Neben seiner hauptsächlichen Tätigkeit als Instrumentallehrer für Gitarre und Klavier trat Reinhard W. Nachtwey auch immer wieder als ausübender Musiker in „klassischen“ Gitarrenkonzerten auf - solo, als Duo-Partner mit seiner Frau und in diversen kammermusikalischen Formationen. Er ist von Hause aus also Musiker und Lehrer, kein Schriftsteller (von einer musiktheoretischen Broschüre mal abgesehen), war aber in jungen Jahren bereits Motorradfahrer und Motorradreisender.
Ein weiteres - sehr wichtiges - Feld seiner künstlerischen Betätigung ist die Elektronische Musik - und das ebenfalls seit vielen Jahren. Das Schaffen von neuen Klangwelten, weniger als Tanzmusik, sondern mehr als „Hör“-Musik konzipiert, ist ihm neben der Musik mit Gitarre(n) ein wichtiges Anliegen.
Heute lebt Nachtwey (geb. 1953) als freischaffender Notensetzer und Komponist in Potsdam-Babelsberg, widmet sich weiter den Klangwelten der Gitarre und der Elektronik, unterrichtet aber nicht mehr.
Vielmehr sammelt der passionierte Motorradfahrer nun Impressionen und neue Ideen für noch zu schreibende oder am Computer zu produzierende Musik auf seinen ausgedehnten Fahrten und lässt sich von wummernden Motorgeräuschen genauso wie von fröhlich zwitschernden Vögeln inspirieren und zum Nachdenken anregen. Alles ist Klang, und ein wenig geordnet, wird es dann Musik - das ist sein Credo.
Aber mehr noch: in diesem Buch berichtet Nachtwey nun anhand seiner Motorrad-Reisen nach Spanien (solo und mit seiner Frau gemeinsam) von seinen Gedanken beim und übers Fahren, von Geschehnissen am Rand seiner Route und vielen anderen Eindrücken; über rasante Fahrten genauso wie über Schrecksekunden, die ihn zum Innehalten veranlasst haben. Das Motorradfahren ist für ihn sowohl Inspiration als auch Entspannung, eine Droge mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Und deshalb ein Anlass zum Nachdenken; selbstkritisches Nachdenken.
Dieses Buch ist keinesfalls nur für Motorradfahrer geschrieben - im Gegenteil, es wäre sehr zu empfehlen, wenn viele „Nur-Autofahrer“ es mal zur Hand nehmen und darin lesen würden, um zu sehen, wie Motorradfahrer so ticken und warum sie so fahren, wie sie fahren ... und einiges mehr.
Web: www.rw-nachtwey.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2021 by Reinhard W. Nachtwey, alle Rechte Vorbehalten
Herstellung: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7534-6910-2
für
Ruth, Paul und Anton
Ich bin in meiner Jugend Motorrad gefahren. Den Auto-Führerschein habe ich sogar erst zwei Jahre nach meinem Motorradführerschein gemacht, weil mich Zweiräder wesentlich mehr faszinierten als Autos. Ich war also auch passionierter Radfahrer, bis mich eine Baker-Zyste im linken Knie von diesem schönen Fortbewegungsmittel abhielt - mit gut 50 Jahren.
Das heißt aber nicht, dass ich nicht auch Autos gehabt und mit ihnen Reisen unternommen hätte - aber die waren eben nur Fortbewegungs- oder Transporthilfen. Auch wenn ich mein allererstes Auto - einen FIAT 850 - mit viel Liebe auseinander genommen, total entrostet, schön bunt neu gestrichen und wieder zusammengesetzt habe, so hatte ich doch zu meinen Autos nie eine solch „persönliche“ Beziehung wie zu meinen Motorrädern. In unserer Jugendzeit - den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts - war das „Schrauben“ angesagt, das gehörte einfach dazu. Kaum jemand in meinem Freundeskreis hat je seine Kerzen austauschen lassen, das hat man selbst gemacht, genauso wie Ölwechsel, Bremsbeläge wechseln oder die Zündeinstellung. Mein Bruder hat dies sogar professionell erlernt und wurde Automechaniker bei einer großen Firma; ihn konnte, und kann man immer noch, um Rat fragen - wie gesagt bis heute, obwohl er sich später beruflich umorientiert hat.
