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Ulrich H. J. Körtner

Wahres Leben

Christsein auf evangelisch

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2021 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Printed in Germany

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Anja Haß, Leipzig

Coverbild: Royal Botanic Gardens, Kew, London

(Foto: Ulrich H. J. Körtner)

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

Druck und Binden: CPI books GmbH

ISBN 978-3-374-06912-5 // eISBN (PDF) 978-3-374-06913-2

ISBN (E-Pub/Mobi) 978-3-374-06914-9

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Albert Einstein soll einmal gesagt haben, man solle alles so einfach wie möglich erklären – aber nicht einfacher. In diesem Sinne möchte das vorliegende Büchlein auf elementare Weise erklären, was christlicher Glaube und Christsein heute sind. Genauer: Was es heißt, im evangelischen Sinne Christ zu sein. Dabei orientiere ich mich an Grundbegriffen und Grundtexten der christlichen Tradition, die im Anhang zusammengestellt sind. Es handelt sich um zentrale Abschnitte aus dem Alten und Neuen Testament, darunter die Zehn Gebote, der 23. Psalm und das Vaterunser, sowie das Apostolische Glaubensbekenntnis, auf die im fortlaufenden Text verwiesen wird.

Die Idee zu diesem Buch hatte Annette Weidhas. Ich danke ihr für unsere intensiven und anregenden Gespräche wie auch für die hilfreiche und kritische Begleitung von den ersten Entwürfen bis zur Veröffentlichung. Christoph und Ulrike Schneider-Harpprecht haben eine erste Fassung des Manuskriptes gelesen und wertvolle Anregungen gegeben. Für diesen Freundschaftsdienst sage ich herzlich Dank. Hilfreiche Verbesserungsvorschläge verdanke ich auch meiner Enkelin Anna Sophie Haschke sowie meiner Tochter Kerstin Julia Körtner, die den Text mit dem kritischen Blick einer Religions- und Deutschlehrerin gelesen hat. Paula Budde, Stephanie Faugel, Stefan Haider, Elise-Edith Tebel und Christine Voß haben das Manuskript Korrektur gelesen. Dafür sei Ihnen herzlich gedankt.

Wien, Ostern 2021

Ulrich H. J. Körtner

Inhalt

Vom richtigen Leben im falschen oder: Christsein auf evangelisch

Glaube

Liebe

Hoffnung

Freiheit

Beten

Tun und Lassen

In der Wahrheit leben

Kirche

Taufe

Abendmahl

Glück und Seligkeit

Freude

Anhang: Basistexte des Glaubens

Vom richtigen Leben im falschen oder: Christsein auf evangelisch

Menschen suchen nach Glück und nach unverfälschtem, authentischem Leben. In Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung soll das Glück zu finden sein. Der kanadische Philosoph Charles Taylor charakterisiert unsere Gegenwart als »Zeitalter der Authentizität«. »Sei du selbst!« lautet der Imperativ in Gesellschaft und Kultur. Jedermann ist seines Glückes Schmied, sofern es gelingt, sich nicht nur selbst zu verwirklichen, sondern zugleich auch noch zu optimieren. Es genügt nicht, mit sich selbst identisch zu sein, also mit sich selbst im Reinen und zufrieden zu sein, sondern das wahre Ich ist eine beständige Baustelle. Dabei können Enttäuschungen nicht ausbleiben. Die angestrebten Glücksmomente lassen sich nicht auf Dauer stellen. Sie werden zudem durch negative Gefühle wie Versagensängste, Trauer, Wut und Neid unterlaufen, und das Empowerment zur beständigen Selbstoptimierung endet im erschöpften, von sich selbst enttäuschten Selbst. Die Suche nach dem authentischen Leben endet beim »erschöpften Selbst« (Alain Ehrenberg). Charakteristisch für das Subjekt unserer Epochen sind, wie der Soziologe Andreas Reckwitz schreibt, »Risiken der Überforderung und Überanstrengung«, außerdem »Erschöpfungskrankheiten wie Depression und Burn-out sowie psychosomatische Störungen«. Das Streben nach Glück vermehrt so das Unglück.

