und es hat immer den Eindruck, dass ihm etwas fehlt.
Das Ego manipuliert, es lügt, es betrügt, es unterdrückt. Es macht andere klein, um sich selbst dabei größer zu fühlen. Es will die alleinige Kontrolle, es will siegen. Es will keine Gemeinsamkeit, keine Liebe, kein Licht. Es will alleine im Dunkeln herrschen. Es gaukelt mir vor, mit ihm auf der sicheren Seite zu stehen. Es erzählt mir etwas von Vernunft, Intelligenz und Verstand. Doch es hat vor allem Angst, dass ich es nicht mehr so wichtig nehme. Deshalb baut es sich in meinem inneren Universum auf wie ein General in Uniform, mit blitzblank polierten Stiefeln. Es schlägt die Hacken zusammen und gibt mir unaufhörlich Befehle. Es plustert sich auf und frohlockt, wenn ich ihm wieder einmal auf den Leim gegangen bin.
Dabei ist es so einfach, ihm seine Macht zu nehmen. Es existiert ja nur, weil ich daran glaube. Wenn ich mich nun dazu entschließe und zum Beispiel zu ihm sage: «Liebes Ego, es ist ja schön, dass es dich gibt. Du tust mir bisweilen auch gute Dienste, aber du gehst jetzt mal auf den Hintersitz und ich nehme das Steuer in die Hand,“ dann wird es ganz kleinlaut und kann gar nichts dagegen tun.
Ich habe immer die Wahl zu entscheiden, wem ich das Steuer in die Hand gebe: der kalt kalkulierenden Stimme meines Ego oder meiner warmen Herzensstimme. Die eine strebt nach Trennung, die andere nach Verbundenheit, eine nach Kontrolle, die andere nach Vertrauen, eine nach Selbstdarstellung, die andere nach ehrlicher Kommunikation und authentischen Beziehungen.
Was andere von mir denken und wie sie sich verhalten, hat allein mit ihnen zu tun. Ich trage die Verantwortung für meinen Teil meiner Beziehungen. Nur das, was ich in meiner Hand halte, kann ich gestalten. Mag es da draußen stürmen und toben, ich habe die Macht, meinen inneren General ins Bett zu schicken und in mir ein wohliges Feuerchen anzuzünden, um mich an ihm zu wärmen.
Auf den virtuellen Meinungsplattformen herrscht ein rauer Ton und fegt ein kalter Wind. Andersgedachtes wird kritisiert, heruntergespielt, lächerlich gemacht, zerrissen, zerstampft. Was sich im Verbalen ausdrückt, findet sein Echo in den Ereignissen. Wenn wir wollen, dass sich die Lage beruhigt, ist es an der Zeit, unsere Art, miteinander zu kommunizieren, zu hinterfragen.
Seid doch einfach ein bisschen netter zueinander – so soll Aldous Huxley auf die Frage geantwortet haben, wie sich die Welt zum Besseren wenden könne. Das klingt gut und eigentlich ganz einfach. Ich bin nett, wenn man nett zu mir ist. Wenn man mit mir einer Meinung ist, wenn man mir die Vorfahrt lässt, die Tür aufhält oder etwas Angenehmes sagt. Kein Problem. Aber wehe, man drängelt mich ab, tritt mir auf die Zehen oder vertritt eine andere Meinung als ich! Wie kann der nur so denken!? Wo hat der denn die Informationen her? Womöglich ist der gar nicht umfassend aufgeklärt. Viel zu einseitig, zu verallgemeinernd, zu radikal, zu angepasst, zu rechts, zu links, zu naiv, zu subjektiv. Ich sehe das ganz anders. Ich informiere mich über die richtigen Quellen. Ich weiß, was richtig ist und was falsch. Ich habe den Überblick.
Der andere sieht das genauso. Nur andersrum. Und so kommt es, dass Menschen, die eigentlich alle dasselbe wollen – friedlich in einer gesunden Umgebung zusammenleben – in die Meinungsschlacht ziehen, aufeinander losgehen und ihre Argumente wie Pfeile aufeinander abschießen. Erbarmungslos wird der Gegner auseinandergenommen. Es wird interpretiert und analysiert, attackiert und gerechtfertigt, beschimpft, zerrissen und in Grund und Boden gestampft, was uns nicht passt. Und dann wundern wir uns darüber, dass diese Welt nicht in den Frieden findet und dass es überall Manipulation, Geringschätzung, Unterdrückung und Zerstörung gibt.
