splitterzeiten_umschlag_hi_res.jpg

Flora von Herwarth

Roman

KLAK

Impressum

© Flora von Herwarth, Wiesbaden 2020

© KLAK Verlag, Berlin 2020

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Jolanta Johnsson

Satz und Layout: Jolanta Johnsson

ISBN 978-3-948156-39-8

Inhalt

Breslau (1914–1920)

München (1920-1922)

Breslau (1922-1928)

Pirna (1928-1955)

Dresden (1955)

Hoheneck (1955-1957)

Großhartmannsdorf (1957-1959)

Wiesbaden (1959-1968)

Den Frauen dieser Geschichte

Human ist der Mensch, für den der Anblick fremden Unglücks

unerträglich ist und der sich gezwungen sieht,

dem Unglücklichen zu helfen.

Voltaire

Breslau(1914–1920)

1

Franz Kollneck wusste nicht, was er seiner Tochter Ada, dem ältesten und eigensinnigsten seiner acht Kinder, hinterlassen würde, als er sich entschloss, sie zu einer Geburt in die Odervorstadt mitzunehmen. Es war ihr fünfzehnter Geburtstag und auch in diesem Jahr lag er mit seiner Vermutung nicht fehl, eine Feier sei das Letzte, was sie sich wünschte. Ada schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, ihre Wünsche gegen die ihres Vaters auszuspielen, bisher jedoch erfolglos. Umso zufriedener begegnete ihm nun der Blick seiner Tochter, als sie die breiten Straßen der Schweidnitzer Vorstadt mit dem Wagen verließen und gemeinsam auf dem Weg zu der Geburt waren.

Der größte Teil Breslaus lag noch in der Dämmerung der letzten kalten Apriltage, doch Ada wurde sogleich der plötzlichen Geschäftigkeit gewahr, als der Wagen, nicht weit entfernt von den Hafenanlagen, zum Stillstand kam.

Im Gegensatz zu dem bürgerlichen Breslau, das sie gewohnt war, war ihr dieser Stadtteil völlig fremd. Er schien von der Nachtruhe gänzlich unberührt, als flösse hier, an der Vereinigung von Alter Oder und Stromoder, ein Tag in den nächsten.

„Na komm!“, forderte Franz Kollneck seine Tochter mit einem ermutigenden Nicken auf, auszusteigen. Ada, die nicht viel mehr wog, als der Arztkoffer voller Geburtsbesteck, den ihr Vater sie nun tragen ließ, hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten. Der Boden unter ihren Füßen war nicht mehr als eine lehmige Lache, die mit jedem ihrer Schritte weiter den Hang hinab glitt. Ada sah ein Schmunzeln in den Augen ihres Vaters und zwang sich, sich aufrecht zu halten. Ein Junge rannte ihnen aus einer Gasse entgegen. Er war nicht viel älter als Robert, der älteste ihrer kleinen Brüder.

„Hier, hierher“, rief er ihnen zu, als er sie kommen sah. „Kommen Sie, kommen Sie schnell.“ Er winkte den Arzt hektisch zu sich und führte ihn eiligen Schrittes durch die düstere Gasse in ein Hinterhaus, aus dessen Treppenaufgang im nächsten Moment die Schreie der Wehenden hinunterdrangen. Ada hatte Mühe, ihrem Vater und dem Jungen so schnell die Stufen hinauf in die Bodenkammer zu folgen. Als Letzte betrat sie das eisige, spärliche Zimmer, in dem selbst das Nötigste fehlte. An der Wand kauerte auf dem Boden ein Mädchen und stützte sich an der einzigen Bank des Zimmers ab. Der Schmerz schien nachzulassen, denn ihr Schreien ging in ein leises Wimmern über, als sie ihren Kopf erschöpft auf die Arme legte. Sie hatte den Eintritt der Fremden nicht bemerkt und schreckte ruckartig auf, als der Arzt nun ihren Arm berührte.

„Dr. Kollneck“, stellte er sich vorsichtig dem Mädchen vor, das ihn nun kurz anblickte. Es war ein Blick aus Horror und Hoffnung, den Ada noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Das Mädchen war nicht älter als sie. Sie trug ein Leinennachthemd, das von Erbrochenem und Blut befleckt war. Ihr Bauch trat vollends zum Vorschein, als sich die nächste Wehe in ihr aufbäumte und ihren Körper aus der Ruhe riss. Sie stemmte sich auf und begann erneut zu schreien, verlor aber sogleich nach der Wehe wieder die Kraft und sank still und zittrig zurück auf die Bank.

Franz Kollneck richtete das Geburtsbesteck zurecht.

„Hol saubere Tücher und heißes Wasser“, bat er dringlich den Jungen.

„Versuche sie zu beruhigen“, sagte er dann ebenso nachdrücklich zu Ada und wendete sich wieder dem Mädchen zu.

„Dürfte ich dich untersuchen?“, fragte er sie und erhielt ein erschöpftes Nicken. Ada strich dem Mädchen die schweißnassen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Es hört gleich wieder auf. Es wird gleich wieder gut“, sprach sie zu ihr, wie sie es sonst immer tat, wenn sich eines ihrer Geschwister verletzt hatte.

Doch die Wehe schien nicht nachlassen zu wollen, jedenfalls wand sich das Mädchen weiterhin unter Schmerzen, und wehrte sich jetzt dennoch gegen eine Untersuchung. Das Mädchen erinnerte Ada an ihre Schulfreundin Martha, mit ihrem schmalen Körper und den so kraftvollen, starken Händen. Jetzt drückten diese Hände Adas Finger, dass sie glaubte, sie müssten brechen. Adas Vater war es gelungen, das Hemd des Mädchens zu heben, und sah zwischen ihren Beinen einen kindlichen Fuß. Der Fuß war blau und bewegte sich nicht.

„Wo bleibt der Junge mit den Tüchern?“, rief Franz Kollneck, sich nach dem Jungen umsehend, erhielt aber keine Antwort.

„Geh und schau, wo der Junge bleibt“, forderte er dann Ada auf. Er selbst suchte mit dem Pinardrohr nach dem Herzton des Kindes. Das Mädchen schrie erneut auf, als er sie bei der kommenden Wehe untersuchte und sogleich zum Pressen anleitete. Ada war mit dem Jungen zurückgekehrt.

Der Junge reichte Franz Kollneck keuchend einen kleinen dampfenden Stapel mit feuchtem Leinen.

Dieser nahm sogleich ein Tuch und wickelte es um den Fuß und das Bein des Kindes, das langsam tiefer trat. In den Wehenpausen, die immer kürzer wurden, sprach er besänftigend mit der Gebärenden und sein Tonfall erinnerte Ada jetzt mehr an den Vater als an den Arzt. Das Mädchen fasste Vertrauen und ließ sich in ihrem Pressen von Ada und ihrem Vater leiten. Der Steiß des Kindes dehnte den Damm, trat durch und Franz Kollneck entwickelte nun auch das zweite Beinchen und bedeckte den halb geborenen Körper mit dem feuchtwarmen Tuch. Mit der anderen Hand suchte er den Mund des Kindes im Mutterleib und führte über ihn das Köpfchen ans Licht.

