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Impressum

© Brygida Helbig, Berlin ٢٠١٩

© KLAK Verlag, Berlin ٢٠١٩

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jolanta Johnsson

Satz/ Layout: Jolanta Johnsson

ISBN 978-3-948156-40-4

Inhalt

Ab nach Berlin

Wunderwaffe

Eins, zwei, drei

Kolonie Steinfels

Karawane

Der Nachbar

Die Verbannung

Polizeimeister Piepel

Stille Post

Popowo Tomkowe

Grüße aus Stettin

Autobahn

Seltsam ist diese Weeelt

Mama mit Papa

Mami, lies mir vor!

Vogelbeerbaum

Kleine Prinzessin

Das Leben

Hör zu, Jesus …

Anhang

Epilog

Danksagung

Nachweise

Es war [einmal] ein Ort, wo man froh und zu Hause war.

Heinrich Wolf

Ab nach Berlin

2014, also heute

Willi sammelt Osterhasen. Er bewohnt ein bescheidenes Reihenhäuschen in Polen, genau genommen in Stettin, heute Tsch …tsch …tsch … tschetschin, das er in den achtziger Jahren eigenhändig und aufopferungsvoll erbaut hat. Nebenan ist vor ein paar Jahren das überdimensionale Einkaufszentrum »Real« wie ein Pilz aus dem Boden geschossen, und obendrein noch der Baumarkt »Castorama«, der die Anreisenden aus Deutschland bereits wenige Kilometer hinter der Grenze mit dem alles überragenden Slogan „Du baust, du renovierst, du richtest dich ein“ zukunftsfroh begrüßt. In diesem Haus, auf einem Holzregal im Esszimmer, baut der dreiundachtzigjährige Willi seine Osterhasen auf, fein in Reih und Glied, vom kleinsten bis zum größten. Das Arrangement sieht aus, als wollten die Hasen geradewegs im Gänsemarsch losziehen, ins Gelobte Osterland. Am besten gefallen Willi die »Lindt«-Osterhasen im goldenen Gewand, mit dem kleinen Glöckchen und der roten Schleife um den Hals, die er sich gerne schenken lässt oder im angrenzenden Pasewalk selbst besorgt. Kein Mensch darf sie anfassen, und essen schon mal gar nicht.

– HALT! Finger weg von den Hasen!!!

– Schon gut, schon gut, Willi. Niemand hat die Absicht, sich an deinen Hasen zu vergreifen.

Nun kommt Basia, lies Baschja, ins Spiel, Willis Frau. Basia, neunundsiebzig, ist immer in Eile. Sie stolpert, balanciert schwankend am Abgrund des Tages, fällt manchmal fast über die Türschwellen. Weder ihre Wirbelsäule hält sie aufrecht, noch gibt ihr die Erde den nötigen Halt. Manchmal denke ich, dass sie allein durch das bloße Antippen mit dem Finger zu Staub zerfallen müsste. Sie kann schlecht atmen, bekommt keine Luft. Kopfschmerzen machen ihr zu schaffen.

Andauernd brennt ihr etwas an. Weil sie immerzu am Rennen ist, ständig auf der Flucht. Wenn ihre Kinder zu Besuch kommen, holt sie ihre berühmt berüchtigten Vitamintabletten »Vitaral« aus der Schublade und schiebt sie ihnen in den Mund. Wenigstens die Kinder will sie retten. „Das ist Mamas Wunderwaffe“, erlaubt sich Sohn Edek einen Scherz und lacht etwas verlegen, bevor er wieder verstummt und dann doch unwillig, aber folgsam die blutroten Tabletten runterschluckt, eine nach der anderen. An ihre Wirkung glaubt er nicht wirklich. Doch bringt er es nicht übers Herz, seiner Mutter zu widersprechen. Auch Tochter Zuzanna schluckt, stopft Nahrung und Nahrungsergänzungsmittel in sich hinein ‒ und wie! Bis es ihr zu den Ohren herauskommt, obwohl sie eigentlich gern selbst entscheiden würde, was sie braucht. Doch auch sie möchte Basia nicht verletzen. Mutterliebe geht halt manchmal seltsame Wege.

