Ebook Edition
Für alle, nicht die wenigen
Warum wir unsere Zukunft nicht den Märkten überlassen dürfen
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ISBN 978-3-86489-817-4
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
* Dieser Beitrag ist dem Andenken an Barbara Stolterfoht, der ehemaligen Verbandsvorsitzenden des Paritätischen, gewidmet.
** Dieser Text beruht auf dem Mitschnitt eines langen Gesprächs mit Dr. Joachim Rock. Ich danke ihm.
Kaum eine Legende hält sich so hartnäckig wie die vom freien Markt, der schon alles richten werde. Selbst sein offensichtlichstes Versagen und seine Tendenz, unübersehbare soziale und ökologische Verwerfungen zu erschaffen, konnten diesem Positivimage lange Zeit nichts anhaben. Zweifel am grenzenlosen Segen der freien Marktwirtschaft äußerten in der Bundesrepublik lange Zeit fast ausschließlich Außenseiter im ökonomischen Diskurs und marginalisierte politische Gruppen. Der Mainstream konnte es dabei belassen, seine Kritiker wahlweise als »linke Träumer « oder gleich direkt als Kommunisten abzutun, was sich als eine überraschend erfolgreiche Strategie erweisen sollte.
Mit der weltweiten Finanzkrise im Jahre 2008 trübte sich die Stimmung jedoch merklich ein. Ein allzu freier Finanzmarkt ließ ganze Volkswirtschaften einbrechen und zahllose Menschen waren von einem Tag auf den anderen ruiniert. Die Welt zeigte sich geschockt. Auch Deutschland erfuhr seine bis dahin tiefste Rezession seit Bestehen der Bundesrepublik. Zweifel am freien Markt und seinen vermeintlichen Selbstheilungskräften griffen nun auch in breiteren Teilen der Bevölkerung um sich. Das Vertrauen in Bänker und Konzernchefs, bis dahin als moderne Heilsbringer verehrt und von der Politik hofiert, nahm deutlich ab.
Die Zweifel wuchsen. In Großstädten wurde bezahlbarer Wohnraum immer knapper. Der Staat hatte bereits um die Jahrtausendwende begonnen, sich immer weiter aus dem sozialen Wohnungsbau zurückziehen, da der Markt es ja richten sollte. Für Investoren wurde es dabei immer lukrativer, hochpreisig zu bauen, Normalwohnungen in Luxusimmobilien umzuwandeln oder einfach nur mit Boden und Leerständen zu spekulieren, als preiswerten Wohnraum entstehen zu lassen. Zugleich stiegen die Mieten horrend und brachten immer mehr Menschen in schier ausweglose Situationen. Mit Maßnahmen wie dem Mietendeckel, Initiativen für Mietenstopps oder auch der Vergesellschaftung von großen Wohnungsunternehmen versuchen sich die Menschen heute, angesichts einer völlig entgleisten Situation, zu wehren und der Marktlogik, die sie aus ihren Wohnungen treibt, Einhalt zu gebieten.
Zeitgleich schafften es Umweltverbände und die neu entstandene Fridays-for-Future-Bewegung, die nahende Klimakatastrophe mit dem nötigen Druck auf der Straße endlich in das öffentliche Bewusstsein zu tragen. Immer mehr Menschen sehen die Notwendigkeit einer rigorosen ökologischen Wende in der Energiegewinnung, in der Landwirtschaft und im Verkehr und auch, dass der profitorientierte Markt keine echten Lösungen für unsere Probleme anzubieten vermag. Ganz im Gegenteil: Sie erleben, wie den mächtigen Nutznießern dieses profitgesteuerten Systems jede noch so kleine Intervention zum Schutz von Umwelt, Menschen, Tieren und selbst Kultur in harten politischen Auseinandersetzungen mühsam abgerungen werden muss und wie Energiekonzerne trotz Fukushima und Klimakatastrophe schamlos auf Entschädigungen für entgangene Gewinne klagen oder Automobilhersteller nicht einmal vor kriminellen Praktiken zurückschrecken, um gesetzliche Vorgaben zu unterlaufen. Nur der Profit zählt.
Selbst der sogenannte Pflege- und Gesundheitsmarkt scheint spätestens seit der Corona-Krise zunehmend in einem anderen Licht. Heruntergesparte und in der Pandemie völlig überlastete Pflegeeinrichtungen gerieten plötzlich in den Fokus des öffentlichen Interesses. Dabei fiel außerdem auf, dass diese mittlerweile zu beliebten Anlageobjekten von internationalen Konzernen und Fonds geworden waren. Selbst als die Pandemie dort bereits Tausende von Opfern forderte und das Personal einen verzweifelten Kampf mit dem Virus führte, meinten Investoren, hier Gewinne einstreichen zu müssen. Das warf sehr grundsätzliche Fragen auf: Kann es richtig sein, dass man pflegebedürftige Menschen als Renditeobjekte handelt? Wo liegen die moralischen Grenzen des Marktes? Ist eine am Menschen orientierte Organisation von Pflege und Gesundheit unter neoliberalen Bedingungen überhaupt möglich?
