Die Zukunft gehört den Mutigen.

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INHALT

VORWEG : EINE LESEANLEITUNG

1
FOLGE DEM WEIẞEN KANINCHEN

2
DIE DEFINITIONSMACHT DER LEITMEDIEN

3
DAS WAHRHEITSREGIME

4
WARUM ICH VON PROPAGANDA SPRECHE

5
DAS FILTER-MODELL

6
ZWISCHENSPIEL: WIE ICH ANTISEMIT UND VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER WURDE

7
ARENA 1 : DISKURS-ORDNUNG

8
ARENA 2 : MEDIENLOGIK

9
ARENA 3 : MEDIALISIERUNG

10
ARENA 4 : DAS JOURNALISTISCHE FELD

11
AUS DER ARENA IN DIE MATRIX

12
WEGE IN DIE FREIHEIT

VORWEG: EINE LESEANLEITUNG

Dies ist kein Buch über Corona, obwohl ich mich ohne diesen Skandal vermutlich nicht an den Schreibtisch gesetzt hätte, jedenfalls jetzt noch nicht. Eine Bibel der Medienkritik: Natürlich stand das am Horizont meines Forscherlebens. Wer träumt nicht davon, das letzte Wort in Sachen Journalismus und Öffentlichkeit zu haben, wenn er sich den lieben langen Tag mit diesem Phänomen beschäftigt? Offen gestanden: Ich war mir schon mindestens zweimal ziemlich sicher, dieses letzte Wort gesprochen zu haben. Allerdings hat das Timing nie gestimmt.

Das Ost-Fenster war gerade zu, als ich das Zerrbild beschrieben habe, das die Leitmedien seit 1990 von der DDR zeichnen – völlig losgelöst von dem, was sich die allermeisten Deutschen über die Vergangenheit erzählen (zumindest diejenigen, die hüben oder drüben dabei gewesen sind).1 2013 wollte niemand etwas vom Sozialismus hören und schon gar nichts von irgendwelchen Nörglern in Dresden oder Zwickau. Die AfD wurde von Bernd Lucke geführt und hieß in der Propaganda-Matrix »Anti-Euro-Partei«.2 Pegida gab es weder in dieser Matrix noch sonst irgendwo.

»Lügenpresse, halt die Fresse«: Dieser Satz steht in meinem Buch Breaking News,3 und doch habe ich auch 2018 wieder an einem Zeitgeist vorbeigedacht, der sich längst einig war, dass uns die Regierenden betrügen oder wenigstens die Nachrichten manipulieren.4 Der Krieg in der Ukraine, die Flüchtlinge, CO2 und das Klima, Donald Trump, überhaupt das Bashing der ›Populisten‹. Und ich kam mit dem Imperativ der Aufmerksamkeit und mit der Idee, dass Journalismus und Medien ganz anders wirken als bisher gedacht. In Kurzform: Es kann schon sein, dass das, was wir sehen, hören, lesen, etwas mit den Gefühlen macht, mit Einstellungen, Wissen, Handeln. So genau weiß niemand, warum wir etwas tun und warum wir so denken, wie wir denken. Warum also nicht den Journalismus haftbar machen. Ganz sicher ist aber, dass Medien in den letzten vier Jahrzehnten die Art verändert haben, wie wir arbeiten und wie wir leben (wollen). »Bunt, grell und originell, herausstechen aus der Masse, anders sein« steht auf dem Buchumschlag.

Ich glaube, dass der Imperativ der Aufmerksamkeit vieles von dem erklärt, was seit dem Frühjahr 2020 passiert ist. Fernseh- und Radioprogramme, für die Reichweite alles ist und alles andere nichts. Dazu die Konkurrenz aus dem Netz, die Rundfunkstaatsvertrag und Medienethik ignorieren darf, den traditionellen Medienhäusern die Werbung wegnimmt und die Redaktionen so oder so vor sich hertreibt – genauso wie die Menschen auf den Kommandobrücken in Politik und Wirtschaft, die buchstäblich alles tun, um in der Öffentlichkeit zu glänzen und negative Berichte zu verhindern.

»Die Medien-Epidemie« stand über einem Text, den ich am 18. März 2020 in meinem Blog Medienrealität veröffentlicht habe. Zitat: »Corona hat die Medienrealität gekapert, ohne dass die Redaktionen sich wehren konnten, weil der Imperativ der Aufmerksamkeit in einem kommerziellen Mediensystem auch die gebührenfinanzierten Angebote regiert. Corona ist Medienlogik pur. Journalismus war schon immer Selektion. Selbst das, was an einem Tag in einem Stadtteil von München passiert, würde mehr füllen als eine Süddeutsche Zeitung. Heute wird das Medienrealität, was die meisten Klicks verspricht, die meisten Likes, die meisten Retweets. Superlative, Sensationen, Prominente. Dinge, die es so noch nicht gab. Drei Infizierte, 15, 200. Tom Hanks. Der erste Bundestagsabgeordnete. Der erste Zweitligaspieler. Der erste Trainer. Sogar jemand von Juve, eben noch halb nackt in der Jubelkabine und in drei Tagen schon auf dem Rasen gegen Lyon. Tom Hanks aus dem Krankenhaus entlassen. Und jetzt auch noch Friedrich Merz.«

Damals war ich mir sicher, dass wir sehr bald über die Medienqualität diskutieren können und damit auch über Medienaufsicht und Medienbesitz. Ich wünsche mir in diesem Blogbeitrag einen »Journalismus, der die Informationen liefert, die wir brauchen, und deshalb anders organisiert sein muss, genossenschaftlich zum Beispiel«, und läute die entsprechende Debatte im Prinzip schon ein – für den Tag, an dem »die Redaktionen den nächsten Hype entdeckt haben«. Dieser Tag ist immer noch nicht da. Die Redaktionen entdecken nichts mehr. Sie sind zu Sprachrohren der Regierenden geworden. Im März mag die Diagnose gestimmt haben, dass die Medien die Politik vor sich hertreiben. Heute wissen wir, dass der Spieß sehr schnell umgedreht wurde und dass mit dem Glauben an einen unabhängigen Journalismus die Idee von der Gesellschaft gestorben ist, in der ich gern gelebt hätte. Aus der Medien-Epidemie ist eine Medienkatastrophe geworden.

