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Das Theater von Armin Petras gleicht oft einer Kinderzeichnung – nur wenige Striche, und die Wahrheit leuchtet auf: Was man alles nicht braucht! Dieses Theater ist eine quirlige, überdrehte, wilde, improvisierende, rasende, herzwehe Spielbude. Der 1964 in Meschede Geborene leitete das Schauspiel in Nordhausen und Kassel, er war Intendant am Berliner Maxim Gorki Theater und am Schauspiel Stuttgart. Und Regie landauf, landab, ohn’ Unterlass. Er ist ein Perfektionist des Unfertigen, in dessen Inzenierungswerk die Traurigkeit kostbare Schattenflecke auf Lichtungen der Clownerie zaubert.

In Gesprächen mit Hans-Dieter Schütt erzählt Petras von seinem Leben, erzählt von Fußball-Weltmeisterträumen, vom Boxen und von Nächten im eigenen Wald. Ein „Immerwerker“, der nur die Unablässigkeit leben kann, nicht die Lässigkeit. Seine Devise: Nutze den Tag, der in jeder Sekunde steckt. Stets ein Leben zwischen Ost und West – von Freiheit bleibt eines: die Suche danach. Es entfaltet sich die Biografie eines Denkens, das sich an Darwin entzündet und an Foucault. Ins Bild kommt auch das Alter Ego des Regisseurs, der erfolgreiche Stückeschreiber Fritz Kater. Unter diesem Pseudonym schreibt Petras eine Dramatik jener Verwundungen, die den Menschen treffen, wenn er zu schmächtig, zu fühlsam ist für die Kälte der Welt.

Hans-Dieter Schütt

PETRAS

backstage

Mit Texten von
Anja Schneider, Armin Petras, Fritz Kater, Bernd Isele

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Erobert euer Grab!
AISCHYLOS

Don’t cry – work!
RAINALD GOETZ

Inhalt

„Es gibt nicht sieben Sünden“

Sich aus allem nichts machen? Aus nichts alles machen!

I. Kippenbergers Nudeln sind so gut wie Dalís tropfende Uhren

Zu 5 MORGEN

II. … bisschen wie ein Schlagersänger auf dem Kreuzfahrtschiff „Aida“

Dead on arrival Mauerfall

III. Gespräch im Hause Petras über den (natürlich!) abwesenden Herrn Kater

Schallwellenauffangsegel

IV. Ein großer Sieg! Muhammad Alis Kampf mit der Kaffeetasse

Das ganze Drama

„Es gibt nicht sieben Sünden“

Von Anja Schneider

Er ist schnell. Er ist immer vor dir da. Von ihm geht ein Gebot aus: In eine Probe schlurft man nicht hinein, in eine Probe geht man konzentriert. In der Art der Bergwanderer: Spring ins Geröll oder meide es! Von Beginn unserer Bekanntschaft an hat mich Armins Disziplin angezogen. Sie ist Wertschätzung von Zeit und Arbeit. Sich erst mal absprechen, sich langsam eindrehen in die Probe? Nein, es geht sofort los! Befindlichkeiten austauschen, das lähmt nur. Man kann sich rantasten, klar, aber der Tastsinn muss immer auf Inhalt zielen. Es kann laut zugehen oder ganz leise, Hauptsache, alles läuft darauf hinaus, dass ein Erlebnis stattfindet. Er pusht – aber es ist das Gegenteil von Zusammenstauchen. Da ist nichts zu verwechseln. Er kann einfach nicht ertragen, dass nichts stattfindet. Alles muss aufs Erlebnis zulaufen, alle laufen aufs Erlebnis zu. Bewegung! Wenigstens einmal auf so einer Probe musst du ES kriegen, einmal heute musst du den Zipfel jener Decke packen, die wie ein Schutz überm Geheimnis der kommenden Aufführung liegt. Einmal einen Zipfel – mehr erwischen wir sowieso nicht. Nicht vom Leben, nicht vom Stück. Aber wenigstens ein einziges Mal das Gefühl: Wir packen’s, wir haben’s. Und dann ist ES da. Aber alles war nur Probe. Was wird morgen sein? Armin wird wieder vor dir da sein.

