Generation Beleidigt
Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei
Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer
Aus dem Französischen von
Alexander Carstiuc, Mark Feldon, Christoph Hess
FUEGO
– Über dieses Buch –
Dies ist die Geschichte einer kleinen gemeinen Lynchjustiz, die in unser Privatleben eindringt, uns Identitäten zuschreibt und unseren demokratischen Austausch zensiert. Eine Plage der Sensibilität. Jeden Tag eine Gruppe, eine Minderheit, ein zum Stellvertreter einer Sache sich aufspielendes Individuum, das fordert, droht und uns auf die Nerven geht. In Kanada fordern Studenten die Streichung eines Yogakurses, um sich nicht dem Risiko der indischen Kultur auszusetzen. In den Vereinigten Staaten würde man am liebsten asiatische Menüs in den Kantinen verbieten und die als anstößig und normativ verurteilten großen klassischen Werke von Flaubert bis Dostojewski aus dem Unterrichtsplan streichen. Studenten bezeichnen den geringsten Widerspruch als »Mikroaggression« und klagen »safe spaces« ein. In Wirklichkeit aber lernt man nur, Debatten zu meiden. Aufgrund geographischer oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe und der persönlichen Geschichte versucht man, die Hegemonie über die öffentliche Rede zu erreichen. Eine Einschüchterung, die bis zur Entlassung von Professoren geht. (Caroline Fourest)
– Pressestimmen –
»Stündlich aktueller. Es ist das Buch zum Verständnis einer Debatte, die aus dem Ruder gelaufen ist. Doch wem nützt es, stets auf die ethnische Zugehörigkeit von Menschen zu verweisen, um darüber zu bestimmen, wer im öffentlichen Diskurs die Stimme erheben darf? Wie sinnvoll ist das? Und wohin führt es?« (Johanna Adorján, Süddeutsche Zeitung)
»Eine treffendere Analyse wird man so schnell nicht finden.« (Hannah Bethke, FAZ)
»Über den identitätspolitischen Aktivismus an US-Universitäten ist schon viel geschrieben worden. Die Autorin Caroline Fourest erklärt, wie es so weit kommen konnte. Und plädiert aus linker Perspektive für die freie Rede.« (Deutschlandfunk Kultur)
»Caroline Fourest war Mitarbeiterin auch von „Charlie Hebdo“, sie publiziert und lehrt zu Fragen des Multikulturalismus und universellen Menschenrechten. An zahllosen konkreten, oft selbst erlebten Fällen in Europa und Nordamerika schildert sie, wie Wissenschaftler und Autoren jeden Geschlechts ebenso wie Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke bedrängt und abgecancelt werden: weil es für reale oder vermeintliche „Opfergruppen“ verletzend sei, wenn sich andere zu deren Themen äußern und sie sich so gleichsam neokolonial „anverwandeln“. Versuche der Inklusion werden so im Gestus offensiver Exklusion abgewiesen. Muslimische Studentinnen zum Beispiel verweigerten Caroline Fourest, weiß, lesbisch, jüdisch, das Recht, mit ihnen über politischen Islamismus zu sprechen.« (Peter von Becker, Tagesspiegel)
»Kompakt zeichnet »Generation Beleidigt« nach, wann, wo und warum ein Teil der Linken rechts abgebogen ist.« (Tilmann Ziegenhain, Neues Deutschland)
Im Mai 1968 träumte die Jugend von einer Welt, in der es verboten ist zu verbieten.1 Die neue Generation denkt nur daran, zu zensieren, was sie kränkt oder »beleidigt«.
Auf der anderen Seite des Atlantiks genügt es, dieses Wort auch nur auszusprechen, um eine Unterhaltung zu beenden. War sie einmal Bestandteil einer notwendigen Reflexion, um das Vokabular der schikanösen Schlacken zu entledigen, die sich gegen Frauen oder Minderheiten richten, so sieht die »politische Korrektheit« nun der freiheitsbedrohenden Karikatur immer ähnlicher, die ihre Gegner seit jeher gezeichnet haben, auch schon bevor sie dermaßen ausartete. Ein Glücksfall, über den die Konservativen sich die Hände reiben, denn er lässt sie die schöne Rolle eines Meisters der Freiheiten spielen.