Dieses Buch sagt, wie es dazu kommen konnte, und weist so über den Tag hinaus. Es greift dafür tief in die Theoriekiste. Noam Chomsky natürlich und Propagandaforscher wie Jaques Ellul. Dazu Ulrich Beck, Niklas Luhmann und Nick Couldry, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Chantal Mouffe, Walter Lippmann und Edward Bernays. Dass ich es unter dem nicht machen kann, hat auch mit der Nonchalance zu tun, mit der viele mein Thema lange abgetan haben. Die Medien. Das ist doch wie mit dem Fußball oder mit dem Wetter. Da weiß jeder irgendwie Bescheid. Mark Deuze, ein Kollege aus Amsterdam, hat dafür ein schönes Bild gefunden.5 Wenn Fische reden könnten, sagt Mark Deuze, dann würden sie über das Wasser sprechen. Und was machen wir? Wir unterhalten uns über Algen, Quallen und Heringe, Plastikpartikel, Boote und vielleicht, wenn wir noch jung sind, auch über die Badehose, die dort hinten blinkt. Das Wasser lassen wir Wasser sein. Nicht einmal auf dem Gymnasium gibt es entsprechende Kurse. Was für die Fische das Wasser ist, sind für uns die Medien. Die Matrix, aus der wir nicht entkommen können und die wir verstehen müssen, wenn wir sie umschreiben wollen. Deshalb schreibe ich über Herrschaftsverhältnisse, die sich auf die Macht stützen, Realität zu definieren, über das Wahrheitsregime der Gegenwart, über Propaganda und über das Filtermodell. Vor allem aber schreibe ich über die Arenen, in denen die Welt entsteht, in der wir leben, und in die wir eintauchen können, wenn uns nicht gefällt, was dort passiert.

Das geht nicht ohne Corona-Beispiele, wer sich aber über das Virus, Mutationen, politische, ökonomische und ökologische Hintergründe, die Krankheit COVID-19, Spätfolgen, Immunisierungsstrategien oder Impfungen informieren möchte, wird anderswo besser bedient. Karina Reiss und Sucharit Bhakdi, Clemens Arvay, Paul Schreyer, Hannes Hofbauer und Stefan Kraft6 sowie natürlich all das, was der Buchverlag der Onlineplattform Rubikon in den letzten Monaten auf den Markt gebracht hat.7 Eine Aufklärungskampagne, sagt Herausgeber Jens Wernicke. Dass das, was früher Journalismus hieß, unbedingt dazugehört, wird niemand mehr bestreiten. Selbst ein Biologe wie Clemens Arvay opfert dem »Medienskandal« etliche Seiten.8

Das Timing scheint diesmal zu passen.

1Vgl. Michael Meyen, »Wir haben freier gelebt«. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, transcript, Bielefeld 2013

2Vgl. exemplarisch Winand von Petersdorff, »›Alternative für Deutschland‹: Die neue Anti-Euro-Partei«. In: FAZ vom 4. März 2013

3Michael Meyen, Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren, Westend, Frankfurt a. M. 2018, S. 9

4Vgl. exemplarisch Ulrich Teusch, Lückenpresse. Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten, Westend, Frankfurt a. M. 2016; Uwe Krüger, Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen, C. H. Beck, München 2016, und Jens Wernicke, Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung, Westend, Frankfurt a. M. 2017

5Vgl. Mark Deuze, Media Life, Polity Press, Cambridge 2012

6Vgl. Karina Reiss, Sucharit Bhakdi, Corona Fehlalarm? Zahlen, Daten und Hintergründe, Goldegg, Wien 2020; Clemens G. Arvay, Wir können es besser. Wie Umweltzerstörung die Corona-Pandemie auslöste und warum ökologische Medizin unsere Rettung ist, Quadriga, Köln 2020; Paul Schreyer, Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte, Westend, Frankfurt a. M. 2020; Hannes Hofbauer, Stefan Kraft (Hrsg.), Lockdown 2020. Wie ein Virus benutzt wird, um die Gesellschaft zu verändern, Promedia, Wien 2020

7Vgl. Walter van Rossum, Meine Pandemie mit Professor Drosten. Vom Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen, Rubikon, Neuenkirchen 2021; Flo Osrainik, Das Corona-Dossier. Unter falscher Flagge gegen Freiheit, Menschenrechte und Demokratie, Rubikon, Neuenkirchen 2021; Sven Böttcher, Wer, wenn nicht Bill? Anleitung für unser Endspiel um die Zukunft, Rubikon, München 2021; Wolfgang Wodarg, Falsche Pandemien. Argumente gegen die Herrschaft der Angst, Rubikon, München 2021

8Arvay, Wir können es besser, S. 53

1
FOLGE DEM WEIẞEN KANINCHEN

Ich bin nicht Morpheus. Mir fehlt der Glaube, dass es nur einen Auserwählten braucht, um die Matrix zu zerstören. Ich glaube nicht einmal, dass man die Matrix überhaupt zerstören kann. Es geht deshalb in diesem Buch auch nicht um Zerstörung, sondern um Aufklärung und um das, was aufgeklärte Menschen aus der Matrix machen könnten. Blaue Kapsel oder rote Kapsel: Sie haben sich schon entschieden. Sonst würden Sie dieses Buch nicht lesen. Sie wissen genau wie Neo, der Held in dem Action-Klassiker Matrix, dass mit der Welt etwas nicht stimmt, die wir alle für die Wirklichkeit halten müssen, und wollen verstehen, wo und wie die Realität produziert wird, die man uns rund um die Uhr ins Haus liefert.