Wenn Armin probt, müssen die Türen zu sein. Kein Rein oder Raus. Störung ist Zerstörung. Zeit ist bemessen, Kraft ist bemessen, und wir Spieler sollten unsere Texte können. Nur so können wir schnell auf Situationen reagieren. Mir kommt das zugute. Gelernter Text macht mich frei, nicht fest. Mit gelerntem Text auf die Probe zu kommen, heißt: Ich bewege mich im Stoff und bin präpariert für Regie. Ich glaube, Armin mag Schauspieler nicht so sehr, die sich darbieten, als seien sie ein unbeschriebenes Blatt. Ich mag das auch nicht sein. Mich soll niemand bekritzeln, niemand zerknüllen, und Radierungen – wo nötig – nehm’ ich selber vor.

Er spielt als Regisseur nicht vor, er deutet nur an, Armin, verzeih: Das ist auch gut so. Probieren ist zwangsläufig auch: Wiederholung, er aber kann Wiederholung kaum aushalten; es fällt ihm schwer, Erarbeitetes mehrmals zu sehen. Er schmeißt Szenen raus, ja: Er killt, das kann man so hart sagen, er tut es sehr intuitiv – und scheinbar zufällig. Es ist aber überhaupt nichts zufällig. Er ist manisch misstrauisch gegen alles, was ihm zu lesbar anmutet, zu gefällig, zu gelungen – da wird von ihm das Schönste so zerkloppt, dass wir Schauspieler manchmal besänftigen und retten müssen. Er hat wohl Sehnsucht nach dem großen Gefühl; wer die hat, ist oft bockig gegen das große Gefühl. Zum Glück ist er anfällig für Vorschläge, die sich gegen ihn richten. Ich glaube, er ist hoch emotional und will sich dem nicht voll aussetzen. Das schafft eine Spannung, bei der er zulässt, sie nicht durchgehend zu beherrschen. Immer wieder staune ich, wie er gegen die Texte von Fritz Kater, also die eigenen Texte, vorgeht: radikal. Er inszeniert den Text, aber er inszeniert ihn manchmal auch ungerührt weg. Wir Schauspieler müssen den Autor mitunter in Schutz nehmen, so heftig und ungerührt geht Armin mit dem um, was doch schließlich für uns geschrieben wurde.

Wir lernten uns kennen, indem er mir in Leipzig Oscar Wildes Salome anbot. Es gab im Vorhinein kein gefürchtetes Vorsprechen. Wir unterhielten uns. Er stellte mir Fragen, die dritte Frage war die nach meinen Hobbys. Ich antwortete: „Ich fahre gern Fahrrad und stricke.“ Einfache Frage, einfache Antwort. Wir lachten, und damit war klar, wir würden einen gemeinsamen Ernst entwickeln können. Ich kam gerade vom Studium, Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, er sagte, ich solle erst mal vergessen, was ich da gelernt habe. Ich sagte, gut, und du vergisst deine Vorurteile gegen Schule.

Schon im ersten Berufsjahr so einen Regisseur zu haben! Ich hatte einen Bandscheibenschaden, der linke Fuß war vorerst gelähmt, er gab mir trotzdem die Rolle in seiner Bearbeitung „Alkestis mon amour“. Is’ mir egal, sagte er, und wenn sie im Rollstuhl sitzt! In diesem Stück fällt der Satz: „Es gibt nicht sieben Sünden, es gibt nur eine: den jetzt nicht zu begehren, den du begehrst!“ Das ist Armin Petras für mich: jetzt und nochmal jetzt! Und nur: jetzt! Die Verschwendung nicht aufsparen, Verschwendung ganz in dem, was du kannst.

Zu seiner Auffassung von Schnelligkeit gehört, dass er den Weg durch die Rolle gern mit alpinem Hochleistungs-Slalom vergleicht: Du rast da runter, es gilt nur eines, du musst durch die Stangen kommen, wie ein Blitz, darfst keine auslassen – was dazwischen passiert, ist deine Sache!

Mir ist aufgefallen, wie er Hospitanten behandelt: Spürt er ein Feuer, facht er es weiter an, er hat Freude an der Arbeitslust und Empfänglichkeit anderer Leute. Schöpfung geht bei ihm nicht ohne diese Konsequenz, die am Ende stehen muss: Erschöpfung. Als er ans Gorki Theater ging, sprach er nicht von Ära oder sowas, er sagte, so, wir haben jetzt für eine gewisse Zeit den Schlüssel. Du weißt bei ihm: Alles ist geliehen, jede Dauer, die du anstrebst, ist Frist, komm auf den Teppich, der kann, zeitweise, ein Zauberteppich sein. Wegen dieses Gefühls bin ich auch mit ihm nach Stuttgart gegangen, obwohl ich wusste, Familie, Kind – es würde mich zwischen Berlin und der Ferne aufreiben. Es ging auch nur eine Weile. Aber ich wurde froh in meinem Beruf, wesentlich durch Armin.