Einst kam die Zensur von der konservativen und moralistischen Rechten. Nunmehr entspringt sie der Linken;
oder vielmehr einer bestimmten, nämlich ihrerseits moralistischen und identitären Linken. Während sie den libertären Geist aufgibt, bringt sie ihr Leben damit zu, Anathemata und Ukasse zu erlassen: gegen Intellektuelle, Künst-lerinnen, Sängerinnen, Theaterstücke oder Filme. Wenn sie doch nur gegen die wirklichen Gefahren anschriee: die extreme Rechte und den wiederaufkommenden Wunsch nach kultureller Herrschaft! Aber nein, sie streitet für nichts, ereifert sich über alles und wettert gegen Stars, Werke und Künstler. Das Zeitgeschehen schäumt über vor unsinnigen Kampagnen, die im Namen der kulturellen Aneignung geführt werden. Man rebelliert gegen Rihanna wegen ihrer angeblich »afrikanischen« Zöpfe; man ruft dazu auf, Jamie Oliver zu boykottieren, weil er einen »jamaikanischen Reis« kreiert hat; in Kanada fordern Studenten die Streichung eines Yogakurses, um sich bloß nicht die indische Kultur »anzueignen«; an amerikanischen Universitäten fahnden sie nach asiatischen Menüs in der Mensa. Indessen weigern sie sich, große klassische Werke zu studieren, da diese »beleidigende« Passagen enthielten.
An der Universität regiert der Essens- und sogar der Gedankenterror. Man nimmt Anstoß am geringsten Widerspruch, der als »Mikroaggression« wahrgenommen wird, was so weit geht, dass man »Safe spaces« fordert: sichere Räume, in denen die Leute unter sich bleiben und lernen, dem Anderssein und der Debatte zu entfliehen. Selbst das Rederecht wird einer Genehmigungspflicht unterworfen, je nach Geschlecht und Hautfarbe. Eine Einschüchterung, die bis zur Entlassung von Professoren geht.
Frankreich hält sich noch ziemlich gut. Doch gehen auch in diesem Land bereits Gruppen von Studenten gegen Ausstellungen und Theaterstücke vor, um deren Aufführung zu unterbinden oder einen Redner, der ihnen missfällt, am Reden zu hindern. Manchmal zerreißen sie auch seine Bücher: Autodafés, die an das Schlimmste erinnern.
Diese Kulturpolizei geht von keinem autoritären Staat aus, sondern von der Gesellschaft und insbesondere von einer Jugend, die »aufgeweckt« sein will, weil ultraempfindlich gegen jedwede Ungerechtigkeit. Was großartig wäre, wenn sie dabei nicht auf Unterstellungen und inquisitorische Methoden verfiele. Die Millenials gehören weithin einer identitären Linken an, die den wesentlichen Teil der antirassistischen Bewegungen und der LGBTI-Szene beherrscht und sogar den Feminismus spaltet. Ohne einen Aufschrei wird ihr kultureller Sieg vollständig sein. Der Einfluss ihrer Netzwerke auf Gewerkschaften, Fakultäten und politische Parteien wird größer, und sie gewinnen die Oberhand über die Welt der Kultur. Ihre Kabale lasten immer schwerer auf unserem geistigen und künstlerischen Leben. Selten bringt jemand den Mut auf, ihnen zu widersprechen. Obschon wir in einer ungemein paradoxen Welt leben, in der die Freiheit zu hassen nie so zügellos war wie in den sozialen Netzwerken, wurde allerdings das Reden und Denken im wirklichen Leben nie so sehr überwacht. Einerseits blüht, dank Nachgiebigkeit und Deregulierung, das Geschäft mit der Aufstachelung zum Hass, zur Lüge und zur Desinformation wie noch nie, geschützt im Namen der Redefreiheit. Andererseits genügt es, dass eine kleine Gruppe von Inquisitoren sich für »beleidigt« erklärt, um Entschuldigungen eines Stars oder die Zurücknahme einer Zeichnung, eines Produkts oder eines Theaterstücks zu erwirken. Diese Streitigkeiten markieren den wirklichen Bruch sowohl inmitten des Antirassismus als auch zwischen den Generationen.
