Antonio
SCURATI

DER MANN DER
VORSEHUNG

Roman

Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull

Klett-Cotta

Das Bild des glorreich siegenden Duce, der sich den Mord an Matteotti wie einen Verdienst ans Revers geheftet hat, scheint in weite Ferne gerückt. Zur Befriedung der Zänkereien zwischen seinen Gefolgsleuten setzt er andere ein; die ungestüme Tochter Edda verheiratet er kurzerhand mit Galeazzo Ciano; Badoglio und Graziani werden mit der afrikanischen Mission betraut, die im Grauen von Giftgas und Konzentrationslagern mündet. Antonio Scurati schreibt den Weg von »M. Der Sohn des Jahrhunderts« auf beeindruckende Weise fort: Mithilfe der Verflechtung von Erzählung und Originalquellen entreißt er die Schlüsselfiguren und -ereignisse der Jahre 1925 bis 1932 dem Vergessen und findet einen ebenso intimen wie transparenten Zugang zur Person Mussolini. Der Roman endet mit dem zehnten Jahrestag der Revolution, als M. das gespenstische Denkmal für die faschistischen Märtyrer errichten lässt, das mehr noch als an vergangene Tote an heraufziehende Katastrophen zu gemahnen scheint.

Antonio Scurati, 1969 in Neapel geboren, lehrt an der Universität Mailand und koordiniert dort das Forschungszentrum für Kriegs- und Gewaltsprachen. Seine Romane sind in viele Sprachen übersetzt und wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Premio Mondello und dem Premio Campiello. Sein jüngster Roman »M. Der Sohn des Jahrhunderts«, stand monatelang auf der italienischen Bestsellerliste, wurde von der internationalen Presse gefeiert und erhielt den wichtigsten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega.

Verena von Koskull, Jahrgang 1970, studierte Italienisch und Englisch für Übersetzer sowie Kunstgeschichte in Berlin und Bologna. Seit dem Jahr 2002 ist sie als Literaturübersetzerin tätig und übersetzt außerdem für die Wochenzeitung DIE ZEIT.

Impressum

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

Die Übersetzung dieses Buches kam dank einer Förderung des Italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Zusammenarbeit zustande.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »M. L’uomo della provvidenza«
im Verlag Bompiani, Mailand

© 2020 Antonio Scurati. Published by arrangement with
The Italian Literary Agency

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Zitate in diesem Buch stammen aus:

Ludwig, Emil: Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 1932

Nolte, Ernst (Hrsg.): Theorien über den Faschismus.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1967

Schlemmer, Thomas und Woller, Hans: Der Faschismus in Europa –
Wege der Forschung. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2014

Cover: KC-Design, nach einem Entwurf von Anzinger & Rasp, München

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-98457-6

E-Book ISBN 978-3-608-11659-5

Der Autor weist darauf hin, dass die im Roman enthaltenen Dokumente, Typoskripte, Telegramme und Briefe samt ihren Rechtschreibfehlern und Fehlern in der Zeichensetzung sowie sachlichen Unrichtigkeiten originalgetreu wiedergegeben sind: Auch derlei Kleinigkeiten verraten viel über die Menschen, die diese Dokumente verfassten oder abschrieben.

Auch sei darauf hingewiesen, dass im Oktober 1927 verpflichtend eingeführt wurde, dem Datum nach herkömmlicher Zeitrechnung in römischen Ziffern das Jahr der faschistischen Ära hinzuzufügen. Das erste Jahr der Era Fascista markierte der Marsch auf Rom am 28. Oktober 1922, wodurch sich eine Abweichung zum gregorianischen Kalender von gut zwei Monaten ergab.

Im Bewusstsein, einen dokumentarischen Roman zu verfassen, hat sich der Autor in seltenen Fällen dennoch die Freiheit minimaler, dem Gang der Erzählung geschuldeter zeitlicher Abweichungen sowie die eine oder andere winzige Fiktion erlaubt, was am Wesen der Epoche und ihrer Protagonisten jedoch überhaupt nichts ändert. In wie vielen Fällen? Nicht öfter, als sich an den Fingern der schreibenden Hand abzählen lässt.

Die Zeit, die in unserer Zeitrechnung – vergessen wir das nie – eines unserer wertvollsten Güter ist, nimmt erst als Erzählung menschliche Konturen an. Erzählung, die gleichwohl wahrheitsgetreu ist.

1925

Benito Mussolini
Rom, 15. Februar 1925

Der Atem ist pestig, der Schmerz zerreißt den Unterleib, das grünliche Erbrochene ist von Blut durchschliert. Von seinem Blut.

Die druckschwarzen Seiten segeln in die stinkende Lache. Unmöglich, Zeitung zu lesen. Sein glorreicher, von saurer Hypersekretion und Gasen gedunsener Körper schlingt Luft und ringt mit über die Armlehne des Sofas zurückgekipptem Kopf nach Sauerstoff. Ringsum tanzt das Zimmer einen Ringelreigen aus offenen Magengeschwüren.