Unsere sozialen Netzwerke und virtuellen Meinungsplattformen sind mit Tretminen verseuchte Landschaften, Krisengebiete, in denen wir uns erbitterte Grabenkämpfe und Scharmützel liefern. Und während wir uns in der Schlacht um die richtige Meinung verausgaben und entzweien, nehmen andere das Steuer in die Hand und lenken die Geschicke unserer Welt dorthin, wo wir nicht hinwollen.
Themen, die die Zwietracht nähren, gibt es genug: von Artensterben über Chemtrails, Impfpflicht, Klimawandel und Krebsbehandlung bis Zuwanderung. Wie eine wildgewordene Meute stürzen wir uns auf die oft gegensätzlichen Informationen und bezichtigen jeden, der in anderen Bahnen denkt als wir, als Verschwörungstheoretiker. Während wir so abgelenkt sind und uns darüber streiten, ob der ersehnte Wandel nun von innen oder von außen kommt, während wir uns gegenseitig vorwerfen, nicht genug zu demonstrieren oder zu meditieren, während wir die anderen kritisch beäugen, ob sie ihren Müll auch richtig trennen, politisch korrekt einkaufen und Urlaub machen, werden die großen, uns alle betreffenden Entscheidungen über unsere Köpfe hinweg getroffen.
Ja: Wären wir nur ein bisschen netter zueinander, würde sich das sofort ändern. Wir würden die Empfindlichkeit, die Verletzlichkeit und die Menschlichkeit im anderen besser erkennen. Es würde uns leichter fallen zu respektieren, dass er entsprechend seines Erlebens, seiner Erfahrung und seiner aktuellen Situation einen anderen Blickwinkel hat als wir, ob der uns nun passt oder nicht. Wir würden nicht mehr versuchen, andere zu bekehren. Wir würden nicht mehr genau das machen, was wir den machthabenden Kontrollorganen vorwerfen: zu versuchen diejenigen, die nicht mit uns einer Meinung sind, plattzumachen oder zu manipulieren und notfalls auch mit Gewalt, sei sie auch „nur“ verbal, in die entsprechende Richtung zu drängen. Nichts anderes ist es ja, jemand anderen dorthin zu lenken, wo er von sich aus nicht hin will.
Wenn wir nur etwas netter zueinander wären, dann würden die Meinungsschlachten langsam aufhören und wir hätten die Hände frei zum Steuern. Wir würden nicht mehr ständig danach gucken, was beim anderen verkehrt läuft und was er nicht verstanden hat, sondern uns um unser eigenes Verhalten kümmern. Wir würden nicht mehr die Träume und Visionen anderer als unrealisierbar und lächerlich abtun, sondern unsere eigenen Träume und Visionen entwickeln und versuchen, sie in die Tat umzusetzen. Das ist eigentlich ganz einfach. Wir müssten uns nur daran erinnern, was uns als junger Mensch begeistert hat, bevor die Erwachsenenwelt uns die Flügel verbrannt hat: das kann doch nicht funktionieren, das bildest du dir doch nur ein, sei nicht so naiv. Wenn wir uns an die Zeit erinnern, in der wir noch aus uns heraus geschöpft haben und in der wir noch Phantasie hatten, dann können Ideen neu zum Leben erweckt werden, die uns heute weiterbringen können.
Damals war die Grenze zwischen Vorstellung und Realität noch nicht klar gezogen. In ihrer Kindheit wussten zumindest die, die ihre Zeit nicht drinnen hinter Bildschirmen, sondern draußen mit anderen Kindern verbracht haben, dass spielen besonders Spaß macht, wenn viele da sind und es möglichst bunt ist. Damals konnten wir noch ungezwungen aufeinander zugehen und uns einladen, tolle Sachen zu machen. Auch wenn wir das heute vergessen zu haben scheinen: Es ist die Vielfalt, die die Welt bunt macht und die sie aus der Zerstörung herausführen kann. Ob in biologischer oder in gesellschaftlicher Hinsicht. Mag also jeder denken und träumen, was er will. Mag jeder in Gedanken seine Wolkenschlösser bauen und Ideen entwickeln, in allen Farben des Regenbogens, ohne dass sofort jemand mit der Sense der Machbarkeit und Korrektheit kommt und alles wieder niedermäht. Das Entscheidende dabei ist, dass wir es wagen, in einer Zeit wie der unsrigen Visionen zu haben.
Dazu brauchen wir die Freundlichkeit und das Wohlwollen der anderen. Wenn wir nicht möchten, dass diejenigen, deren Machenschaften wir enthüllen und deren Treiben wir ein Ende bereiten wollen, die Oberhand behalten, müssen wir dazu bereit sein, offener aufeinander zuzugehen.