Gestern kämpften Minderheiten gemeinsam gegen Ungleichheiten und patriarchale Herrschaft. Heute kämpfen sie, um herauszufinden, ob der Feminismus »weiß« oder »schwarz« ist. Der Kampf der »Rassen« hat den der Klassen verdrängt. Die Frage: »Von wo sprichst du, Genosse?«, die der gesellschaftlichen Klassenlage entsprechende Schuldgefühle erzeugen sollte, hat sich in Identitätskontrolle verwandelt: »Sag mir, welcher Herkunft du bist, und ich werde dir sagen, ob du reden darfst!«
Weit entfernt davon, die ethnisierenden Kategorien der suprematistischen Rechten in Abrede zu stellen, bestätigt die identitäre Linke sie und schließt sich selbst darin ein. Statt Vielfalt und Mischung zu erstreben, zerteilt sie unser Leben und unsere Debatten in »rassifiziert« und »nicht-rassifiziert«, bringt die einen Identitäten gegen die anderen auf und setzt schließlich die Minderheiten in Konkurrenz zueinander. Statt sich eine neue, mannigfaltigere Welt vorzustellen, ergeht sie sich in Zensur. Das Ergebnis ist ein geistiges und kulturelles Ruinenfeld, das den Nostalgikern der Herrschaft zu Gute kommt.
Dieses Buch mag hoffentlich dazu beitragen, einen Ausweg zu finden.2 Es geht nicht darum, die guten alten Zeiten zu bedauern, in denen man sich an Homosexuellen, Schwarzen oder Juden auslassen durfte; noch darum, denjenigen Rückendeckung zu geben, die das Verlangen nach Gleichheit mit einer phantasierten »Tyrannei der Minderheiten« verwechseln. Ich habe das Recht zu lieben gegen homophobe Beschimpfungen behaupten müssen, die ich meine Kindheit und Jugend lang zu hören bekam. Meine ersten Schlachten schlug ich gegen Sexismus, Homophobie und Rassismus. Als Vorsitzende des Centre gay et lesbien habe ich für den Stammvater der »Ehe für alle« gekämpft. Um ihn zu verteidigen, ließ ich mich von irgend-welchen Schergen unter dem Ruf »dreckige Lesbe« verprügeln. Der Kampf für die Gleichheit hat mich geprägt, doch dem für die Freiheit bleibe ich innigst verbunden.
Wegen meiner Arbeit als Regisseurin und Journalistin, frühere Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, fürchte ich um die Freiheit, schöpferisch tätig zu sein, zu denken, zu zeichnen und zu spotten. Sämtliche Facetten meiner Identität haben meine Analyse des Gleichgewichts genährt, das es in Sachen Redefreiheit und Gleichheit zu finden gilt.
Wie alle Stürme kommen die üblen Winde der modernen Inquisition zunächst in den sozialen Netzwerken auf. Als ein Ort der Freiheit ist das Internet zugleich der Ort aller Unterstellungen. Dort wettert man anonym los und lyncht beim geringsten Verdacht. Eine Meute wütender Trolle, die die Philosophin Marylin Maeso »die Verschwörer des Schweigens«3 nennt, schafft es, uns einen Maulkorb anzulegen. Wir erleben den Anbruch einer »Silhouettenwelt«, einer Welt des falschen Scheins, vor der es Albert Camus grauste.4 Allenthalben herrscht die Tyrannei der Beleidigung, die dem Gebot des Schweigens vorausgeht.
Man braucht nur »kulturelle Aneignung« – ein Begriff, der sich seit erst zwölf Jahren in die öffentliche Debatte gedrängt hat – bei Google einzugeben, um 40.200.000 Treffer zu zählen. Eine Sintflut.
Die ersten Hetzjagden haben um die Jahrhundertwende begonnen. Eines schönen Morgens im November 2012 fand sich Heidi, eine amerikanische Familienmutter, im Internet mit Beschimpfungen überschüttet. Ihr Vergehen? Eine Geburtstagsfeier ihrer Tochter in japanischem Stil veranstaltet zu haben. Am Vorabend hatte sie Kirschblüten auf dem Tisch verstreut, Tee in traditionellen Tassen serviert und das Besteck durch feine Stäbchen ersetzt. Die Freundinnen ihrer Tochter liebten es, Kimonos überzuziehen und sich wie Geishas zu schminken. Und natürlich hatten sie dieses Ereignis mit ihren Mobiltelefonen unsterblich gemacht, ehe sie die Fotos in den sozialen Netzwerken ausstellten. Eine schlechte Idee: Eine Meute wütender Kommentatoren lud sich selbst zur Nachfeier ein, um das Fest zu verderben und die Mutter öffentlich anzuprangern.