Auf die Gefahr hin, dass es pathetisch klingt: Er ist ein ehrlicher Arbeiter. So dahin tändeln und warten, bis uns die Muse küsst? Nein. Aber Fleißnoten werden bei ihm ebenso wenig vergeben. Meine Erfahrung und also Überzeugung als Schauspielerin: Den Unterschied beim Arbeiten machen die Energieströme, die fließen. Bei Armin fließt keine Schwafel-Energie, und an Krösus-Energie hat sich sein Theater nie erwärmt. Momentan ist er kein Schauspieldirektor, kein Intendant. Er hat eine neue Ruhe. Auch sie ist ein weites Land, nicht etwa Enge. Ich glaube, er sieht das auch so. Bei mir zu Hause liegt die Fassung einer neuen Roman-Bearbeitung von Armin. Ich freu mich auf die Arbeit, vielleicht ist sie ist greifbare Zukunft? Ein Werk von Tolstoi. Der Titel hat alles, was unser schönes Leben ausmacht, nach all den Scheinwerfern, die verlöschen, nach all den Vorhängen, die fallen: „Auferstehung“.

Anja Schneider, geboren in Altenburg, spielte am Schauspiel Leipzig, am Maxim Gorki Theater, an den Münchner Kammerspielen und am Schauspiel Stuttgart in wesentlichen Inszenierungen von Armin Petras. Seit 2016 ist sie Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin. Der Text entstand nach einem Gespräch mit Hans-Dieter Schütt im Juli 2020.

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Anja Schneider und Peter Kurth in Baumeister Solness, Regie: Armin Petras, Maxim Gorki Theater Berlin 2006

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Szene Droge Faust, Regie: Armin Petras, Scala Leipzig 2011

Sich aus allem nichts machen? Aus nichts alles machen!

Von Hans-Dieter Schütt

TIM: ich dachte wir hätten das überwunden
YVES: nichts hat man für immer überwunden

Fritz Kater, „we are blood“

Wir sitzen an einem Frühabend in einer Berliner Kneipe, Nähe Tiergarten, gewissermaßen rauchiges Schultheiss-Niveau, auf den Tischen Aschenbecher, über einem der Tische hängt ein uralter klebriger Fliegenfänger mit vielen toten Geschichten. Die Gesichter hinter den Gläsern fassen die Lage zusammen: Schwer fiel es auch heute, zu den Regeln zu stehen, die tagsüber Gesetz sind; aber leicht wares, ihnen zu folgen. Im Radio schießt der 1. FC Union gerade ein Bundesliga-Tor, wer weiß, gegen wen, im Nebenraum spielen zwei Männer Schach, der eine sagt unvermittelt, aus welch unerfindlichem Grunde auch immer: „Barfuß oder Lackschuh.“ Pause. Der andere antwortet: „Ist doch scheißegal.“ Das Leben trägt Maske, aber noch keinen Mund-Nasen-Schutz.

Es sollte für den Regisseur eine Spielzeit u. a. in den Städten Cluj, Bremen, Prag werden, dazu Augsburg, Cottbus, Bonn, Budapest. Petras kam nur bis Augsburg. Dann ging alles Leben auf Abstand. Über die unerwartete Gesprächszeit, die der stetig Reisende nun haben würde, freute ich mich. Zu früh gefreut. Denn dieser Fahrensmann des Theaters ist auch Schreibender: Ergibt sich für ihn freie Zeit, wird sie sofort anderweitig – besetzt. Ein Wort, mit gutem Grund zu rücken in die Nähe von: besessen?

Der Mann mit der ewigen Mütze, 1964 geboren, ist einer der Triebigsten des deutschsprachigen Theaters. Der Regisseur Armin Petras ist der Dramatiker Fritz Kater ist der Regisseur Armin Petras, und keiner ist der andere. Eine seit Jahren praktizierte, zelebrierte Performance der beharrlich gespielten Persönlichkeitsspaltung. Ein Petras-Porträt in Frage und Antwort bedingt also, unbedingt auch Texten von Arminpetrasfritzkater, von Fritzkaterarminpetras Raum zu geben.