Wunderbar: Wir denken verschieden! Wir sind verschieden! Hierbei können wir es belassen. Es geht nicht darum, Recht zu haben und andere zu bekehren, das auch so zu sehen. Es geht um das Erkennen, dass wir wirklich in Vielfalt geeint sein können. Auf der politischen und der wirtschaftlichen Ebene mag das Motto der Europäischen Union gescheitert sein. Doch nicht auf der menschlichen. Wir sind dazu in der Lage, Andersartiges, Andersdenkende und Andersseiendes zu akzeptieren und uns miteinander zu verbinden, gerade weil es anders ist.
Dazu braucht es nichts weiter als die Bereitschaft, zunächst bei sich selbst zu schauen: Was will ich in meinem Leben? Wofür stehe ich? Was lässt mich vibrieren? Woraus schöpfe ich meine Hoffnung? Dann muss ich nicht mehr versuchen, andere zu demontieren, sondern kann selbst einen Beitrag dazu leisten, dass diese Welt ein wenig bunter wird. Das ist meine Meinung. Aber das kann man auch anders sehen.
Während eine Zivilisation ihrem Ende entgegentaumelt, hoffen viele auf einen Retter. Mit dieser Haltung bleiben wir in unserer Opferrolle verhaftet, verurteilen uns selbst zur Ohnmacht und nähren eine zerstörerische Vorstellung: den Glauben, durch unser Eingreifen natürliche Prozesse „verbessern“ zu können. Doch der Planet braucht uns nicht. Anstatt weiter unsere Finger mit ins Spiel zu bringen und der Natur unseren Stempel aufzudrücken, sollten wir uns ihren Gesetzen beugen und sie in ihr eigenes Gleichgewicht zurückfinden lassen.
Es sieht schlecht aus. Unsere alte Welt wankt. Schnell noch, bevor es zu spät ist, buchen diejenigen, die es sich leisten können, ihren Urlaub dort, wo die Natur noch einigermaßen in Ordnung ist. Am anderen Ende der Welt. Bei uns – das merken mittlerweile auch die Hartnäckigsten – sterben die Insekten, singen immer weniger Vögel in den Vorgärten und reduzieren Hitze und Dürre das Obst- und Gemüsesortiment selbst in den Supermärkten.
Verzweifelt wird versucht, das Räderwerk, das die globale Zerstörungsmaschinerie in Gang hält, zum Stoppen zu bringen. Wir demonstrieren und meditieren gegen das Unrecht an und entwickeln Ideen, wie wir die Ozeane wieder von unserem Plastik befreien und die Wüsten, die wir geschaffen haben, wieder fruchtbar machen können. Doch die Bedrohung baut sich immer deutlicher vor unseren Augen auf: Es sieht tatsächlich so aus, als gerate unsere Zivilisation ins Taumeln.
Bleibt uns denn nur, den Kopf in den Sand zu stecken und darauf zu warten, dass wir oder unsere Kinder und Enkelkinder an Überhitzung, Wassermangel, Fehlernährung, Antibiotikaresistenz oder einer der unzähligen, sich epidemisch ausbreitenden Krankheiten dahingerafft werden? Löscht nicht die wachsende Bedrohung durch globale Konflikte jede noch verbleibende Hoffnung aus?
Gibt es noch einen Ausweg für uns Menschen und für die Pflanzen und Tiere, die mit uns diesen Planeten bewohnen und die mehr als wir noch die Auswirkungen unseres zerstörerischen Handelns zu spüren bekommen?
In seinem Buch „Der Zorn“ beschreibt Denis Marquet die letzten Momente der Menschheit. Wie ein Hund, der sich vom lästigen Ungeziefer befreit, schüttelt sich die Erde und wirft ab, was sie piesackt. Tsunamis, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Epidemien, Haustiere, die sich gegen ihre Besitzer richten, Pflanzen, die für Menschen ungenießbar werden – so wird die Menschheit langsam von der Natur eliminiert. Schließlich richten sich auch die Mikroben, die kleinsten und ältesten aller Lebewesen des Planeten, gegen ihren Wirt. Währenddessen versucht das Militär, die Schlacht für sich zu entscheiden. Es wird geplant, das restliche Leben auf der Erde vollends zu vernichten und durch künstliches zu ersetzen ...