Januar 1945

Willi ist vierzehn, das Jahr 1945 ist noch jung. Er glaubt nicht, dass er unversehrt davon kommen wird. Schaut besorgt zum Himmel hinauf.

Sie sind wie lästige Mückenschwärme, die sich nicht verscheuchen lassen. Bomber der deutschen Luftwaffe – sogenannte Stukas, Sturzkampfflugzeuge, Junkers 87. Sie sind überall, kommen von allen Seiten. Flink und tänzelnd tauchen sie im Sturzflug herab, verwüsten die Straßen, beschießen heldenmutig die sowjetischen Panzer und Laster – Monster, Ufos, Kolosse, Elefanten, die unaufhaltsam Richtung Westen ziehen, im Großen Vaterländischen Krieg. Wehe den Spätzündern unter den Deutschen, die sich erst kurz zuvor zur Flucht aufgerafft und ihre Pferde vor die Fuhrwerke gespannt haben! Wehe den Soldaten der Roten Armee, jungen Burschen mit exotischen Gesichtern, die auf ihren Panzern hocken und die Läufe ihrer Maschinengewehre wie zum Gebet erhoben halten. Schusssalven krachen. Menschen brüllen. Bomber dröhnen. Panzer gehen in Flammen auf. Der liebe Gott versteckt sich hinter einer Rauchwolke. Ja.

Aus den Panzern kullert ein Verletzter nach dem anderen. Doch die Riesenraupen kriechen unbeirrt weiter, wie Roboter. Soldaty wpieriod! Vorwärts, Kameraden! Die Jungs sterben wie die Fliegen, drängen dennoch unermüdlich vorwärts, nach Berlin, für das Vaterland, für Stalin, za rodinu, za Stalina, sie wissen längst selbst nicht mehr, wofür. Pechschwarz von Staub und Dreck, mit Ölfässern an Bord, halb bewusstlos vom Alkohol, benommen wie im Drogenrausch, in Trance, in einem miesen, dreckigen Traum. Sie fluchen: job, mat, bljad. Scheiße. Die Russen.

Den Pferdewagen von Willis Mutter werden sie in Niechanów, Neudorf bei Gnesen erwischen. Willi wird sich diesen Ortsnamen genau merken. Und dann spielt sich alles wie im Film ab. Der Junge folgt einem Impuls: Weg hier, runter vom überladenen Pferdewagen, von dem gleich nur noch Staub und Asche übrig bleiben werden. Er springt zur Seite, in eine Furche oder einen Graben, wie er das bei der Hitlerjugend gelernt hat. Seine Mutter mit dem kleinen Hans und ihrem Knecht Kowalczyk versuchen auf der anderen Straßenseite ihr Glück. Willi sieht es wie auf einer Leinwand, im Zeitlupentempo: Wie die drei auf die andere Seite springen, hinter einem Sandhaufen kauern und dem Tod ins Auge sehen.

Plötzlich klatscht etwas Braunes, Großes und Schweres auf Willi herunter, irgendein riesiges Stück Fleisch, eine absurd schwere Decke, ein monströser Fladen. Es erschlägt ihn fast, erdrückt ihn, es wird feucht und dunkel. Willi bekommt keine Luft mehr. Doch dann umhüllt ihn auf einmal bei fünfundzwanzig Grad Kälte eine behagliche und wohltuende Wärme.

Jahrzehnte später wird ihn Zuzanna fragen: Papi, erzählst du mir, wie das war?

Wunderwaffe

Heute

Ach, Papi.