2001 hat er den Satz gesagt: „Wenn man öffentlich so sehr zerrissen wird wie ich, gehört für Theaterleiter und Spieler schon ein gewisser Mut dazu, mit mir zu arbeiten. Dafür bin ich jedes Mal dankbar.“ Dank ermüdet. Also wurde er selber Leiter – Oberspielleiter, dann Theaterleiter, am Maxim Gorki Theater Berlin, am Schauspiel Stuttgart.

Die Mentalität des Petras-Theaters ist schwärmerischer Einspruch. Gegen Ordnung, sie lügt. Gegen Übersicht, sie fälscht. Jeder Anfang ist Fortsetzung, jedes Ende kein Abschluss. Die Soap erbittet von der Tragödie ein paar schwere Tränen, das Drama erfährt vom Lustspiel, dass man Tränen auch lachen kann. Leben in diesem Theater: von einer Gefangenschaft in die nächste. Enge ist nicht Geographie, sondern ein Gen. Die Menschen zerschellen am eigenen Schädel, darin das Bewusstsein fiebert und friert.

Theater eines kindlichen Gemüts. Petras (etwa in „3 von 3 Millionen“) legt rote Papierstreifen über eine Hand, und die Hand blutet. Man klebt sich ein paar Papp-Tropfen an ein Kleid, und es regnet also in Strömen. Man malt ein Gesicht grün, und ein Mensch hat sich vergiftet. Man malt mit blauer Farbe ein Boot an eine Bretterwand, an der Wand steht ein Mensch mit ausgebreiteten Armen, und der Farbstrich, der über seine Unterarme geht, macht ihn zum Gefesselten an einem Schiffsmast. Styroporplatten sind Eis und Plattenbaubeton, Feuerzeuge sind Silvesterraketen, Zeitungsschnipsel fachen einen Schneesturm an („we are camera“).

Im Gedächtnis suche ich nach Inszenierungen von Petras, die ihn überzeugend erzählen. So viele. Wenigstens eine von den unzähligen: „Buch (5 Ingredientes de la vida)“ von Fritz Kater, in einer großen Halle, einer Nebenstelle der Münchner Kammerspiele, Bühne: Volker Hintermeier. 2015.

Ingredientes de la vida. Ingredienzen des Lebens. Eine ewige Fortpflanzung des immer Gleichen: Liebe und Tod sowie Instinkt und Sorge – Themen, um die alles kreist. Lebenskreis, Teufelskreis. Der Stoff, aus dem das Verstehen und das Missverstehen erwachsen, das Schlichtende und das Schlachtende – im Umgang miteinander, auf der Weltbühne, in der Wohnung.

Short Cuts zwischen 1966 und 2013. Dabei auch: Szenen aus dem Osten. Durch diese Szenen geistert ein alter Mann – Ernst, der ewige Genosse, einst Streiter für den „neuen Menschen“, nun zusammengesunken ins körperlich Erledigte. Einst geschichtstrunken, jetzt nur noch besoffen. Erst revolutionär, jetzt stationär. Verwitterung im Plattenbau.

Diesen Mann spielt – Ursula Werner. Im braunen Anzug eine bieder-traurige Abgeschabtheit. Das Frauenhaar straffgezogen; erst weit hinten, am Hals, darf es auslocken, sich lockern, sich ausloggen aus der Strenge – als sei es ein trotziges äußeres Zeichen jenes Ungestümen, das dieser Mensch aus den Kämpfen vielleicht noch, in Spuren, im Hinterkopf hat. Dieser gesottene Genosse, vom Jahrhundert verbraucht, von Arbeit gestaucht, von Erfahrung geschlaucht. Wie Becketts Krapp murmelt Genosse Ernst letzte Worte vor sich hin, die Luft eines Ventilators bewegt dazu herunterhängende Tonbänderfetzen, und die ergeben einen Ton, als rausche Regen. Das Petras-Theater ganz bei sich: Minimalismus – höchste Wirkung. Wenn dieser Ernst Blut hustet, greift die Werner in die Jackentasche, hält sich dann die Hand vor den Mund, öffnet sie, und ein Schwall roten Konfettis flimmert zu Boden. So, wie ein Spieler eine Plastetüte mit Wasser auskippt, und fertig ist der Badesee.