Tatsächlich scheint es sich auch so abzuzeichnen. Seit Langem werden Lösungen angedacht wie das Schaffen künstlichen Lebens oder das Ausweichen auf andere Planeten. Bis es soweit ist, sichern sich die Eliten, die die Welt in die Zerstörung treiben, Überlebensplätze in den luxuriös aufbereiteten Bunkern der letzten Weltkriege. Ab 35.000 Dollar pro Jahr kann man sich heute seinen Platz sichern. Eine lukrative Geschäftsidee.
Bleibt denen, die nicht in diese Bunker hinein können, nur die Hoffnung auf Bruce Willis? Auf einen Weltenretter, der eine Sekunde vor Mitternacht das Steuer herumreißt und doch noch alles zum Guten wendet? Welches Bewusstsein nährt die Vorstellungen eines Szenarios, in dem einer sich zum Retter aufschwingt? Welche Last legen wir auf unsere Schultern, wenn wir es uns selbst zur Aufgabe machen, die Welt zu retten? Doch ist unsere Welt überhaupt zu „retten“?
Der Ruf nach einem Retter impliziert, dass es auf der anderen Seite ein Opfer gibt. Opfer sind machtlos, ohnmächtig dem Geschehen ausgeliefert. Man kann mit ihnen machen, was man will. Wie Figuren auf einem Spielbrett kann man sie hin und her schieben. Man kann sie beliebig ein- und ausschalten. Doch vorher kann man noch an ihnen verdienen, indem man ihnen allen möglichen Tand verkauft: technologische Spielereien, Vergnügungen, Betäubungsmittel, Gadgets, Versprechungen – alles, was das vermeintliche Opfer daran glauben lässt, dass es noch eine Chance hat.
Ich habe beschlossen, mich nicht als Opfer zu sehen. Ich war nicht das Opfer meiner Krankheit, und auch nicht das Opfer sonstiger Lebensbedingungen. Niemand bekommt mehr von mir das Recht, über mich zu herrschen. Ich bestimme über mein Leben. Ich bin Souverän in meinem inneren Reich und entscheide, wie ich mit den Dingen umgehe. Ich halte die Fäden für meine Stimmungen, meine Gefühle, meine Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen in der Hand. Niemand anderes ist dafür verantwortlich als ich selbst.
Auf der anderen Seite bin ich nicht dafür verantwortlich, wie andere in ihrem inneren Reich herrschen und wie sie sich verhalten. Jeder entscheidet selbst, wie er mit einer Situation umgeht. Es liegt nicht in unserer Macht, hier einzugreifen. Das weiß jeder, der schon einmal versucht hat, einen anderen Menschen zu ändern. Ich kann also aufhören, mich darüber aufzuregen, was die anderen alles verkehrt machen oder nicht begreifen und mich ausschließlich darum kümmern, worauf ich Einfluss habe: mich selbst.
Ich will also nicht auf einen Retter von außen warten. Könnte ich selbst dieser Retter sein? Was für eine Aufgabe! Was für eine Anmaßung! Was für eine ungeheure Last! Wer würde im Angesicht dieser Herausforderung nicht umgehend den Kopf einziehen und entmutigt in sich zusammenfallen – es sei denn, er ist komplett größenwahnsinnig und damit vor allem am Ausbau seiner eigenen Macht interessiert?
Es bleibt mir, den Gedanken an eine Rettung aufzugeben. Die Welt braucht keinen Retter. Sie braucht niemanden, der immer wieder in sie eingreift, der kontrolliert und manipuliert und versucht, die Dinge nach seinen Vorstellungen zu formen. Es war ja gerade der Glaube, wir könnten die natürlichen Prozesse sozusagen „verbessern“, der uns in die Zerstörung geführt hat. Allem haben wir versucht, unseren Stempel aufzudrücken. Wir haben die Gesetze der Natur nicht geachtet und versucht, ihr unsere Gesetze aufzuzwingen. Und so stehen wir heute mit einem Bein im Abgrund und riskieren, dass es auf diesem Planeten in absehbarer Zeit ohne uns weitergeht.
Ersparen wir der Erde unsere Ideen für ihre Rettung! Im Laufe der Jahrmilliarden hat sie sich ganz gut selbst geholfen. Sie braucht unser Eingreifen nicht. Wie jeder lebendige Organismus hat der Planet die Fähigkeit, wieder von ganz allein in sein Gleichgewicht zurückzufinden. Wenn wir ihn nur lassen. Hören wir also als erstes auf, auf unseren Fortschritt zu bauen und damit den Irrglauben zu nähren, wir könnten es besser machen als die Natur. Fangen wir an, uns ihren Gesetzen zu beugen und ihre Ordnung zu achten. Räumen wir unsere Kinderzimmer auf und werden wir erwachsen. Lösen wir uns aus diesem Jahrtausende währenden Hickhack im Opfer-Täter-Retter-Spiel, aus den Hierarchien der Pyramiden, in denen die Oberen sich so von der Basis abgetrennt haben, dass sie jegliche Verbindung zu ihr verloren haben. Befreien wir Eva aus ihrer Schuld, Adam aus der Illusion seiner Überlegenheit und beide aus ihrem zerstörerischen Gegenspiel. Bringen wir das, was sich bisher gegenüberstand, zusammen.