Im Internet wurde sie des »Yellowfacing« bezichtigt, als ob das Auftragen von Geisha-Schminke zu einem Geburtstag auch nur das geringste mit der Zeit der Rassentrennung oder damit zu tun hätte, dass weiße Schauspieler sich als Schwarze verkleiden, um sich auf der Bühne über sie lustig zu machen. Man warf ihr vor, ihre Tochter schlecht zu erziehen: »Bringen Sie Ihren Kindern bei, dass das nicht okay ist!« Die sich im Internet als Beleidigte zu Wort meldeten, waren natürlich alle Amerikaner. Die seltenen Nebenkläger japanischer Herkunft erklärten sich angesichts dieser Reaktionen für unzuständig.
Einer von ihnen, der auch in Japan lebte, versteht den Furor der Entrüstung nicht, die jener Mutter entgegenschlug: »Die einzigen Menschen, die denken, Kultur dürfe nicht geteilt werden, sind Rassisten wie du.« Er selbst meinte, »eine große Mehrheit der Japaner liebt es, wenn andere sich um eine Wertschätzung der japanischen Kultur bemühen. Sie ermutigen sie dazu.« So sahen das auch andere: »Diese Feier ist eine Form, eine andere Kultur zu erfahren.«
Verdutzt durch die enorme Vereinfachung des amerikanischen Inquisitors, fragte ein anderer Japaner: »Wo ziehst du die Grenze dessen, was ›erlaubt‹ ist? Wenn das Mädchen japanische Wurzeln hätte, wäre es dann okay? Bist du nur dann befugt, eine Pizza zuzubereiten, wenn du in Italien lebst?«
Die Frage trifft den Nagel auf den Kopf. Aber die Meute jagt einem Angst ein. In Furcht und Schrecken versetzt durch die Vorstellung, sie könnten wie Heidi beschimpft werden, erkundigten sich immer mehr Eltern, was an Halloween zu tun korrekt sei. Im selben Jahr fragte eine andere Mutter in den sozialen Netzwerken ihre Freunde, ob sie einen »Vaiana«-Abend veranstalten dürfe, in Anspielung auf den Zeichentrickfilm, der die berühmte polynesische Heldin würdigt. Sie stellte klar, dass in ihrer Familie alle »sehr weiß und sehr blond« seien. Sogleich sprang einer als Familienoberhaupt ein und verfügte, unter der Bedingung, dass die Kleinen sich kein »brown face« aufsetzen, sei die »kulturelle Feier« keine »Aneignung«. Eine andere Mutter bemerkte, sie sehe viele kleine Mädchen, die sich zu Halloween wie Frida Kahlo verkleiden, und fand das »nicht respektlos«. Sie hoffte bloß, dass diese kleinen Mädchen wissen, wer die Malerin war, und »dass sie sich nicht auf eine zusammengewachsene Augenbraue und schöne Blumen beschränken«. Nichts ist weniger gewiss. Im Land der Unterstellung kultureller Aneignung ist die allgemeine Kultur diejenige, die man sich am wenigsten aneignet.
Wie ist ein solches Aufflackern von Anschuldigungen zu erklären? Der Funke rührt aus einer sehr konfusen Vorstellung von Antirassismus. Das Ausmaß der Lynchjustiz verdankt sich unserer neuen Art zu debattieren und dem Phänomen der Meute 2.0. Mit den sozialen Netzwerken gibt es keinen Bedarf mehr an Bewegungen, kein Bedürfnis mehr, Spruchbänder zu basteln oder auf die Straße in die Kälte hinauszugehen, um zu protestieren. Man kann meckern und dabei schön im Warmen bleiben, geschützt durch Anonymität. Die Anlässe zur Empörung sind folgerichtig viel zahlreicher und manchmal auch nichtiger. Wir nehmen uns nicht mehr die Zeit, etwas zu verdauen oder Luft zu holen, ehe wir losschreien. Bei der geringsten Meinungsverschiedenheit, beim geringsten Stich in unsere Haut, und sei er noch so mikroskopisch klein, heulen wir mit einem Griff in die Tastatur auf, zumal wenn ein virtueller »Freund« oder ein Angehöriger unserer Sippe die Klage führt. Wir schließen uns an, indem wir mit unseren empörten Schreien in den Kreis der Beleidigten einstimmen.
