Über das Buch:
Für Abbie, die ihr perfektes Leben im Griff zu haben scheint, geht die Welt unter, als ihre beiden Söhne von zu Hause ausziehen und ihr Mann zu ihr auf Abstand geht. Plötzlich steht sie ganz allein da in ihrer durchgestylten Stadtwohnung.
Doch statt zu verzweifeln, rafft sie sich auf und folgt ihrem Sohn auf den Jakobsweg. Dort lernt sie besondere Menschen kennen wie Rasa, die iranische Flüchtlingshelferin, die nur im Untergrund arbeiten kann. Oder Caroline, die eine Reportage über Pilger schreiben will und dabei von den Schatten ihrer Vergangenheit eingeholt wird.
Gemeinsam erleben sie, dass die Herausforderungen der Wanderschaft sie an das Wesentliche ihres Lebens heranführen und manchen hochfliegenden Zukunftsplan infrage stellen …
Über die Autorin:
Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.
Kapitel 7
Abbie
»Lassen Sie uns zuerst Abbie zurückholen.« Was für eine seltsame Aussage. Ich bin doch da, in Farbe und lebendig. Bill ist derjenige, der fort ist.
Diana hat mich gebeten, bei dem zu bleiben, was mich aufwühlt. Der Ausdruck gefällt mir nicht, also ändere ich ihn ab in Denk über das nach, was dir den letzten Nerv raubt.
Es raubt mir den letzten Nerv, dass Bill einfach auf und davon ist, dass er nicht auf meine Anrufe reagiert, dass er an einem Projekt arbeiten kann, was er liebt, während ich hier in einem Haus voller Umzugskisten hocke und mich zu Tode gräme.
Ich bin so wütend, dass ich jeden Stich aus meiner »erstaunlichen« Handarbeit rausreißen möchte. »Ich finde es bezeichnend, wie gut Sie Ihren Mann kennen, dass Sie sein Leben in dem Stickbild festgehalten haben.«
Eben. Und wieso konnte er dann einfach so verschwinden?
Ich habe schon immer meine Hausaufgaben gemacht. Interpretationshilfen habe ich mir als Schülerin nie gekauft, sondern die vorgeschriebene Literatur immer komplett gelesen. Ich nehme mir das leinengebundene Notizbuch von Diana vor und mache mir eine Liste. Ich weiß genau, was ich mag. Ich mag ein Haus, das ordentlich ist. Wo Bills Sachen nicht auf der Erde liegen. Ich mag es, wenn die Mitglieder des Garden Club pünktlich erscheinen, ohne Ausrede, und tatsächlich die Aufgaben erledigen, die sie übernommen haben. Ich mag es, wenn die Jungs in Sport gut sind, ihre Hausaufgaben machen und zur Jugendgruppe gehen.
Ich sehe mir die Liste an und merke, wie übel mir wird. Ist das wirklich, wer ich bin? Sind das die Dinge, die ich als »lebensspendend« ansehe? Wann bin ich so neurotisch geworden? Wann habe ich angefangen, meine Listen anzubeten und mich so daran festzukrallen, was ich für meine Familie will? Es ist wahr, ich habe ihnen die Luft zum Atmen genommen.
Aber was gefällt mir?
Als ich noch jung war, bin ich gern auf Freizeiten gefahren. Die Sorte Einen-Monat-weg-von-zu-Hause-Freizeit, mit Mücken und Doppelstockbetten und viel Sport und Wettkämpfen. Auch Camping mochte ich. Als Bill und ich geheiratet haben, sind wir mehrmals im Jahr zelten gefahren, bis Bobby da war und wir wegen des ganzen Drum und Dran, das so ein Baby bedeutet, damit aufhörten.
Ich mag Blumen. Egal, welche Sorte. Als wir im Jahr 2000 nach Grant Park umzogen, war unser Haus wirklich renovierungsbedürftig. Auf dem kleinen Grundstück hatten die früheren Eigentümer ein unglaubliches Chaos hinterlassen. Ich nahm die Jungs oft mit nach draußen, und während sie spielten, nahm ich mir den Garten vor. Aus dem zugewucherten, zugemüllten Grundstück machte ich ein kleines Paradies. Daran hatte ich am allermeisten Spaß. Wieso wollte ich dann in eine Luxuswohnung im fünften Stock einer alten Fabrik ziehen und meinen Garten gegen einen Balkon tauschen?
Ich schreibe weiter an meiner Liste. Ich liebe Schönheit – schönes Geschirr und hübsche Bettwäsche. Aber früher hegte und pflegte ich sie und besaß sie nicht nur.
Ich liebe Überraschungen. Aber Judith sagt, dass Bill Überraschungen hasst. Und damit hat sie recht.
Wieso muss es so wehtun, darüber nachzudenken?
»Gottes Wahrheit tut weh. Sie geht durch und durch.«
Oh ja. Ich weiß, von wem diese kleine Weisheit stammt. Und sie fehlt mir.
Die Kistenstapel sind ordentlich, aber ich ziehe eine Kiste nach der anderen herunter, bis ich die Umzugskiste finde, auf der nur Miss Abigail steht.
Ich stelle sie auf den Boden und lasse mich daneben nieder. Meine Hände zittern. Poncie kommt angelaufen, lässt sich neben mir auf den Boden plumpsen und legt den Kopf auf meinen Schoß.