Es war ein Junge und der restliche Körper des Kindes hatte dieselbe livide Färbung wie zuvor der Fuß. Franz Kollneck trocknete das Neugeborene und rieb es, bis es endlich zu schreien begann und das Blau langsam einem Rot wich.

„Hier kannst Du die Nabelschnur durchtrennen“, wies er Ada an und zeigte auf die Stelle zwischen den zwei Klemmen, die er soeben gesetzt hatte.

Ada griff zitternd nach der Schere und schnitt zögerlich durch das Gewebe, das fest und weich zugleich war.

Erstarrt hielt sie die Schere in den Händen, bis ihr Vater sie ihr abnahm und stattdessen das Kind übergab.

„Konzentriere dich, Ada“, bat er sie. „Trockne ihn gut ab und halt den Kleinen warm.“ Dann kehrte er sich wieder ganz dem Mädchen zu. Es hatte verstärkt zu bluten begonnen und er musste mit der Hand Wehen anreiben. Ada wickelte das Kind in trockene Tücher und hielt es fest im Arm, während sie die geübten Handgriffe ihres Vaters beobachtete, wie er mit sorgenvoll gerunzelter Stirn tröstend dem Mädchen zuredete. Dieses hatte seinen Kopf zur Seite der Wand gedreht und wollte das Kind nicht sehen.

„Lassen wir sie ruhen.“ Der Arzt gab Ada ein Zeichen und Ada bettete das Neugeborene in einen Korb, den sie neben der Tür gefunden hatte. Mit der Geburt von Plazenta und Eihäuten nahm auch die Blutung ab und die Gebärmutter zog sich fest wie ein Apfel im Leibe zusammen.

Franz Kollneck nahm Adas Hand, die noch immer zitterte, und ließ sie nach der Gebärmutter tasten.

„Schau, dort liegt alles Leben.“

Ada blickte ehrfurchtsvoll in die Augen ihres Vaters. Es war ihr ein Rätsel, wie der Raum, der wenig zuvor noch das Kind getragen hatte, sich mit solcher Hast zurückformen konnte.

Ada verlor sich gerne in den Büchern des Vaters und ihr Interesse galt vor allem den geburtshilflichen Schriften. Das Leben im Leben war für sie das größte Rätsel und der tiefste Zauber zugleich. Doch auch wenn die soeben erlebte Geburt die Neugier an diesem Rätsel verstärkt hatte, so war der Zauber gebrochen. Noch immer sprach das Mädchen kein Wort.

Nachdem Dr. Kollneck vor die Tür getreten war, hatte Ada sie gewaschen und mit Decken das Bett auf der Bank hergerichtet. Eine Nachbarin mit schmutziger Schürze kam und brachte dem Mädchen Brühe.

„Trink, Henni, du musst trinken“, ermahnte sie das Mädchen und hielt ihr die Tasse an die Lippen, aber es nahm nur wenige Schlucke mit geschlossenen Augen. Es erinnerte Ada jetzt nicht mehr an Martha. Genau so wenig wie die Geburt soeben sie an die Geburten ihrer Geschwister erinnerte, bei denen die Mutter Pauline tage- und nächtelang gestöhnt und am Ende mit strahlendem Lächeln ein weiteres Kollneck-Kind willkommen geheißen hatte.

Das, was Ada heute gesehen hatte, erschütterte sie und brach all ihre Erwartungen an die Medizin. Ihr Vater hatte dem Kind auf die Welt geholfen, doch das Mädchen wirkte auf Ada noch immer verwundet und krank. Sie stellte den Korb mit dem Kind neben die Bank, auf der das Mädchen nun schlief, und verließ beschämt das Haus.

Auf der Gasse stand ihr Vater. Er sah müde aus und seine von Rheuma verzehrten Gelenke schmerzten ihn.

„Was machen wir mit ihr?“, fragte Ada und bereute sogleich ihre Frage.

„Wir gehen nach Hause“, erwiderte ihr Vater mit einem Seufzen und führte Ada die Gasse hinaus auf die Straße, wo ihr Wagen stand.

Die Fahrt über sprachen sie nicht. Als der Wagen in der Schweidnitzer Vorstadt vor der Villa zum Stehen kam, lächelte Franz Kollneck seine Tochter an und strich ihr mit seiner großen, knorpeligen Hand über die Wange.

„Meine Große“, sagte er und Ada blieb stumm. Zwei Stunden später erlitt Franz Kollneck einen Herzinfarkt und war sofort tot.

Am Abend ihres fünfzehnten Geburtstages schloss Ada sich in der Praxis des Vaters ein. Sie wollte niemanden sehen. Die Verwandten waren gegangen. Ihre Mutter Pauline saß mit dem Onkel Johannes im Wohnzimmer und das Kindermädchen brachte die Geschwister zu Bett. Im Esszimmer war auf dem großen Tisch ihr Vater aufgebahrt, daneben schlug die Standuhr im viertelstündigen Takt. Ada zählte die Schläge und hoffte, sie würden verklingen, doch im Nahen der Nacht schienen sie lauter zu werden. Dann hörte sie plötzlich das Rücken des Klavierhockers im Wohnzimmer und wie die Mutter begann „An der schönen blauen Donau“ zu spielen, wie sie es stets an Abenden tat, an denen die Kinder Schwierigkeiten hatten zu schlafen.

Ada stand auf und ging zu dem Instrumentenschrank ihres Vaters. Den Kindern war es verboten, ihn zu öffnen. Sie drehte den Schlüssel, der lose im Schloss steckte, und öffnete vorsichtig die rechte Tür. Viele der Instrumente kannte sie aus den Büchern. Im Spiel hatte sich ihr Vater immer die Namen und die Verwendung der einzelnen Instrumente erklären lassen. Nun war es still. Das Klavierspiel war verklungen und auch das Ticken und Schlagen der Standuhr konnte sie nicht mehr vernehmen; es war ihr, als stünde ihr Vater wieder hinter ihr. Sie strich über das kalte Metall einer Zange und streckte ihre Hand zu dem Fach mit den chirurgischen Scheren. Dort lagen spitze und stumpfe, gerade und gebogene Scheren. Sie nahm eine spitze, gerade Schere heraus und sah ihr Spiegelbild im Glas der linken, noch verschlossenen Vitrinentür. Ihre Haare waren geflochten und um den Kopf herum hochgesteckt. Mit dem Lösen der Nadeln fielen die Zöpfe auf die Schultern. Ada hob die Schere an den Kopf und schnitt ins Haar. Nach vier Schnitten, waren die Zöpfe durchtrennt. Sie verbarg sie in den Rocktaschen, legte die Schere zurück und verschloss den Schrank. Dort, wo die Patienten sonst saßen, setzte sie sich an den großen Schreibtisch und legte ihren Kopf auf die kühle, hölzerne Platte. Mit der Hand fuhr sie sich durch ihr kurzes Haar und musste schmerzvoll an das dunkle, dichte Haar des Vaters denken. Erst als sie spürte, wie die Kälte der Nacht über die Fensterschlitze in die Praxis drang und nur Finsternis sie umgab, verließ sie die lautlosen Räume des Vaters und kehrte in ihr Zimmer zurück, in dem die Schwestern schon lange auf sie warteten.