Selten hat unsere virtuelle Identität unsere wirkliche so sehr bestimmt. Dem Philosophen Clément Rosset zufolge erlaubt die »geliehene Identität«, diese »Nachahmung des anderen«, die Bildung der eigenen Persönlichkeit.5 Die jetzige Generation bildet sich hauptsächlich durch Nachahmung derer, die andere im Internet lynchen. Man beteiligt sich mit umso mehr Elan, als die Meute einen schützt, und das mit so viel Begeisterung, dass es genügt, »beleidigt« oder »Opfer« zu sagen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Als Funke reicht ein einziges Posting über kulturelle Aneignung, um sich Freunde zu machen und sich selbst mitten ins Geschehen zu werfen. Die Anzahl der Wölfe spielt kaum eine Rolle, denn die Legitimität verdankt sich dem Status des Opfers. Nichts ruhmreicher, als der David zu sein, der gegen Goliath kämpft.
Dieses neue Kräfteverhältnis erweist sich als recht angenehm, wenn es darum geht, Ungerechtigkeit oder multinationale Konzerne zu bekämpfen, Diktatoren zu trotzen und Tyrannen zu stürzen. Die Kehrseite der Medaille ist die Inflation absurder und unverhältnismäßiger Kampagnen gegen Familienmütter, Prominente oder Künstler.
Die digitale Interaktivität zwingt die Online-Presse, auf alles stets ganz schnell zu reagieren, mit immer weniger Zeit zum Nachdenken. Sobald auch nur die kleinste »Geschichte« eine Minderheit gegen eine Mehrheit in Szene setzt, findet sich eine Website, ein Blog oder selbst ein reguläres Medium, um das Fieber rasch steigen zu lassen. Die Journalisten der Online-Redaktionen sind darauf besonders scharf. Aus einem einfachen Grund: Über ein solches Thema kann man in kurzer Zeit spielerisch leicht schreiben, und es ruft Reaktionen hervor. Ideal in Zeiten des »Clickbaiting«, um den Zähler der Seitenbesuche nach oben klettern zu lassen und so die Ressourcen einer wirtschaftlich schwachen Presse aufzubessern.
Zieht man zudem in Betracht, dass ein freier Journalist, häufig ein Volontär, nicht mehr die Zeit hat und selbst auf Anhieb nicht mehr in der Lage ist, das Bedeutende vom Unbedeutenden zu unterscheiden, begreift man, warum so viele Artikel der geringsten Erregung gewidmet sind, erst recht wenn es sich um Berühmtheiten handelt. Was nicht weiter schlimm wäre, wenn die Wut nicht völlig gekünstelt wäre und wenn die Meute, in Wirklichkeit manchmal nur winzige Grüppchen, sich nicht fast jedes Mal durchsetzte. Und das bedeutet Entschuldigung oder Zensur.
Eine Anekdote brachte mich darauf, dieses Buch zu schreiben. Ich erhielt einen Anruf meiner Freundin Tania de Montaigne. Wir hatten eine Buchreihe auf den Weg gebracht, die wir mit Fiammetta Vener bei Grasset betreuen: »Unsere Heldinnen«. Sie soll vergessene Frauen wieder zum Leben erwecken: eine wahrhaft feministische Relektüre der Geschichte. Tania wählte Claudette Colvin, eine der ersten schwarzen Frauen, die sich geweigert hatten, ihren Platz in einem Bus einem Weißen zu überlassen, lange vor Rosa Parks.
Mit diesem Buch, das auch einen Aufsatz von ihr enthält, zog Tania durch Schulklassen, um zugleich Rassismus und kulturelle Zuschreibung zu bekämpfen.6 Als sie mich anrief, wurde es gerade für die Bühne bearbeitet und sollte bald als Comic herauskommen. Ein Erfolg, der ihr zu hoffen erlaubte, Leuten die Augen zu öffnen. Doch es bildete sich eine unerwartete Front. Ich vernahm ihre Stimme und erkannte die Verdrossenheit wieder, die uns eint angesichts derjenigen, die die Welt nur nach Hautfarben betrachten, seien sie weiß oder schwarz.
»Sie wollen das Buch nicht Schwarz nennen«, sagte sie mir niedergeschlagen.
»Wer?«
»Eine Verkaufsleiterin des Verlags, der den Comic herausgibt. Sie sagt, man könne es wegen des Verkaufs der englischsprachigen Ausgabe nicht Schwarz nennen.«
»Aber warum? Das ist der Titel des Buches.«
»Weil die Zeichnerin weiß ist. Sie fürchten, man werde mich der kulturellen Aneignung bezichtigen.«
»Ist das ein Witz?«
»Ich wünschte, du hättest recht.«
Wir brachen in Gelächter aus. Ein Gelächter allerdings, dem nach Heulen zumute ist.