Offen gestanden ist dieses Schlafgemach, dieser Alkoven, in dem der Regierungschef reihum seine zahlreichen Geliebten empfängt, auch ohne den Gestank blutigen Auswurfs nicht sonderlich anheimelnd: Tapeten aus rotschwarzem Samt an den Wänden, in der Ecke ein Betstuhl, vollgestellt mit Heiligenfigürchen, Gaben von Frauen aus dem Volk, und Medaillen, dargebracht von Männern des Krieges; dort der groteske ausgestopfte Steinadler mit gespreizten Flügeln, während einer Squadristen-Versammlung in Udine vom Himmel geholt; der Teppichboden, ebenfalls rot, auf dem das Löwenjunge, ein Geschenk glühender Verehrer, bevorzugt sein Geschäft verrichtet. Ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Kämmerchen für die Dienerschaft und nicht einmal eine Küche. Und überall der beißende Gestank nach Wanderzirkus. Willkommen im Heim des jüngsten Ministerpräsidenten Italiens und der Welt.

Der Schmerz packt ihn aufs Neue, bohrend, dumpf, unerbittlich. Vielleicht sollte er mit letzter Luft um Hilfe rufen. Doch der Duce des Faschismus fleht nicht um den Beistand eines auf dem Treppenabsatz dösenden Wachtpostens oder seiner umbrischen Magd Cesira Carocci, die dumm ist wie eine Ziege und dürr wie ein Kreuzigungsnagel.

Es ist ja auch nicht das erste Mal. Seit Wochen, Monaten wird seine Speiseröhre regelmäßig von Anfällen heimgesucht. Zuerst regt sich ein seltsamer Appetit, ein flauer, widerwilliger Hunger ähnlich einer fruchtlosen Ehe oder einer Scheinschwangerschaft, dann folgen die Blähungen, das Aufstoßen.

Vergangene Woche nahm Ercole Boratto, der Chauffeur des Vertrauens, seinen üblen Mundgeruch sogar auf dem Fahrersitz wahr. In der ersten Kurve der Via Veneto blickte er verstohlen in den Rückspiegel, doch der Rücksitz war leer. Als er sich umdrehte, sah er seinen Chef auf den Knien kauern, die Hände auf den geschwollenen Unterleib gepresst, die berühmten Augen zu Schlitzen verengt, die Polster waren mit Verdauungssäften bekleckert. Sie mussten den wie von einem Schlaganfall entstellten Mann ins Bett schleppen und ihm mit dem Taschentuch des Fahrers die Mundwinkel abwischen.

Das ist aus Benito Mussolini, dem Duce des Faschismus, geworden, ein Verdauungsapparat und sonst gar nichts. Abführmittel und ihre Folgen. Das ist sein einziger Gedanke. Unser Herr Jesus Christus hat alles falsch gemacht: Er hätte uns anders gestalten und die Gedärme weglassen sollen. Er hätte uns so erschaffen sollen, dass die Luft uns nährt, oder sich mehr ins Zeug legen können, damit wir die aufgenommene Nahrung nicht wieder ausscheiden müssen. Stattdessen ist die Menschheit zum ewigen Kampf um die Entleerung verdammt, zum Leidensweg der Darmverstopfung. So kommt es, dass er, der Führer der Schwarzhemdlegionen, der Eroberer Italiens und höchstgeschätzte Italiener der Welt, kaum dass er zu Abend einen Teller Spaghetti mit Tomatensauce isst, drei Tage lang keinen Stuhlgang hat. Wenn doch, setzt er allenfalls einen teerigen Klumpen Exkremente ab, die so dürftig und scharfkantig sind wie Pflaumenkerne.

Dabei raucht er nicht einmal, trinkt kaum noch, treibt regelmäßig Sport und befolgt eine strenge Diät. Doch er kennt ihn, den Grund all dessen: Der Große Krieg und die Psychologie der Massen haben seine Verdauung ruiniert. Das ganze in den Schützengräben hinuntergeschlungene Dosenfleisch, all die nach einer Versammlung an irgendeinem Provinzbahnhof gekauften und hastig auf dem Rücksitz verdrückten Lunchpakete, während der treue Boratto ihn zur nächsten Versammlung kutschierte.

Doch letztendlich trägt Giacomo Matteotti die Hauptschuld daran, sein erbitterter Widersacher, der »Sozialist im Pelzmantel«, der Sohn eines Großgrundbesitzers, der sich für die bettelarmen Bauern aufgeopfert hat. Seine von einem kleinen Kläffer in einem Walddickicht im römischen Umland gefundene Leiche, die man zusammengeklappt wie ein Buch mit gegen den Rücken gebogenen Beinen per Fußtritten in einer zu kurzen, mit untauglichem Werkzeug – einer Eisenfeile – hastig ausgescharrten und mit Erdaushub nachlässig zugeworfenen Grube entsorgt hatte. Giacomo Matteottis Kadaver trägt die Schuld an seiner mörderischen Verstopfung.