2

In dieser Nacht schlief Ada kaum. Ihre Schwestern hatte sie verstört in ihren Betten aufgefunden. Die vier Jahre alten Zwillinge, die sonst erschöpft vom Tage immer als erstes einschliefen, waren noch wach. Leni starrte sie ängstlich aus ihrem Alkoven heraus an, während sich Frieda im zwanghaften Versuch einzuschlafen von einer Seite auf die andere wälzte. Ihre drei Jahre jüngere und ihr am engsten verbundene Schwester Marie saß mit angezogenen Beinen und noch mit Kleidung am Leibe auf ihrem Bett und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Das großzügige Kinderzimmer war von milchigem Mondlicht erfüllt und die Schatten der Kastanie gegenüber bewegten sich zuckend auf Adas Gesicht. Marie sah sie feindselig an. Sie schien es ihr übel zu nehmen, dass sie sich kurz nach dem Tod des Vaters in seiner Praxis eingeschlossen hatte.

„Wie du aussiehst“, spottete sie über Adas Haar.

Ada setzte sich wortlos neben Marie auf ihr Bett und auch sie zog die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. Sie fror. Seit dem Geburtstagsfrühstück am Morgen hatte sie nichts mehr gegessen. Sie kämpfte gegen die Übelkeit.

Durch die Flügeltür hörte sie die Stimmen ihrer Brüder, die sich das Nachbarzimmer teilten. Sie hörte deutlich die Stimmen von Robert und Konrad, ob ihr kleinster Bruder Thomas nur lauschte oder bereits schlief, wusste sie nicht. Für einen Moment wollte sie aufstehen und nach ihnen sehen, entschied sich dann aber dagegen. Das jüngste der Geschwister, Elisa, war noch kein halbes Jahr alt und schlief bei dem Kindermädchen neben dem Elternschlafzimmer.

Im Erdgeschoss konnte Ada hören, wie die Mutter die Großeltern und den Onkel verabschiedete. Sie konzentrierte sich, um die Schritte der Mutter auf der Treppe zu hören, und hoffte, sie möge in ihr Zimmer treten, um Gutenacht zu wünschen, wie die Eltern es jeden Abend taten, doch Ada wartete vergeblich. Auch hörte sie keine Schritte auf der Treppe. Als sie am nächsten Morgen erwachte, waren bereits alle aufgestanden. Aus dem Erdgeschoss drang das vertraute Lärmen ihrer jüngeren Geschwister. Sie wusch sich und zog sich an, doch ihre schief geschnittenen Haare ließen sich auch mit Wasser nicht glätten. Störrisch standen sie von ihrem Kopf ab. Ada ging langsam die Treppe hinab und suchte zögerlich nach der Mutter.

Pauline hatte soeben aufgehört Elisa zu stillen, hatte den Säugling zurück in den Stubenwagen gelegt und stützte sich auf die Lehne des danebenstehenden Sessels. Ada trat leise zu ihr und folgte dem Blick der Mutter, der starr auf die schlafende Schwester gerichtet war. Die Mutter musste sie bemerkt haben. Sie blickte auf und sah Ada direkt in die Augen. Sie hatte die verschnittenen Haare entdeckt und wirkte für einen Augenblick amüsiert, auch wenn ihre Augen klein und farblos unter den geschwollenen Lidern lagen und sie noch immer die Kleider vom Vortag trug.

„Ada“, seufzte sie, streckte die Arme müde hervor und drückte ihre Tochter fest an sich. Ada war im Vorjahr so rasant gewachsen, dass sie die Größe ihrer Mutter Pauline erreicht hatte und sich ihre Wangen nun berührten.

„Kind, du bist ja eisig!“

Pauline löste die Umarmung und sah ihre verstummte Tochter traurig kopfschüttelnd an.

„Geh in die Küche, wärm Dich auf und iss. Du musst etwas essen!“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Es ist das Brot, für das Euer Vater gearbeitet hat.“ Pauline sah ihre Tochter eindringlich an und Ada wusste nicht, ob sie es als Drohung oder Trost verstehen sollte, doch gehorchte.

In der Küche wartete ein Teller mit Butterbroten auf sie. Ihre Geschwister hatten bereits gefrühstückt. Einzig Marie gesellte sich polternd neben sie und schob ihr das Milchglas zu, von dem sie gerade getrunken hatte.

„Warst du schon bei Vater?“

Ada schüttelte den Kopf und kämpfte mit dem Bissen Brot im Mund. Das harte Brot zersetzte sich nur langsam und sie hatte Schwierigkeiten, es hinunter zu schlucken. Erst als es ihr mit dem Brotbrocken im Mund schlecht wurde, zwang sie sich zu kauen und zu schlucken und trank von der Milch.

„Du?“

Marie schüttelte ebenfalls den Kopf und schwieg. Ada biss ein weiteres Mal ins Brot, doch schob den Teller gleichzeitig von sich. Sie wusste nicht, wie sie Abschied nehmen sollte.

„Lass uns zusammen gehen“, sagte Ada plötzlich mit einer Hast, sich beiden Mut zuzusprechen.

Das Esszimmer lag am anderen Ende des Flures. Mit jedem Schritt in die Richtung des Vaters beschleunigte sich ihr Herzschlag und Marie entzog sich ihrer schwitzenden Hand. Der Vater lag, in seinen Sonntagsanzug gekleidet, aufgebahrt. Man hatte seine von Rheuma gezeichneten Hände, die ihm bei den Operationen in letzter Zeit so zu schaffen gemacht hatten, ineinander gefaltet und seinen Kiefer mit einem Band verschlossen. Ada erschrak als sie den harten Kern unter seiner kalten Haut fühlte. Ohne seine vertraute, sonore Stimme und das Lächeln um Augen und Mund erkannte sie ihn kaum wieder. Marie lief aus dem Raum und Adas Wiedersehen mit dem Vater wurde ein einsames, kaltes Abschiednehmen.