Mein erstes großes Motorrad - eine 750er BMW - R75/6 - konnte ich erst als Student von lange vorher gespartem und durch Unterricht dazu verdientem Geld erwerben. Es war ein gebrauchtes, aber noch recht neues Motorrad in hellem Grün. Mit diesem Motorrad bin ich dann allerdings auch gefühlt ununterbrochen gefahren - täglich zur Uni, Spazierfahrten, Reisen. Die zurückgelegten Kilometerzahlen habe ich heute nicht mehr im Kopf, aber ein Wochenende von Berlin nach Koblenz, die Mosel hoch bis fast zur französischen Grenze und wieder runter, dann zurück nach Berlin, war kein Einzelfall; auch andere Ziele im Süden der Republik, weil dort Verwandte wohnen. Für diese Maschine hatte ich mir das offizielle Werkstattbuch besorgt und niemand außer mir durfte an der Maschine schrauben! Es war mein Motorrad!
Ein schwerer Unfall 1978, bei dem die Maschine dann einen Totalschaden erlitt, schickte das Moped in den Schrauberhimmel. Meine damalige Frau und ich hatten bei besagtem Unfall auch einige körperliche Blessuren erlitten, aber insgesamt sind wir erstaunlich glimpflich davon gekommen - genauso wie beim nachfolgenden Rechtsstreit, denn die Unfallgegnerin mit ihrem Auto war ebenfalls nicht ganz schuldlos. Aber es half alles nichts - ich hatte kein Motorrad mehr und natürlich auch kein weiteres Geld, mir ein neues zu beschaffen.
Dann folgten noch einige Treffen mit Freunden zu kleineren Rundfahrten auf geliehenen Motorrädern, hier und da mal ein Motorrad für einen Freund anmelden fahren ... aber schon der mittlerweile geborenen zwei Kinder wegen, war der Gedanke an ein eignes Motorrad verflogen, weil unpraktisch. Nur im Innersten pochte bisweilen das Gedächtnis ans Motorradfahren an, durch Gespräche über alte Zeiten oder später vor allem durch die vielen Erzählungen meiner zweiten Frau übers Segeln, was ja durchaus eine Affinität zum Motorradfahren aufweist. Jedoch hielt ich alles schön unter dem Deckel - es war eine romantische Erinnerung.
Die Kinder wurden erwachsen, die Haare grau, ein gutes halbes Jahrhundert Leben war um. Es kamen die ersten Beerdigungen von Freunden oder Bekannten, das Gerede vom Leben nach dem Tod oder das, was man beim Leben vor dem Tod erreicht oder - noch viel wichtiger - auch versäumt hatte ...
Nach einer dieser Beerdigungen kam ich nach Hause und sagte zu meiner Frau: „Du weißt, ich träume noch viel vom Motorradfahren und hatte mir immer vorgestellt, wie viel Zeit ich später nach unserer Verrentung haben werde, dies wieder aufzunehmen. Wie man sieht, kann aber alles schnell vorbei sein, bevor es begonnen hat. Ich möchte deshalb bereits jetzt „richtig loslegen“ und mir wieder ein Motorrad kaufen. Diese Sehnsucht nagt schon zu lange in mir. Würdest Du mitmachen?“ „Nee, auf so ein Ding steige ich nicht auf; die Dinger machen mir Angst. Aber ... ich kann’s ja mal versuchen“. Typisch für meine werte Gattin: erstmal „Nee!“ ... dann aber „eventuell doch“.
Da ich eine kleine Erbschaft meines Vaters noch nicht ausgegeben, sondern brav für die Zeit mit schmaler Rente zurück gelegt hatte (ich bin Musiker und habe zeitlebens nicht viel in die Rentenkasse eingezahlt), lag also noch ein guter, sogar ausreichender, Betrag auf dem Konto. Wobei ich allerdings schon recht erschrocken war über die Preise für vernünftige Motorräder. In ihnen sind heutigentags jedoch auch wesentlich mehr Sicherheitsfaktoren und anderweitiger Komfort implementiert als in den 1970er Jahren; das Cockpit gleicht dem eines Kleinflugzeugs.