Zuzanna schließt die Augen und öffnet den Laptop, diesen Zauberkasten, ihren Hexenkessel, den sie mit edlen Zutaten füttert. Das Rezept ist einfach: Alles, was ihr auf der Seele liegt, in einen Topf werfen, umrühren, sich bekreuzigen, drei Mal spucken und dann mal schauen, was für ein Trank dabei herauskommt und ob er die Kraft hat, jemanden zu heilen oder wenigstens zur Ruhe zu bringen.

Als eine der Ersten in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis hatte sie in den 90ern die Vorzüge eines Laptops entdeckt. Hach, wie sie damals ihren Stettiner Bekannten imponierte, was die für Augen gemacht haben. Dieses Wunder hatte sie zum ersten Mal bei Freunden in Berlin gesehen und wusste gleich, dass sie auch so etwas haben muss, obwohl ihr alle davon abrieten. Der Bildschirm sei zu mickrig, die Tastatur mikroskopisch klein, sodass sie sich die Augen verderben, die Finger brechen würde und so weiter und so fort...

Aber sie hatte da ihre ganz eigene Meinung. Der Laptop wurde sofort zu ihrem besten Freund und Begleiter, und sie tat keinen Schritt mehr ohne ihn. Er ersetzte ihr den Kater, der schon lange nicht mehr lebte, den Hund, den sie immer haben wollte, und den Hamster, der sich – als sie noch klein war – irgendwann aus dem Staub gemacht hatte, plötzlich bei den Nachbarn aufkreuzte und dort für immer verschwand. Sie füttert ihn mit Gedanken, Gefühlen, Ahnungen, die sich zu Buchstaben und Sätzen verdichten. Und irgendwann bekommt sie etwas zurück – einen Text, und wenn sie Glück hat, eine Geschichte, und wenn sie ganz viel Glück hat, einen Sinn.

*

Gut, also los geht´s, dawaj, dawaj, come on, lasst uns beginnen.

Zuzanna schließt die Augen und öffnet den Laptop.

*

Noch bevor sie zu schreiben anfängt, erscheint ihr das Grab ihrer Großmutter, Babcia Krystyna, auf dem Bildschirm.

„Krystyna Kowalczyk, geboren im Jahr Soundso, gestorben im Jahr Soundso, möge sie in Frieden ruhen“, steht in goldenen Lettern auf einem schw arzen, schlichten Grabstein auf dem Zentralfriedhof von Stettin geschrieben. Sonst nichts. Nicht einmal der Geburtsname? Warum fehlt er hier eigentlich?

Zuzanna sieht sich als junges Mädchen auf dem Friedhof. Sie weiß nicht so recht, was sie am Grab machen soll, stellt sich erst mal etwas unbeholfen an. Dann fällt es ihr wieder ein, sie bekreuzigt sich und setzt zum Gebet an: O Herr, gib ihr und allen Verstorbenen die ewige Ruhe. Und das ewige Licht leuchte ihr. Lass sie ruhen in Frieden. Amen. Und das alles dreimal. Und damit das Gebet nicht ganz so dürftig daherkommt, fügt sie noch das Vaterunser, Gegrüßet seist Du Maria, voll der Gnade, und Heiliger Schutzengel (aber nicht mein, sondern Omas) hinzu. Denn auch im Himmel kann ein Schutzengel nicht schaden.

Sie nimmt eine Gießkanne und schlurft Schritt für Schritt zum Brunnen, um Wasser zu holen und die Blumen zu gießen.

Die letzten Worte der Großmutter flammen wieder in ihr auf: „Danke für das Gemüse, herzlichen Dank.“ Und dann sieht sie noch den Teller mit den kugelrunden Fleischklößchen, bei deren Zubereitung Babcia Krystyna der Tod ereilte.