Franz Kollneck wurde am nächsten Tag beerdigt. Sein Schwager Johannes, der katholischer Pfarrer in einer nahen Gemeinde war, richtete den Trauergottesdienst aus. Der bescheidenen Kirche fehlte der Raum, um all die Menschen aufzunehmen, die von weither gekommen waren, um von dem viel geschätzten und selbstlosen Arzt Abschied zu nehmen. Ada saß neben ihrer Schwester Marie und ihren Brüdern in zweiter Reihe hinter der Mutter und den Großeltern. Die Zwillinge und die kleine Elisa waren mit dem Kindermädchen zu Hause geblieben. Pauline hatte Ada einen Trauerhut gekauft, unter dem sie die kurzen, fransigen Haare versteckte. Die Orgel spielte das Adagio aus Mendelssohns zweiter C-Moll Sonate, die Franz Kollneck so geliebt hatte und in Ada wütete ein Sturm. Sie war froh, als sie die stickige Kirche verlassen und an die kühle Luft treten konnte. Als die Familie am Grab die Kondolenz entgegennahm fiel Adas Blick auf ein Mädchen, das im Schatten einer Weide stand. Sie hielt etwas in den Armen und sich schwer auf den Beinen. Die beiden Mädchen sahen sich lange an, bis Ada das zarte Gesicht der Fremden erkannte und endlich zu weinen begann.

Nach dem Tod von Adas Vater wichen die Großeltern und ihr Onkel Johannes nicht mehr von Paulines Seite. Die Großeltern kümmerten sich um die, trotz der acht Kinder, noch viel zu junge Witwe und Johannes, dem es als katholischem Pfarrer verwehrt war, eigene Kinder zu haben, wurde seinen Neffen und Nichten ein zweiter Vater.

Adas Mutter musste die Villa mit der Praxis verkaufen und zog mit den Kindern zu ihren Eltern in die Sand-Vorstadt, wo diese am Brigittenthal ein Mietshaus besaßen. Das Kindermädchen mussten sie aufgeben und teilten sich nun zu neunt eine kleine Dreizimmer-Wohnung.

Die meisten der Möbel hatte Pauline verkaufen müssen, doch sie hatte darauf bestanden den Sekretär und die Bibliothek ihres Mannes zu bewahren, so dass in jedem Zimmer und entlang des Korridors Bücherschränke die Wände kleideten. Das Klavier der Mutter wurde im Wohnzimmer der Großeltern untergebracht. Pauline spielte kaum noch und immer nur dann, wenn sie von ihren seltenen Friedhofsbesuchen zurückkehrte oder die Sorgen um die Zukunft der Familie zu schmerzlich wurden. Dann wiederholte sie wieder und wieder dieselben munteren Strauß Walzer.

Ada hingegen verbrachte immer mehr Zeit am Grab ihres Vaters. Er war auf dem St. Laurentius Friedhof in der Familiengruft beigesetzt, die von einer kleinen, unberührten Wiese und einem kniehohen, alten Eisenzaun umrahmt war. Am Rand des Zaunes stand mit Blick auf das marmorne Epitaph eine Bank, von welcher Ada beobachten konnte, wie der feuchte, faulige Geruch des Winters verging und die Wiese zu grünen und blühen begann. An manchen Tagen gesellten sich Marie oder Robert zu ihr. Am liebsten suchte sie jedoch den einsamen Rückzug, bei dem sie sich in den mitgebrachten Büchern des Vaters verlor, während sich der Wolkenhimmel über dem Gras auf dem sie lag, öffnete und schloss.

Es war einer der letzten schwülen Julitage und Ada war soeben von einem ihrer Friedhofsgänge in die Wohnung zurückgekehrt, als ihr Großvater, stürmisch an ihr vorbei, zu ihrer Mutter in die Küche eilte.

„Österreich-Ungarn hat Serbien den Krieg erklärt“, stieß er wütend aus. Die Familie, die den Machtkämpfen innerhalb Europas sowie der imperialistischen Interessenpolitik der letzten Jahrzehnte mehr als skeptisch gegenüberstand, befand sich seit dem Attentat von Sarajevo, das gerade einmal einen Monat zurücklag, in Habachtstellung.

„Die Zeitungen streuen immer größere Verschwörungstheorien“, beschwerte sich Paulines Vater weiter, „mit Verstand kann man die Geschehnisse der letzten Wochen schon gar nicht mehr nachvollziehen!“

Ada stand noch mit ihren Schuhen an den Füßen im Türrahmen. Pauline stöhnte.

„Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nicht immer das Friedhofgras hier hineintragen sollst?“

„Mach ich nicht mehr“, versprach Ada mit ihrem ansteckenden Lächeln und nahm Pauline mit einem Kuss alle Strenge.

Ihr Großvater war jetzt noch aufgebrachter und schüttelte missbilligend den Kopf.

„Dieser Kriegserklärung werden schon bald weitere folgen.“

Er sah nicht, wie wenig Kraft Pauline hatte, die unheilvollen Nachrichten aufzunehmen. Ada berührte ihre Mutter vorsichtig am Rücken, als wollte sie die düsteren Prognosen des Großvaters von ihr ableiten.

Paulines Familie war ausnahmslos pazifistisch eingestellt, und ihnen allen graute es vor einer nicht länger zu beherrschenden Eskalation des sich so rasch entwickelnden Völkerkrieges.

Schon bald kämpfte Deutschland an mehreren Fronten.

„Zum Glück ist Franz der Einzug in den Krieg erspart geblieben“, murmelte Pauline in den Folgejahren immer häufiger vor sich hin.

Ada fragte sich, wie lange ihr Großvater noch als zu alt und ihre Brüder als zu jung gelten würden, bevor auch ihre Opfer gefordert würden. Sie verbrachte mit ihren Geschwistern, in den Jahren der zunehmenden Entbehrungen, immer mehr Zeit in der Wohnung der Großeltern, wo auch der Vorratsschrank mit dem von Jahr zu Jahr spärlicher vorhandenen Essen stand.

Zu dieser Zeit bemerkte Pauline, dass die Bücher der Geburtshilfe und Pädiatrie, sowie die Atlanten der Anatomie und Chirurgie nicht weit von Adas Schlafplatz deponiert standen. Was sie nicht wusste war, dass bereits Jahre nächtlicher Lektüre vergangen waren.

Ada durfte nur noch an den Wochenenden in den Büchern des Vaters lesen, da ihre Leistungen in allen Fächern, außer Biologie und Chemie, stark nachgelassen hatten.

„Nimm das Mädchen doch endlich von der Schule, damit sie dir mit den Geschwistern helfen kann“, redeten die Großeltern pausenlos auf Pauline ein. Für sie stand das aber völlig außer Frage.

„Der Grips meiner Ada wird an anderer Stelle mehr benötigt. Jetzt noch mehr als zuvor“, entgegnete sie nur und im ersten Frühling nach Ende des Krieges, in dem zumindest die Häuser des ohnehin von Wohnungsnot geplagten Breslaus unversehrt geblieben waren, beendete Ada als erste der Kollneck-Kinder ihr Abitur und begann im selben Semester das Studium der Medizin.