Neo zögert nur ein paar Augenblicke, als er das erste Mal vor Morpheus sitzt – in einem runtergerockten Zimmer mit einem kahlköpfigen Mann im Ledermantel, der seine Augen versteckt und im letzten Moment noch einmal die Stimme hebt. In Hollywood ist das so. Keine Schlüsselszene ohne Drama. »Bedenke«, sagt Morpheus zu Neo, »alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit. Nicht mehr.« Okay: In dem Wunderland, von dem Morpheus spricht, winkt Trinity, eine Frau, die Neo sofort in ihren Bann gezogen hat. Da ist aber noch etwas anderes. Da sind all die Nächte, in denen er sich mit der Frage nach der Matrix quält. Der Splitter im Kopf, immer da und doch nicht zu greifen. Rote Kapsel, was sonst.

Man kann sich das auf Youtube anschauen, knapp hundert Sekunden lang. Die Nutzerkommentare im Kanal von repat123, der nur 85 Abonnenten hat, aber mit diesem Clip einen Hit, ähneln sich, egal von wann sie sind. »Heute, 2020, so aktuell und wahr wie selten«, schreibt realbss1. Und g00glefish, vier Jahre vorher (im Original mit Smiley, aber ohne Kommas): »Man, der Mann hat so recht. Er wusste, dass wir alle versklavt werden.« Was bei g00glefish noch wie Zukunftsmusik klingt, ist im Film die Antwort auf das Grübeln und die Zweifel, mit der Morpheus den jungen Mann lockt: »Dass du ein Sklave bist, Neo. Du wurdest wie alle in die Sklaverei geboren und lebst in einem Gefängnis, das du weder anfassen noch riechen kannst. Ein Gefängnis für deinen Verstand.« Pause. Einmal tief Luft holen. »Dummerweise ist es schwer, jemandem zu erklären, was die Matrix ist.« Noch eine Pause, in der Morpheus die Schachtel mit den beiden Kapseln aufklappt, fast wie ein Bräutigam, der seiner Angebeteten gleich die Ringe zeigen wird. »Jeder muss sie selbst erleben.«

Ein Buch ist kein Film. Ich kann nicht versprechen, dass Sie die Propaganda-Matrix gleich erleben werden, und muss das auch gar nicht. Sie kennen diese Matrix. Sie lesen Zeitung, Sie sehen und hören Nachrichten, überall, immerzu. Der Film von Lilly und Lana Wachowski, inzwischen über zwanzig Jahre alt und von Brüdern gedreht, die jetzt Schwestern sind, ist genial, keine Widerrede. Der Mensch, reduziert auf seine Körperfunktionen und eingesperrt in eine Art Kokon, merkt nicht, was mit ihm geschieht, weil seinem Gehirn eine Scheinwelt vorgegaukelt wird, in der es Liebe und Verrat gibt, Schwerkraft und blutige Verletzungen, Karriere, gutes Essen und überhaupt all das, wofür es sich zu leben lohnt. Die Matrix soll hier von der ›Wahrheit‹ ablenken – von einer Dunkelheit, in der Maschinen regieren, die die Energie aus den Kokonfabriken brauchen und die Städte längst vernichtet haben. Morpheus kennt diese ›Wahrheit‹. Er versteckt sich mit seinen Leuten in der realen Welt und geht nur in die Matrix, weil er glaubt, den Auserwählten gefunden zu haben.

Die Propaganda-Matrix ist anders. Dieser Matrix können wir nicht ausweichen. In unserer Welt gibt es weder das sagenumwobene Zion, eine Stadt tief unter der Erdoberfläche, in der die letzten ›freien Menschen‹ auf die Revolution warten dürfen oder wenigstens so gut leben, wie das nach der Apokalypse und ohne Matrix eben geht, noch Schiffe wie die Nebukadnezar, die alles zum Guten wenden sollen, gelenkt von einem charismatischen Kapitän wie Morpheus. In unserer Welt gibt es keine Trennung zwischen hier und dort, zwischen einem Kunstprodukt, das die Wahrnehmung blendet, und einer ›Realität‹, wie düster es dort auch immer sein mag. Unsere Welt wird von der Propaganda-Matrix geformt. Wir sehen das, was wir im Elternhaus, in der Schule und im Beruf gelernt haben und was von Presse, Radio und Fernsehen pausenlos wiederholt wird, natürlich auch online.

Die Realität der Massenmedien ist genauso real wie der Baum, den wir im Wald umarmen können, der Polizist, der unsere Papiere checken will, oder der Fluss, den wir ohne Brücke schlecht überqueren können. Eine Realität erster Ordnung, sagt Michel Foucault, einer der Sterne, denen dieses Buch folgt. Bei diesem französischen Philosophen heißt die Matrix Diskurs. Foucault hat sich einen Spaß daraus gemacht, Namen neu zu vergeben. Die Matrix umschreiben, sozusagen. Was er »Archäologie« nennt, hat nichts mit Ausgrabungsfeldern zu tun, und sein »Archiv« kennt weder Staub noch Dokumente.1 Diskurs: Das ist bei Michel Foucault kein Gespräch, in dem man sich gegenübersitzt, Argumente und Gedanken austauscht und am Ende womöglich sogar etwas vereinbart. Diskurs steht hier für eine »theoretische Struktur«, die unser gesamtes Verhalten steuert – ein »System«, das zwar an unterschiedlichen Orten zu verschiedenen Zeiten jeweils anders aussehen kann, aber als Prinzip überall präsent ist und das »freie« Denken und Handeln einzäunt: »Wir denken stets innerhalb eines anonymen, zwingenden Gedankensystems, das einer Zeit und einer Sprache angehört.« Das klingt fast wie ein Begleittext zum Wachowski-Film (Anonym! Zwingend!), nur dass dieses Prinzip, dieses »Gedankensystem«, bei Michel Foucault »Diskurs« heißt und nicht Matrix und außerdem nicht von Maschinen geschrieben worden ist, sondern von Menschen und ihrer Geschichte.2