»Hallo, Süße. Ist schon gut. Alles ok.« Aber Hunde haben einen siebten Sinn und sie weiß genau, dass nichts gut ist.
Miss Abigail. Die Missionarin, die Mama 1962 kennenlernte und die ihr zeigte, was Glauben wirklich bedeutet. Die Heilige, nach der ich benannt wurde.
Ich klappe die Kiste auf und sehe drei eingerahmte Gedichte von Amy Carmichael. Miss Abigail liebte Amy Carmichael, die Missionarin in Indien, also machte ich ein Stickbild mit den drei Gedichten und ließ es für sie hübsch rahmen. Als sie starb, bestand ihre Familie darauf, dass ich die Gedichte wieder an mich nehme und auch das Einklebebuch, das sie zu ihrer Überraschungsfeier zum achtzigsten Geburtstag von mir bekommen hatte. Ich lege mir das Buch auf den Schoß und Poncie macht widerwillig Platz.
»Ich vermisse dich, Miss Abigail«, flüstere ich und vergrabe das Gesicht in den Händen. »So sehr.«
Einhundert Erinnerungen ziehen an mir vorüber. Ich als kleines Mädchen, hoch oben auf einem Stuhl, wie ich die Tomatensoße umrühre, die Mama zur Mount Carmel Church bringen will. Ich zwischen Mama und Miss Abigail, wie ich dieselbe Soße auf Berge von Spaghetti löffle, während ein dürres Mädchen oder eine hutzelige alte Frau ohne Zähne geduldig auf einen Teller wartet.
Nan und Ellie kamen irgendwann auch mit, sodass wir alle drei halfen, aber mir machte es am meisten Spaß. Bevor ich wusste, was es bedeutet, Gott anzubeten, betete ich schon meine Namensvetterin an. Ich hing als Vier-, Fünf-, Sechsjährige immer an ihrem Rockzipfel, wenn sie in der alten Kirche zugange war. Und sie liebte mich. Sie liebte mich so, wie ich war.
Miss Abigail war ein bunter Vogel mit ihrem grauen Pferdeschwanz und ihrem alten Kombi, der immer voller Kleiderspenden und Konservenbüchsen mit Bohnen war. Ihre Veranda vor dem Haus, gleich gegenüber von der Kirche, stand voller Möbel und Haushaltsgeräte, die die Leute zu ihr brachten, damit sie sie an Bedürftige weitergab. Im Haus war alles voller Kisten mit Kleidung, Windeln (unbenutzt, Gott sei Dank!), Geschirr und allem Möglichen, was man in einem Haushalt gebrauchen konnte.
Ich wollte sein wie sie, weil sie vollkommen war. Vollkommen seltsam, vollkommen heilig, vollkommen unvollkommen mit einem Herz aus Gold. Ich weiß noch, wie ich mit dreizehn oder vierzehn jammerte: »Ich werde nie wie du, Miss Abigail.«
»Natürlich nicht, Abbie, Mädchen. Wieso solltest du das wollen?«
»Weil du so perfekt bist.«
Sie hatte meine Hände genommen und sich vor mich hingehockt. »Abbie, wir haben denselben Namen und das bedeutet mir viel. Aber Gott hat uns alle unterschiedlich geschaffen und er will nicht, dass du irgendjemand anders bist. Richte deine Augen nur auf ihn und er wird aus dir mehr und mehr die Abbie machen, die er sich wünscht.«
Ich begriff. Sie liebte mich so, wie ich war, genau wie dieser große und geheimnisvolle Gott, dem sie diente. Aber sie war mein Vorbild und ich verbrachte viele Samstage damit, sie dabei zu begleiten, wie sie durch Grant Park zog und den Einwohnern die Liebe Jesu und die »Güter« aus ihrem übervollen Haus anbot.
Ich blättere durch das Einklebebuch, die Fotos und die extra saubere Schrift, die Ausschnitte ... ein Liebesbrief an diese Frau, die mich in jungen Jahren prägte.
Auf einer Seite klebt ein Foto, aufgenommen im Sommer nach meinem zweiten Jahr am College. Zu fünft drängen wir uns um Miss Abigail vor ihrem Buick Baujahr 1974, der mit einer Mischung aus Benzin, Gebeten und Engelsflügeln fuhr.
Ich spüre plötzlich ein merkwürdiges Gefühl der Beklemmung. Als Praktikantin mit diesen vier anderen Studentinnen – zwei Afroamerikanerinnen, eine Amerikanerin asiatischer Herkunft, eine Latina –, das war einer der schönsten Sommer meines Lebens. Mein Spitzname war Triple A: die Absolut Akkurate Abbie. Mein Perfektionismus war allerdings ganz nützlich in diesem Sommer; er war das Gegengewicht zum blauäugigen Idealismus der anderen. Wir arbeiteten gut zusammen, lachten und beteten und schwitzten in der schwülen Sommerhitze, wenn wir Kleidung ausluden oder mit den Kindern in der Nachbarschaft Softball spielten, die Türen der Kirche strichen und hundert andere Projekte angingen. Ich war Triple A, gebraucht, geliebt und geschätzt.
Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich etwas so Reines und Gutes erlebt. Was war passiert?