3

Ada freute sich, dass sie an der Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität nicht, wie die Frauen noch Jahre zuvor, nur als Gasthörerin, sondern direkt als vollimmatrikulierter Student zugelassen wurde. Auch wenn die Studentinnen in großer Minderzahl blieben, so hatten sie zumindest theoretisch schon mal dieselben Rechte. Ada genoss den nun täglichen Fußweg zur Universität. Das Rattern der Straßenbahnen auf der geschäftigen Sternstraße wurde ihr genauso schnell vertraut, wie die kurzweilige Stille auf der Sandinsel, die sie überqueren musste, bevor sie die imposante Uferpromenade der Universität erreichte.

Nachdem Ada zu Beginn noch zu Hause die Büchersammlung ihres Vaters genutzt hatte, zog sie schon wenig später den Rückzug in die einsamen Gänge der Universitätsbibliothek dem Rummel unter ihren Geschwistern vor. In den Sälen der alten Bibliothek, die direkt an der Oder auf der Sandinsel lag, blieb sie meist bis weit über den Anbruch der Dunkelheit hinaus an den dunklen Mahagonietischen sitzen und las.

Eines Abends, als sich der Saal schon fast ganz geleert hatte, gesellte sich Felix, ein mehrere Jahre älterer Kommilitone, dessen jüngerer Bruder Achim sich gerade mit Adas Bruder Robert auf das Abitur vorbereitete, zu ihr. Ada brauchte einen kurzen Moment, um Achims Bruder, den sie nur zweimal zuvor gesehen hatte, in dem gedämpften Licht der ungewohnten Umgebung wiederzuerkennen. Felix wiederum hatte Ada direkt mit ihrem Namen angesprochen und begann gleich ein Gespräch.

„Ich habe dich schon ein paar Mal hier gesehen. Du bist immer eine der Letzten“, stellte er ungehemmt fest.

„Beziehst du das auf die Uhrzeit?“

„Ich schon. Du scheinst gar keine zu kennen.“

Sie schenkte ihm ihr Lachen.

„Ich verbinde meine Besuche in der Bibliothek mit dem Nachhauseweg“, sagte Ada dann in ihrer eher feststellenden als erklärenden Art.

„Eine kleine Pause auf der Sandinsel?“ Felix lachte sie an.

„Ja, eine kleine Pause.“

„Und mit was füllst du deine Pause?“

Ada klappte das Buch, in dem sie gelesen hatte, demonstrativ zu und Felix las auf dem Buchdeckel „Handatlas der Anatomie“ und darunter, „Eingeweide, Gehirn, Nerven, Sinnesorgane.“

„Klassische Pausenlektüre“, fasste Felix amüsiert zusammen.

„Ich wohne auch in der Sand-Vorstadt, studiere aber Jura. Im Winter mache ich mein Zweites Staatsexamen.“

„Ich weiß. Achim hat es Robert erzählt und Robert wiederum mir.“ Es trat eine peinliche Stille ein.

„Ich kann dich nachhause bringen“, bot Felix nun alternativ zu der überflüssigen Vorstellungsrunde an.

„Ich kann mich auch nachhause bringen“, erwiderte Ada kokett.

„Nach solcher Lektüre?“ Felix legte den Kopf schief, als ob er ernsthafte Zweifel daran hegte.

„Meinst du mit Gesetzen kommt man weiter?“

„Ganz sicher!“

„Das werden wir dann sehen“, antwortete Ada zuversichtlich und zog sich ihren Mantel an, bevor Felix ihr in ihn hineinhelfen konnte.

Sie freundeten sich schnell an und breiteten mit einer stets größeren Selbstverständlichkeit ihre Bücher nebeneinander in der Bibliothek aus, bis sie in den Welten der Lektüre gänzlich die Gesetzmäßigkeiten ihrer Zeit vergaßen.

Wenn Felix zwischen der Bibliothek und der Medizinischen Fakultät zusammen mit Ada gesehen wurde, zischte es jetzt immer häufiger Verräter oder Memme aus den Mündern der Kommilitonen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Adas Ehrgeiz Medizinerin zu werden, im Keim zu ersticken.

Ada war die Missgunst mancher Kommilitonen schnell gewohnt; die Unruhe, die entstand, wenn sie den Hörsaal betrat, bis hin zum überstürzten Verlassen des Raumes, sobald sie sich auf einer der Bänke niedergelassen hatte.

„Die kurzen Haare geben dir noch lange nicht das Rückgrat eines Mannes“, zogen sie Ada schallend lachend, selbst in Anwesenheit der Professoren, auf. Dies alles griff Ada an, doch sie ließ sich nicht beirren.

Ada war groß gewachsen, doch von zierlicher Figur, wider Erwarten klang ihre Stimme jedoch nie brüchig oder dünn, sondern hatte in ihrer eigenen Weichheit die tiefe Resonanz, die auch die Stimme des Vaters ausgezeichnet hatte. Sie ersparte es sich dennoch, sich gegenüber den ihr feindlich gesinnten Studenten zu verteidigen.

Erst als Felix für eine Woche verschwunden war und mit Spuren einer üblen Prügelei zurückkehrte, begann Ada dem vehementen Widerstand ihrer Kommilitonen offensiver zu begegnen und provokativ das Gespräch zu suchen. Das Zischen auf der Straße nahm langsam ein Ende und kaum einer verließ noch den Hörsaal, wenn sie ihn betrat. Ada musste sich trotzdem damit abfinden, dass sie und ihre wenigen weiblichen Mitstreiterinnen zwar geduldet, aber noch längst nicht respektiert wurden.

Zum Glück hatte sie kaum Zeit, zu viele Gedanken daran zu verlieren. Jede Mittagspause eilte sie nach Hause auf die andere Oderseite und half ihrer Mutter, das Essen vorzubereiten und den Geschwistern bei den Schulaufgaben. Da ihre Familie trotz aller Entbehrungen weiterhin ein offenes Haus pflegte, saß nun häufiger auch Felix an dem großen Esstisch von Adas Großeltern.

„Es fühlt sich schon fast so an als gehöre ich zu eurer Familie“, stellte Felix an einem heißen Sommertag auf dem Rückweg zur Universität fest. Sie waren den längeren Weg zur großen Universitätsbrücke gegangen und blieben auf der Mitte der Brücke stehen.

„Wie gerne würde ich mich von einem der Schiffe forttragen lassen“, antwortete Ada zusammenhangslos, während sie sich über die Brückenmauer beugte und die Brise von der Oder ihr Haar zerzauste. Als sie zu Felix blickte, wirkte er unerwartet verletzt.

„Wir lieben dich schon, weil du dich politisch so engagierst“, erklärte sie stattdessen in ihrer unbefangenen und aufrichtig versöhnlichen Art, als sie ihren Weg fortsetzten.