Babcia starb zu früh und konnte Zuzanna nicht allzu viel erzählen. Genau genommen, gar nichts. Sie hatte es gerade noch geschafft, sie ein wenig auf den Knien zu schaukeln, mit gefüllten Doppelkeksen zu füttern und in der Zinkwanne plantschen zu lassen. Zuzanna wiederum schaffte es noch, ihre Kartoffel-Krautwickel zu kosten, die es nur in Galizien gibt, ihre grauen, zu einem Dutt gebundenen Haare zu streicheln und die tiefen Stoßseufzer aufzusaugen, die sich zusammen mit einer bodenlosen Traurigkeit auch in ihre eigene Seele eingegraben haben. In Wahrheit hieß Krystyna Kowalczyk früher ganz anders.

Zuzanna erfuhr davon erst viel später.

Eins, zwei, drei

60er Jahre und heute

„Papi, woher kommt eigentlich dein komischer Nachname?“, fragte immer wieder Zuzanna, bohrte zuweilen Edek. „Meine Güte! Was ihr immer für Fragen stellt, woher wohl!“ Willi zuckte mit den Achseln. „Ganz normal, von irgendwelchen Vorfahren, aber Leute, wann war das schon! Womöglich waren einige meiner Vorfahren Österreicher, was weiß denn ich? Lasst mich in Ruhe, und ab an die Hausaufgaben! Und wenn wir schon beim Thema Aufgaben sind, wer ist heute eigentlich dran, den Müll rauszubringen?“

Selbstverständlich niemand. Und der kleine Edek schon mal gar nicht, das war klar.

Aber Zuzanna gab keine Ruhe und forschte hartnäckig weiter: „Papi, woher kannst du denn Deutsch?“

„Himmelherrgott nochmal, was du immer für Fragen stellst, woher wohl! Ich hatte es in der Schule.“

„Aber ich, Papi“, Zuzanna stampfte mit dem Fuß auf, „ich werde dieses germanische Gebelle niemals lernen, Halt und Hände hoch!“

Und als Willi einmal unvorsichtig die Möglichkeit einer Auswanderung in die Bundesrepublik in Erwägung zog, brüllte die Dreizehnjährige derart los, dass die dünnen Wände der winzigen Küche ihrer sozialistischen Dreiraumwohnung erbebten. „Ohne mich! Das könnt ihr, verdammt nochmal, ohne mich machen! Fahrt doch alleine! Ich gehe nirgendwo hin! Ich hasse dieses Kauderwelsch! Ich bleibe hier, hier ist meine Heimat. Zu den Nazis gehe ich NIEMALS. Das könnt ihr echt vergessen.“

*

Soso.

Willi, später Waldek, der eigentlich Bauer und Zimmermann wie sein Vater und Großvater hätte werden, Hilda oder Susanne Bischoff, Börstler oder Koch heiraten und seinen Sohn auf den Namen Heinrich oder Rudolf taufen lassen sollen, blieb im sozialistischen Volkspolen hängen, heiratete die hübsche Basia und nannte seine Kinder Zuzanna und Edek. Schnell erklomm er die Stufen der militärischen Karriereleiter. Es fehlte nicht viel, und er wäre Major oder sogar General geworden – wenn die Vergangenheit seine Pläne nicht durchkreuzt, wenn sich das Verdrängte und Vergessene nicht eines Tages gewaltsam an die Oberfläche gedrängt und ihn unwiderruflich, wenn auch schweren Herzens, zur Rückgabe seiner mit vier Sternen auf den Schulterstücken geschmückten Hauptmannsuniform der polnischen Volksarmee gezwungen hätte. Bis dahin wurde die Uniform sorgfältig in den Untiefen des weiß gestrichenen Einbauschranks in der Nische im Flur aufbewahrt, in den sich sein Töchterchen ab und zu heimlich und verstohlen hineinschlich, wobei die Türen verräterisch quietschten.

*

Waldek tat es ein wenig weh, derartige Sprüche von seiner Tochter zu hören: Ich gehe niemals zu den Nazis, zu den Deutschen.

Denn früher ‒ als Waldek noch Willi hieß ‒ war er selbst mal so etwas wie ein Deutscher gewesen. Falls es so etwas wie einen Deutschen überhaupt gibt.