Weit hinten im Einklebebuch finde ich eins der wenigen Fotos, auf denen Bill und Miss Abigail zusammen zu sehen sind. Mein Magen zieht sich zusammen, als ich es betrachte und mich erinnere. Drei Monate nach unserer Hochzeit musste er mich festhalten, als ich von ihrem Tod erfuhr. Bei der Beerdigung stand er ganz dicht bei mir.
Wieder summt es in meinem Kopf. Ich vermisse dich, Miss Abigail.
Ich weiß nicht, ob ich weiterblättern will, aber wenn ich etwas anfange, führe ich es auch zu Ende. Immer. Ohne Ausnahme.
Auf der letzten Seite habe ich eine Collage aus Fotos von Mama und Daddy, Nan, Ellie und mir mit Miss Abigail gemacht. Meine Finger berühren das Gruppenfoto, als ich neun war. Ellie war vier. Das war noch vor dem Unfall.
Lassen Sie uns erst einmal Abbie zurückholen.
Das erste Mal, als ich versuchte, das Leben zu kontrollieren, war, als Ellie ihre Narben davontrug. Nan und ich waren in der Schule, als es in unserer Küche brannte. Innerhalb eines einzigen Tages wurde aus einer lockigen, fünfjährigen, blonden Knalltüte ein vernarbtes, ängstliches kleines Mädchen.
Ich hatte eine Riesenangst. Sie war doch am sichersten Ort der Welt gewesen: Zu Hause! Wenn Ellie so etwas Schlimmes passieren konnte, dann war niemand sicher, nirgendwo. Ich musste es schaffen, alle, die ich lieb hatte, irgendwie zu beschützen.
Was für eine Last daraus wurde!
Daddys Narben aus dem Vietnamkrieg hatten mich schon immer gestört. Ich konnte mir ausmalen, wie die Splitter flogen, hörte die Bomben explodieren und sah Daddy aufwachen, auf einem Auge blind. Aber Daddy gebärdete sich nie wie ein Kriegsversehrter. Irgendwie machten ihn seine Narben zu einem perfekten Helden, so wie Miss Abigails Verschrobenheit sie zu einer perfekten Heiligen machte. Aber Ellie? Ihre Narben machten sie lange Zeit nur verrückt.
Als Mama im Jahr 2001 fast an Brustkrebs gestorben wäre, war Bobby noch ein Kleinkind und ich mit Jason schwanger. Die Angst um Mama und um meine kleine Familie überschattete mein heiles Leben. Dann starb 2012 Nans erster Mann Stockton bei einem Autounfall und ließ sie mit drei kleinen Kindern allein. Ich klammerte mich wortwörtlich und im übertragenen Sinn an Bill und Bobby und Jason. Wenn das Leben Daddy und Ellie Narben verpassen konnte, wenn Mama Brustkrebs kriegen und Nans Mann so früh auf so furchtbare Weise ums Leben kommen konnte, was konnte dann meinen Männern alles passieren?
Vielleicht war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Vielleicht wurde ich damals von einer normalen Perfektionistin zum Kontrollfreak, überbehütend und ängstlich. Und dann kam Anna.
Meine Ängste wuchsen. Ich träumte nachts davon, wie Bill an einem Herzinfarkt starb oder einen Unfall hatte.
Welch eine Ironie des Schicksals, dass ich Bill gerade mit dem Versuch, ihn immer bei mir zu behalten, vertrieben hatte.
Ich klappe das Buch zu und fühle mich genauso leer und am Boden zerstört wie an dem Tag, als ich im Nieselregen mit den anderen Trauernden an Miss Abigails Grab stand.
Caro
Wir sitzen draußen am runden Gartentisch. Überall stehen Gebetskerzen in kleinen Bechern. Sie flackern auf der Steinmauer. Winzige Weihnachtslichter hängen in den Olivenbäumen und blinken romantisch auf uns herab. Bastien ist in der Küche und macht das Essen fertig.
Vor sieben Jahren saß ich an genau diesem schmiedeeisernen Tisch, das Gesicht nass vor Tränen. Ich konnte meine Gedanken nicht von den Blutflecken und den grellen Lichtern der vier Polizeiwagen lösen, die auf der staubigen Straße heranrasten und die Tragödie herausposaunten.
Ich hatte versucht, Salima zu trösten, hatte versucht, ihr zu helfen, die tausend Fragen der Polizei zu beantworten. Ich hatte meine Eltern und Geschwister angerufen und angefleht, nach Lourmarin zu kommen. Als ich schließlich zum Bauernhaus zurücklief, völlig benommen, wartete Bastien vor der Tür. Er nahm mich in den Arm, führte mich zu seinem Haus und an diesen Tisch.
»Setz dich, Caro«, hatte er leise gesagt. »Du musst etwas trinken. Du bist völlig unter Schock.«
Ich zitterte am ganzen Körper und mein Kopf wollte zerplatzen. Wieso saß ich hier mit diesem Mann, den ich kaum kannte? Ich wollte zu meiner Mutter. Sie würde mich in den Arm nehmen und zusammen würden wir um Malika und Lola weinen.
Scham und Schuldgefühle belasteten mich, als würden meine Arme die Glyzinie tragen, die schwer und mit ihrem penetranten Geruch am Gitter über Bastiens Terrasse hing.