Und der Idiot Giovanni Marinelli, dieser erbärmliche, korinthenkackerische Schatzmeister der Faschistischen Partei, der zu Matteottis Beseitigung nicht ein paar Scheinchen für Leute vom Fach hatte springen lassen, damit zwei Lire übrig blieben für einmal sattessen und ein Frauchen abschleppen, sondern lieber ein paar Volltrottel anheuerte und mit seiner Knauserei für das schlimmste politische Verbrechen des Jahrhunderts sorgte. So hatte die Knickerigkeit eines kleingeistigen Bürokraten aus einem einsamen, fanatischen Widersacher einen heldenhaften modernen Märtyrer im Freiheitskampf gemacht. Und ihn, den glorreichen Duce, in ein gequältes Bündel verknoteter Eingeweide verwandelt. Während die Anklageschriften sich häuften, die gegnerische Presse wetterte, die Glocken der Linken zur Verteidigung der Freiheit und die der ganzen Nation zum Tode Benito Mussolinis Sturm läuteten, hatte er seine engsten Mitarbeiter opfern müssen wie ein russischer Fürst, der den Wölfen die Kutscher zum Fraß vorwirft, um die eigene Haut zu retten. Raus mit euch: Cesare Rossi, Aldo Finzi, De Bono, Marinelli, sogar Balbo. Rette sich, wer kann.

Aber dann war der 3. Januar gekommen. Der Tag der Revanche. Der Tag, an dem Benito Mussolini aufrecht auf der Kommandobrücke des Ministerpräsidenten dem Parlament in schwerer See einsam die Stirn geboten und triumphiert hatte. Der Tag, an dem Benito Mussolini »Ich« gesagt hatte. Ich allein – hatte er gebrüllt – trage die politische, moralische und historische Verantwortung für das, was geschehen ist. Ich bin Italien, ich bin der Faschismus, ich bin der Sinn des Kampfes, ich bin das gloriose Drama der Geschichte. Sollte jemand es wagen, mich an diesem knorrigen Ast aufzuknüpfen, dann erhebe er sich jetzt und hole Seife und Strick hervor.

Niemand hatte sich erhoben. Es war zu einer Kraftprobe gekommen, und die Demokratie hatte sich wehrlos gezeigt. Und sich deshalb unterworfen.

Gewiss, hie und da wurde noch ein klägliches Wimmern des Widerstands laut. Der König hatte sich geweigert, blanko ein Dekret zur Auflösung des Parlaments zu unterzeichnen, ihn dann jedoch des Vertrauens seiner Majestät vergewissert. Filippo Turati, der Genius der sozialistischen Opposition, hatte mit den Achseln gezuckt und seine Anhänger beschwichtigt – »Keine Sorge, das ist der übliche Mussolini, der brüllt, um die Spatzen zu verscheuchen« –, sich dann jedoch auf moralische Entrüstung beschränkt, als sei Moral eine politische Größe. Der große Staatsmann Giovanni Giolitti hatte Mitte Januar noch die Kraft gefunden, sich öffentlich gegen seinen Vorschlag einer Wahlrechtsreform zu stellen, doch dann war das Gesetz – Matteotti hin oder her – mit 307 bei nur 33 Gegenstimmen angenommen worden. Obendrein hatte die Abgeordnetenkammer Mitte Januar an einem einzigen Tag ganze 2376 vom Duce gewollte Gesetzesdekrete abgesegnet.

Zudem hatte sein Innenminister binnen vierundzwanzig Stunden 95 politische Vereine und 150 verdächtige öffentliche Einrichtungen geschlossen, Hunderte oppositionelle Gruppen und Organisationen aufgelöst, 611 Telefonanschlüsse und 4433 öffentliche Plätze überwacht, 655 Hausdurchsuchungen angeordnet, 111 »Umstürzler« festgenommen. Unter dieser gewaltigen Ladung Dekrete und Festnahmen waren die letzten Querschläger begraben worden. Und zwar so tief, dass kein fickeriges Hündchen sie auszubuddeln vermochte. In jenen Tagen hatte das ganze Land feststellen können, dass Turati, Giolitti und deren Getreue keine tragenden Säulen der Freiheit waren, sondern lediglich Fassadenschmuck. Allen war klargeworden, dass diese vermeintlichen Leuchten des Antifaschismus nichts als Todgeweihte waren, die von der Hochzeit träumten.

Und doch zerreißt es ihm mehr als einen Monat nach jenem Handstreich in diesem Moment, auf diesem versifften Sofa, auf diesem von einem Löwenjungen vollgekackten Teppich, abermals die Eingeweide. Der Schmerz breitet sich sogar noch aus. Von der Bauchmitte zieht er jetzt bis in die rechte Schulter und erfasst von dort den gesamten Rücken- und Lendenbereich.

Er versucht sich in eine Sitzposition zu hieven. Vergeblich. Mit Mühe würgt er die Galle hinunter und überlässt sich der Ohnmacht.