„Und mein Großvater kann sich nichts Schöneres vorstellen, als… wie sagt er immer zu dir? …mit der jungen Republik anzustoßen! Er erlebt mit dem Entstehen der Weimarer Republik einen zweiten Frühling. Von einem auf den anderen Tag strotzt er nur so vor Vitalität und Lebenslust!“

Wie Ada so sprach, ging ihre anfängliche Anerkennung von Felix‘ politischem Tatendrang nahtlos in ihre tiefe Liebe zu ihrem Großvater über. An diesem Mädchen würde er sich ewig die Zähne ausbeißen. Er hatte während der Gespräche im Kreis von Adas‘ Familie schon oft bemerkt, wieviel Eigen- und Familiensinn Ada gleichzeitig in sich verband.

Ihre Schwester Marie begann zu Sommerende eine Ausbildung zur Kriminalistin, doch kam in ihrer kurzen Mittagspause weiterhin flüchtig nach Hause, so dass Ada sich immer häufiger fragte, ob Felix der Grund dafür war. Wenn sie ihn auf Marie ansprach, wich er ihr aber konsequent aus.

Adas Freundin Martha hatte bei Professor Sauerbruch in München das Medizinstudium begonnen und bat Ada in jedem einzelnen von zahlreichen Briefen, ihr zu folgen.

Neben der Sorge um die jüngeren Geschwister bemühte sich Ada jetzt noch mehr, den Ansprüchen des Studiums zu entsprechen, wohl wissend, dass sie in der Schuld ihres Onkels Johannes stand, der sie von Anfang an bei ihrem Wunsch, Medizin zu studieren, finanziell unterstützt hatte.

„Durch einen Zufall habe ich erfahren, dass einer meiner Professoren regen Kontakt zu der Medizinischen Fakultät in München pflegt“, berichtete Ada kurz nach Weihnachten euphorisch ihrer Mutter Pauline.

„Und wozu soll das gut sein?“

„Er will sich aufgrund meiner guten Noten für mich einsetzen“, erklärte Ada und zählte Pauline die scheinbar endlosen Vorteile eines Studiums bei dem namhaften Professor in München auf.

„Das sind doch alles Träumereien, Ada“, wehrte Pauline die Pläne ihrer Ältesten, ohne weiter hinzuhören ab, und war umso überraschter, als Ada im Mai 1920 plötzlich mit einer Immatrikulationsurkunde aus München nachhause kam.

Noch am Abschiedstag sah Pauline Ada überrumpelt und besorgt an. Ada verabschiedete sich zügig von ihrer Familie auf dem Bürgersteig in Brigittenthal und Pauline schien es zu bereuen, ihre Tochter so frei erzogen zu haben.

„Dass du da nur heil ankommst“, wiederholte sie immer wieder.

„In Dresden schlafe ich eine Nacht bei Tante Ella und am nächsten Morgen nehme ich eine direkte Bahnverbindung nach München, sorge dich nicht!“ Ada versuchte, ihre Mutter aufzumuntern und umarmte sie erneut. Ada war gespannt auf die Zeit in dem ihr unbekannten München und wollte sich nicht vom Abschied betrüben lassen.

Der Zug nach Dresden verließ Breslau in der ersten warmen Morgensonne dieses Frühlings. Ihre Schwester Marie und Felix brachten sie zum Bahnhof, aber Ada wechselte nicht mehr viele Worte und verschwand fröhlich winkend im Zug.

Ihr Abteil war gefüllt mit einer kuriosen Mischung an Reisenden. Ada wirkte mit ihrem kurzen Haar und ihrer Studentenmütze nicht minder auffällig. Ihr gegenüber saßen zwei ältere Männer, die sich lauthals in Sächsisch über schlesische Kartoffelklöße ausließen, den Platz am Fenster nahm eine elegant gekleidete Frau mit ihrem Sohn ein.

So ausgelassen, wie die Männer miteinander plauderten, so stumm verhielten sich Mutter und Sohn einander gegenüber. Die Mutter schien allein durch ihre gesteigerte Mimik, vor allem die der Brauen und Stirn, mit ihrem Sohn zu kommunizieren. Ada, die in einer mehr als gesprächigen Familie aufgewachsen war, lauschte lieber dem fremden Dialekt der beiden Dresdener und konnte es nicht erwarten, Breslau hinter sich zu lassen.

In Dresden wurde sie am Bahnhof von ihrer Tante Ella abgeholt, die kinderlos war und sich mit ihrem Mann Max eine geräumige Wohnung in der Südvorstadt teilte, nur wenige Schritte von der Technischen Hochschule entfernt, wo Max im Institut für Bauwesen arbeitete.

Es war Adas erster Besuch in Dresden und ihre Tante wollte ihr so viel wie möglich zeigen. Als sie zuletzt in der Abendsonne über die Augustusbrücke die Elbe überquerten, und sich das ganze Panorama der zuvor aus der Nähe bestaunten Bauwerke vor ihnen auftat, kamen Ada Zweifel, ob sie sich nicht besser für ein Studium in Dresden hätte entscheiden sollen. Sie hätte sicherlich bei Ella und Max wohnen können und es wäre finanziell für ihre Mutter und ihren Onkel Johannes um einiges einfacher gewesen. Aber München wartete auf sie, und sie würde sich mit Martha ein Zimmer teilen und versuchen an allen Ecken und Enden zu sparen. Ella schien bemerkt zu haben, wie Ada Zweifel überkamen, und drückte sie an sich.

„München wird ein Fest für dich“, munterte sie Ada auf.

Den Abend verbrachten sie zusammen mit Max am Küchentisch und Ada erkannte dasselbe unverwüstlich frohe Wesen ihrer Mutter in ihrer Tante Ella, die zur Feier des Tages eine vorzeitige Maibowle angesetzt hatte.

Am nächsten Morgen hatten sie alle drei Kopfschmerzen. Von Max hatte sich Ada bereits am Vorabend verabschiedet und Ella musste an diesem Morgen auf den kleinen Sohn der Nachbarin aufpassen, so dass sie ihre Nichte nur bis zum Münchner Platz begleiten konnte, von wo aus Ada eine Straßenbahn zum Bahnhof nahm. Als die Bahn abfuhr, winkte sie ihrer Tante noch lange nach und sah so nur flüchtig das gegenüberliegende Gerichtsgebäude, in dem sie dreißig Jahre später angeklagt würde.