Kann es das überhaupt geben: wahres Leben, das sich nicht nur gut und richtig anfühlt, sondern gut und richtig ist? Ein sinnerfülltes Leben mit Tiefgang statt bloßer Oberflächlichkeit, frei von jeglicher Lebenslüge, mit der wir uns und andere um das Leben betrügen. Ein Leben, in dem jemand nicht am Leben vorbeigeht, wie man so sagt, ein Leben, das zu leben sich lohnt. Oder muss das wahre Leben ein schöner Traum, eine Illusion bleiben, weil es nun einmal kein richtiges Leben im falschen gibt, wie der Philosoph Theodor W. Adorno (1903–1969) gesagt hat? Adorno war gemeinsam mit Max Horkheimer der Begründer der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule mit dem Institut für Sozialforschung als ihrem Zentrum. Das »ganz Falsche« war für den Marxisten Adorno die alle Lebensbereiche durchdringende und beherrschende spätkapitalistische Industriegesellschaft. Authentisches, heiles Leben sei in ihr ausgeschlossen. Alles Leben sei beschädigt. Kann es tatsächlich kein richtiges im falschen Leben geben, weil die Welt im Ganzen und die Existenz jedes einzelnen Menschen von inneren Widersprüchen zerrissen und das Ganze nicht das Wahre, sondern das Unwahre ist?

Wahres Leben, richtiges im falschen, ist eine Sache des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Glaube, Liebe und Hoffnung können Menschen aus der platten Diesseitigkeit befreien. Wer aus der Hoffnung lebt, sieht weiter als Menschen ohne Hoffnung. Wer aus der Liebe lebt, sieht tiefer als Menschen, die stets aus kühler Berechnung handeln und die Gabe des Lebens mit einer Ware verwechseln. Wer aus dem Glauben lebt, sieht die Welt, seine Mitmenschen und sich selbst in einem neuen Licht. Glaube ist Möglichkeitssinn, ein Sinn für das Mögliche. Er steht nicht im Gegensatz zum Wirklichkeitssinn, sondern verändert diesen, indem die Wirklichkeit in den Raum des Möglichen versetzt wird. Ob aber das Leben wahr oder unwahr, richtig oder falsch ist, hängt davon ab, was oder an wen man glaubt, was oder wen man liebt, was oder worauf man hofft.

Darum geht es in dieser Einführung, die fragt: Woran genau glauben Christen? Worauf setzen sie im Leben und im Sterben ihr Vertrauen? Worin gründet ihre Zuversicht? Was bedeutet Liebe für sie, und was zeichnet aus christlicher Sicht eine von Glaube, Liebe und Hoffnung bestimmte Lebensführung aus?

Christen glauben, dass es richtiges Leben im falschen gibt. Sie sind überzeugt und gewiss, dass solches Leben im Glauben an Jesus von Nazareth zu finden ist, der ganz in der Wahrheit und aus der Wahrheit gelebt hat. Mehr noch: dass Jesus das wahre Leben, der Weg dorthin und die Wahrheit in Person ist.

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) schrieb einmal: »Wir meinen, weil dieser oder jener Mensch lebe, habe es auch für uns einen Sinn zu leben. In Wahrheit aber ist es doch so: Wenn die Erde gewürdigt wurde, den Menschen Jesus Christus zu tragen, wenn ein Mensch wie Jesus gelebt hat, dann und nur dann hat es für uns Menschen einen Sinn zu leben. Hätte Jesus nicht gelebt, dann wäre unser Leben trotz aller anderen Menschen, die wir kennen, verehren und lieben, sinnlos.«

Christlicher Glaube unterscheidet sich von allen sonstigen Formen von Religion oder Spiritualität durch das Bekenntnis zu Jesus Christus als Quelle wahren Lebens. Eben darum wurden und werden die an ihn Glaubenden Christen genannt. Nicht eine vage Transzendenzsuche oder Gottoffenheit, sondern das Christusbekenntnis ist der entscheidende »Marker«, an dem das Label »Christentum« auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten erkannt wird.

Jesus von Nazareth, seine Worte und sein Lebensweg nehmen im Glauben und Leben von Christen eine Schlüsselstellung ein, weil sie davon überzeugt sind, dass Menschen durch ihn auf einzigartige Weise einen Zugang zu Gott finden. In Jesu Worten und Taten, seinem Lebensweg und seiner Hingabe, seinem Tod und seiner Auferstehung zeigt sich Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit der Liebe und als Grund allen Daseins.