Ich weiß nicht, ob Lilly und Lana Wachowski Foucault gelesen haben, als sie noch Andy und Larry waren und sich Morpheus, Neo und Trinity ausgedacht haben. Ich weiß aber noch, wie ich 1999 aus einem Kino in Leipzig kam und dachte: Wow. Es geht doch. Man kann eine sozialwissenschaftliche Theorie tatsächlich so verfilmen, dass das Publikum im Saal Gänsehaut bekommt und Tränen der Glücksseligkeit weint. Zumindest ich. Man kann dieses Buch als Fortsetzung des Films lesen, als eine Art Making-of vielleicht, in dem es um das geht, was Michel Foucault viel mehr interessiert hat als die Matrix selbst: Wer schreibt das Programm? Wie kommt es, dass wir immer wieder Markus Söder sehen, Markus Lanz und manchmal sogar Markus Babbel, aber kaum etwas ›wissen‹ über, sagen wir, die besten Gemüsebauern vom Niederrhein? Und vor allem: Wer zieht die Grenzen des »Sagbaren«3 – nicht daheim auf der Fernsehcouch oder am Stammtisch, sondern in den Leitmedien und damit da, wo es darauf ankommt, weil hier alle (wirklich alle) das »Gedankensystem« à la Foucault sehen können und oft gar nicht merken, dass es sich um ein Gefängnis für den Verstand handelt?

Keine Angst: Dieses Kapitel ist kein Theoriefriedhof. Vorerst genug mit Foucault. Ich brauche seine Konzepte und das, was die nächste Wissenschaftsgeneration daraus gemacht hat, um die Idee dieses Buches zu stützen, als geistiges Fundament gewissermaßen. Die Propaganda-Matrix ist kein Schicksal, sondern wird von Menschen gemacht. Also können Menschen sie auch ändern. Anders als Neo, Morpheus und Trinity haben wir es dabei nicht mit Maschinen zu tun, sondern mit anderen Menschen, die allerdings manchmal genauso übermächtig zu sein scheinen, weil sie über Ressourcen verfügen, von denen die meisten nur träumen können. Dieses Gefühl der Ohnmacht wird vielleicht sogar noch stärker, wenn Sie dieses Buch gelesen haben und nicht mehr nur ahnen, sondern wissen, was der Staat, Parteien, Behörden oder Unternehmen in ihr Image investieren und wie stark der Quellcode der Propaganda-Matrix mit unserer Kultur verwoben ist und mit der Art, wie wir leben. Trotzdem. Ich spreche von Kämpfen und so auch von möglichen Siegen, um diejenigen zu stärken, die in den Redaktionen für den Auftrag Öffentlichkeit stehen und damit für das, was eine demokratische Gesellschaft vom Journalismus erwarten darf.4

Das Fünkchen Hoffnung, das hier mitschwingt, unterscheidet meinen Ansatz vom Filtermodell, mit dem Edward S. Herman und Noam Chomsky vor etwas mehr als drei Jahrzehnten erklärt haben, wie »Geld und Macht« alles aus den Nachrichten heraushalten, was den »herrschenden Privatinteressen« schaden könnte, und der Regierung außerdem erlauben, ihre Botschaften an die Frau und an den Mann zu bringen.5 Manufacturing Consent heißt dieses Meisterwerk der Herrschaftskritik. Zustimmung organisieren. Man kann das genau wie die Theorie der Kulturindustrie von Horkheimer und Adorno eigentlich nur zur Kenntnis nehmen.6 Es gibt da eine geheimnisvolle Macht, die entweder unsere Bedürfnisse manipuliert oder unsere Wahrnehmung. Verstehen ja, entkommen nein. Und verändern schon gar nicht.

Ich werde in Kapitel 5 auf die Filter eingehen und vorher auch begründen, warum ich genau wie Herman und Chomsky von ›Propaganda‹ spreche, obwohl wir weder im Kommunismus leben noch im Nationalsozialismus und obwohl die katholische Kirche bei mir allenfalls in Nebensätzen vorkommt. An dieser Stelle nur so viel: Ich habe nie ganz verstanden, warum Größe, Besitzverhältnisse und Profitorientierung der wichtigsten Medienfirmen (einer der fünf Filter von Herman und Chomsky) geradezu zwangsläufig dazu führen sollen, dass die Nachrichten so sind, wie sie sind. Was genau passiert in Verlagen und Rundfunkanstalten? Gibt es dort jeden Morgen eine Vergatterung, bei der die Eigentümer oder ihre Abgesandten sagen, wie sie sich die Arbeit heute vorstellen? Woher weiß die Schlussredakteurin, welches Zitat sie streichen oder umformulieren muss, damit auch morgen die Kasse wieder klingelt? Und wie kommt es, dass ihr hin und wieder etwas durchrutscht, was selbst jemand wie Noam Chomsky gegen die US-Politik verwenden kann oder gar gegen die »Herren der Menschheit«?7

Bevor ich Licht in diese ›Black Box‹ bringe und dafür aus den fünf Filtern vier Arenen mache, in denen um Hegemonie und Deutungshoheit gerungen wird, muss ich über mein Journalismusideal sprechen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich über das Wörtchen ›mein‹ gelacht hätte. Es schien mir ganz selbstverständlich, die Öffentlichkeit als Ort der Verständigung zu sehen. Wer wie ich in den späten 1980er Jahren in Leipzig gelebt und dort (nicht nur, aber auch) an dem Dreck gelitten hat, der wortwörtlich in der Luft lag (an manchen Abenden war der Aschenebel so schwer, dass man sich kaum zur Disco getraut hat), wer dann erlebt hat, dass Freunde und gute Bekannte das Land verlassen haben, weil man darüber (wie über vieles andere auch) nicht öffentlich sprechen konnte, hat das Schlagwort »publizistische Vielfalt«, das mit dem Umbruch verbunden war, als Versprechen verstanden.8 Fortan wird es möglich sein, so habe ich das damals gesehen, über all die unterschiedlichen Meinungen und Interessen zu diskutieren, die es in einer Gesellschaft gibt. Man wird sich nicht immer einigen können, natürlich nicht, sich aber selbst ein Bild machen dürfen, weil die entsprechenden Informationen und die wichtigsten Interpretationen für jeden zur Verfügung stehen, ungefiltert sozusagen und auch ohne jeden Stempel.