Das Informationen-Einholen übers Internet begann sofort, und zwei oder drei Maschinen befanden sich in der engeren Auswahl. Drei Tage später waren wir beim Händler und ließen uns beraten; nicht lange, denn der Kauf einer BMW R 1200 RT in hellem Blau war schnell perfekt. Ich saß auf der ausgestellten Maschine und war sofort entflammt. Meine Frau setzte sich auf den Sozius und war ebenfalls entzückt. Der einzige aber dicke Wermutstropfen bei der Geschichte: sie musste erst noch in den Spandauer BMW-Werken gebaut werden. Glücklicherweise hatte dieser Händler noch eine Lieferung frei in seinem Kontingent; der Lichtblick!
Das Warten, bis die Maschine endlich ausgeliefert, zugelassen und mir übergeben wurde, erschien mir als eine Ewigkeit. Wir waren Ende März im Laden und Ende April, am 26. April 2011, konnte ich dann endlich mit meiner „Dicken“ vom Hof reiten. Ich war wieder Motorradfahrer, mit nun 58 Jahren - fast, denn ich habe ja erst im Mai Geburtstag.
Übrigens bedurfte es keiner großen Überredungskunst, meine Frau vom Mitfahren zu überzeugen. „Lass uns doch schon mal die richtige Kleidung fürs Fahren anschauen gehen, Helm, Jacke, Hose und Stiefel.“ Dieser Satz reichte. Die notwendigen Utensilien waren schnell - nach nur drei Läden - erstanden; für uns beide.
Der typische silver-head, der seine midlife-crisis nun durch den Kauf eines dicken Motorrades und jugendlich rasantes Fahren bewältigen will - alles Blödsinn, oder?
Dieses Büchlein will sich etwas umfassender mit einem Thema beschäftigen, in dem eine midlife-crisis eventuell auch einen Aspekt darstellen könnte, aber das glaube ich eher nicht. Da war noch etwas anderes, das zu beschreiben, es sich lohnt.
Es wird vielleicht ein Bericht, der wiedermal „zwischen allen Stühlen“ sitzt - so wie auch meine Musik für ernste Musiker immer zu unterhaltsam ist, für Unterhaltungsmusik hingegen ist sie viel zu ernst bzw. kompliziert. Ich kenne das also.
Wer hier ein Buch über tolle Reisen, mit genauen Reiseberichten und nachvollziehbaren Routen sowie ausführlichen touristischen Beschreibungen erwartet, wird enttäuscht werden. Ich werde bunt gemischt Episoden aus allen sechs großen Fahrten schildern und sicherlich auch die eine oder andere Sehenswürdigkeit erwähnen und beschreiben; und dennoch ist es kein Reisebuch. Dies wäre dann ein Buch mit fünf Nachfolgebüchern geworden. Ich will lieber die Essenz des Motorradreisens beschreiben.
Wer von mir ein Buch über tolle Motorraderlebnisse mit detaillierten Berichten und Beschreibungen über und von Motoren, Pannen, Reparaturen und sonstige mechanische Leckerbissen erwartet, wird enttäuscht werden, auch wenn es mal die eine oder andere Erwähnung gibt.
Wer in diesem Buch Schwärmendes über rekordverdächtig schnelle Überquerungen von Pässen, rasante Rennen auf kurvenreichen Landstraßen oder verträumte Beschreibungen des Funkenschweifs beim Abschleifen der Fußrasten erwartet, wird nicht voll auf seine Kosten kommen, vor allem, weil ich dies - mit Abstand betrachtet - eher skeptisch beleuchte.
Aber wer sich gern auf tiefergehende Gedanken über das Motorradfahren oder das Reisen als solches einlassen möchte, wer gern an Gedanken beim und übers Fahren teilhaben möchte, für den könnten die nachfolgenden Kapitel interessant sein. Es ist weder ein Action- noch ein Reiseroman, sondern eher eine locker „philosophische“ Betrachtung über das Motorradfahren - aber auch durchsetzt mit touristischen Beschreibungen, Berichten über rasant riskantes Fahren, das die Verkehrsregeln nicht immer in Gänze beachtet, Nachdenkliches über macho-haftes Verhalten und und und
Vor allem aber richtet sich dieses Büchlein keinesfalls ausschließlich an Motorradfahrer - für „Nur-Autofahrer“ dürfte viel Interessantes über das Motorradfahren herauszufinden sein. Auch könnte es das Reisen mit dem Auto mal von einer anderen Seite beleuchten und anregender gestalten.