Inzwischen weiß Waldek nicht mehr, ob er Deutscher oder Pole ist. Im Grunde könnte man ihn für einen Polen halten, wäre da nicht der Umstand, dass sein Herz bei Fußballspielen zwischen Deutschland und Polen unwillkürlich stärker für die Deutschen schlägt und Waldek unruhig in seinem ausgedienten, von langen nächtlichen Fernsehsitzungen beanspruchten Lieblingssessel zu zappeln anfängt.

In seinem langen Leben war Waldek notgedrungen mal das eine, mal das andere. Er wechselte die Haut, zuerst um sich durchzukämpfen, um Schlägen und Tritten oder gar dem Tod zu entgehen, und später, um etwas zu erreichen, Rang und Ansehen zu erlangen und die Familie durchzubringen.

„Ach woher denn, die Haut gewechselt“, widerspricht er und zuckt mit den Achseln. „Ich war eigentlich immer derselbe.“

Was auch immer das bedeuten mag.

Er war ein Kind, als der Krieg ausbrach, als Flugzeuge der deutschen Luftwaffe über der Kolonie Steinfels kreisten und es hell wurde wie am Tag des Jüngsten Gerichts. Er war noch keine neun Jahre alt. Aufmerksam beobachtete er die Erwachsenen und alles, was um ihn herum geschah. Er war ein aufgeweckter Junge, ein ganz schlauer.

Ja. Die kleine Zuzanna bewahrte die Sternchen von den Schulterstücken ihres Vaters in einer Streichholzschachtel auf. Von Zeit zu Zeit kontrollierte sie, ob noch alle drin waren, zählte sie immer wieder durch: Raz, dwa, trzy, cztery. Auf Deutsch konnte sie nicht zählen. Höchstens bis drei – das hatte sie auf dem Hof gelernt: „Eins, zwei, drei wypieprzaj“. Ins Deutsche übersetzt hieß das „eins, zwei drei, verpiss dich dabei“. Das reimte sich so schön! Und noch etwas konnte sie sagen: „Guten Morgen, butem w mordę“, was so viel bedeutete, wie „Guten Morgen, Schuh aufs Maul und keine Sorgen.“

Kolonie Steinfels

1783–1939

Steinfels in der Nähe von Bandrow.

Als eines Tages, an einem wunderschönen Sommernachmittag in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein gewisser Otto Mack aus Lemberg, Mitglied des deutschen Nationalrats, hier zu Besuch eintraf, soll er vor Entzücken ausgerufen haben: „Das ist der schönste Platz auf Erden, mit Wasser, Wäldern und Sonne, ein wahrer Kurort!“

Von diesem wunderschönen Fleckchen Erde, aus einem kleinen Dorf in Bieszczady, den Waldkarpaten, von dem kein Stein übrig geblieben ist, kommt eigentlich Papi her, also Tatuś, lies Tatusch. Die wenigen Spuren von Steinfels, die es noch gibt, verlieren sich im Niemandsland, dicht am Grenzstreifen zwischen Polen und der Ukraine. Hüfthoch wächst dort mittlerweile das Gras. Vielmehr Unkraut. Willi wurde also im Auenland der Hobbits geboren, das sich malerisch entlang eines reißenden Baches erstreckte. Der Stebnik rauschte lebhaft in den Fluss Strywihor, und mit ihm weiter bis zum Dnister Richtung Osten. Es war ein sonderbares Dorf und zudem an einem ungewöhnlichen Ort gelegen, sehr weit weg von dem Balkon, auf dem Zuzanna gerade energisch Buchstaben in die abgenutzte Tastatur hämmert, als ob sie das Schuldgefühl übertönen wollte, Zeit für solch einen Humbug wie Romane-Schreiben zu vergeuden, anstatt endlich ordentlich Kohle zu machen. Vor ihren Augen verdichten sich die Schriftzeichen in Windeseile, brausen wie Meeresfluten auf, werden zu Feuersäulen, meterhohen Türmen, um sich dann wieder zu beruhigen, zu ordnen, in Absätze zu formatieren und zu einem Bild zusammenzufügen.