Heute diskutiert der Journalismus über ›Haltung‹ und zieht Grenzen. Verschwörungstheorien, Fake News und Hate Speech, Populismus. Überhaupt das Internet und dann gleich die Straße. ›Wir‹ wissen, was ›man‹ von diesem zu halten hat und was von jenem. Wenn einer der Netzgiganten einen Account sperrt oder einen Kanal, dann wird geklatscht, solange es die ›Richtigen‹ trifft. Donald Trump zum Beispiel, Ken Jebsen, Ovalmedia und Robert Cibis oder die Stiftung Corona-Ausschuss. Und wenn das jemand »Cancel Culture« nennt, auf die vielen »Ausgeladenen, Zensierten, Stummgeschalteten oder unsichtbar Gewordenen« verweist und öffentlich fordert, das »freie Denken und Sprechen« aus dem »Würgegriff« der »Gesinnung« zu befreien,9 dann schreiben ›wir‹ einfach, dass es das alles gar nicht gibt. Cancel Culture? Eine »paranoide Reaktion« auf eigenes Versagen, mehr nicht.10

Mit dem Journalismus als Handwerk und als Dienst an der Allgemeinheit hat das nichts zu tun. »Öffentlichkeit muss hergestellt werden«, sagt Horst Pöttker, ein Medienforscher aus der alten Garde, Jahrgang 1944. Pöttker spricht von einer »professionellen Grundpflicht zum Publizieren« und sieht den Journalismus als »Gegengewicht zur funktionalen Parzellierung« der Gesellschaft – offen für alle, auch für alle Themen, weil »Geschlossenheit und Isoliertheit der gegebene Zustand« in der Moderne seien.11 Wichtig ist hier das Wort ›alle‹. Ich will nicht, dass jemand entscheidet, was ich wissen und wen ich hören darf. Ich will auch nicht, dass mir jemand sagt, wer die ›Guten‹ sind und wer die ›Bösen‹.12 Als Bürger, als Wähler, als Mensch möchte ich erfahren, was in der Welt so läuft, und mir selbst meinen Reim darauf machen. Wenn das dann unbedingt noch kommentiert werden muss: meinetwegen. Aber eigentlich ist mir egal, wie Heribert Prantl oder Claus Kleber die Welt sehen.

Dieses Ideal ist, das zeigt nicht nur meine Forschung, unerreichbar fern, wenn wir den Journalismus nicht anders organisieren. Das beginnt bei der Ausbildung und endet nicht bei der Eigentumsfrage. Theoretisch gehört der öffentlich-rechtliche Rundfunk uns allen, praktisch aber werden die Sender vom Staat, von den Parteien und von Interessenverbänden kontrolliert und nicht von der Gesellschaft. Manchmal sagt ein Beispiel mehr als alle Studien. Christine Strobl wurde Ende 2020 als neue Direktorin des ARD-Gemeinschaftsprogramms vorgestellt. Wenn man so will: als Fernsehfrau Nummer eins im Land. Christine Strobl ist Tochter von Wolfgang Schäuble und mit Thomas Strobl verheiratet, seit 2012 CDU-Vize und seit 2016 Innenminister von Baden-Württemberg. Christine Strobl war im Herbst 2020 auch als Intendantin des Bayerischen Rundfunks im Gespräch. Dort hätte sie Ulrich Wilhelm abgelöst, der vorher erst in München Regierungssprecher war und dann bei Angela Merkel. Mehr muss man über die Verquickung von Politik und Rundfunk nicht sagen. Für Gremien und Anstaltsspitzen ist das so normal, dass sie nicht einmal mehr merken, welche Signale von solchen Personalentscheidungen ausgehen.

Die Geschichte von den Medien als ›vierter Gewalt‹ ist ein Märchen, einerseits. Ich werde in diesem Buch zeigen, was Regierungen, Ministerien und andere Behörden alles unternehmen, um diejenigen im Griff zu behalten, die zu ihrer Kontrolle berufen sind, und wie ihnen dabei ein Mediensystem in die Karten spielt, das entweder auf Gewinn ausgerichtet ist oder ohnehin fest in der Hand der Politik. Andererseits ist diese Geschichte der Fels, auf den sich jede Reform stützen kann. Der Journalismus selbst wird nicht müde, seine investigativen Recherchen zu preisen (Panama Papers! Paradise Papers!) und sich und uns zu erzählen, wie ›unabhängig‹ er doch sei. Wir müssen ihn nur beim Wort nehmen und ihm vielleicht auch ein bisschen helfen, damit er sein Versprechen einlösen kann.

»Rote Pille heißt Herrschaftswissen verstehen«, hat Nutzer DjJem vor acht Jahren im Youtube-Kanal von repat123 geschrieben, wo ich den Matrix-Ausschnitt gefunden habe. Gar nicht so wenige Kommentatoren fragen dort aber auch, wenn man so will, nach den Risiken und Nebenwirkungen. Übersetzt und in Kurzform: Ist es gut, die ›Wahrheit‹ zu kennen, wenn man dadurch neben vielen Freunden auch jeden Glauben verliert und sich oft einsam und machtlos fühlt? Und ist es nicht selbst dann, wenn man sich zunächst für die rote Kapsel entschieden hat, besser, eines Tages doch noch die blaue Kapsel zu schlucken, um sich wieder in aller Ruhe vor den Fernsehapparat setzen und dort neben der Monotonie des Alltags auch die ›Wahrheit‹ vergessen zu können?