Für Petras ist die Bühne eine quirlige Spielbude. Er offenbart sich als ein Meister der Skizzenbilder, dem die Traurigkeit kostbare Schattenflecke auf Lichtungen der Clownerie zaubert. Wir Zuschauer stehen. Im weitem Rund der Halle. Wie Verlorene unter sternenlosem Himmel, im tiefdunklen Raum. Hören auf vier Leinwänden Wissenschaftler über eine Zukunft der planetaren Exile faseln, über den Menschen, dem in Zukunft mehr und mehr die Körperlichkeit entzogen werde. Fortschritt? Eine wahnwitzige Kalkulation aus gesteigerten Kältegraden, auf dass wir komfortabel erfrieren. An uns selber. Was alle Welt von morgen eiskühl zusammenhält, dem sind wir schneller auf der Spur als den Gründen, warum eine einzige Seele auseinanderreißt. Und deshalb zerreißt es auch immer wieder die Welt.

Wir Zuschauer sitzen, nach besagtem ersten Teil, nun auf Bänken. Eine der gewaltigsten, gewalttätigsten Episoden: Eine afrikanische Elefantenkuh (gespielt von Svenja Liesau) erzählt den Roman ihres Lebens, eine schwitzende, schwungwilde Hymne auf Ursprünge – Max Simonischek, Edmund Telgenkämper und vor allem Svenja Liesau werfen sich in einen explosiven Körperkampf; Lederjacken klatschen auf den Boden, als würde Elefantenhaut gepeitscht; ein exakt zügelloses Drunter und Drüber, ein nahezu dampfendes Auf- und Übereinander aus Sex und Chaos, eine schreiende Klage gegen den massakrierenden Menschen, der Hubschrauber wie Panzer schickt, der in diesen „Schraubenfliegern aus Eisen“ Leben und Refugien zerstört.

Den Schlusspunkt setzt die Episode „Sorge“. Ein Paar unter unerträglichem Druck: Der Säugling droht an einer Immunschwäche zu sterben. Der Vater weit weg, die Mutter am Krankenbett. Telefonate des Entsetzens. Tobende oder traurig sprachlose Ungespräche. Thomas Schmauser ist der hysterisch flatternde, brüllend unglückliche, tapsig ungeschickte Ehemann, der in seinen beruflichen Egoismen wie in einem Labyrinth umherirrt, und Anja Schneider, diese besondere Schauspielerin aus dem Grenzland von Schmiegsamkeit und Kühle, gibt eine einschneidend leidende Ehefrau. Der durchdringende Blick einer zutiefst Zeropferten; das beinahe bewegungslose Vibrieren einer gebeugten Mutter, der die Krankheit des Kindes gleichsam in den eigenen Körper wächst.

Ob Fritzi Haberlandt, ein Mädchenclown der Extraklasse, ob Peter Kurth, ein Zartkoloss erster Güte – nur zwei Weitere seien genannt für die Compagnien, die Petras landauf, landab, im „Nebendraußen“ (Peter Handke) des Mainstreams bildet, federnde Springinsfelde des tragikomischen, wunderlichen Funkelns. Petras witzelt, klettert, stürzt, labert, schweigt, lästert und würgt sich an Urtexten entlang. Hamlets Dänemark, in Kassel (Titelrolle Milan Peschel) war eine Hafenbar mit Würstchenstand. Pistolen ballern, keiner fällt um. Der Geist von Hamlets Vater klaut das Fahrrad von Laertes. Am Schlagzeug sitzt zum Schluss der skelettierte Tod. Des Prinzen Hauptsatz im tiefsten Theaterdunkel: Ich hab keine Idee. Der Satz ist Hamlets Gesicht und Schicksal. Der letzte Winkel, in die er sich verkriecht: die eigenen Mundwinkel. Wo der Rest, der hier nur rast, wirklich Schweigen sein darf. Utopie? Finaler Rettungsstuss.