Immer größeren Teilen der Bevölkerung »dämmert« es: Auf einem Markt, den Profitmaximierung und Konkurrenzdenken beherrschen, geraten sowohl der Mensch als Individuum wie auch die kollektiven Güter, die er zum Leben braucht, aus dem Blick. Dazu gehören etwa soziale Sicherheit, eine selbstbestimmte, sinnvolle Arbeit und die Möglichkeit, seine Existenz in einem lebendigen gut ausgestatteten und kulturell vielfältigen Gemeinwesen selbst zu gestalten.
Das Zusammentreffen von Klimakrise und Coronapandemie hat die Schwächen und die Hilfslosigkeit des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells wie unter einem Brennglas offengelegt. Nicht zuletzt das Preisgefeilsche um lebensrettende Impfstoffe, die Priorisierung der reichsten Länder dieser Welt und der Unwille wie auch die Unfähigkeit, die Patente freizugeben, damit auch die ärmeren Staaten schnell in ausreichender Menge versorgt werden können, kam einem moralischen Bankrott der Marktwirtschaft gleich.
Unser Wirtschaftssystem ist nichts anderes als eine soziale Ordnung, ein Geflecht von Übereinkünften betreffend die Frage, wie wir Menschen gemeinsam wirtschaften wollen. Die neoliberale, an Profitmaximierung und Konkurrenz orientierte Wirtschaftsweise folgt politischen Entscheidungen und ist weder natur- noch gottgegeben. Ihre vielbeschworene Alternativlosigkeit verkommt dabei zum bloßen Schein. Permanente Konkurrenz ist kein Muss, sondern lässt sich durch ein solidarisches Miteinander ersetzen. Auch die Orientierung des wirtschaftlichen Handelns am höchstmöglichen Profit ist nicht alternativlos. Der große gemeinnützige Sektor in Deutschland, ein lebendiges Genossenschaftswesen und auch die wichtige öffentliche Daseinsvorsorge sind dafür Beleg genug. Sie zeigen, dass eine ökonomische Orientierung am Menschen statt an Profiten nicht nur möglich, sondern der Profitlogik sogar überlegen ist. Zumindest dann, wenn es nicht allein um das schnelle Geld, sondern um eine für alle Beteiligten lebenswerte und gute Gesellschaft gehen soll.
Betrachten wir die Wirtschaft erst einmal als soziales System, ist es vor allem unser Menschenbild, das darüber entscheidet, ob wir Alternativen zur neoliberalistischen Wirtschafts- und Lebensweise auch in der Breite für möglich halten oder nicht. Sollte der Mensch tatsächlich dem neoliberalen Bild eines egozentrischen Homo oeconomicus entsprechen, der stets auf den eigenen Vorteil bedacht ist und ewig den Wettbewerb sucht, so wäre es in der Tat müßig, sich über eine bessere Welt Gedanken zu machen. Doch beweist uns eine lebendige Bürgergesellschaft zum Glück täglich aufs Neue, dass es sich bei ihm um ein zutiefst soziales Wesen handelt, das bereit und in der Lage ist, Verantwortung für sein Gemeinwesen zu übernehmen – und dies durchaus mit großer Lust und persönlichem Gewinn! Viele Beispiele in diesem Buch zeigen, dass Mitgestaltung und Teilnahme dem Menschen näher liegen als bloßer Konsum und Handel.
Getragen von dieser Gewissheit und dem Vorsatz, dass wir unsere Zukunft nicht einfach den Märkten überlassen dürfen, beleuchtet dieser Band die Themen Wohnen, Verkehr, Umwelt und Energie, Landwirtschaft, Pflege und Gesundheit, Kultur sowie das Verhältnis zwischen Stadt und Land. Als Herausgeber bin ich glücklich, Autorinnen und Autoren gewonnen zu haben, die nicht nur ausgewiesene Fachleute für ihre Bereiche sind, sondern als Vertreterinnen und Vertreter wichtiger Non-Profit-Organisationen mitten in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung stehen. Sie sind mit den Problemen vor Ort vertraut und wissen, wo der Neoliberalismus versagt, kennen aber auch die vielen Praxisprojekte und Initiativen, die Mut machen und uns Wege zu einem neuen Wirtschaften aufzeigen – für alle, nicht die Wenigen.
Ulrich Schneider am 17.04.2021