Aber wer oder was ist Gott? Existiert er überhaupt? Und wenn ja, wie? Das bleibt strittig. Schon die Bibel weiß: Niemand hat Gott je gesehen (Johannes 1,18). Jesus von Nazareth hat diesen Gott aber nicht nur verkündigt, sondern in seiner eigenen Person und Existenz sichtbar gemacht. Wer ihn und die Zeichen seiner Gegenwart sieht, der sieht Gott selbst – den Gott, der uns nahe ist und sich zugleich entzieht, so wie der auferstandene Christus, der sich seinen Jüngern zeigt und dann entschwindet.

Die Rede von Gott ist für Christen zentral und unaufgebbar, weil sie in der Spur Jesu von Nazareth nicht nur das menschliche Dasein und die Welt im Ganzen, sondern auch ihren Glauben, ihre Hoffnung und die Liebe als Gabe verstehen, die sich der bedingungslosen Gnade und Güte Gottes verdankt. Der Apostel Paulus hat diese Grundüberzeugung auf den Punkt gebracht: »Was hast du, das du nicht empfangen hast?« (1. Korinther 4,7)

So lässt sich auf den Punkt bringen, was christlichen Glauben nach evangelischem Verständnis ausmacht: den von Jesus von Nazareth bezeugten Gott, im Leben wie im Sterben über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und ihm zu vertrauen.

Evangelisch ist dabei nicht auf die Konfessionsbezeichnung evangelischer Kirchen zu reduzieren, sondern in erster Linie als inhaltliche Bestimmung des Christseins gemeint. Evangelisch ist alles, was dem neutestamentlichen Evangelium von Jesus Christus entspricht. So verstanden kann es viel Evangelisches in allen Kirchen geben, nicht zuletzt in der römisch-katholischen Kirche, während in evangelischen Kirchen bisweilen recht unevangelische Überzeugungen zu finden sind. Zum Beispiel, wenn das biblische Christuszeugnis auf ein Moralprogramm reduziert wird, das den Zuspruch der göttlichen Gnade mit der ethischen Forderung seiner Gebote verwechselt. Natürlich sind auch nach evangelischem Verständnis die Gebote zur Geltung zu bringen, aber wirklich frei wird der Christ nur durch den Zuspruch der Vergebung.

Wir Menschen sind von Natur aus nicht die, die wir sein sollen. Wir leben nicht im Reinen mit uns selbst, mit anderen Menschen und auch nicht mit Gott, sondern im Widerspruch. Wir sind uns selbst im Innersten fremd, bisweilen sogar unheimlich. Die Entfremdung kann sich bis zur Feindschaft und zum Selbsthass steigern. Das beschränkt nicht nur unser Verhältnis zu uns selbst, sondern zieht auch die Beziehung zu anderen Menschen in Mitleidenschaft und wirkt sich in der Gesellschaft und in unserem Umgang mit der Natur destruktiv aus. So von uns selbst entfremdet, sind wir zugleich fern von Gott. Und darin liegt die Wurzel des falschen Lebens. Die Bibel gebraucht für die in uns wirksame destruktive Macht der Entfremdung den Begriff Sünde. So fremd vielen dieser Begriff auch geworden sein mag – wir brauchen ihn, um zu verstehen, was mit dem Evangelium gemeint ist.

Das Evangelium – auf Deutsch: die gute Nachricht – besagt: Es gibt ein richtiges Leben im falschen – aber auf Hoffnung hin. Richtiges, wahres Leben kann es nur geben, wenn wir mit Gott, aber auch mit uns selbst versöhnt werden. Genau das ist die Kernaussage des Evangeliums: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst (2. Korinther 5,19).

Gott liebt uns bedingungslos und will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen: der Wahrheit über sie selbst, die Welt und Gott. Die Wahrheit, so heißt es, wird uns frei machen. Sie macht uns frei vom Zwang, etwas aus uns selbst machen zu müssen, und befreit uns von der Angst vor Bedeutungslosigkeit, die in der modernen Gesellschaft grassiert.