Gern verbindet der Mensch das Datum seiner Geburt mit der leichtfertigen Behauptung, er sei zur Welt gekommen. Als dauere dies nicht lebenslang. Als stehe nicht fortwährend die Frage, wie man zur Welt und gleichzeitig zu sich selbst kommt. Durch die Welt hindurch? An ihr vorbei? Zur Welt zu kommen heißt, zur Vernunft kommen zu müssen – die dir irgendwann dein traurigstes Talent auf Erden klarmacht: zu kurz zu kommen. Die Wesen im Theater von Armin Petras stehen, wie gewurzelt, ohne Chance, zu entrinnen, oder aber sie rennen und rennen, sie offenbaren so das große Werk der Zeit, das uns von den Köpfen in die Füße sinkt: Wahre Tragödien haben Bodenhaftung. Der Mensch: Er soll sich aus allem nichts machen? Der spielende Mensch: Aus nichts kann er alles machen.

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Szene Buch, Regie: Armin Petras, Münchner Kammerspiele 2015

I.

Kippenbergers Nudeln sind so gut wie Dalís tropfende Uhren

BERND: ich war einmal der beste zitherspieler in meiner stadt

MARTIN: was willst du damit sagen

BERND: dass ich es jetzt nicht mehr bin

Fritz Kater, „3 von 3 millionen“

HANS-DIETER SCHÜTT: Armin Petras, es gibt einen Satz von Winston Churchill: „Verschwende keine Krise!“ Haben Sie die Corona-Krise bislang verschwendet?

ARMIN PETRAS: Die Theater spielten plötzlich nicht mehr, also war es eine Zeit des Schreibens.

Aha. Bei aller angeordneten Pflicht zum Abstand – die gilt also nicht gegenüber Fritz Kater: Sie sind nicht zu trennen von ihm. Es heißt: Er sei es, der schreibt.

Ich auch, aber …

Aber?

Wir schreiben unabhängig voneinander. Und Krise oder nicht Krise – ich halte es mit der russischen Grundhaltung zur Existenz: Man atmet. Is’ doch schon mal was.

Mahnend gesagt?

Nein. Mahnung ist das eine, und nicht meins, Erzählung was anderes.

Ist das ein Ausweichen?

Nein. Die Sprachlosigkeiten nehmen zu, man merkt es am ansteigenden Lärm. In den Unsicherheiten aber kann der Sinn für Geschichten erstarken.

In einem neuen Stück von Fritz Kater heißt es: „Die decke aus vereinbarungen die unsere zivilisation trägt ist dünn/ ist schlimm/ dünn/ war es aber schon immer/ wie auch sonst/ zu dicke decken kann man ja nicht drüberziehen/ kann man sich nicht mehr bewegen/ Deswegen sage ich müssen wir immer etwas einschmuggeln/ eine feder einen flügel ein stück papier/ nicht gerade mehrwert aber wert an sich/ was was bleibt/ wenn alles vergessen ist/ vergessen und vergessen und vergessen/ manchmal denke ich wo sind denn all die freunde nur hin/ all die tollen sachen die wir erlebt haben/ shakespeares sonette: alles was bleibt nach 40 sind die kinder/ also/ Der einbruch in den alltag ist aber nicht nur katastrophe/ auch kraft/ wie jede katastrophe eben auch kraft ist irgendwie“.

Ja.

Der Philosoph Philipp Blom schreibt: „Bühnen sind Orte, an denen Transformation fühlbar gemacht werden kann. Ohne sie sind Gesellschaften verarmt, egal, wie viel Geld in ihnen herumschwappt. Sie verlieren die Fähigkeit, sich neu zu erfinden, sie verlieren die Sensibilität für die Frage, warum es sich zu leben lohnt. Neue Bilder zu finden für die Herausforderungen ist das Friedensprojekt der Gegenwart.“

Ja.

Befragt nach Bruderschaften im Geist, nennen Sie stets auch den Spanier Santiago Sierra.

Ja.

Wie Christoph Schlingensief, wie Pina Bausch, wie Einar Schleef und Rainer Werner Fassbinder. Die Namen werden sich wohl durch unsere Gespräche ziehen.

Ja.

Das sind Menschen, getrieben von den Verwerfungen dieser Welt.