Unweit des unberührten Hochwaldes, in einem stillen Tal mit Blick auf die reich mit Laub- und Nadelbäumen bewachsenen Hänge, flossen die Bäche Nanówka und Królówka schwungvoll plätschernd in den Stebnik. So stellt Zuzanna sich das vor. Wie ein Heiligenbild. So schildern es die Galiziendeutschen in ihren Memoiren. Eine regelrechte Idylle, sagen sie, auch wenn sie sich ein bisschen für dieses Wort schämen. Herrje, und wie viele Forellen, Krebse und einzigartige Fische dort herumtollten. Sogar Gründlinge kamen hin und wieder mal vor.

Ein buntes Schachbrett aus Feldern mit Getreide jeglicher Art. Direkt daneben das ukrainische Dorf Stebnik, von wo aus herzzerreißende Lieder bis nach Steinfels drangen. Ach, Stebnik und die Ukrainerinnen in ihren weiten, bunten Röcken, unter denen sich die ganze Welt verkriechen konnte ...

Das waren noch Zeiten!

Heute haben dort vor allem Kühe und Pferde einen Kurort – das geht jedenfalls aus den Reiseführern hervor. Zuzanna hat die Gegend noch nie gesehen. Bis jetzt hat sie sich in ihrem Leben mit ganz anderen Sachen beschäftigt.

*

Denn wir beschäftigen uns im Leben meist mit anderen Sachen.

Sie weiß nicht, ob sie die Trägheit überwinden wird, um irgendwann dort hinzufahren.

Eigentlich ist sie inzwischen alt genug, um nur das zu tun, was wichtig ist. „Tu, was nötig ist. Und nichts anderes!, las sie letztens in einem Buch und fand das ganz treffend.

Doch etwas richtig zu finden und etwas zu tun, sind zwei Paar Stiefel.

*

Willi ist keineswegs in Westpolen geboren, d.h. in den deutschen Ostgebieten, die nach dem Krieg der Republik Polen gewissermaßen als Entschädigung für verlorene Landstriche im fernen Osten zugesprochen wurden. Er ist weder in Danzig noch in Stettin geboren, auch nicht in Breslau. Dass er Deutscher ist, steht jedoch außer Zweifel. Die Nazis haben das gewissenhaft untersucht, und die Bundesrepublik glaubt ihnen aufs Wort, denn wer hätte das gründlicher erledigen können? Sie vermaßen 1940 den Umfang seines Schädels, untersuchten eingehend die Form seiner Nase, nahmen seine Herkunft und Rassenzugehörigkeit genau unter die Lupe, bestätigten amtlich sein Volksdeutschtum und stellten ihm ein entsprechendes Einbürgerungsdokument aus, auf dessen Grundlage seine Kinder Zuzanna und Edek Jahrzehnte später den Status deutscher Spätaussiedler bekommen sollten – die Eintrittskarte ins Paradies, das Sonderangebot ihres Lebens! Heute werden sie von Erika Steinbach, einer schicken, vorbildlichen Blondine und dem Schrecken manch polnischer Patrioten, zur Gemeinschaft deutscher Vertriebener gezählt und treiben deren Zahl in die Höhe. Aber vertrieben hat sie eigentlich niemand. Jedenfalls nicht, dass sie es wüssten.

Und blond sind die beiden Geschwister schon mal gar nicht!