An alldem ist die Unwägbarkeit schuld. Die unsichere Zeit voller Zaudern und Zögern, die seit Jahren andauert und einfach nicht enden will. Es ist ein einziges Herumeiern. Dem Triumph ihres Führers zum Trotz fahren die Mitglieder seiner Regierung bei jedem Blätterrascheln zusammen. Die treulosen Unterstützer heucheln bedingungslose Zustimmung und träumen doch davon, dass wiederauferstehe, was längst tot ist, das allgemeine Wahlrecht, die Verhältniswahl, die Mauscheleien des parlamentarischen Systems. Die alten, untröstlichen Gemäßigten folgen dem Kraftakt der Diktatur und weinen doch der netten Rendite ihrer oligarchischen Privilegien nach. Es ist die Verdammnis zum täglichen Kompromiss, zur ständigen Wiederholung, zur parlamentarischen Verstopfung, zur Politik als banalem Verwaltungsakt, zu minimalen Ergebnissen bei maximalem Einsatz. Es ist die Strafe der Demokratie, und er verbüßt sie in diesem Mischmasch aus Kotze und Blut. Wozu hat man Revolution gemacht, wenn man sich doch nur wieder von einem Tag zum nächsten quält?

Doch es ist noch schlimmer. Der bohrendste Stachel ist, dass nach gemachter Revolution die Revoluzzer bleiben. Hat man die Macht mit Gewalt erobert, bleiben die Schläger. Es bleiben der Kampfplatz, die Arena der Wahnsinnigen, der Schaum der Tage, die Aufrührer, die Verrückten, die Kriminellen, die Durchgeknallten, die Illegalen, die Nachtschwärmer, die ehemaligen Zuchthäusler, zündelnden Gewerkschafter, verzweifelten Zeitungsschmierer, die Heimkehrer, die Schuss- und Hiebwaffen zu bedienen wissen, die abgedrehten Fanatiker, die Überlebenden, die sich selbst für todgeweihte Helden und eine schlecht kurierte Syphilis für einen Wink des Schicksals halten. Holzköpfe, mittelmäßige, dumpfbackige und ignorante Trottel, die alles der fiebrigen Schönheit des Marsches auf Rom verdanken und den Rest ihres Lebens nichts anderes tun werden, als ihm nachzuweinen. Es bleiben die ewigen Squadristen, die ihre Waffen nicht niederlegen, und die Kämpfer der ersten Stunde, die einem mit der Uhr in der Hand bis in alle Ewigkeit vorwerfen, dass diese Stunde für immer vorüber ist.

Er hat nichts gegen Gewalt: So sind diese Zeiten nun einmal, Gewalt bleibt unerlässlich. Doch die Ernennung Roberto Farinaccis zum Sekretär der Nationalen Faschistischen Partei dreht ihm den Magen um. Farinacci, der sich als Speerspitze der »Falken« geriert, sich zum lombardischen Bollwerk gegen jedweden Antifaschismus erhebt, als Hüter der revolutionären Reinheit aufspielt.

Roberto Farinacci ist in Wirklichkeit ein ungehobelter Prolet, der nur die Sprache des Holzhammers versteht, er ist der Sieg der Provinz über die Stadt, der Brutalität über die Klugheit, des sturen Taktierens über die große Strategie, des Straßenschlägers über den Olympiaboxer, des gerissenen Raufbolds über den Mut des Soldaten. Farinacci ist Zorn in Potenz, der Schrecken seiner Feinde, Farinacci ist gelebte Beißwut.

Und dennoch bleibt Roberto Farinacci unerlässlich, weil Francesco Giunta und Cesare Rossi in das Matteotti-Verbrechen verwickelt sind, Italo Balbo sich wegen des Mordes an Don Minzoni vor Gericht herumschlagen muss und Emilio De Bono dem Obersten Gerichtshof überstellt wurde. Seine Gewalt ist rettende Entschlossenheit. Aus diesem Grund hat er, Benito Mussolini, ihn Tags zuvor an die Spitze der Partei gesetzt, und aus diesem Grund steigt ihm jetzt wieder ein Schwall Kotze die Speiseröhre hoch.

Und dann wäre da noch alles Übrige. Das Postengeschacher der Faschisten untereinander, der Ärger über die Biografie der Sarfatti, die ihn der Welt im Pyjama präsentiert, die Infamie der Emigranten, die seine historische Leistung schmähen, die Katholiken, die ihm weiterhin die Erziehung der Jugend streitig machen, das Unvermögen der Italiener in Afrika, die ihn als lächerlichen Wüstensammler dastehen lässt, die verborgenen Machenschaften der Freimaurer, der Dünkel der Intellektuellen, die herablassende Art der Savoyer, die Börsenspekulanten, die Währungskrise, das öffentliche Verbrennen der Lira auf Plätzen.