Ja. Kunst als eine Welle des Widerstandes – des erhobenen Hauptes mit den gesenkten Blicken der Trauer. Sierra zum Beispiel ist drastisch, radikal. Er spiegelt mit seinen Aktionen, seiner Performance-Kunst nicht das Reale, er übersteigert es, um auf Mechanismen in der Realität aufmerksam zu machen. Er fährt nach Kuba und tätowiert fünfzehn Prostituierten einen Strich über den Körper. Zum Lohn von je einem Dollar. Flüchtlingen färbt er die Haare blond, sie sollen so als Europäer gelten. Bei der Biennale in Venedig lässt er den spanischen Pavillon zumauern – rein durfte nur, wer einen spanischen Pass hatte. Der Pavillon war übrigens leer. Eine Performance gegen die Festung Europa. Er lebt und arbeitet wie die anderen Genannten. So, dass Leben was kostet. Sie haben alle einen Preis bezahlt. Nicht zufällig lebt der Spanier Sierra nicht mehr in Spanien, sondern in Mexiko-City. Tief einatmen, was zum Ausdruck führt. Den ganzen Dreck.

Werner Herzog, Einar Schleef, Jim Morrison, Thomas Brasch – so viele (und doch so wenige), die mit extremer Entschiedenheit jedes Gnadenangebot der Mäßigung ablehn(t)en.

Ja! Eine Idee von sich haben, sie mit unverschämt aggressiver Pose präsentieren, immer weiter, immer wieder, immer autonomer. Ich kann Menschen nur gratulieren, die aus der Fülle schaffen, aus dem Barock ihrer Existenz, nicht aus der Not. Sierra aber gehört zu denen, die aus der Not heraus schaffen. Der Not, in dieser Welt nicht wegschauen zu können. Das Werk als eine schwere Geburt, die auf die Welt kommt, aber nicht in ein täuschendes Licht des Glanzes. Sein Werk ist für mich der Inbegriff von sozialer Plastik. Wie ein Theaterabend ja auch. Auf der Bühne sind Körper, die atmen, die schwitzen, da gibt es einen Organismus, da strahlt oder stockt Energie, vielleicht gibt es sogar eine Seele, das wechselt und ändert sich von Vorstellung zu Vorstellung, da gibt es Tränen, Widerstand, Schmerzen, Lachen, Schwingungen zwischen Bühne und Publikum, Applaus. So leben soziale Plastiken.

Heiner Müller hat die Erfindung der Theater in die Nähe jener Zeit gerückt, da die Irrenanstalten entstanden: Abgeschlossenheit.

Ein Ort für Ver-Rückte. Wo sie genau die Energien ausleben können, die draußen in aller Regel verpuffen.

Für nichts weniger entsteht Poesie als für eine neue Weltverfassung.

Sie verteidigt, was es nie gab.

Kunst als ein Gang in die Niederungen, wo der Zorn trommelt, wo das Trotz-alledem! auf dem Loch pfeift – aber nicht auf dem letzten, sondern auf dem ersten.

Und wo Kunst eine Harmonie aufruft gegen das Chaos, eine Harmonie, die davon träumt, dass sogar die härtesten Steine wieder eine Seele haben dürfen. Die Integrität von Sierra erwächst aus der Kompromisslosigkeit, mit der er sich treu bleibt.

Erheben wir uns nun einen Moment über die Gesellschaft.

Woher wollen Sie die Flügel nehmen? (Lacht).

In einem Interview mit Peter Laudenbach haben Sie gesagt, Sie wären gern wie ein Mauersegler.

Ja, die können im Flug schlafen, ein Auge haben sie geschlossen und eine Hirnhälfte abgeschaltet. Ist doch genial, oder?

Ruhe und Bewegung zugleich. Leiden Sie an zu wenig Schlaf? Nein. Heute nicht.

Aber Sie verstehen, warum man gerade Ihnen so eine Frage stellt.

Ja, mein Arbeitsrhythmus. Angeblich immer zu viel Quantität, zu wenig Qualität (lacht).

Elefanten schlafen pro Tag zwei, drei Stunden. Manchmal nur alle drei Tage.

Nein. Ehrlich? Is’ nich’ wahr.

Doch. Und Giraffen schlafen – im Stehen – sogar nur sieben Minuten am Tag. Die schweren Haie wiederum müssen derart ausdauernd sein bei der Nahrungssuche, dass sie oftmals nur dämmern – man nennt ihren Schlaf: „Lethargie“.

Is’ ja unglaublich. Wissen Sie, welches mein Lieblingsbuch ist? „Die Entstehung der Arten“ von Charles Darwin. Ich bin ein großer Freund der Zoologie.

Doch wohl kaum wegen der Schlafphänomene.