Willi ist also nicht in Deutschland geboren, und seine Nächsten hielten von den sogenannten Reichsdeutschen nicht allzu viel. Er erblickte im mythischen Galizien das Licht der Welt, an einem Ort, an den 1783 seine Ahnen aus dem Rheinland mit einigen Dutzend Fuhrwerken angerollt kamen, auf der Suche nach Speis und Trank. Deutsche Siedler. Es war vor allem der Hunger, der sie in dieses ferne Land trieb. Aber auch der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, seine Majestät Joseph der Zweite, lockte sie dorthin, indem er ihnen Steuervergünstigungen und allerlei Erleichterungen und Vorteile, quasi das Blaue vom Himmel versprach. Es waren ihrer zwölf. Zwölf Siedler, die sich als Erste in den Osten trauten, wie die zwölf Apostel eines unbekannten Gottes. Unter anderem Emmel, Götz und Börstler. In der neuen Heimat blühte ihnen zunächst einmal harte Arbeit. Der Schweiß lief in Strömen, der Wald musste gerodet, der Natur Platz zum Leben und Beackern abgerungen werden. Altes musste weichen, damit Neues entstehen konnte. So jedenfalls die Legende.

Später kamen dann noch Helbig, Bischoff, Wolf, Volz und Keller aus dem angrenzenden Makowa dazu und heirateten nach Steinfels ein, denn Haus und Hof wurden hier den Töchtern vererbt. Die Söhne lernten dafür ein Handwerk, einen Beruf ‒ denn ein „Handwerk hat goldenen Boden“ und von der Landwirtschaft allein konnte man hier nicht leben. Die ganze Aktion nennt sich »Josephinische Kolonisation«.

Polen verschwand damals schrittweise von der Landkarte, und ab 1795 hörte der polnische Staat auf zu existieren. Er wurde bereitwillig unter Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt und führte von nun an ein Schatten-Dasein, war ein kollektiver Kraftakt, eine Vision, ein Phantom, das Opfer forderte, ein permanentes Stechen in den Herzen. Teile des heutigen Polens und der Ukraine fielen der Habsburger Monarchie zu und wurden zum östlichsten und größten Kronland, zum Königreich Galizien und Lodomerien zusammengefasst. Die Siedler kamen vorwiegend aus Süddeutschland und stammten in der Regel aus ärmeren Bauernfamilien, die in ihrer Heimat keine Zukunft sahen. Sie vertrauten Joseph II., wanderten nach Galizien aus, gründeten dort, sofern sie sich nicht aus Verzweiflung umbrachten oder kehrtmachten, Reihendörfer, siedelten dicht beieinander als deutschsprachige Gemeinschaften und wurden so zu Galiziendeutschen.

Sie gelobten, ihr geliebtes deutsches Vaterland niemals zu vergessen und die Traditionen und Gebräuche ihrer Väter für immer und ewig hochzuhalten.

Diese hielten sie noch höher, als 150 Jahre später noch aus der Ferne, aber längst überdeutlich das Echo der Nazipropaganda ihre Dörfer erreichte, die an ihre urdeutschen glorreichen Eigenschaften appellierte:Ordnungsliebe, Ehrlichkeit und Fleiß. Eigenschaften, die sie mit Stolz erfüllten.

Willis Vorfahren – Bauern, Zimmermänner und Bierbrauer – brachten also ihre Fuhrwerke nach wochenlanger und beschwerlicher Wanderung irgendwo im Südosten des heutigen Polens zum Stehen; von Stettin aus einmal quer runter, siebzig Kilometer von Lemberg und fünfzig Kilometer von Drohobycz entfernt, östlich von Ustrzyki Dolne, südlich von Krościenko, gerade noch wenige Kilometer von der heutigen Grenze zur Ukraine, vielleicht sogar direkt auf der Grenzlinie. Brrrrrr! Sie hielten ihre Pferdewagen im schönsten Schlupfwinkel der Welt an, in der sogenannten Heimat. Da, wo heute nicht einmal eine Grabplatte von ihnen existiert. Na ja, vielleicht bis auf ein paar wenige. Wo nicht einmal Hunde jaulen. Ihre sterblichen Überreste, niemandem nütze, verschmelzen mit der Erde, unweit von den Gebeinen der dort später erschossenen Juden.