Bastiens Stimme klang ärmlich. Der kluge, erotische, gebildete Tonfall war völlig verschwunden. »Liebe Caro, es tut mir so leid.« Er war selbst völlig am Boden zerstört und voller Sorge. »C’est terrible. Furchtbar.«
Er brachte mir ein Glas Wasser, das ich erst hinunterstürzte und dann in den Büschen wieder ausbrach, zusammen mit dem wenigen, das noch in meinem Magen war. »Das waren meine Freunde!«, würgte ich. »Unsere Freunde. Seit zehn Jahren verbringe ich jeden Sommer mit Lola. Und jetzt sind sie weg, einfach so? Wieso sollten sie einfach verschwinden? Und das ganze Blut! Du hast es nicht gesehen. Es sah aus wie in einem Schlachthaus!«
Er wischte mir den Mund mit einem feuchten Tuch ab und brachte mir ein neues Glas Wasser, beides freundliche Gesten, die mir auf einmal zu intim vorkamen. Ich fühlte mich nackt und bloß vor ihm, auf eine völlig andere Art als vergangene Nacht. Ich schlang die Arme um mich. Er las meine Körpersprache und startete keinen Versuch, mich zu berühren. Ohne Zweifel sah er die Mischung aus Angst und Wut in meinen Augen. Ich wollte aus Leibeskräften schreien, weil ich etwas so Furchtbares gesehen hatte, aber genauso wollte ich Bastien anbrüllen. Er war der Grund, wieso ich mich am Wochenende nicht mit Lola getroffen hatte. Er war der Grund, wieso ich sie verloren hatte.
Aber obwohl er der Grund war, war er nicht schuld daran. Schuldig war allein ich.
Meine Eltern kamen ein paar Stunden später aus Lyon. Auch meine Schwester Ashley. Stephen kam einen Tag, nachdem er davon gehört hatte, aus Amerika geflogen. Wir saßen schockiert da und sahen zu, wie die Polizei immer wieder zu Lolas Haus fuhr und Salima, die Nachbarn und uns befragte. Und Bastien. Aber keiner von uns konnte irgendetwas sagen. Niemand hatte Lola, ihre Mutter oder ihren Vater Jean-Claude in den achtundvierzig Stunden vor dem Einbruch gesehen. Niemand hatte irgendetwas gehört.
Stephen kam noch am ersten Abend zu mir. »Hat Lola dir gegenüber irgendetwas erwähnt, war sie besorgt?«
»Nein. Nein. Daran würde ich mich doch erinnern. Ich fand es nur komisch, dass sie mir seit zwei Monaten keine E-Mails mehr geschickt hatte. Normalerweise schrieben wir uns einmal pro Woche. Ich dachte, sie hat eben viel mit der Schule und den Prüfungen zu tun. Ich habe mir nichts dabei gedacht.«
»Sie sind konvertiert. Malika und Lola.«
»Was?«
»Vergangenen Sommer, als ich hier war, haben wir oft über die verschiedenen Glaubensrichtungen gesprochen. Auch mit Jean-Claude. Wir saßen am Tisch und haben uns unterhalten. Erinnerst du dich?«
»Ja, natürlich! Aber immer mit Respekt – Islam, Katholizismus, Judentum, Evangelikale, Agnostiker.«
»Später bekam ich Post von Lola.« Stephen sah besorgt aus, als wüsste er, dass mir das wehtun würde. »Sie wollte mehr über den Jesus aus der Bibel hören.«
»Und?«
»Und sie hat viel gelesen, mit einem Priester gesprochen, mit einem Pastor und mit einer Frau in einer der kleinen evangelikalen Kirchen in Aix. Und natürlich hat Mom ihre ganze Geschichte erzählt. Lola schrieb mir vor zwei Monaten, dass sie und ihre Mutter jetzt Christinnen geworden seien. Sie war sehr froh.«
»Ist nicht dein Ernst!« Ich versuchte, die Nachricht zu verdauen. Es fühlte sich so an, als hätte Lola mich betrogen. Meinem Bruder hatte sie sich anvertraut, aber nicht mir.
2005 hatte sich mein Bruder bekehrt, nachdem er einige Zeit in einem Flüchtlingszentrum in Österreich verbracht hatte. Alles recht seltsam. Ich hatte an keiner anderen Religion Interesse. Ich war ein Third-Culture-Kid, in fünf verschiedenen Ländern groß geworden und so oft umgezogen, dass ich irgendwann aufgehört hatte, mir neue Freunde zu suchen. Als mein Vater dann noch meine Mutter verließ, zog ich auch aus.
Aber Mom und Stephen hatten 2005 irgendein religiöses Aha-Erlebnis. Ich war in der elften Klasse im Internat in Nordfrankreich. Ich machte Party, trank mit meinen Freundinnen und versuchte, die Leere in mir zu füllen. Jungs, Partys, Alkohol, Drogen. Als Stephen und Mom über ihre Erfahrungen sprachen, machte es mich nur wütend. Mom war seit Jahren depressiv. Dieses Bekehrungsding kaufte ich ihr nicht ab.