Lassen wir uns nicht weiter gegeneinander aufbringen. Steigen wir aus unserer vermeintlichen Ohnmacht aus. Wir können die Welt nicht retten. Doch wir können für uns selbst zum Retter werden. Wir können uns auf das ungeheure Potenzial besinnen, das in uns steckt. Nicht unsere Fähigkeit, immer wieder neue Maschinen zu erfinden und die Dinge durch unsere Taten zu bewegen, sondern die Fähigkeit, auch mit unserem Geist Einfluss zu nehmen. Verbinden wir uns in unseren Gedanken und in unseren Herzen miteinander. Erkennen wir im anderen unseresgleichen, unseren Bruder und unsere Schwester, egal, welcher Kultur er angehört oder welche Meinung er vertritt. Lassen wir uns nicht in der Diskussion zermürben, was zuerst da war und was den Ton angibt: Sein oder Bewusstsein, Materie oder Geist, Huhn oder Ei. Beide Dimensionen machen zusammen das Lebendige aus, das wir sind.
Lassen wir uns nicht weiter erzählen, real sei nur das, was wir anfassen, sehen, hören oder riechen können. Beschränken wir uns nicht auf unsere fünf Sinne, sondern öffnen uns für das, was wir immer schon wissen und was auch unsere Wissenschaft seit Beginn des letzten Jahrhunderts offensichtlich macht: Unser Universum ist Energie. Alles, was von uns ausgeht – ob Taten oder Worte und Gedanken – nimmt Einfluss auf unsere Realität.
Halten wir es, wie wir wollen. Meditieren wir, beten wir, unterschreiben wir Petitionslisten, gehen auf Demonstrationen, schreiben Artikel, laden unsere Nachbarn zum Essen ein, spenden, kaufen bewusst (nicht) ein, pflegen unseren Garten, helfen mit in humanitären Projekten. Egal, was wir tun: Tun wir es in dem Bewusstsein, die Verbindungen wiederherzustellen. Machen wir das, wohin es uns alle natürlicherweise immer wieder zieht: mit anderen zu teilen, uns nützlich zu machen und den Dingen einen Sinn zu geben.
Erheben wir uns nicht mehr über die, von denen wir glauben, sie würden sich nicht genug oder nicht richtig engagieren. Jeder tut, was er kann und was seinem Wesen entspricht. Ich für meinen Teil arbeite daran, in Frieden mit mir zu sein und im Alltag mich selbst, andere und meine Umgebung zu respektieren. Damit bin ich gut beschäftigt. Ob es zu spät ist für diese Welt oder nicht, ist damit für mich nicht mehr die Frage.
Aus diesem Bei-mir-Sein schöpfe ich Vertrauen. Ich vertraue der Energie des Lebendigen, das immer wieder dazu in der Lage ist, ins Gleichgewicht zu finden. Ich vertraue der Kraft von Menschen, die sich im Geiste und im Herzen zusammenschließen. Ich vertraue darauf, dass wir von einer Kraft angetrieben sind, die uns immer wieder ins Licht zieht. Ich vertraue auf unsere Kreativität und Anpassungsfähigkeit. Ich vertraue darauf, dass Wunder geschehen können, wenn wir nur daran glauben. In diesem Vertrauen engagiere ich mich dafür, noch eine Weile auf diesem wunderbaren Planeten bleiben zu dürfen.
Wer etwas bewegen und vorankommen will, muss stark sein und darf sich keine Schwächen erlauben, heißt es. Doch ist das tatsächlich so? Liegt nicht gerade im Anerkennen der eigenen Grenzen, Verletzungen und schwachen Seiten die eigentliche Kraft?
„Hör auf zu heulen. Stell dich nicht so an. So schlimm wird es ja wohl nicht sein“. Wie wohl die meisten Menschen unserer Gesellschaft wurde ich dazu erzogen, von klein auf die eigenen Schwächen und Verletzungen wegzudrücken. Sie waren nicht erwünscht, überflüssige Begleiterscheinungen der kindlichen Entwicklung, die überwunden werden mussten. Indianer kennen keinen Schmerz und gute Kinder machen aus einer Mücke keinen Elefanten.