Nein. Mir beantwortet dieses Buch viele Fragen zu Sinn und Segen der Existenz. Du liest Darwin, und es geschieht dir, was so nötig ist: Einordnung, Relativierung. Diese Lektüre ist überall dort zu empfehlen, wo bei Menschen der Missionseifer allzu sehr fiebert. Darwin ist ein kühlender Eisbeutel gegen die Erhitzung durch evolutionäre Anmaßung. Mich interessiert, wie und wieso Arten überlebt haben. Darwin erzählt es, und er erzählt die Welt weit, weit weg von Ideologie. Das tut gut – und es erheitert auch. Zum Beispiel gibt es im Buch einen kopfschüttelnden Text über den Pfau. Darwin versteht nicht, warum diese Art existiert. In den Augen des Forschers ist das ein völlig unsinniges Tier, denn der Pfau kann nicht beißen und fliegen, er kann gar nichts. Vier Seiten umfasst das Unverständnis. Darwins Fazit: Mit diesem Tier habe sich die Natur in ihrem sonst so großartigen Bauplan eindeutig vertan. Es gibt keinen einzigen Grund und keine Voraussetzungen, dass der Pfau überlebt, aber: Er überlebte, und er wird weiter leben. Im Grunde eine niederschmetternde Diagnose, was dieses arme Tier betrifft. Aber dann kommt der großartige Satz von Darwin: „Das muss es aber auch geben dürfen, dass sich die Natur einmal irrt.“ Toll! Naja, bei Irrtum denkt man heute wohl eher an den Menschen.

Nietzsche nannte den Menschen das „unvollendete Tier“. Denn unser Bewusstsein, unser Denkraum hat gar zu viele freie Kapazitäten – und zwar für gefährliche Extras, sie verderben die Konzentration auf das Wenige, das zum puren Überleben nötig wäre. Was man allein schon daran merkt, dass wir uns fortwährend Kriege und andere Katastrophen einfallen lassen. Allerdings hat der Ostberliner Schriftsteller und BE-Kleindarsteller Johannes Conrad vor vielen Jahren auch den herrlichen Satz geschrieben: „Der Mensch kann Städte vernichten, aber er kann auch die Tuba blasen.“

Schön, aber im Gegensatz zum Pfau werden wir als Gattung nicht überleben. Es wird nie wieder ein Zustand eintreten, in dem die Menschheit unfähig wäre, sich selber zu vernichten. Und meines Wissens sind die Rom-Völker die einzige Ethnie, die noch nie einen Krieg angefangen hat.

In Christoph Ransmayrs Stück „Odysseus. Verbrecher“ bekommt der imperiale Kriegskerl aus Ithaka am Schluss Gewehre und Schwerter umgehängt, er ist total metallisch eingekleidet, also schwerstbelastet, und wird zur Strafe in die Welt geschickt – er muss, beladen mit diesem militärischen Verderbenszeug, so lange heimatlos in die Zukunft ziehen, bis kein einziger Mensch und auch er selber sich mehr daran erinnern kann, was das für Geräte sind, die er da mit sich schleppt, und wozu man sie einst benötigte. Odysseus wandert noch immer ruhlos umher.

Da relativiert sich doch sofort die Behauptung, ausgerechnet der unschuldige Pfau sei sinnlos.

Zu dem Stück „5 MORGEN“ von Fritz Kater haben Sie einen Text geschrieben. Er bekräftigt den Wunsch, „einmal im Leben ‚gültig‘ zu sein, einmal etwas unbedingt richtig zu machen, ein ‚Zeichen‘ zu empfangen, eines zurückschicken zu können, in Zeiten der Katastrophe etwas anderes zu sehen als nur den Untergang.“ Wie betrachten Sie diesen Wunsch, bezogen auf Ihr eigenes Leben? Noch immer mit hartnäckiger Hoffnung oder bereits mit einem Anhauch von Verzweiflung, es werde nicht gelingen?

Das kann ich sehr einfach beantworten. Heiner Müller, dessen Dichtung ich gefolgt bin, sagte am Ende seines Lebens einen schönen Satz über seinen Gemütszustand: Er sei ohne Hoffnung und ohne Verzweiflung. In diesen Zustand will ich. Niemanden überzeugen. Auch nicht sich (lacht). Ohne Überzeugung leben. Tastend, nicht sehend …

Kann man wirklich so leben? Generell und durchgehend?