Für mich ist das Motorradfahren die Summe aller oben angesprochenen Dinge und sicherlich noch mehr, aber es ist keine Religion. Ich will dies in den nächsten Kapiteln ausführlich darlegen.
Es wird auch keinesfalls ein Pamphlet gegen die „heidnischen“ Autofahrer werden. Es wird um das Motorradfahren gehen, nicht um Motorrad- versus Autofahrer.
Seien Sie / sei Du herzlich eingeladen auf eine große Reise - nicht nur in den Süden Europas, sondern in die Tiefen des Empfindens.
Ich habe vor kurzem einen sehr schönen Spruch gelesen, dessen Autorenschaft mir leider unbekannt ist:
Vier Räder bewegen den Körper, zwei Räder die Seele
In diesem Sinne also!
Als ich mir im April 2011 mit 57 (fast 58) Jahren noch mal ein Motorrad zugelegt habe, wollte ich natürlich an die tollen Erlebnisse mit meiner BMW R75/6 aus den 1970er Jahren anknüpfen und sie wirklich wieder körperlich spüren. Das Gefühl, auf dem Bock zu sitzen und den vibrierenden Motor der Gummikuh zwischen meinen Schenkeln zu spüren, am Gashahn zu drehen und mit Wucht nach vorn zu springen, wieder den Fahrtwind und die Gerüche beim Fahren wahrzunehmen - das alles wollte ich erneut mit all meinen Sinnen „erfahren“, danach hatte ich eine tiefe Sehnsucht, die nun endlich wieder offen zutage getreten war.
Es ist dieses schlecht beschreibbare Gefühl von Freiheit, weil man ja nicht in einem Käfig sitzt, sondern auf einem Motorrad und die Macht hat, dieses zu bewegen - wie ein Reiter, der ein viel größeres Pferd beherrscht. Frei und mächtig sein, wer träumt davon nicht? Vor allem, wenn man dieses Gefühl - natürlich völlig verklärt - noch im Kopf und Herzen trägt: der einsame aber gutmütige und gerechte Reiter im Wilden Westen, der Schwarze Ritter, der im Turnier auftaucht und den Hilflosen zu Recht und Ehre verhilft ...
Ich muss zugeben, solche Bücher und Filme haben in meiner Kindheit und frühen Jugend ein Idealbild für mich geprägt.
Aber heute bin ich wesentlich älter, im guten Sinne dieser Illusionen beraubt (wenn man das überhaupt wirklich jemals los wird) und hatte entsprechend Bedenken, diese neuen Maschinen richtig unter Kontrolle bringen zu können, hegte Argwohn, dass sie viel zu viele PS - also Kraft - hätten, zu viele Dinge im Cockpit zu sehen und zu beachten sein werden ... und ob ich überhaupt noch fahren könne, kurzum: mit Gashahn, Kupplungshebel oder Fußbremse umzugehen vermag. Nichts wäre lächerlicher als ein Schwarzer Ritter, der beim ersten Galopp vom Pferd fiele.
Also habe ich mir eine Fahrschule gesucht, in der ich noch mal eine oder mehrere Fahrstunden auf einem modernen Motorrad nehmen wollte. Mir wurde ein Fahrlehrer empfohlen, der sich auch gern bereit erklärte, mir bei meinem Unterfangen behilflich zu sein. „Dies tun leider zu wenige Neueinsteiger“ war sein Kommentar. Wir vereinbarten einen Termin.
Dazu bin ich dann mit dem Bus zur Fahrschule gefahren - in der schon mit viel Vorfreude im Herzen einige Zeit zuvor gekauften Kluft (diesmal kein Leder, sondern gute Gore-tex Kleidung für Tourer) und einem neuen Helm unterm Arm.
Die mitleidigen Blicke der anderen Fahrgäste waren durchaus interessant, denn niemand war von meinem Anblick erheitert; vielleicht dachte der eine, dass ich mein vorher einkassiertes Motorrad nun von der Polizei abholen wollte, die andere, dass ich eine Panne hätte und jetzt mit dem Bus nach Hause fahren müsse; armer Kerl.