Und vor allem ist da der Gedanke des auslöschenden Todes; der Tod als Apokalypse, als Ende der Welt. Darin liegt die tragische Größe der Situation: Wenn ich sterbe, löst sich alles auf. Heute ist das faschistische Regime der Seinszustand Italiens, es ist Italien, doch den Tod seines Gründers würde es keine Stunde überleben. Der Faschismus würde sich in sich selbst verbeißen, in einem Wimpernschlag würden sich die Faschisten gegenseitig zerfleischen. Wir stehen vor diesem großen Geheimnis: Keine noch so mächtige Idee wird dem Kannibalismus je widerstehen können. Nur ich, der Mann, der dem Staat und dem Faschismus Kraft gibt, ich allein kann das Ende aufhalten; also der Staat bin ich, der Faschismus bin ich. Ich, der Autodidakt, ich, der Sohn einer Magd, ich, der späte Lehrling, ich, der Sohn des Volkes, der sich jenseits der vierzig mit dem Aneignen von Sportarten abmüht, die zum Privileg des Bürgertums gehören, ich, der ich mit Willensstärke und Beharrlichkeit zum gefürchteten Fechter und meisterhaften Reiter werde, der Reitstunden bei Camillo Ridolfi nimmt, ich, der lernt, ein Flugzeug zu fliegen, Motorrad zu fahren, mich auf Skiern zu halten, elegant zu schwimmen, ich, der sogar das Tennisspiel trainiert.

Ich, ganz rastlose Beharrlichkeit, Disziplin, fester Wille und karge Abendmahlzeiten, ich kümmere mich um alles, habe alles im Griff, vom Schulbau bis zu leckgeschlagenen Wasserleitungen, ich lese Hunderte Berichte zu jedwedem Belang, mache mir handschriftliche Randnotizen, stundenlang, seitenweise, jeden verdammten Tag, ich bin das Lasttier der Nation, ich bin der Ochse der Nation. Also darf ich nicht sterben.

Aus diesem Grund bleibe ich im Klammergriff von Migräne und Verstopfung, Verstopfung und Migräne. Bisweilen ist mir, als platzte mir wortwörtlich der Schädel, so wie jetzt, auf diesem Sofa… ein unablässiges Hämmern… tausend Probleme, allesamt dringend, und sie alle hämmern und klopfen, um sich mir ins Hirn zu bohren… Häuser in Rom, Wasser in Apulien, Schulen in Kalabrien und Messina, ein großer Bahnhof in Mailand… inzwischen habe ich ganz Italien wie eine riesenhafte Landkarte im Kopf, mit all seinen Knotenpunkten, Straßen, Bahnstrecken, Brücken, mit all seinen Forstprojekten, Stauseen und Trockenlegungen, mit all seinen drängenden Problemen. Also darf ich nicht sterben.

Schon wieder die alte Leier: der Mord an Matteotti, das Gespenst Matteotti, die Reue über Matteotti. Die Gegner beten das unermüdlich herunter, klammern sich verzweifelt und ihres Seins nicht sicher daran fest wie Klageweiber am rituellen Jammer angesichts der rätselvollen Schwärze des Todes.

Gewiss, ganz ohne Zweifel, der Onorevole Giacomo Matteotti ist tot. Meine Faschisten haben ihn abgemurkst. Doch ich darf nicht sterben, und deshalb reagiere ich wie folgt: Die Verantwortlichen müssen vor Gericht. Über ein politisches System kann kein Gericht ein Urteil sprechen, sondern allein die Geschichte.

Denn was ist dieses ganze nationale Gewese um den Mord an Matteotti unterm Strich? Eine Verschwendung von zentnerweise Druckerschwärze, Tonnen Zeitungspapier, Kilometern tiefsinniger Artikel, die niemand liest.

Ich habe einen starken Stand. Ich bin ein Mann der Schlacht. Ich rühre mich von hier nicht fort, zur Rettung aller. Ich überlasse mich nicht den Zeitungsglossen, ich gehöre der Geschichte. Der Sturm legt sich. Im Wald wird wieder Ruhe einkehren. Das Unterholz gehört abgefackelt.

Aus dem Zwölffingerdarm steigt durch den Pylorus ein neuer Schwall Mageninhalt den Schlund empor. Instinktiv will der Körper sich aufrichten, ins Bad stürzen, die Kloschüssel erreichen.

Benito Mussolini schafft keinen Schritt. Kaum auf den Beinen, bricht er zusammen. Der dumpfe Aufprall eines leblosen Körpers auf rotem Teppichboden. Das ist die letzte Erinnerung, der Abschied, mit dem der Duce des Faschismus sich der Welt empfiehlt.

STRENG VERTRAULICH, PERSÖNLICH ZU ENTSCHLÜSSELN. BITTE ARNALDO MUSSOLINI MITZUTEILEN, DASS S. E. DER PRÄSIDENT ERNSTLICH INDISPONIERT IST STOP DIESER LITT VERGANGENE WOCHE AN MAGENBESCHWERDEN, DIE SEIT GESTERN ZUGENOMMEN HABEN UND EINIGE TAGE STRIKTER RUHE VERLANGEN STOP NACHRICHT NATÜRLICH BIS AUF WEITERES VERTRAULICH.

Telegramm des Innenministers

an den Präfekten von Mailand für Arnaldo Mussolini

In den ersten Nachmittagsstunden wurde bekannt, dass On. Mussolini indisponiert sei. Die Nachricht erhärtete sich später, als On. Federzoni den Senat um eine Vertagung der Arbeit ersuchte… Nach vorliegenden Informationen handelt es sich bei der Unpässlichkeit des On. Mussolini um eine Grippe, wie sie um diese Jahreszeit weit verbreitet ist.