Heute wie gestern sind Eltern oft mit anderem beschäftigt, als sich um die Tränen ihrer Kinder zu kümmern. Und da jedes Kind seinen Eltern gefallen will – schließlich hängt ja sein Überleben davon ab – versucht es, seine Schwächen und das, was den Eltern missfällt, eben so gut es geht zu verbergen. Dieses Verhalten geben wir als Erwachsene dann auch an unsere eigenen Kinder weiter. Schließlich kann ich niemandem etwas vermitteln, was ich in mir selbst nicht erfahren habe.
Auch ich habe es nicht gelernt, mit meinen Schwächen und meiner Verletzlichkeit umzugehen. Ich versuchte vor allem, möglichst nicht aufzufallen, keine Probleme zu machen und niemanden zu enttäuschen. Auch als ich krank wurde, gönnte ich mir zunächst keine Pause. Einen Tag nach meiner ersten Chemotherapie schob ich mit dem Staubsauger durchs Haus und beruhigte jeden um mich herum: „Macht euch bloß keine Sorgen um mich!“ Ich wollte so weitermachen wie bisher. Durchhängen konnten andere. Ich war stark. Anstatt um Hilfe zu bitten, fragte ich, ob der andere gerade Lust hat, den Müll runterzubringen. Bloß nicht durchscheinen lassen, dass ich mich schwach fühlte! Bloß keine Abhängigkeiten zeigen und zur Last fallen! Bloß dem anderen immer einen Schritt voraus sein im Schaffen und Machen und dabei ein gutes Gewissen haben?
Schwäche zu zeigen war für mich, als risse man mir in der Menge die Kleider vom Leib, als stiege ich nackt in das Eismeer, als begäbe ich mich ungeschützt in die Löwengrube. Wie die Geier auf das Aas würden sich die anderen auf die dargebotene Wunde stürzen und mich im Handumdrehen vernichten. Keinen Fuß mehr würde ich an den Boden bekommen, wenn ich mich so zeige, wie ich mich gerade wirklich fühle. Niemand würde mich mehr achten, wenn ich mir die Blöße gäbe, schwach zu sein.
Also zog ich mich dick an, Schicht um Schicht. Um das Zarte, Empfindliche, Kleine in mir zu verstecken, zeigte ich nach außen hin Zähne. Ich versuchte, meinen Kummer wegzulächeln und mir möglichst nichts anmerken zu lassen. Ich tat so, als berührten mich die Dinge nicht und versuchte, meine Verletzungen hinter geschäftigem Treiben oder Freundlichkeit zu verbergen. Bloß nicht negativ auffallen. Bloß niemandem auf die Füße treten. Bloß von allen gemocht werden.
In dieser Verkleidung wurde auch das authentische Einander-Begegnen immer schwieriger. Einige konnten das Stehaufmännchen, das ich vorgab zu sein, nicht mehr richtig ernstnehmen. Meine Versuche, meine Schwäche nicht durchscheinen zu lassen, wurden von anderen immer wieder als eine Form von Aggressivität empfunden und mir entsprechend gespiegelt. Und ich verstand die Welt nicht mehr.
Eine gute Gelegenheit, sich aus diesem Gefängnis zu befreien, ist ein unerwartetes Lebensereignis, das einen aus der Bahn wirft. Da wackelt das Gemäuer und droht, in sich zusammenzustürzen. Ganz benommen stehen wir da und trauen zunächst unseren Augen nicht. Wie kann das sein!? Zweifel kommen auf und alte Gewissheiten werden durcheinander geworfen. Durch die entstandenen Risse und Brüche fällt Licht ins Dunkel. Wenn sich dann der Qualm legt, dann steht da vielleicht jemand. Er ist nicht vorbeigekommen, um seine Blumen, sein Mitleid oder seine guten Ratschläge abzuliefern und sich gleich wieder aus dem Staub zu machen. Kopf hoch. Halt die Ohren steif. Das wird schon wieder.
Vielleicht hat dieser Mensch den Mut, sich eine Weile zu uns zu setzen. Nicht, weil er uns mit seinen Geschichten aufzumuntern und abzulenken versucht oder weil er sich selbst ein gutes Gewissen verschaffen will, wenn er einem Schwächeren die Hand hält. Er ist einfach da, präsent. Er erwartet nichts. Er kommentiert nicht, interpretiert nicht, analysiert nicht. Er hört einfach zu. Er tut nichts, als sein Herz zu öffnen und eine Begegnung von Mensch zu Mensch zu ermöglichen, die beide Seiten nährt.