Und doch hatten sie sich verändert. Stephen trennte sich von seiner Freundin, einem Kontrollfreak, und Mom überwand ihre Depression. Und sie waren offensichtlich ziemlich überzeugend dabei, denn mein Vater kam zu meiner Mutter zurück, sie hörte mit dem Trinken auf, und wenn das, was Stephen sagte, stimmte, dann glaubten Lola und Malika sechs Jahre nach Mom und Stephen dasselbe wie sie.
Ich starrte meinen Bruder an und kochte innerlich. »Und du glaubst, dass ihr Übertritt irgendetwas mit ... all dem hier zu tun hat!«
»Ich weiß es nicht.«
Kaum hatte ich es gesagt, wusste ich es. In den letzten Jahren hatte sich Lola immer mehr Sorgen um ihren Cousin Khalid gemacht. Die Familie ihrer Mutter lebte im Iran. Sie waren strenge Muslime. Lola und ihre Mutter waren gläubig und stets konservativ gekleidet, aber nicht übermäßig fromm.
Lola und ich gingen oft in den Hamam und ließen unsere Hände mit Henna bemalen. Ich erinnerte mich noch, wie wir uns vor ungefähr einem Jahr unterhalten hatten. »Wir machen uns Sorgen um Khalid. Er ist einer radikalislamischen Gruppierung beigetreten.«
Lola und ich hatten viele Gespräche über die Gefahren von Religion geführt, egal, welcher Glaubensrichtung. Aber sie machte sich vor allem Sorgen um Khalid.
»Bloß weil sie konvertiert sind, will ihnen doch niemand wehtun!«, sagte ich zu Stephen.
»Ich hoffe, nicht.«
»Ihr Evangelikalen seid doch alle gleich!«, platzte ich heraus. »Für euch sind alle Moslems Terroristen. Jeder, der etwas anderes glaubt, ist eine Gefahr und ein Sünder. Ein Verdammter.«
Stephen wurde rot und ich machte mich auf eine Retourkutsche gefasst. Aber stattdessen sagte er: »Schwesterherz, ich bin jederzeit für dieses Gespräch mit dir bereit. Aber im Augenblick«, dabei sah er mich an, »im Augenblick hat diese Familie, die wir alle mögen, ein schreckliches Schicksal ereilt. Vielleicht können wir zusammenarbeiten, um herauszufinden, was da passiert ist, verstanden?«
In den darauffolgenden Tagen traf ich mich nicht mit Bastien, sondern war ständig bei meinen Eltern und Geschwistern. Aber eines Nachmittags fand er mich allein vor.
»Caro. Caro, es tut mir alles so leid.« Er suchte meinen Blick. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll und das kommt nicht häufig vor.«
Ich wollte in seine Arme sinken und zugleich stieß mich schon der Gedanke daran ab. Also blieb ich steif stehen.
»Möchtest du irgendwohin und reden?«, fragte er. »Wir könnten etwas trinken gehen ...« Alles, was ich hörte, war irgendein Mitgefühl oder Mitleid in seiner Stimme.
»Non! Non, Bastien, bitte.«
»Es tut mir so leid, Caro«, sagte er noch einmal und berührte mich sanft an der Wange. »Es war ein Fehler.«
Ich starrte einige lange Sekunden in seine grauen Augen, dann ließ ich den Kopf hängen und nickte.
Diese vier Wörter verfolgten mich jahrelang. Was meinte er damit? War unser romantisches Wochenende ein Fehler? War es ein Fehler, mit mir zu schlafen? Oder wollte er nur sagen, dass unser Timing ein schrecklicher Fehler war?
Es war mein Fehler, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Ich allein war schuld. Ich konnte ihm nicht einmal vorwerfen, mich verführt zu haben. Denn ich war diejenige gewesen, die ihn an einem Sonntagabend in unser Haus und nach oben in mein Zimmer eingeladen hatte. Er hatte Charme, Zynismus und Verführungskraft, aber ich war diejenige gewesen, die den Anfang gemacht hatte.
Un concours des circonstances, sagt man auf Französisch. Dummer Zufall. Es war reiner Zufall, dass ich allein in Lourmarin war, als Bastien meine Eltern auf die Veranstaltung einladen wollte. Zufall, dass er gerade hergezogen war und niemanden kannte, dass wir beide Jazz mochten, drei Sprachen sprachen und in denselben Ländern gelebt hatten. Zufall, dass wir sogar auf dieselbe Uni gegangen waren, wenn auch nicht gleichzeitig.
Aber Zufälle sind keine Fehler. Wieso war es ein Fehler? Ich wollte ihn das unzählige Male fragen, aber ich traute mich nie. Weil er vielleicht damit gemeint haben könnte, dass ich der Fehler war.
Stattdessen versteckte ich an diesem Tag mein Herz und sagte: »Ja, es war alles ein Fehler. Wir sollten uns nicht mehr treffen. Bitte. Bitte, geh jetzt einfach.«
Und ich war geflohen.