Im Film gibt es einen Verräter, Cypher, der die Qualen des Daseins in der ›realen Welt‹ satthat, den schleimigen Fraß vor allem, der jeden Tag aus der Küche kommt, und die immer gleichen Gesichter. Cypher weiß genau, dass es weder den Rotwein gibt, den er in der Matrix trinken wird, noch das Geld oder den Ruhm, die er sich so sehnlich wünscht, und ist trotzdem bereit, schon für die Illusion von Genuss in den Kokon zurückzugehen. Die Figur Cypher sagt uns: Unwissenheit kann ein Segen sein. Auch Neo muss im Wortsinn kotzen, als er zu ahnen beginnt, was er sich mit der roten Kapsel eingebrockt hat. Ein Fehler, ganz klar. Lass mich zurück, Morpheus, zurück in meinen Bullshit-Job, zurück in das Hochhaus mit den Büro-Schachteln, in denen man aufstehen muss, um irgendwen zu sehen, und wo jederzeit Männer in dunklen Anzügen auftauchen können, die mir erst die Sprache nehmen und dann alle Rechte.

Die meisten von uns haben weder Zeit noch Kraft, die Propaganda-Matrix infrage zu stellen. Arbeit, Familie und überhaupt. Ich habe vor Jahren einhundert lange Interviews geführt, in denen es um den Alltag in der DDR ging, um das Westfernsehen und um die Propaganda der führenden Partei.13 Für die Befragten wäre es ein Leichtes gewesen, ihre Erinnerungen an die neue Matrix anzupassen, in die die meisten ohne eigenes Zutun hineingerutscht waren. Aktuelle Kamera, Ein Kessel Buntes und Der Staatsanwalt hat das Wort schlecht, Tagesschau, Kennzeichen D und sogar Am laufenden Band toll. Von wegen. In meinem Sample hat die ›Zufriedene‹ dominiert, ein Typus, der sich eingerichtet hatte in diesem Land hinter der Mauer. Man musste früh raus und ging zeitig ins Bett, hatte die Kinder und den Haushalt zu versorgen und schon deshalb weder Muße für das Weltgeschehen noch für den ›Klassenfeind‹, der angeblich jeden Abend an die Tür klopfte und eingelassen wurde.14 Die Medien waren da, das schon. Mehr aber auch nicht. Wie gesagt: Das war die DDR in den 1980ern, als das Leben vor sich hin plätscherte und die Menschen selbst im Job (ein Wort, das es dort so nicht gab) alle Zeit der Welt hatten. Ich muss hier nicht aufschreiben, wie es heute aussieht, sondern kann einfach Hartmut Rosa zitieren, einen Soziologen, für den die Moderne ein »Steigerungsspiel« ist, in dem wir ständig ›performen‹ müssen, um unseren »Platz in der Sozialordnung« zu halten.15 Für Grundsätzliches bleibt da wenig Raum, zumal wenn man an die Risiken und Nebenwirkungen denkt, die die rote Kapsel in sich trägt.

Ich kann von einer zweiten Begebenheit berichten, etwas frischer, obwohl sie im Seniorenstudium an meiner Universität spielt. Ich habe dort im Sommer 2019 einen Vortrag gehalten. Der große Hörsaal war gut gefüllt. Viele Blumenkohlfrisuren, wie meine Schwiegermutter sagen würde. In München haben die Älteren das, was den ›Zufriedenen‹ in der DDR fehlte. An diesem Nachmittag ging es um die Medienlogik. Ich habe gezeigt, was der Journalismus ›früher‹ (vor Internet und Privatfernsehen) aus Parteitagen gemacht hat und aus der Generaldebatte im Bundestag, aus schweren Stürmen und aus großen Fußballspielen. Was daraus heute wird, wusste das Publikum selbst.16 Es wusste hinterher auch, was alles getan wird, um gut dazustehen in der Propaganda-Matrix (die damals bei mir noch nicht so hieß) oder wenigstens negative Berichte zu verhindern. Als alles vorbei war, hat mir ein Ehepaar sein Leid geklagt. Alles richtig, lieber Herr Meyen. Wir abonnieren seit Ewigkeiten die FAZ und haben immer große Stücke auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen gehalten. Die Tagesthemen, die Reportagen auf arte. Wir sehen ja selbst, was daraus geworden ist. Aber was sollen wir denn jetzt machen? Wem können wir in dieser Welt noch glauben?

Ich will damit sagen: Die rote Kapsel zu nehmen, ist anstrengend und hat wie alles seinen Preis. Im Film erklärt Morpheus Neo, dass er normalerweise nur ganz junge Leute aus ihrem Kokon holt. Die anderen hätten sich schon so sehr an die Matrix gewöhnt, dass sie sich selbst dann weigern würden, ihren Geist zu befreien, wenn er ihnen die Tür zeigt. Das Cypher-Syndrom. Im richtigen Leben, das oft ein falsches bleibt, scheint es genau umgekehrt zu sein. Erst wer alt genug ist, um nicht mehr um seinen ›Platz in der Sozialordnung‹ fürchten zu müssen, bringt die wichtigste Voraussetzung mit, um aus der Propaganda-Matrix ausbrechen zu können: eine Absage an die süßen Belohnungen, die Konformität in jeder Gesellschaft verspricht. Cypher ist dafür sogar bereit, alle in den Abgrund zu stürzen, die ihn für einen Freund halten. Die Wachowskis lassen das ihre Figuren sicherheitshalber noch einmal ausformulieren. Sinngemäß: Wir nehmen hin, was wir sehen, weil wir glauben, wieder aufzuwachen. Das große Aber folgt auf dem Fuße: Die Matrix soll uns unter Kontrolle halten. Die Matrix ist das Gegenteil von Freiheit.