In der Fahrschule angekommen, erzählte ich natürlich auch von meiner Beklemmung, mich nach so vielen Jahren wieder auf ein Motorrad zu setzten. Ich wollte erstmal sehen, ob ich überhaupt noch eine solche Maschine beherrschen und gleichzeitig den Verkehr beachten könne. Irgendwie war es mir allerdings auch ein wenig peinlich, dass ich nicht so „mannhaft“ einfach auf die Maschine steige und los düse. John Wayne oder ein Schwarzer Ritter hätten da nicht lange gefackelt, die hätten alles sofort im Griff gehabt!
Diese Peinlichkeit wurde mir schnell genommen. Dass ich heute hierher gekommen sei, um noch mal mein Können aufzufrischen, wäre die beste Voraussetzung für einen guten Wiedereinstieg mit langer Fahrfreude. Man berichtete mir, dass genau von denen, die sich völlig gedanken- und respektlos nach vielen Jahren „Babypause“ wieder auf ein Motorrad setzten, so manch einer in den ersten Wochen seines Wiedereinstiegs einen Motorradunfall erlitte, mitunter schwer verletzt würde oder gar zu Tode käme. Später hörte ich im Bekanntenkreis genau von so einem Menschen in den Fünfzigern - totgefahren!
Ich setzte mich auf den Sozius, und wir fuhren einige Kilometer durch die Stadt zum großen Parkplatz vor dem Olympiastadion. Hier tummeln sich unter der Woche eine Menge Fahrlehrer mit ihren Eleven - ob Auto oder Motorrad. Ich wurde kurz eingewiesen, und dann ging es auch schon los mit dem „Achten“-Fahren und Bremsübungen. Es erstaunte mich, wie schnell der Körper sich „automatisch“ an die Bewegungsabläufe erinnerte und wie fantastisch die neuen, kraftvollen Motorräder funktionierten. Ich habe schnell Zutrauen gefunden und gemerkt, dass ich mit einer solchen Maschine umgehen kann. Anscheinend verlernt man das Motorradfahren genauso wenig wie das Radfahren. Die vielen Tipps vom Fahrlehrer waren nicht nur wertvoll - sie waren eigentlich unbezahlbar und sind bis heute eine Richtschnur beim Fahren für mich. So fiel auch der beruhigende Satz, dass man mit einem fahrenden Motorrad nicht umfallen könne, egal, wie schräg man läge. Umfallen tun nur die Fahrschullehrer, die beweisen wollten, was sie alles drauf hätten ... Als ich am Abend nach Hause kam, natürlich wieder mit dem Bus, war ich nicht nur erleichtert, sondern nun fieberte ich natürlich noch heftiger meinem neuen Motorrad entgegen. Das Warten auf die Übergabe beim Händler wurde zur Qual, vor allem, weil das Wetter jener Tage zum Fahren nicht nur einlud - es forderte geradezu auf.
Aber der Tag kam, und ich wurde noch mal vom Verkäufer detailliert eingewiesen, rauf auf den Hobel ... und tatsächlich, ohne umzufallen vom Hof runter und eingebogen in die Straße. Eine erste große Peinlichkeit war also schon mal übergangen, was mich enorm erleichterte.
Die Jungfern-Fahrt ging zunächst zu einem leeren Parkplatz am Wannsee, auf dem ich noch mal genau das übte, was ich zwei Wochen zuvor auf dem riesigen Parkplatz vor dem Olympiastadion unter Anleitung jenes sehr erfahrenen Fahrlehrers trainiert hatte - nur diesmal mit meinem eignen Motorrad. Und da ich alles für mich recht zufriedenstellend meisterte, drehte ich eine etwas größere Runde durch Berlin mit seinem dichten Verkehr.
Was mich an diesem ersten Tag so faszinierte, war der Umstand, dass ich doch durchaus mit gemischten Gefühlen das Fahren wieder aufgenommen hatte, noch dazu mit einer so großen und schweren Maschine. Angst wäre ein falscher Begriff. Wäre ich ängstlich gewesen, wäre ich das Unterfangen nicht angegangen. Aber eine gewisse respektvolle Mulmigkeit verspürte ich schon im Bauch und Herzen. Ich glaube, ich habe mich an diesem Abend am meisten darüber gefreut, dass ich mich trotz dieser „unbehaglichen Zuversicht“ erneut auf ein Motorrad begeben und mir die Verwirklichung eines seit längerem wieder gehegten Traums ermöglicht habe, dass die Zuversicht das Unbehagliche übertroffen hat.