München (1920-1922)

4

In München war Ada zum ersten Mal von ihrer Familie getrennt, doch an der Seite ihrer Freundin Martha konnte sie die fremde Stadt schnell für sich erobern. In einer engen, düsteren Wohnung in der Pilgersheimer Straße teilten sie sich das Zimmer, in dem Martha bereits seit einem Jahr zur Untermiete bei einem Ehepaar wohnte. Martha hatte nur zwei Geschwister, aber beide waren es gewohnt, sich ihr Zimmer zu teilen, und machten es sich sogleich mit dem Wenigen, das sie fanden, gemütlich. Sie stellten sofort fest, dass das Curriculum des ersten Jahres in München dem von Breslau glich und sie nun gemeinsam die weiteren Vorlesungen besuchen konnten. Im größten chirurgischen Hörsaal lernte Ada dann schon am ersten Tag des Semesters den berühmten Professor Sauerbruch kennen, von dessen großen Errungenschaften auf dem Gebiet der Chirurgie sie bisher lediglich gehört hatte.

War sie am ersten Tag noch beeindruckt von dem unverhofft kauzigen Habitus des von Tag zu Tag renommierteren Chirurgen, wurde Ada schon bald seine Frauenfeindlichkeit gewahr. Nach ihren Kommilitonen in Breslau sah sie sich nun den Schikanen des einflussreichen Professors ausgesetzt.

Die Frauen, die sich neben Martha und Ada ebenfalls für ein Studium der Medizin entschieden hatten, waren an zwei Händen abzuzählen und hielten sich meist im Hintergrund.

„Warum sitzt ihr nicht zusammen und bildet eine Front?“, fragte Ada ihre Freundin verwundert.

„Ich habe zu keiner von ihnen eine Freundschaft aufbauen können“, bedauerte Martha. „Mir scheint es, als würden sich die meisten der weiblichen Kommilitonen bewusst allen anderen gegenüber verschließen, vielleicht um weniger Angriffsfläche zu bieten?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Ada wollte Marthas Erklärung hierfür nicht recht verstehen und fing schnell an, Kontakt zu anderen weiblichen wie auch männlichen Kommilitonen zu suchen. Letzteres meist weniger erfolgreich, es sei denn, die Kommilitonen verstanden es als eine Art Einladung zum Tanz, was Ada das Hoffnungslose ihres Bestrebens bewusstwerden ließ.

Der Professor genoss es wiederum, die sein Blickfeld störenden Frauen im Hörsaal bei diversen unangenehmen Übungen vorzuführen.

„Wer Mediziner werden möchte, muss für die Diagnostik alle Sinne verwenden“, erklärte er den Studenten und sah Ada provokativ an.

„Sie, Fräulein Kollneck, zum Beispiel“, forderte er die neu hinzu gekommene, Studentin auf, „dürfen vortreten und von dem Urin kosten“. Mit seiner Hand wies er auf ein Reagenzglas mit einer gelblichen Flüssigkeit.

Zum Ärger des Professors, trat Ada unmittelbar an den Tisch und probierte ohne Scheu und Widerrede von dem Urin.

„Er schmeckt süß“, erklärte sie mit ihrer ruhigen Nüchternheit. „Dies kann auf Diabetes hinweisen oder auch auf eine bestehende Schwangerschaft. Ist es Urin einer Frau?“

Der Professor nickte und sah Ada missgünstig an.

„Letzteres wäre für Sie allemal besser“, folgerte er zynisch. Ada erwiderte darauf nichts mehr. Sie setzte sich stattdessen wieder in die Bankreihe neben Martha und machte sich Notizen, als wäre nichts geschehen.

„So, zur Belohnung kaufe ich dir jetzt zehn Eckstein“, bestand Martha auf dem Heimweg darauf, ihr Zigaretten zu schenken.

„Mir ist noch immer schlecht vom Urin“, versuchte Ada sie davon abzuhalten.

„Ja, gerade deshalb wird jetzt geraucht.“ Martha schaute ihre Freundin mitleidig an. Sie hatte bereits eine Zigarette angezündet und reichte sie nach ihrem ersten Zug Ada.

„Er versucht es immer wieder.“ Martha schüttelte verständnislos den Kopf über ihren Professor.

„Aber so schnell kriegt der uns nicht klein. Da kann er lange warten.“

„Ja, wir sind echt und recht“, zitierte Ada den Slogan auf der Zigarettenschachtel und begann zu husten und zu lachen.

Wie hatte Martha Ada gefehlt! Sie hatten all das nachzuholen, was in den Briefen des letzten Jahres zu kurz gekommen war, und füllten ihre Tage prall mit Pauken des medizinischen Lehrstoffs und diversem Tratsch, den sie noch austauschen mussten.

Sie pendelten unermüdlich zwischen Bibliothek, Hörsaal und Englischem Garten. Auch wenn sie dafür am wenigsten Zeit fanden, genossen sie die Auszeiten im Grünen, jetzt, wo sie wieder zusammen waren und es ein heißer Sommer zu werden schien. Schon im Mai brauchten sie keine Jacken mehr und sollten sie bis zum Herbst fast vergessen.

Der Sommer wurde von einer gleißenden Hitze begleitet und Ada und Martha konnten es kaum erwarten, den Universitätsgebäuden zu entfliehen und sich das Umland anzusehen. In ihrem Zimmer staute sich die Luft und ließ sie kaum schlafen. Sie standen bei Tagesanbruch auf und gingen so früh zur Universität, dass sie zur Öffnung der Säle sich als Erste einen Platz suchen und in den noch kühlen Lesesälen lernen konnten. Für Ausflüge in den Semesterferien blieb kein Geld übrig und so verbrachten Ada und Martha die meiste Zeit am Ufer der Isar und freundeten sich dort eines Nachmittags, als sie bereits gehen wollten, mit zwei jungen Männern an.

„Ich bin Joseph, ich komme aus München“, stellte der kleinere der beiden sich vor.

„Das hört und glaubt man dir sofort“, antwortete Martha frech, doch Joseph schien dies nicht aus dem Konzept zu bringen. Stattdessen fuhr er selbstsicher fort, sich ungefragt bekannt zu machen.

„Ich habe gerade meine Schreinerlehre abgeschlossen und plane die Schreinerei meines Vaters zu übernehmen.“

„Und du?“ Ada sah zu dem anscheinend Jüngeren der beiden und wartete auf seine Antwort.

„Ich heiße Leo. Ich komme aus Leipzig und studiere an der Technischen Hochschule Ingenieurwesen.“

„Wir haben uns in der Schreinerei meines Vaters kennengelernt.“ Joseph hatte wieder das Wort übernommen und schlug Leo kameradschaftlich auf die Schulter.