Was es mit dem weißen Kaninchen auf sich hat? Für alle, die den Film Matrix noch nicht gesehen haben: Zunächst gibt es dieses Tier nur auf Neos Bildschirm. Ein paar Buchstaben, sonst nichts. Plötzlich aber ist das Kaninchen ein Tattoo auf einer schönen Schulter. Neo tut, was ihm die Schrift geraten hat, und los geht die wilde Reise, die ihn genau wie einst Alice tief hineinführt in den Kaninchenbau. Lassen Sie sich von mir mitnehmen in das Wunderland. Sie können dabei die Stationen überspringen, die Sie schon kennen oder die Sie langweilen (etwa da, wo es um Begriffe wie Diskurs, Propaganda oder Definitionsmachtverhältnisse geht). Selbst Neo, immerhin ein Held aus Hollywood, hat aber eine Weile gebraucht, um zu akzeptieren, dass er die Matrix getrost ignorieren kann. Falls Sie den dritten Teil nicht kennen sollten (Spoilergefahr!): Neo muss sich überschreiben und damit töten lassen, um das Programm zu zerstören. Filme brauchen Auflösung und Ende. Der Journalismus braucht einen neuen Anfang.

1Mit seiner »Archäologie« will Foucault die klassische Geschichtsschreibung ersetzen, und der Begriff »Archiv« zielt auf die Bedingungen, unter denen Aussagen entstehen. – Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Suhrkamp, Frankfurt a. M.; Michael Ruoff, Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, Wilhelm Fink, München 2007, S. 67–73

2Michel Foucault, »Gespräch mit Madeleine Chapsal«. In: Daniel Defert, Francois Ewald (Hrsg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Band 1: 1954–1969, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001, S. 664–670, hier S. 666

3Reiner Keller, Wissenschaftssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, 3. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 128

4Vgl. Horst Pöttker (Hrsg.), Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag, UVK, Konstanz 2001

5Edward S. Herman, Noam Chomsky, Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media. With a new introduction by the authors, Pantheon Books, New York 2002, S. 2

6Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Querido, Amsterdam 1947

7Vgl. Noam Chomsky, Wer beherrscht die Welt? Die globalen Verwerfungen der amerikanischen Politik, Ullstein, Berlin 2016; Noam Chomsky, Media Control – Wie die Medien uns manipulieren, 7. Auflage, Nomen, Frankfurt a. M. 2018; Noam Chomsky im Gespräch mit Emran Feroz, Kampf oder Untergang! Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen, Westend, Frankfurt a. M. 2018

8Vgl. Günther Rager, Bernd Weber (Hrsg.), Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Mehr Medien – mehr Inhalte?, Econ, Düsseldorf 1992

9»Appell für freie Debattenräume«, 2020 initiiert von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser, idw-europe.org

10Stefan Niggemeier, »Endlich geklärt: Was ›Cancel Culture‹ wirklich bedeutet«. In: Übermedien vom 4. Januar 2021

11Pöttker, Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag, S. 20, 24, 26f.

12Vgl. Mathias Bröckers, Paul Schreyer, Wir sind die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren, Westend, Frankfurt a. M. 2014

13Vgl. Michael Meyen, Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR, Ch. Links, Berlin 2003

14Anspielung auf eine Artikelserie von Lothar Löwe, die das Umschalten auf einen Westsender zur DDR-Normalität erklärte: »›Abends kommt der Klassenfeind‹. Als Fernsehkorrespondent in der DDR«, fünf Teile. In: Der Spiegel 1977, Nr. 33–37

15Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, S. 691

16Vgl. Maria Karidi, Medienlogik im Wandel, Springer VS, Wiesbaden 2017; Michael Meyen, Breaking News. Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren, Westend, Frankfurt a. M. 2018

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DIE DEFINITIONSMACHT DER LEITMEDIEN

Noch vor gar nicht allzu langer Zeit hätten Sie mich vermutlich für verrückt gehalten. Die Massenmedien. Herr Meyen, wachen Sie auf. Bild, BamS und Glotze: Das war gestern. Untersuchen Sie endlich das, was heute wirklich zählt. Gehen Sie dahin, wo die Leute sind. Instagram, TikTok, Youtube, WhatsApp. Meinetwegen auch Facebook oder Twitter, wenn Ihnen das andere gar zu jugendlich ist. Aber hören Sie endlich auf, Leitartikel zu vermessen und ihre Studenten mit Tagesschau und heute journal zu traktieren. Die wissen gar nicht mehr, was das sein soll. Heute ist Streaming angesagt. Netflix, Amazon Prime, Magenta Sport, Dazn. Allenfalls noch Sky für die unverbesserlichen Fußballfans, wenigstens so lange, bis die Rechte auch da endlich ins Netz gewandert sind und damit dorthin, wo die Werbebudgets schon lange sind. Die Abozeitung und das Fernsehen nach Programmzeitschrift sterben, Herr Meyen, spätestens, wenn Sie sterben. Und wie sich die Erdlinge dann informieren werden, das weiß sowieso kein Mensch.