Papst Johannes XXIII. (1881–1963) wird der Ausspruch zugeschrieben: »Gott weiß, dass ich da bin, das genügt mir, auch wenn sonst kein Hahn nach mir kräht.« Das ist freilich reine Glaubenssache – und gut evangelisch! Was es heißt, aufgrund dieser Zuversicht vertrauensvoll in Glaube, Liebe und Hoffnung zu leben, das soll nun genauer ausbuchstabiert werden.

Glaube

Wer nichts weiß, muss alles glauben, sind die beiden Physiker Werner Gruber, Heinz Oberhummer und der Kabarettist Martin Puntigam überzeugt. Das Trio begründete die »Science-Busters«, die zur Atheismusszene gehören und mit ihren Bühnenprogrammen durch Österreich, Deutschland und die Schweiz touren. Glauben, so lautet eine gängige Redensart, heißt nicht wissen. Aber die Entgegensetzung von Glauben und Wissen ist ebenso vordergründig falsch wie hintergründig richtig. Zu fragen ist ja nicht nur, was »Glauben«, sondern auch, was »Wissen« heißt.

Im christlichen Sinne meint Glauben das bedingungslose Vertrauen auf Gott als den Grund unseres Lebens und des Seins der ganzen Welt. Glaube ist der biblische Begriff für Gewissheit. Die Gewissheit des Glaubens betrifft nicht unser Wissen über die objektiv beschreibbare Wirklichkeit, sondern die Frage nach dem Sinn, dem Grund und der Bestimmung dieser Wirklichkeit und unseres Daseins. Wir können auch sagen: Der Glaube betrifft das Gewissen, das um Schuld und Vergebung ringt. Er ist sich der Erlösung und bedingungslosen Annahme durch Gott gewiss.

Diese Gewissheit gibt durchaus etwas zu wissen und zu denken. Es gibt allerdings verschiedene Arten des Wissens: theoretisches Wissen, technisch-praktisches Wissen und religiöses Erlösungswissen. Wir können auch zwischen einem instrumentellen und einem Orientierungswissen unterscheiden. Werden diese unterschiedlichen Wissensformen nicht miteinander verwechselt und vermischt, entpuppt sich der Gegensatz zwischen Glauben und Wissen als Scheinkonflikt.

Die Kirchen haben diesen Scheinkonflikt freilich selbst dadurch gefördert, dass sie sich anfangs gegenüber den Kenntnissen der neuzeitlichen Natur- und Geschichtswissenschaft verschlossen haben. Die europäische Aufklärung hat dem Christentum einen Lernprozess abverlangt, der letztlich zu einem tieferen Verständnis des Glaubens geführt hat.

Auch eine in hohem Maße durch wissenschaftliche Erkenntnisse geprägte Gesellschaft ist auf Sinnstiftung angewiesen, welche die Wissenschaft nicht zu leisten vermag. Das ist das Paradox der modernen Wissensgesellschaft. Sie kann nicht ohne die Ressource Vertrauen bestehen und letztlich auch nicht ohne Hoffnung. Allerdings macht die Wissenschaft immer wieder Versprechungen und weckt Hoffnungen, die über die Grenzen des Wissbaren hinausreichen. Hier deutet sich an, dass auch das moderne Wissen auf Glauben angewiesen bleibt.

Bestes Beispiel ist die Ökonomie. Vieles auf den Finanzmärkten ist reine Glaubenssache. An den Börsen wird auf die Zukunft spekuliert. Aktienkurse sind keineswegs nur ein Index für zusammengetragene Informationen, sondern immer auch ein Indikator für Zukunftshoffnungen und -ängste. Der Wert des Geldes ist eine Frage des Vertrauens in den Staat, die Banken und die Währungshüter. Jeder Kredit ist buchstäblich eine Glaubenssache, kommt doch das Wort vom lateinischen »credo« (ich glaube). Die Kreditwürdigkeit eines Kunden ist nur bis zu einem gewissen Punkt objektiv kalkulierbar. Letztlich spielt immer auch die persönliche Vertrauenswürdigkeit des Kreditnehmers und die Vertrauensbereitschaft des Gläubigers eine Rolle. Zwischen Gläubiger und Gläubigem besteht eben eine innere Verwandtschaft.