Seitdem ich diese Art von Begegnung erfahre, wehre ich mich immer weniger gegen meine eigene Schwäche. Stark und schwach stehen sich nicht mehr einander ausschließend gegenüber, sondern fließen ineinander und ergänzen sich gegenseitig. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Die Schwäche braucht die Stärke, denn ohne sie fehlte uns die Energie, uns aufzurichten und in Aktion zu treten. Doch die Stärke braucht auch die Schwäche. Ohne sie würden wir innerlich verhärten. Ohne den Hauch der Sanftheit und Milde, den die Schwäche mit sich bringt, würden wir unnahbar, selbstgerecht, hochmütig, unmenschlich, kalt.
Erst die Anerkennung unserer Schwäche macht uns weich, biegsam und offen für andere. Sie erst macht uns menschlich. Denn sie öffnet unser Herz. Sie ermöglicht es uns, wirklich miteinander in Verbindung zu treten. Nicht mit stolzgeschwellter Brust und perfekt frisiert, sondern zusammengekauert und ratlos in der Sofaecke. Hier erst wird tiefe Nähe möglich. Hier können wir spüren: ich bin wie du.
Wir kennen alle die großen Wunden, die uns letztlich miteinander verbinden: abgewiesen und verlassen zu werden, sich erniedrigt und gedemütigt fühlen, ungerecht behandelt, verraten, kalt ignoriert. Es gibt wohl niemanden, der diese Verletzungen nicht erfahren hat und in sich trägt. Doch anstatt unser Leben damit zu verbringen, diese Wunden vor uns und anderen zu verbergen, können wir anfangen, aufeinander zuzugehen: Wie fühlt es sich bei dir an? Wir können versuchen damit aufzuhören, die anderen für unsere Verletzungen verantwortlich zu machen und uns immer wieder dieselben Geschichten zu erzählen. Wir können die so gewonnene Zeit damit verbringen, uns liebevoll um unser Innenleben zu kümmern.
Das bedeutet es für mich, erwachsen zu werden. Wir lösen uns von den Vorwürfen an unsere Eltern, unsere Familie, an all die anderen, die uns einst unsere Schwäche haben spüren lassen, und nehmen uns selbst unserer an. Wir werden sozusagen uns selbst Mutter und Vater, bereit, gemeinsam das weinende Kind anzuhören und in den Arm zu nehmen, was auch immer gerade sein Kummer ist. Wem das gelingt, der wird Zugang zu einer großen inneren Stärke finden. Keine laute, aufgeplusterte, egozentrische und letztlich illusorische Stärke, wie sie uns im Politspektakel täglich vor Augen geführt wird. Keine Stärke, die sich auf andere stützt oder andere erniedrigt, um sich selbst größer zu machen. Sondern eine Stärke, die ihre Kraft aus dem Bewusstsein der eigenen Schwäche und Begrenztheit nährt.
Ich habe beschlossen, das zu üben. Das ist nicht einfach für jemanden, der so unnachgiebig und störrisch sein kann wie ich. Immer noch habe ich Schwierigkeiten, andere um einen Gefallen zu bitten, die Geste eines anderen als ein Geschenk anzunehmen oder mich in einer Auseinandersetzung schwach zu zeigen. Aber das ändert sich langsam. Seit ich versuche, meine Schwächen zu identifizieren und anzunehmen, muss ich nicht mehr bei anderen gucken, wo sie ein Problem haben. Ich muss mich nicht mehr rechtfertigen und verteidigen. Ich mache weniger Vorwürfe, lästere und beklage mich weniger und beziehe nicht mehr alles auf mich. Ich fühle mich ungeheuer erleichtert, wenn es mir gelingt, anderen die Verantwortung für ihre eigene Stimmung zu lassen. Was der andere fühlt und denkt liegt nicht an mir. Ich kann nur dafür sorgen, die Verantwortung für meine eigenen Gefühle und Gedanken zu übernehmen und voll und ganz zu ihnen zu stehen, ob sie mir nun gerade passen oder nicht.
Langsam wird das Üben des Annehmens dessen, was ich zunächst nicht in mir haben will, zu einer Art Spiel. Ja, ich kann mutlos sein, schlapp und frustriert. Ich kann feige sein und egoistisch, kleinlich, selbstmitleidig, rechthaberisch, ungerecht, eifersüchtig und nachtragend. Doch immer dann, wenn ich mir das in der Situation eingestehe, in der mich etwas oder jemand darauf hinweist, geschieht ein Wunder: Die Anspannung löst sich und Frieden tritt ein.