Als Kind mit ungefähr 8 Jahren bin ich mal von einem Pferd gefallen, das mein Vater sich für einen Ausritt fertig gesattelt hatte, und auf das er mich dann setzte, um mir eine Freude zu bereiten. Ich habe danach nie wieder auf einem Pferd gesessen und nähere mich auch heute noch diesen Tieren recht ungern. Mein Vater hat damals über mein Ungeschick wohlwollend gelacht (mir ist nichts Dolles passiert), sich selber wieder auf das Pferd geschwungen und war ein wenig ausgeritten. Ich habe ihn damals dafür unendlich bewundert.
Und nun traue ich mich, auf einer so kraftvollen Maschine mit gut 108 PS zu sitzen (übrigens genau doppelt so viele PS, wie sie meine damalige BMW R75/6 hatte) und diese durch den Straßenverkehr zu manövrieren - und zwar relativ lässig. Sich überwunden, aber den Respekt behalten zu haben, baut auf und gibt einem ein ziemlich starkes Gefühl von Sicherheit und Kraft. Seht her, ich kann das, ich beherrsche dieses „Monstrum“.
Die BMW R 1200 RT war wirklich ein Monstrum. Sie hatte eine furchteinflößende Größe mit ihrem dicken, breiten Kopfteil und den großen angebauten Gepäcktaschen hinten. Mein Nachbar - und übrigens später noch einige andere - meinte, es sei mehr ein Segelschiff als ein Motorrad. Er und seine Frau fuhren früher kleinere Motorräder - vor allem aber „naked" bikes (s.s 20ff).
Ein gutes Jahr später stieg ich auf die BMW K 1600 GT um. Sein Kommentar zur neuen Maschine: das sei ja nun kein Segelschiff mehr, sondern ein Flugzeugträger. Dieser Begriff wurde danach zum running gag, wenn man über meine Maschine sprach. Wobei mir auch der Begriff „Deine Schrankwand“ des öfteren entgegengehalten wurde, wenn andere Mopedfahrer über meine Maschine sprachen - sie hatten durchweg naked bikes, also „richtige“ Motorräder.
Aber darüber soll später noch einiges folgen.
Nun bin ich also wieder dabei. Und ich fühle mich sehr gut damit. Ein neuer Abschnitt in meinem Leben hat begonnen. Und das wurde mir sofort beim Verlassen des Händler-Hofes klar; das alte Leben wurde keineswegs wieder aufgenommen, etwas Neues hat begonnen. Ich war rund 30 Jahre älter und das Motorrad 30 Jahre jünger - so wie früher war es also nicht mehr.
Wobei ... die Geschichte über den Wiedereinstieg ist hiermit bei weitem noch nicht abgeschlossen ....
Voll Selbstvertrauen und Stolz - nicht nur über mein Motorrad, sondern auch über meine Fähigkeiten - fuhr ich wenig später zu meinem Sohn, der in Ferch ein kleines Pachtgrundstück hat und mit seiner damaligen Frau die Behausung renovierte. Natürlich fuhr ich wie selbstverständlich durch den etwas sandigen Boden und kam auch tatsächlich unbeschadet bei dort an (was für ein Dusel, wenn ich mir das von heute aus besehe). Meinen Sohn habe ich natürlich zu einer (recht kleinen) Spritztour eingeladen; Helm auf und ab ging’s. Die wenigen Kilometer haben ihm gereicht - er hat sich da hinten auf dem Sozius nicht wirklich wohl gefühlt. Meine Schwiegertochter konnte ich gar nicht erst überreden - sie führe, wenn überhaupt, nur bei ihrem Vater mit, war ihre klare Aussage. Na dann, lässig rauf auf die Maschine und weiter!
Und da habe ich nun aus dem Grundstück herauskommend die Kurve nicht geschafft und bin - weil mit viel zu viel Gas - in den Wald geschossen und umgekippt. Der rechte Koffer lag auf meinem rechten Fuß. Ein Schrei und Ratlosigkeit ... ich kam, unter dem Koffer liegend, nicht mehr raus; hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. Mein Sohn und meine Schwiegertochter haben die Maschine hinten mit großer Anstrengung angehoben und ich konnte meinen Fuß befreien. Er war nicht gebrochen, aber gut verstaucht, und machte einen Tag später auch erhebliche Probleme. Die BMW hat keinen Schaden davongetragen. Das war mir deutlich wichtiger als meine Knochen; bekloppt! Die anfangs vermiedene Peinlichkeit habe ich hier also nachgeholt; man soll ja nichts auslassen!