Zwischen Glauben und Glauben gilt es freilich zu unterscheiden. Wir kennen den blinden Glauben, das blinde Vertrauen, das möglicherweise zu einem bösen Erwachen führt. Ein gläubiger Mensch muss noch lange keine leichtgläubige Person sein. Wer vertraut oder glaubt, hat dafür seine Gründe. So verhält es sich auch mit dem christlichen Glauben. Manche mögen auf ganz oberflächliche Weise an Gott glauben, oder ihr Glaube ist eine übernommene Konvention und erschöpft sich darin, eine bestehende Tradition zu pflegen. Manche bezeichnen sich in diesem Sinne als Kulturchristen, für die der christliche Glaube und seine Traditionen zwar zum kulturellen Erbe gehören, aber im persönlichen Leben keine bestimmende Kraft mehr sind. Es gibt aber auch einen starken und tief empfundenen Glauben, der auf persönlicher Erfahrung beruht. Es gibt eine gläubige Einfalt, die nicht mit Einfältigkeit zu verwechseln ist. Gläubige Menschen sind in der Regel keine Einfaltspinsel, und ein reflektierter und bewusst gelebter Glaube hat seine Gründe, über die er auch gedanklich Rechenschaft geben kann. Rational unumstößlich beweisbar wird er freilich nicht, Glaube und Vertrauen bleiben letztlich eine Frage der Herzensgewissheit.

Man könnte meinen, der Widerpart des Glaubens sei der Zweifel. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Der Zweifel kann ein Ausdruck fehlenden Glaubens sein. Er kann sich sogar bis zur Verzweiflung steigern, die im Leben keinerlei Sinn sieht. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855) hat die unterschiedlichen Spielarten der Verzweiflung als Gestalten der Sünde beschrieben, wobei unter Sünde nicht ein moralisches Fehlverhalten, sondern ein Mangel an Gottvertrauen zu verstehen ist. Wir können auch sagen: Sünde ist Gottvergessenheit oder Blindheit für Gottes gütige Gegenwart. Der Zweifel kann aber auch ein Moment des Glaubens sein. Der Apostel Paulus fordert die Gläubigen auf, alles zu prüfen und das Gute zu behalten (1. Thessalonicher 5,21). Auch preist er die Gabe, die Geister zu unterscheiden (1. Korinther 12,10). Zum Glauben im biblischen Sinne gehört die Gabe der Kritikfähigkeit. Christlicher Glaube ist kritischer Glaube. Kritikfähigkeit aber besteht in der Fähigkeit zu fragen und das heißt, recht verstanden, in der Fähigkeit zu zweifeln.

Der Zweifel gehört auch insofern zum Glauben, als es nach biblischem Zeugnis keinen unzweifelhaften Glauben gibt. Der Glaube kann im Lauf des Lebens immer wieder zweifelhaft werden. Das hat Martin Luther (1483–1546) als Anfechtung bezeichnet und eindrucksvoll beschrieben. Gottes Gegenwart ist nicht immer unzweifelhaft gewiss, weil uns Gott oftmals verborgen ist. In solchen Momenten sehen sich gläubige Menschen auf die Probe gestellt, gegen allen Augenschein das Vertrauen auf Gott nicht zu verlieren. Die Anfechtung kann regelrecht zur Zerreißprobe werden zwischen dem, was die Bibel und die Glaubensgeschichte des Christentums bezeugen, und der eigenen Lebens- und Welterfahrung.

Allerdings steht die Gewissheit vor jedem Zweifel, wie schon der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) ausgeführt hat. Um etwas bezweifeln zu können, braucht es eine Grundlage, die man im selben Moment nicht in Zweifel zieht. Vor dem Zweifel steht das Vertrauen oder, wenn man so will, eine Form des Glaubens. Ohne Vertrauen oder, anders gesagt, ohne Glauben kann kein Mensch leben. Die Frage lautet nur, worauf ein Mensch im Leben und Sterben vertraut, zu wem oder wozu er Vertrauen fasst.

Martin Luther hat erklärt, worauf oder auf wen jemand sein ganzes Vertrauen setzt, das sei sein Gott – gleich, ob er für diesen letzten Anker im Leben das Wort Gott gebraucht oder nicht. So gesehen gibt es keinen Menschen, der nicht irgendeinen persönlichen Gott hat, und selbst die vermeintlich ganz und gar säkulare moderne Welt ist voll von Göttern. Außerdem zeigt sich: Gott – jeder Gott – ist eine Sache des Vertrauens, reine Glaubenssache.