Ich habe mir diese Litanei viele Jahre angehört, dabei in aller Regel vergeblich Zweifel angemeldet und dann das gemacht, was ein Wissenschaftler in einer solchen Situation tun sollte. Lesen, die Klassiker vor allem. Bei Niklas Luhmann zum Beispiel erzeugen die Massenmedien das »Gedächtnis« der Gesellschaft. Man kann das sogar noch etwas zuspitzen. Bei ihm gibt es die Massenmedien nur, weil wir so etwas wie ein ›Gedächtnis für alle‹ brauchen. Einen Schatz an Gemeinsamkeiten, auf den wir selbst dann zurückgreifen können, wenn wir unser Gegenüber noch nie gesehen haben. Niklas Luhmann sagt, dass das »System Massenmedien« Information »so breit« streue, »dass man im nächsten Moment unterstellen muss, dass sie allen bekannt ist (oder dass es mit Ansehensverlust verbunden wäre und daher nicht zugegeben wird, wenn sie nicht bekannt war)«. Auf diese Weise entstehe eine »zweite, nicht konsenspflichtige Realität« – ein »Hintergrundwissen«, von dem man bei jeder Kommunikation ausgehen könne. Der Satz, mit dem er sein Büchlein eingeleitet hat, gehört heute zur Allgemeinbildung: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«.1

Einige Kollegen beklagen inzwischen, dass sich dieser erste Satz verselbstständigt hat und man so dem Meister unrecht tue. Ohne die Sätze fünf bis sieben, sagen diese Kollegen, sei das Luhmann-Zitat nichts wert.2 Also dann: »Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen«.3

Damit sind wir mittendrin in diesem Kapitel. Niklas Luhmann wischt mit drei Sätzen all die Umfragen zur Glaubwürdigkeit der Massenmedien und zum Vertrauen in den Journalismus vom Tisch. Wir wissen, dass wir der Zeitung und dem Fernsehen nicht trauen dürfen. Und wir können trotzdem nicht darauf verzichten. Luhmann spricht von einem Muss und von einer »zweiten Realität«, die zwar »nicht konsenspflichtig« sei (es ist egal, was wir von den Nachrichten halten), die wir aber kennen müssen, wenn uns wenigstens ein bisschen an der Achtung der Mitmenschen liegt. Sie können das testen. Fragen Sie beim nächsten Small Talk, wer denn dieser Orbán sei, der gerade Budapest unsicher mache, oder, fast noch besser, warum Dortmund, Leipzig und Gladbach offenbar nie das Endspiel um dieses ›Triple‹ erreichen. Anders als Neo, Morpheus und Trinity können wir uns nicht ausstöpseln aus der Propaganda-Matrix, ohne vom Rest der Menschheit als Sonderlinge abgestempelt zu werden.

Als Niklas Luhmann Die Realität der Massenmedien auseinandergenommen hat, war Der Spiegel gerade erst ein paar Tage im Netz. Wenn ich das Magazin damals dort sehen oder gar der Redaktion eine Nachricht schicken wollte, musste das Modem mitspielen. Die Älteren werden sich an den Klang erinnern. Man hatte das Gefühl, gleich mit einem Alien zu sprechen. Ein Abenteuer aus einem Land vor unserer Zeit. Warum also, so könnten Sie einwenden, sollen wir Luhmann lesen, wenn uns das Hier und Jetzt interessiert? Warum fragen wir nicht einen der Internettheoretiker, Nick Couldry zum Beispiel, einen britischen Medienforscher, oder gleich Ulrich Beck, den großen Soziologen aus München, der im letzten Buch vor seinem Tod beschrieben hat, wie all die neuen Kommunikationsmöglichkeiten die Welt und die Menschheit zu »ultimativen Bezugspunkten« für unser aller Handeln gemacht haben, und sich außerdem ganz sicher war, dass die Welt der alten Massenmedien schon bald genauso untergehen wird wie »die Welt der Nationen«?4

Zu Couldry und Beck komme ich gleich. Zunächst zurück zu Niklas Luhmann und seinem wichtigsten Punkt: Massenmedien wirken, weil wir unterstellen müssen, dass alle anderen das Gleiche gesehen, gelesen, gehört haben. Dieses Muss steht nur hier. Auch das können Sie selbst testen. Außerhalb sehr spezieller Kreise erwartet niemand von Ihnen, dass Sie über Youtube-Hitlisten sprechen können oder über die Trends auf Twitter, wie heiß die Maschine dort auch immer gelaufen sein mag.

Mit Luhmanns Gedächtnis-Metapher lässt sich auch sagen, was genau ›Massenmedien‹ sind. Eigentlich geht es um Leitmedien – um die Plattformen, die große Gruppen erreichen und die vor allem (das ist wichtiger) dort registriert werden, wo es darauf ankommt. Im Rathaus und in der Staatskanzlei, in der Chefetage, in der Hochschulleitung, in der Vereinsspitze. Die Wucht der Leitmedien entspringt einer Projektion. Diejenigen, die das Sagen haben, glauben, dass ›wir alle‹ wissen, was da gemeldet wurde. Das wäre noch nicht weiter bedenklich, aber dieser Glaube hat eine zweite Komponente: Leitmedien sind mächtig. Fragen Sie Nachbarn und Freundinnen, die irgendwann mal in der Zeitung standen, oder Menschen in Spitzenpositionen. Warum sollten Ministerinnen zurücktreten, Bundesligatrainer, VM-Manager, wenn sie nicht befürchten würden, dass negative Berichte etwas machen mit ihrem Ansehen, mit ihrem Handlungsspielraum? Wir nehmen an, dass Medieninhalte in den Köpfen etwas anrichten – nicht bei uns (wir sind schließlich aufgeklärt), aber bei den anderen.5 Ob das stimmt, spielt keine Rolle. Es spielt auch keine Rolle, was die Wissenschaft zu diesem Thema weiß. Entscheidend ist, dass wir an solche Wirkungen glauben. Das Thomas-Theorem: »If men define situations as real, they are real in their consequences.«6 Wir selbst machen aus den Leitmedien eine Realität erster Ordnung.

Natürlich ist die Tagesschau so ein Leitmedium. In den letzten Vor-Corona-Jahren jeden Abend im Durchschnitt zehn Millionen Zuschauer und 2020 noch einmal gut zwei Millionen mehr. Das sind nicht ›alle‹, aber darauf kommt es hier nicht an. Es genügt, dass diese Sendung in jeder Redaktion registriert und dort zum Anker für die eigene Arbeit wird. Das gilt so auch für den Spiegel, für Bild, für die Süddeutsche ZeitungMDR infoFAZTagesschauBild-