Der Sündenfall war nun eingetreten. Hat man sich erst einmal blamiert, lebt’s sich gänzlich ungeniert. Ich habe die Maschine in keinem Fall wirklich handhaben können, die ungeheure Kraft des Gashahn-Aufdrehens völlig unterschätzt und hatte vor allem unwahrscheinliches Glück, dass ich im weichen Waldboden und nicht an einem Baum gelandet war. Ich muss wohl doch noch üben, das fine-tuning des Gasgriffs im wahrsten Sinne des Wortes in „die Hand zu bekommen“ und muss vor allem mehr Respekt vor der Kraft des Motorrades haben sowie meinen Körper besser beherrschen lernen, z.B. im Notfall schnell genug von einem fallenden Motorrad weg zu kommen.
Ich habe ein paar Tage später noch mehr Lehrgeld zahlen dürfen. Als mir das Moped beim Schieben in die Garage gegen mich zu fallen drohte, direkt hinter mir die Garagenwand, gegen die ich gedrückt würde, versuchte ich die Maschine natürlich mit den Armen aufzuhalten: Abriss einer Bizeps-Sehne im linken Arm. Mit dieser abgerissenen Sehne habe ich dann noch sieben Monate gelebt, bis mir ein begnadeter Operateur diese wieder an meinem Unterarm befestigte. Heute spüre ich glücklicherweise nicht mehr die geringsten Nachwirkungen. Aber damals war die Einschränkung enorm: nicht richtig Gitarre spielen zu können, beim Fahren mit der linken Hand das Visier nicht öffnen zu können, überhaupt nichts mit der linken Hand anheben, nichts halten zu können ... Aber Motorradfahren ging. Das war wichtig, alles andere nebensächlich.
Es kommen noch so manch andere Umfaller in den ersten Monaten dazu ... also Beherrschung des Geräts sieht gänzlich anders aus. Trotzdem habe ich mich nicht abschrecken lassen - diese intensive Lust am Fahren hat alle anderen Widrigkeiten überlagert. Wie stark muss dieses Lustgefühl also sein, dass es selbst solch schmerzhafte und „an der Ehre kratzenden“ Erlebnisse übertönt? Wieso gibt man nicht auf? Ist es eine Art Liebe, Sucht oder einfach nur Sturheit?
Das große Wort Liebe streichen wir mal sofort; Liebe will bekanntlich nichts, sie gibt. Deshalb kann man Dinge schon mal nicht lieben - sie sind eher ein Fetisch. Sucht, Fetisch, Sturheit ... oder eben unter allen Umständen dieses Gefühl von Macht und Freiheit aufbauen zu wollen, vielleicht seiner eignen Geringfügigkeit entschwinden zu wollen, koste es, was es wolle?
Nun bin ich sowieso ein Mensch, der das Risiko nicht scheut. Mein erstes Streben geht nicht danach, unversehrt zu bleiben. Meiner Einstellung entsprach schon seit früher Jugend der Satz: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Ich will durch die Wand, egal ob es Beulen gibt. Dementsprechend dürfte die Sturheit den Konkurrenzkampf der o.g. Begriffe wohl gewonnen haben. Aber man kann an dieser Sturheit bereits erahnen, wie wichtig das Motorradfahren für mich war, dieses Gefühl, Herr eines solchen Monstrums zu sein, obwohl es mich schon ganz schön gebissen hat. Eine Droge? Also Sucht?
Natürlich habe ich nach einiger Zeit auch mal die Höchstgeschwindigkeit (223 km/h steht in der Zulassung) der Maschine ausgetestet ... wenn man schon mal so’nen Hobel hat. Aber dann fährt man doch sehr angespannt, gar nicht mal wegen der Kräfte, die auf einen wirken, vielmehr achtet man extrem genau auf alles vor und neben einem, ob z.B. eventuell jemand auf die linke Spur wechseln könnte. Dies erfordert eine bis an die äußerste Grenze gehende Aufmerksamkeit, vor allem die ersten Male. Und auch Geschick.