Corriere della Sera,

17. Februar 1925

Benito Mussolini
Rom, 16. Februar 1925

»Die kriegen mich nicht klein, selbst wenn sie Kanonen gegen mich auffahren.«

Dies, so will es die von der Zeugenschaft eines Anwesenden genährte Legende, sind die ersten Worte, die der Duce bei seinem Erwachen am 16. Februar von sich gibt. Unter der Wirkung der Beruhigungsmittel mag Benito Mussolini vom Schützengraben fantasieren, doch er ruht auf zwei Daunenkissen in seinem Bett, in seiner Wohnung des Baron Fassini Camossi gehörenden Palazzos in der Via Rasella, hinter den Quirinalsgärten. Über Rom graut der Tag.

Das erste Gesicht, das vor ihm auftaucht, als sich der schwummerige Barbituratnebel lichtet, ist das seiner Haushälterin Cesira Carocci, einer einfachen Umbrierin mittleren Alters, groß, schlank, kräftig, nicht schön, mit langem Hals, straff anliegendem schwarzem Haar, Knopfaugen und Kartoffelnase. Sie hat ihn nach der Ohnmacht aus der Lache seiner eigenen Kotze vom Boden aufgelesen und seither umsorgt wie eine Vestalin das heilige Feuer. Als er erwacht, sind seit der Auffindung seines vor dem Sofa kollabierten Körpers rund sechs Stunden vergangen, Stunden voller Magenblutungen und Würgekrämpfe, ehe gegen vier Uhr morgens endlich Besserung eintrat.

Neben der treusorgenden Wächterin erspäht der Kranke die verschlafenen Gesichter von sieben fast durchweg betagten und zumeist unbekannten Männern. Drolligerweise tragen diese von ein und demselben Empfang weggerissenen Herren allesamt die für Galadiners typische Jacke, vorne kurz und hinten mit langen Schwalbenschwänzen. Sieben Frackträger am Krankenbett der Geschichte.

Mussolini erkennt nur Alessandro Chiavolini, seinen persönlichen Sekretär, Angelo Puccinelli, einen der Ärzte seines Vertrauens, und Ettore Marchiafava, international renommierter Pathologe, Universitätsprofessor, Mitglied der Akademie der Lincei und Senator, Experte für tuberkulöse Arthritis, Syphilis und Malariologie. Auch die anderen Mediziner sind Koryphäen ihres Fachs: Gastroenterologen, Kardiologen, Pathophysiologen. Über die Symptome waren sich sofort alle einig: Hämatemesis, Teerstuhl, Ohnmacht. Die Diagnose fällt einhellig: Der Duce leidet an einem Ulcus duodeni. Der Aufbruch geschwüriger Blutgefäße im oberen Magen-Darm-Trakt lässt keinen Zweifel daran. Mit der Prognose hält man sich jedoch zurück.

Wie Haruspexe, die die Leber einer abgestochenen Ziege deuten, um einen Orakelspruch daraus abzuleiten, verbringen diese illustren Wissenschaftler die beiden folgenden Wochen damit, Benito Mussolinis kaffeesatzschwarze Fäkalien nach verstecktem Blut zu durchwühlen. Während der ganzen Zeit wacht Cesira Carocci rastlos über ihn, vierzehn Tage und Nächte am Stück, ohne sich zu waschen oder umzuziehen.

Die Unterzeichnenden haben S. E. Mussolini untersucht.

Er ist an einem Ulcus duodeni erkrankt und hat in den Nächten vom 15. auf den 16. und vom 16. auf den 17. Blutungen erlitten.

Die Ärzte Giuseppe und Raffaele Bastianelli und Ettore Marchiafava,

handschriftliches Attest, 17. Februar 1925, 10:30 Uhr morgens.

Luigi Federzoni, Benito Mussolini
Rom, 26. Februar 1925

Als er sich am Morgen des 26. Februar zum ersten Arbeitstermin des Ministerpräsidenten nach dessen Erkrankung in die Via Rasella begibt, ist Luigi Federzoni über die Einzelheiten gänzlich im Bilde. Er weiß alles über die Krankheit, wie es selbstverständlich ist für einen Innenminister, der dem Duce selbst in den dunkelsten Krisenmomenten nach dem Matteotti-Mord die Treue gehalten hat. So unterzeichnete der aufgrund seiner Wesensart und Bildung für die squadristische Gewalt gänzlich unempfängliche Federzoni am 3. Januar die Dekrete zur Mobilisierung der Miliz, zur Beschlagnahmung oppositioneller Zeitungen und zur landesweiten Razzia bei politischen Gegnern. Obschon ein sanftmütiger, liebenswürdiger Mensch und feinsinniger Intellektueller mit Abschlüssen in Rechtswissenschaften wie in Literatur, Verfasser von Romanen, Novellen und literarischen Essays, Schüler Giosuè Carduccis, des großen Dichters der erhabenen Redekunst, hat der Innenminister dennoch entschieden, diesen womöglich unumkehrbaren Schritt in Richtung Diktatur zu gehen. Somit ist Luigi Federzoni einer der Wenigen, die die Wahrheit über Mussolinis Leiden kennen.