Die Erziehung unserer Kinder ist darauf ausgerichtet sie zu lehren, die Regeln und Vorgaben der Erwachsenen zu respektieren. So haben wir die Welt geschaffen, wie sie jetzt ist. Weihnachten ist eine Gelegenheit, sich zu dem Kind hinunter zu beugen, sich an das Wunder der Neugeburt und an die Perfektion des Lebendigen zu erinnern und mit seiner inneren Familie Frieden zu schließen.
Sei lieb, sei gut, sei still, mach schneller, stell dich nicht so an, das bildest du dir nur ein — seit jeher scheint unsere Erziehung darauf ausgerichtet zu sein, aus uns etwas anderes zu machen als das, was wir sind. Kaum sind wir auf der Welt und kaum ist die Perfektion des neugeborenen Körpers bewundert worden, da geht es auch schon los mit dem Ernst des Lebens.
Wenn die kleinen Füßchen, Fingerchen und Wimpern, die die Natur hat wachsen lassen, zu Genüge bestaunt worden sind, wird versucht, sie zurechtzubiegen. Man möchte, dass einmal etwas aus uns wird. Entsprechend der Wünsche, Sehnsüchte und Ängste derer, die uns auf dieser Welt empfangen, zupft und stutzt man an uns herum und versucht, uns zu etwas zu machen, was wir ursprünglich nicht sind.
In dem Bestreben, dem Ideal der Familie und der Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, Genüge zu tun, sollen wir in eine bestimmte Richtung wachsen. Wir sollen Vater, Mutter, Verwandten, Lehrern und Institutionen zu Freude und Nutzen gedeihen und werden dazu angehalten, die Vorgaben, die man uns auferlegt, zu achten. Von kleinst an werden wir entsprechend gefördert und in die Arenen einer auf Konkurrenzkampf basierenden Gesellschaft geschickt, die aus jedem von uns das herauszupressen versucht, was ihr dienlich ist.
Obwohl im Gegensatz zu früheren Zeiten Kindern heute zugestanden wird, Gefühle und Rechte zu haben, ignorieren und missachten wir heute wie früher die Sensibilität und die Weisheit, die in den kleinen, unverfälschten Wesen steckt, ihren Sinn für Zusammenhängendes und Wesentliches. Wenn wir an ihnen herumerziehen, denken wir nicht daran, dass in ihnen schon alles vorhanden ist, was sie zum Heranwachsen brauchen. Alles, was sie benötigen, ist eine liebevolle und unterstützende Begleitung ihres Wachstumsprozesses, um sich so unverfälscht wie möglich entfalten zu können. Wie eine Blume wird ein Mensch nicht schöner und besser dadurch, dass man an ihm herumzieht, dreht und schneidet.
Weihnachten ist eine Gelegenheit, vor dem Kind in die Knie zu gehen und sich erneut zu beugen vor dem Wunder der Geburt und der Perfektion des Lebendigen. Denn nur, wenn wir dem Kind mit Respekt begegnen, wird es uns gelingen, eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, in der Harmonie, Freude und Liebe herrschen.
Nehmen wir das Kind in den Arm: das Kind in der Weihnachtsstube und das Kind, das wir selbst einmal waren. Das fröhliche, das herumspringende, das entdeckende Kind, vor allem aber das kleine, schwache und hilflose Kind in uns. Das zurechtgestutzte Kind, das glaubt, nichts wert zu sein, wenn es nicht den Ansprüchen der Erwachsenenwelt genügt, die es schließlich so verinnerlicht hat, dass es selbst zu seinem erbarmungslosesten Kritiker geworden ist.
In der hawaiianischen Kultur gibt es ein Ritual zur Aussöhnung und Vergebung innerhalb der Familien: Ho’oponopono. Man glaubt, dass jede Art von Problem mit einem uneingestandenen Fehlverhalten in Zusammenhang steht. Seit jeher weiß man hier, was die Neurowissenschaften heute bestätigen: Ärger, Groll und Stress machen krank. So werden innerhalb der Familien regelmäßig Versammlungen abgehalten, in denen Schmerzhaftes und Blockierendes ausgesprochen werden. Die Gefühle jedes einzelnen werden dabei berücksichtigt. Nachdem das Problem sozusagen auf den Tisch gelegt wurde, bekennen sich die Betroffenen zu ihrem Fehler, zeigen Reue und bitten um Vergebung. Voraussetzung ist, dass es jeder Teilnehmer ernst meint und ehrlich ist.