Und jetzt sind wir hier, in der Gegenwart, mit Kerzen, es duftet nach Sommer und nach frischem Brot und Bastien sagt: »Ich habe versprochen, dass ich dir alles erzähle, was ich weiß. Bist du bereit?«
Meine Kehle ist ganz trocken und mein Magen krampft sich angesichts all der Erinnerungen zusammen. Alles verschwimmt vor meinen Augen und ich nicke. »Ja, Bastien. Deswegen habe ich den weiten Weg gemacht.«
»Du hast ja von Khalid gehört«, sagt Bastien. »Dass er dem IS beigetreten ist. Du weißt, dass er ein gefährlicher Mann ist.«
»Natürlich, nach dem Angriff auf das Bataclan war er überall in den Nachrichten und dann wurde er irgendwo in Belgien vermutet.«
Bastien nickt. »Ich habe jahrelang versucht, von den Behörden Antworten zu bekommen. Aber uns Normalbürgern sagen sie nichts, was wir nicht auch in den Nachrichten zu hören bekommen. Er ist gefährlich, aber soweit ich weiß, haben sie ihn nie mit dem Verbrechen an Malika und Lola in Verbindung gebracht.«
»Aber es gab ein Verbrechen!«, flüstere ich. »Ich war da, als sie Malikas Leiche gefunden haben.«
Er nickt wieder und nimmt meine Hand, die auf dem Tisch liegt. »Ja. C’était terrible, Caro. Es tut mir so leid.«
Allein die Erinnerung lässt mich wieder zittern. »Ich sollte die Leiche zuerst identifizieren, weil Jean-Claude zwei Tage brauchte, um von Japan hierherzukommen. Und Salima war nicht in der Lage, es zu tun ...«
Ich warte, dass Bastien mir mehr Informationen gibt, aber er schweigt.
»Was weißt du? Was hast du herausgefunden?«
Er zuckt die Achseln und sieht kurz aus, als würde er sich unwohl fühlen. Dann fängt er sich wieder und sieht mich an. »Ich weiß nichts weiter über Lola. Aber ich weiß, dass du diese Schuldgefühle loslassen musst. Du brichst unter ihrer Last zusammen. Du trägst sie wie ein schweres Kreuz.« Er schiebt seine langen Beine unter den Tisch und lehnt sich im Stuhl zurück. »Es ist nicht deine Aufgabe, die Sache mit Lola zu lösen. Das ist nicht dein Problem.«
Ich möchte protestieren, aber er fährt fort, als würde er nichts davon merken. »Ich fürchte, ich bin noch immer dein Problem.« Er setzt ein verführerisches Lächeln auf. »Es tut mir leid, dass ich dir so viel Schmerz bereitet habe. Du fragst dich, ob du diesen Brett liebst, ob ihr die Leidenschaft habt, die wir hatten. Es ist gut, dass du hergekommen bist, um das herauszufinden.« Er beugt sich vor und streicht mir mit einem Finger über meine Wange. Ich zucke zusammen.
»Nach den schrecklichen Ereignissen mit Lolas Familie haben dich deine Schuldgefühle ganz zerfressen.«
Das ist nichts Neues. Darüber haben wir schon zigmal gesprochen.
»Meine arme Caro. Dich trifft aber gar keine Schuld. Du trägst in dir eine Lust auf alles, was schön ist, willst alles ausprobieren. Du willst doch überhaupt nicht als Ehefrau an diesen Jungen gefesselt sein.«
Die Hitze in meinem Gesicht ist unerträglich. Ja, Schuld. Und ja, er hat recht. Mit den Fragen. Mit der Sehnsucht nach Leidenschaft, die ich bei ihm spürte. Ich liebe Brett, denke ich zumindest, aber ich vermisse den Rausch, den ich mit Bastien erlebt habe.
»Du hast mir geschrieben! Du hast gesagt, dass du Neuigkeiten hast, und nur deswegen war ich bereit, herzukommen, aber du hattest die ganze Zeit nur eins im Sinn: mich zu verführen«, sage ich mit scharfer Stimme.
»Habe ich dich je verführt, liebe Caro?«
Sein Blick durchbohrt mich mit der Wahrheit. Nein, hat er nicht. Noch nie. Es gab zwischen uns nur dieses eine Mal. Und da hatte ich die Initiative ergriffen. Seitdem haben wir uns oft getroffen, aber nie als Liebende. Jeder unserer Begegnungen eilte etwas voraus, das ich noch mehr wollte als Bastien: Lola zu finden. Ich hatte Tage, Wochen und Monate damit verbracht, sie zu suchen, an die Regierung und jede Nichtregierungsorganisation geschrieben, die nach Menschen suchten. Ich war in verschiedene Jugendstrafanstalten gefahren. Vom Sommer 2011 bis in den Herbst 2014, als ich schließlich in die USA ging, hatte ich Jean-Claude geholfen, Lola zu suchen.
Ich war sogar zu Interpol nach Lyon gefahren und hatte um Informationen gebeten.
Zwangsläufig hatte ich Bastien natürlich Bescheid gegeben, wenn ich nach Lyon oder Lourmarin kam, und er kam dann immer vorbei. Ja, ich hatte eigentlich gedacht, dass ich ihn nie wiedersehen wollte, aber er war derjenige, der dieses furchtbare Wochenende mit mir durchlebt hatte. Das Grauen, die Schuldgefühle und die Ängste waren untrennbar verbunden mit Bastien. Ich wollte vor ihm Reißaus nehmen und zugleich brauchte ich ihn. Die Tragödie mit ihm neu zu durchleben, fühlte sich wie ein Schritt der Heilung an, auch wenn es die Wunde wieder aufriss.