»Aber die Autorin bist du, und schließlich handelt das Buch doch von antischwarzem Rassismus… Wie wollen sie es nennen… Weiß?!«
»Jedenfalls nicht Schwarz.«
Wir legten auf in der Überzeugung, dass diese Welt verrückt geworden ist, zum Bersten identitär. Machen wir uns einmal klar, dass solche Panikmache häufig von weißen Angestellten ausgeht, die den geringsten Zorn voraussehen. Dieses Mal, zum Glück, bewahrte die Verlegerin ruhig Blut und gab den Autorinnen recht. Das Buch durfte also Black heißen. Wir waren beruhigt. Zumindest ein bisschen.
Gleichwohl versuche ich, den Beginn der Panik zu begreifen. Ich hätte verstanden, dass das Wort »schwarz« in einer Sprache, in der man gewöhnlich »afroamerikanisch« sagt, Probleme bereitet.7 Doch darum geht es nicht. Hier fürchtet man, dass eine weiße Zeichnerin einen Band gegen antischwarzen Rassismus unterzeichnet. Als ob ihre Hautfarbe es ihr untersagte, sich mit diesem Thema zu befassen.
Ich meine durchaus, man sollte sich in Acht nehmen vor Leuten, die mit dem Antirassismus unaufrichtig Geschäfte machen. Sie sind zahlreich, und nicht allesamt weiß. Ich verstehe, dass man Rachel Dolezal, einer Aktivistin, die sich selbst gegen kulturelle Aneignung ausspricht, vorwerfen kann, dass sie den Eindruck zu erwecken suchte, sie sei eine Afroamerikanerin, während sie durch und durch WASP ist, und dass sie ihre Haut gebräunt hat, um als Opfer des Rassismus durchzugehen, den sie anprangert. Dennoch sollten Weiße sich befugt fühlen dürfen, Bücher gegen Rassismus zu publizieren oder zu illustrieren, ohne dass man ihnen ihre Hautfarbe zum Vorwurf macht.
Das Ziel des Antirassismus besteht letztlich nicht darin, ein Opferdasein zu fristen, sondern die Vorurteile aus der Welt zu schaffen. Wie will man darauf hoffen, die Stereotype zu überwinden und den Kreis der Aufgeklärten zu erweitern, wenn man weiterhin den alten Reflex bedient, der die Menschen und deren Gemüt entsprechend ihrer Hautfarbe beurteilt?
Im Falle dieses Comics steckte die weiße Zeichnerin Émilie Plateau ihr ganzes Herz und all ihr Talent in diesen Band nicht in der Hoffnung, reich zu werden (was im französischen Verlagswesen selten vorkommt), sondern weil dieser Text sie berührt hat und weil sie dementsprechend handeln wollte. Wenn sie einen Comic nach einem Text der auf dem Umschlag ebenfalls namentlich genannten Tania de Montaigne veröffentlicht, eignet sie sich deren Werk nicht an, und wenn doch, dann um sie zu würdigen. Genau so eignet Tania sich das Leben und den Schmerz von Claudette Colvin an, nicht um sie zu bestehlen, sondern um sie der jungen Generation bekannt zu machen. Eine solche Aneignung ist absolut notwendig. Es handelt sich um eine Teilhabe, die weder mit Raub noch mit kultureller Aneignung etwas zu tun hat: ein Schlagwort, das dazu missbraucht wird, Schranken zwischen Menschen zu errichten und sie zurechtzuweisen, wenn sie ihre Werke nicht zensieren.
Hält man sich an das Englisch-Oxford-Wörterbuch, bezeichnet kulturelle Aneignung die »Wiederaufnahme von Formen, Themen oder kreativen oder künstlerischen Praktiken durch eine kulturelle Gruppe zum Nachteil einer anderen«. Ursprünglich geht es dabei um die »westliche Aneignung nicht-westlicher oder nicht-weißer Formen zum Zwecke der Ausbeutung oder Herrschaft«. Der Artikel des Oxford-Wörterbuchs nennt als genaues und überzeugendes Beispiel westliche Museen, die Kunstwerke ausbeuten, die sie oft unter zweifelhaften Bedingungen erworben haben, wie etwa die Bronzen von Benin. In diesem Fall ist die Aneignung tatsächlich keine Würdigung, sondern ein Raub.