„Er hilft da gelegentlich aus, um sich sein Studium zu finanzieren.“

Leo war Ada sogleich sympathisch. Er hatte wirres, dunkles Haar und seine Augen hatten eine braungrün gefächerte Iris und waren, obwohl er noch so jung war, von ausgeprägten Lachfalten umrahmt. Die beiden Freunde unterschieden sich völlig von Adas medizinischen Kommilitonen. Sie setzten sich, genauso ungefragt, wie sie sich vorgestellt hatten, zu Ada und Martha ans Ufer und hatten eine Ausgelassenheit und einen Humor, die Ada in der oft zwanghaften Ernsthaftigkeit des Medizinstudiums mehr vermisst hatte, als ihr bewusst gewesen war. Umso mehr begannen auch Martha und Ada, die Gesellschaft der beiden jungen Männer zu suchen. Sie ließen sich von ihnen in die Künstlerkneipe ‚Simpl‘ mitnehmen, in der Ringelnatz Hausdichter war, aber sich zu Adas großer Enttäuschung kaum noch sehen ließ. Sie genossen die Abende an vollen Tischen im ‚Simpl‘, an denen sich oftmals unverhofft der eine oder andere Tischnachbar als Wortkünstler entpuppte. Ada, die mit der von Geschichten überreichen Bibliothek des Vaters aufgewachsen war, wurden die Abende in der Kneipe zu einer stärkenden Kur, die sie an so viel erinnerte, was sie aufgrund der Nüchternheit der Medizin beinahe verloren hatte.

Sie lachten und tranken viel, bis Ada eines Abends Leo auf der Bühne entdeckte. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass er nicht mehr neben ihr saß. Er begann Ringelnatz zu mimen und dessen Du und die Nacht zu rezitieren:

„Gib du dem Tag, was aus dir will.

Die Nacht ist still.

Auch wenn in einem Nachtlokal

du welche Leute, die Skandal

begeistert, siehst.

Nicht, daß du fliehst!

Auch wenn ein Raufbold dich berennt,

oder ein blöder Korps-Student

mit Gott – dem‘s einfiel, dort zu wandeln -

will anbandeln.

Dieweil das Meiste schläft, baut aus Gestirnen

sich Unkenmärchenhaftes. Gruslig schiebt

schlechtes Gewissen seine Heimlichkeiten,

und Hirne dampfen über Nachtarbeiten.

Dieweil die Stille dürstend Weisheit siebt,

schwelgt Animalisches, und Sehnsucht liebt.

Gib du der Nacht, was dir der Tag vergibt.“

Es wurde gegrölt und applaudiert. Leo hielt noch für einen kurzen Moment Adas Blick, dann sprang er ebenso plötzlich wie er zuvor auf die Bühne getreten war, von ihr herab und überließ sie dem nächsten Akteur. Ada wollte zu ihm, doch er hatte sich bereits unter die anderen Studenten gesellt und sie sahen sich an diesem Abend nicht mehr.

Der Sommer flirrte und verging schnell. Kurz vor Beginn des Wintersemesters lieh sich Joseph an einem Wochenende den neuen und ersten Wagen der Schreinerei aus und lud sie alle zu einer Fahrt an den Steinsee ein. Im Wagen roch es nach Sägespänen und Ada schloss die Augen und atmete den süßlichen Geruch. Sie waren morgens früh losgefahren und kamen mittags an, als die Septembersonne am höchsten stand. Es gab hier noch keine Badestelle und der See war dicht von Bäumen und Schilf umschlossen, durch die sie sich ihren Weg ans Wasser erst suchen mussten.

Martha besaß einen Badeanzug und Ada hatte sich den Badeanzug ihrer Vermieterin geliehen, der aus filzigem Woll-Trikot war und auf der Fahrt im Auto ordentlich kratzte. So war Ada auch die erste, die sich eilig durch die Äste und Gräser einen Weg bahnte und sofort ins Wasser sprang, um den leidigen Stoff zu tränken. Die anderen waren ihr hinterhergerannt und noch außer Atem von Adas Slalomlauf und dem Inachtnehmen vor zurückschlagenden Ästen. Leo sah sprachlos zu, wie sie sich ihr Kleid vom Körper riss und im See untertauchte, während Joseph und Martha amüsiert zuschauten, wie Leo immer mehr vor Ada verschwand.

Auch wenn sein Werben um Ada ziemlich offensichtlich war, hatte er den Sommer vergehen lassen, ohne eine Initiative zu ergreifen.

Jetzt sprang er ihr hinterher und machte schnelle Züge, um ihr, die schon zur Mitte des Sees geschwommen war und ständig abtauchte, zu folgen.

Kurz bevor er sie erreicht hatte, blickte sie lachend zu ihm und begann sogleich ein Wettschwimmen zur nächsten Uferseite, das Leo, der ein guter Schwimmer war, ohne weiteres hätte gewinnen können, hätte er für fünf Minuten aufgehört, an Ada zu denken.

Ada saß triefend auf einem Baumstumpf am Ufer und sah Leo aus dem See auf sie zu waten. Ihr Haar, das Martha ihr nach ihrer Ankunft in München zu einem Eton-Schnitt gestuft hatte, legte sich wie schwarze, glänzende Algen auf Nacken und Stirn und ließ ihren Kopf zerbrechlich aussehen.

Leo setzte sich außer Atem neben sie und für eine Weile atmeten sie im Gleichtakt, bis es ihm so vorkam, als würde Ada gegen ihn anatmen.

Er strich ihr eine der tropfenden Haaralgen aus dem Gesicht und sie ließ es sich gefallen. Er hatte noch nie eine so eigenwillige Frau kennengelernt.

„Warum studierst du Medizin?“, fragte er unvermittelt und sah sie jetzt forschend an.

„Warum?“, erwiderte Ada lachend und noch immer keuchend. Mehr als diese Gegenfrage folgte nicht als Antwort.

Es war ihm schon manches Mal so vorgekommen, als wollte sie über das, was ihr am wichtigsten war, am wenigsten sprechen. Er respektierte ihr Schweigen ein weiteres Mal. Es musste mit ihrem Vater zusammenhängen, denn über ihn wollte sie ebenso wenig sprechen. Von Martha hatte er erfahren, dass er Ada sehr nahegestanden hatte und an ihrem fünfzehnten Geburtstag gestorben war. Mit diesem Halbwissen musste er sich zufriedengeben.

Das Wasser perlte an Adas Beinen ab und die Knie waren fast schon trocken. Leos Finger fingen die Tropfen an ihren Knöcheln auf und sie wehrte sich nicht, sondern war mit ihrem Kopf plötzlich ganz nah an seinem und begann ihn zu küssen. Sie war überrascht, wie salzig seine Lippen waren, als wäre er anstelle des Waldsees soeben dem Meer entstiegen. Doch sein Mund war süß und seine Küsse so zögerlich, dass Ada ihn plötzlich noch mehr wollte, bis sie merkte, dass ihr Badeanzug trocknete und erneut zu kratzen begann.

Zurück schwammen sie zusammen. Kurz bevor sie zu Martha und Joseph gelangten, zog Ada Leo zu sich unters Wasser und küsste ihn so stürmisch und atemlos, dass Leo später nicht mehr wusste, ob er sich ihren Kuss nur eingebildet hatte.