In Wahrheit sehnte ich mich nach Bastien. Er war mehr als nur ein Vertrauter. Ich wollte ihn als Geliebten.
Bastien begriff das Problem mit meinen unterbewussten Argumenten lange, bevor ich bereit war, es zuzugeben. »Natürlich können wir reden, Caro. Aber damit lässt du die traumatischen Ereignisse kein Stück hinter dir. Und Caro, ich bin kein sicherer Kandidat.« Er hatte mir das gleich bei unserem ersten Treffen nach dem schrecklichen Einbruch gesagt.
Kein Wunder. Das sah ein Blinder mit Krückstock. Er hatte die edle französische Adlernase, die stechenden Augen, den schlanken, drahtigen Körper, der zugleich lässig und sinnlich war. Und er konnte auf tausend verschiedene Arten lächeln. Sein Repertoire war unerschöpflich: ein Schmollmund, ein kleines Schmunzeln, ein zynisches Grinsen, ein sinnlicher Lippenschwung mit halb geöffneten Augen und ein Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht ausbreitete. Er kannte sich aus mit Kunst und Geschichte und Philosophie, aber genauso wusste er auch, was er tun musste, damit ich mich wichtig, besonders und schön fühlte.
Wir stiegen wieder und wieder auf den Mont Sainte-Victoire. Wir besuchten im Juli die Lavendelfelder in ihrer vollen Pracht und Bastien kaufte mir jede Lavendelcreme, jedes Lavendeldeo, Parfum und ätherisches Öl, weil er wusste, wie gut das meiner Seele tat.
»Du lebst eigentlich durch die Nase«, sagte er manchmal aus Spaß und zwickte mich in die Nase. »Du solltest Parfumdesignerin werden oder Weinverkosterin.«
Er konnte mir bis in die Seele schauen und brachte mich dazu, auf diese vermaledeit kritische französische Art zu denken, die ich aus meiner Zeit in französischen Schulen nur zu gut kannte. Kritik an sich kann gut, schlecht oder neutral sein. Zuerst erschien mir seine Kritik immer negativ, aber nach und nach empfand ich seine Fragen und Kommentare als anregend und hilfreich.
So oft wollte ich während dieser Tage sagen, willst du mich? Ich verbringe den Rest meines Lebens mit dir, wenn du mich nur willst.
Aber Bastien war stets ehrlich. »Ich werde niemals heiraten, Caro. Ich bin ein Einzelgänger.« Einmal hatte er mir sogar einen Einblick in seine Jugend und Kindheit gewährt. »Ich bin in der Bourgeoisie groß geworden. Es ging immer nur um Äußerlichkeiten. Meine Eltern führten eine sehr ungesunde Ehe. Ich möchte das niemandem antun.« Er war kurz blass geworden. »Manchmal wünsche ich mir eine Familie, aber ich traue mir selbst nicht. Meine liebe Caro, ich fürchte, ich tue dir nur in kleinen Häppchen gut.«
Als meine Augen voller Tränen standen, was mich wütend machte, weil es meine Schwäche und Enttäuschung verriet, hatte er meine Hände genommen. »Caro, du bist wunderschön und klug und du bist eine gute Seele. Zwischen uns ist ein starkes Band, aber auf mich ist kein Verlass. Ich wünschte, es wäre anders.«
Dann ändere dich doch!, wollte ich ihm entgegenschreien.
Wenn er solche Dinge sagte, war sein Blick zärtlich, liebevoll und sanft. Manchmal ließ er seine zynische Fassade – ja, genau das war es – fallen und gewährte mir einen Blick in seine Seele. Ich wollte, dass er mir seine Liebe gestand, aber er tat es nicht. Irgendwie respektierte ich ihn dafür. Er spielte keine Spielchen mit mir. Bei ihm wusste ich, woran ich war.
Und dann kamen unweigerlich immer diese Worte. »Caro, wieso suchst du noch immer nach Lola? Lass los. Es ist nicht deine Schuld. Bitte.«
Er flehte mich mit Blicken an, es hinter mir zu lassen. In diesen Augenblicken hatte ich das Gefühl, als wäre da noch etwas, etwas anderes, von dem er verzweifelt wollte, dass ich es sah. Aber was?
»Caro, du bist zwar spontan, aber tief in dir suchst du nach Stabilität. Du willst heiraten. Das steckt dir in den Genen. Du musst den Richtigen finden und heiraten. Aber glaub mir, ich bin das nicht.« Wie konnte er mich nur so genau lesen?
Einmal gingen wir in Lourmarin in unser Café und anschließend spazierten wir durch die Straßen von Aix. Sein Arm war um meine Schultern gelegt. »Bitte, Caro, verschwende nicht dein Leben mit diesen Dingen.« Ich hatte ihm von den anderen Männern erzählt und dass ich langsam ein Problem mit dem Alkohol hatte. »Du bist hübsch und hast Talent. Du siehst Schönheit, du hast ein fotografisches Auge, du nimmst das Leben wahr, mit all seinen Duftnuancen. Deine Augen und deine Nase sind hervorragend. Aber der hier« – dabei tippte er mir gegen den Kopf – »der hier funktioniert nicht richtig. Du musst mit dir ins Reine kommen.«
Ich schrieb Bastien und flehte ihn an, sich mit mir zu treffen, und er kam. Er legte den Kopf schief, lächelte und neckte mich, aber er berührte mich nicht. War ich so schlecht, so widerlich, dass du mich nicht noch einmal willst? Das war meine Angst. Und trotzdem wusste ich, dass ich ihm nicht egal war. Vielleicht war ich so etwas wie seine kleine Schwester geworden. Vielleicht hatte das Grauen unsere Beziehung so sehr beschädigt, dass er nicht mehr von mir wollte.