Der Duce empfängt ihn in einer über die Hose hängenden Pyjamajacke. Wegen der verordneten strengen Flüssigdiät ist er bleich, abgezehrt und eingefallen. Da er sich immer nachlässig selbst rasiert, ist der berühmte Unterkiefer von einem fingerbreiten dunklen Bart bedeckt. Abergläubisch wie immer, dreht er einen »überaus wirkmächtigen Talisman aus dem Orient« in den Händen, den ihm Gabriele D’Annunzio geschickt hat. Gestützt von Cesira, tut der Rekonvaleszent widerwillig ein paar wenige, wackelige Schritte, als habe ein geborstenes Abwasserrohr den Fußboden überschwemmt, und legt sich sogleich wieder hin.

Das erste Thema, das Mussolini mit Federzoni bespricht, das dringlichste, ist der Ruf seiner Unverwüstlichkeit. Sein tatsächlicher Gesundheitszustand wird geheim gehalten. In den Zeitungen war kurz von einem vorübergehenden, jahreszeitbedingten Leiden die Rede, von einem »leichten grippalen Infekt« mit »sehr geringem« Fieber. Abgesehen von den Ärzten, Cesira Carocci, seinem persönlichen Sekretär und dem Bruder Arnaldo, der vom Mailänder Präfekten durch eine verschlüsselte Nachricht in Kenntnis gesetzt wurde, weiß so gut wie niemand, wie schwer krank Benito Mussolini ist. Nicht einmal seine Frau Rachele. Auch sie wird im Dunkeln gelassen, und man hat ihr untersagt, zu ihm nach Rom zu kommen, um die Bevölkerung nicht aufzuschrecken. Nicht einmal Margherita Sarfatti, seine wertvolle Mitarbeiterin, Mentorin und Langzeitgeliebte, die von der Carocci über die wechselnden Stelldicheins im Bett des Duce auf dem Laufenden gehalten wird, hat an sein Krankenlager eilen können. Doch hat diese Heimlichtuerei das Gegenteil der gewünschten Wirkung erzielt: Die Gerüchte sprießen, die Tuscheleien wuchern, die Lügen mehren sich. Hunderte bekümmerte Briefe aus ganz Italien, häufig von schlichten Bauern, bezeugen die Verehrung des Duce und tragen ihm Heilmittel, Tränke, Exorzismen an, von steif geschlagenem Eiweiß bis Heilkräutersud. Manch einer behauptet gar, Benito Mussolini sei bereits tot. Die antifaschistischen Abgeordneten, die dem Parlament seit Monaten aus Protest fernbleiben – die sogenannten »Aventinianer« –, wünschen es sich bisweilen ganz offen. Inzwischen klammert sich ihr unverzagtes Harren auf ein zum Sturz des Regimes führendes Ereignis an zwei Möglichkeiten: die Entscheidung des Königs, Benito Mussolini fallen zu lassen, oder dessen plötzlicher Tod. Die zweite erscheint inzwischen wahrscheinlicher.

Luigi Federzoni legt dem Ministerpräsidenten den Text einer Pressemitteilung an die Nation vor. Die Meldung spielt das Ausmaß der Krankheit herunter und lässt die Italiener wissen, der Ministerpräsident habe »erstmals für einige Stunden das Bett verlassen und sich zu einer Unterredung mit Innenminister Federzoni in sein Arbeitszimmer zurückgezogen«.

Mussolini liest das hauchdünne, maschinengeschriebene Papier, wiegt es zwischen den Fingern, legt es neben sich und steckt es unter D’Annunzios orientalischen Talisman.

»Was treibt Farinacci?«

Mussolini weiß, dass es einer Anstiftung zur Denunziation gleichkommt, seinen Innenminister vom Tun des neuen Sekretärs der Nationalen Faschistischen Partei berichten zu lassen. Die Feindschaft und Rivalität zwischen den beiden Männern ist hinlänglich bekannt. Um die gewalttätigen Squadristen aufzustacheln, hat Farinacci bei Amtsantritt erklärt, seine Sekretärsarbeit habe »nicht im Februar 1925, sondern am 10. Juni 1924« begonnen, am Tag des Mordes an Giacomo Matteotti. In jenen langen Monaten der faschistischen Krise nahm der Anführer der »Falken« den Mord an dem sozialistischen Parlamentarier ganz offen für sich in Anspruch und machte nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen Federzoni, diesen allzu gemäßigten und des Doppelspiels verdächtigen Minister. Mehrfach hat der Ras von Cremona Mussolini persönlich das von ihm sogenannte »Pissoir-Referendum« gesteckt, aus dem hervorgeht, dass auf den öffentlichen Toiletten Italiens, der letzten Tribüne, die den unterdrückten Antifaschisten noch geblieben ist, Federzoni kaum geschmäht wird, was zeigt, dass sich der gegnerische Hass auf ihn in engen Grenzen hält. Aus Sicht von Roberto Farinacci ein vernichtendes Urteil. Für solche Männer ist Hass das Maß aller Dinge.