Einmal sagte er sogar leise: »Du willst mich nicht als Geliebten, Caro. Ich mache dich nur traurig. Und ich will nicht, dass du traurig bist.«
Eines Abends, kurz nach dem Bombenanschlag auf das Bataclan, als ich mit meinen Eltern die Nachrichten schaute, tauchte ein Bild von Khalid auf. Er war offensichtlich an der Sache beteiligt. Und stand mit zwei anderen Terrorgruppen in Belgien in Verbindung. Ich schrie los, Mom fing an zu weinen und Papa fluchte auf Französisch. Und dann saßen wir wie benommen da und das ganze Grauen des Wochenendes brach wieder über uns herein. Ich wurde noch entschlossener herauszufinden, was Lola zugestoßen war. Und zugleich machte es mich verrückt.
Stephen bat mich inständig, in die Vereinigten Staaten zu ziehen. Meine Eltern waren derselben Meinung. Langsam verlor ich den Verstand. Bastien, den ich eine Woche später wiedertraf, war derjenige, der mich schlussendlich überzeugte. »Caro, lass los! Lass los! Du kannst es nicht lösen und du siehst, dass dieser Khalid ein Terrorist ist. Er ist böse. Bitte, um Gottes willen, hör auf.«
Als ich ihm sagte, dass ich zurück in die USA ging und Stephen mich für ein Entzugsprogramm anmelden wollte, sagte er nur: »Ja! Ja, tu das! Bitte. Werde trocken und dann finde dein Leben, dein richtiges Leben.«
»Dann muss ich dir Lebewohl sagen.« Bitte, sag mir, dass du mich liebst.
»Ja, du hast recht. Bitte. Manchmal muss man vielen Dingen Lebewohl sagen, guten Dingen, aber sie stehen nun mal deinem richtigen Leben im Weg.«
Ich wollte, dass du Teil meines richtigen Lebens wirst. Bin ich etwa ein Fehler? Ist es so?
* * *
Also ließ ich los und ging. Ich ließ Lola los und Bastien auch. Keine E-Mails mehr, keine Anrufe. Keine Rendezvous mehr in Lourmarin, wo ich mich danach sehnte, dass er mich in den Arm nahm und das ganze Wirrwarr wegküsste. Langsam ließ ich den Traum und den Albtraum sterben.
Bis er mir schrieb, vor drei Wochen.
Ich will über all das nicht nachdenken. »Du hast mich angelogen! Du hast gesagt, du weißt etwas über Lola!«
Ich versuche nicht loszuheulen. Wieso bin ich nur gekommen? Was um alles in der Welt wollte ich bei Bastien herausfinden? Er hat recht, ich weiß es. Ich wollte herkommen, um ihn ein letztes Mal zu sehen.
Das Abendessen ist vorbei. Es ist schwül und windstill. Die Zikaden zirpen wie verrückt. Er bringt mich über die Straße zu meinem Haus. Den Arm hat er lässig über meine Schulter gelegt. »Ich fahre morgen weg, Caro, nach Paris. Wie lange bleibst du hier?«
»Ich weiß es nicht. Stephen will eine Story über den Jakobsweg bringen, also werde ich mindestens ein oder zwei Wochen mit Rucksack unterwegs sein.«
Ich erwähne nicht, wie unerbittlich Stephen und Tracie darauf drängen, dass ich Lourmarin verlasse und mich in Richtung Jakobsweg in Bewegung setze – mit Bobbie Jowett und seiner Mutter.
»Schön für dich. Das wird dir guttun. Sehr erleuchtend.« Er kommt mir nah und nimmt mein Gesicht in seine Hände. »Zwei Wochen. Du wirst laufen und nachdenken. Und dann wirst du wissen, was zu tun ist.« Er greift nach meiner Hand und drückt sie fest. »Und wenn du dann beschließt, dass du mich wiedersehen willst, ruf mich einfach an und ich komme sofort.«
Wir stehen vor unserer Tür und ich rechne damit, dass er mir die üblichen Wangenküsschen gibt. Aber stattdessen kommt er näher und ich merke, dass seine Augen mich etwas fragen. Mein Herz hämmert wie verrückt. Ich bewege mich keinen Zentimeter. Erwidere nur seinen Blick. Aber dann lege ich den Kopf nach hinten und beuge mich vor, bis unsere Lippen sich treffen. Er nimmt mich in den Arm und küsst mich, wild, leidenschaftlich, bis ich ganz atemlos bin und es mir gelingt, mich von ihm zu lösen. »Bitte, Bastien«, keuche ich. »Bitte geh jetzt.«
Und dann sehe ich ihm nach, wie er gemächlich über die Straße geht. Sein Parfum kitzelt mich noch in der Nase, seine Leidenschaft prickelt auf meinen Lippen.