Wie alle hartgesottenen Kämpfer, deren Stärke sich aus Stumpfheit speist, bleibt sich Farinacci auch in diesen ersten Tagen im Amt treu: Er spielt die Rolle des Extremisten, setzt alles daran, die Präfekturen wieder stärker unter die Fuchtel der Partei zu bringen, droht allen mit Konsequenzen, die während der Matteotti-Krise Ermüdungserscheinungen gezeigt haben, verkündet, er werde den »Schrott« der liberalen Demokratie beseitigen, die letzten Reste des Antifaschismus vernichten, den »triumphalen Marsch der Schwarzhemden-Revolution« fortsetzen, beschuldigt jeden, der gegen ihn ist, der Kungelei und sieht allenthalben Verschwörungen.

Andererseits ist das Gemunkel über die zahlreichen, von treulosen Anhängern, rachsüchtigen Widersachern und faschistischen Ehrgeizlingen geschmiedeten Komplotte mit dem Ziel, Benito Mussolinis Nachfolge anzutreten, sogar bis in dieses stickige, vom beißenden Stank nach Kotze und Dünnschiss verpestete Zimmer gedrungen. Eines dieser Gerüchte betrifft ausgerechnet Luigi Federzoni, den Mann, der ihm gegenübersitzt und der angeblich mit den alten Krautscheuchen Salandra und Giolitti kungelt, um ein gemäßigtes Triumvirat zu bilden, das den Duce aus dem Amt drängen soll.

Benito Mussolini schweigt, stumm folgt er dem detaillierten Bericht seines Innenministers, und sein Blick schweift Richtung Nachttisch, dort schimmert die Milch im Glas, seine einzige Nahrung.

Also ist nichts zu machen: Es lässt sich unmöglich feststellen, wie viele Intrigen um das Bett eines Sterbenden gesponnen werden, welche heimlichen Spielchen die Partie um die Macht bestimmen, welches Aufzucken kläglicher Ambitionen. Bis eben war man ein Titan, dann scheidet der Körper ein paar Fontänen Blut und Scheiße aus, und plötzlich ist man nur noch ein Verdauungsapparat und weiter nichts.

Doch darf man nicht in Mutlosigkeit verfallen. Wie alle ästhetisch empfänglichen Völker lieben die Italiener klar konturierte Gestalten, sie erwarten einen verlässlichen Stil und fordern Geradlinigkeit von dem, der sie zu führen beansprucht.

Und so greift sich der Duce des Faschismus noch einmal Federzonis der einstweiligen Obhut von Gabriele D’Annunzios Talisman überlassenes Bulletin zu seinem Gesundheitszustand, lässt sich von Cesira Carocci einen seiner rotblauen Lieblingsstifte der Marke Faber reichen, tilgt dort, wo es heißt, er habe das Bett verlassen, mit resolutem Strich das Wort »erstmals« und fügt bei der Erwähnung seiner Unterredung mit dem Innenminister in großen Lettern das Adjektiv »lang« ein.

Obschon die Krankheit, welche den Onorevole Mussolini ereilt hat, als überwunden gelten darf, hat der behandelnde Arzt dem Ministerpräsidenten eine gewisse Zeit der Ruhe und Schonung verordnet… Heute hat der Ministerpräsident für einige Stunden das Bett verlassen und sich zu einer langen Unterredung mit Innenminister On. Federzoni in sein Arbeitszimmer zurückgezogen.

Mitteilung aus dem Sekretariat des Ministerratspräsidiums,

27. Februar 1925

Einige abweichlerische Faschisten und Calza-Bini-Anhänger versammeln sich im Caffè Feraglia an der Piazza Colonna und halten sich häufig in der Einkaufsgalerie an eben diesem Platz auf. Die Gruppe der Calzabiniani, natürlich angeführt von Gino Calza Bini selbst, sind gegen Minister Federzoni, dem zur Last gelegt wird, gegen den Ministerpräsidenten zu taktieren und sich die Genesungszeit des On. Mussolini zunutze zu machen, um den einstigen Nationalisten den Boden für die Wahl zu bereiten. Mit anderen Worten, die Nationalisten mit On. Federzoni an der Spitze würden sich bereitmachen, dem On. Mussolini ein Bein zu stellen.

Polizeiliches Schreiben,

Anfang 1925

Jetzt bleibt nichts, als eine Karte auszuspielen: S. M. der König. Wenn das misslingt, kann man die Koffer packen und auswandern.

Anna Kuliscioff, Brief an Filippo Turati,

Anfang 1925

Exzellenz, sollte sich das Magengeschwür, an dem Sie leiden, in der oberen Magengegend befinden (vor dem Zwerchfell), so darf ich mir sicher sein, Sie ohne Operation zu kurieren… ausschließlich mit pflanzlichen Präparaten wie Kräutertees. Selbige Pflanzen sind gänzlich harmlos und haben nach meiner Anweisung bereits mehr als 20 von diesem Leiden betroffene Patienten geheilt.

Brief des angeblichen Arztes Poulain de Marceval

aus Nizza an Mussolini