Die Kolonisten erbauten eine Siedlung nach dem Vorbild deutscher Waldhufendörfer. Zur einen Seite der Straße, an einem leichten Hang, hinter Holzhäuschen mit Ziegel gedeckten Dächern hatte jeder einen Garten, der als Weide diente. Auf der anderen Seite der Straße befand sich ein zweiter Garten. Eine Kette nahezu identischer Häuser krümmte sich in der Mitte des Dorfes zu einem rechten Winkel und durchzog unbekümmert die Landschaft.

Seit jener Zeit rollten mehrfach Armutswellen über das Land, Missernten, Kriegsfronten, alles Mögliche. Heute ist es dort ganz still. Nur ab und zu hält hier für ein paar Stunden irgendein Reisebus aus der Gegend von Wolfsburg und schüttet eine Gruppe sehr alter, sehr sauberer und hell gekleideter Deutscher aus, Mitglieder des Vereins der Galiziendeutschen.

Sie behaupten zumindest, dass sie dort irgendwo schon einmal waren.

Gut möglich.

*

Bis dato wurde Willi jedoch nicht unter ihnen gesichtet. Er würde da schon gern einmal hinfahren, aber so gern, dass er es in die Tat umsetzen würde, dann auch wieder nicht. Würde ihn jemand in ein Auto stecken und hin kutschieren, hätte er sicherlich keine Einwände. Aber auf eigene Faust? Das macht er nicht, denn dazu fehlt es ihm an der nötigen Entschlossenheit. Außerdem ist er nicht mehr der Jüngste, obwohl er stolz und nachdrücklich unterstreicht, dass er noch keinen Gehstock braucht und auch nicht die Absicht hat, einen solchen in absehbarer Zeit einzusetzen. Im Garten klettert er notfalls sogar noch selbst auf Bäume, wenn diese beschnitten werden müssen. Da erwartet er keine Hilfe, weder von den Kindern noch vom Schwiegersohn, der ihn ohnehin nie von sich überzeugen konnte. Sein ganzes Leben lang ist Willi allein zurechtgekommen – mit Demütigungen und Gewalt. Er strebte vorwärts, kletterte die Stufen der Karriereleiter empor, der einzig möglichen, die ihm die Volksrepublik Polen anzubieten hatte, das Land, wohin es ihn unter der Maske eines Polen, die fest mit seinem Gesicht verwachsen war, verschlagen hatte.

„Das war gar keine Maske! Ich habe mich schon damals als Pole gefühlt. Ich habe gar nicht groß über meine Abstammung nachgedacht. Ich bin doch in Polen geboren. Das ist doch alles Quatsch mit Soße.“

Na gut, belassen wir es dabei.

Denn was bedeutet eigentlich Deutscher? Was bedeutet Pole? Was bedeutet deutsches Blut? Kann mir das bitteschön mal jemand erklären?

Als Jugendlicher überstand er die schmachvolle Niederlage Deutschlands, den missglückten Fluchtversuch ins Deutsche Reich, die Verschleppung zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, Schläge und Erniedrigungen, und später dann den Wiederaufbau des in Trümmern liegenden Landes, die Minenräumung, die er unter Lebensgefahr auf den Gebieten des befreiten Polens durchführte, damit die nachfolgenden Generationen ohne Angst auf dieser Erde wandeln können. Er sah haarsträubende Unfälle, abgerissene Beine, zerfetzte Körper und abgetrennte Nasen, die man dem Verletzten ins Gesicht pressen und ihn dann zügig ins Krankenhaus befördern musste. Für seine vorbildlichen sportlichen Verdienste als Gewichtheber und die militärischen als Pontonier des Pionierbataillons wurde er mit unzähligen Medaillen ausgezeichnet, obendrein mit dem Goldenen Verdienstkreuz und dem Ritterkreuz des Ordens der Wiedergeburt Polens. Letztere Dekoration sollte ihm fünfundzwanzig Prozent zusätzlich zur Rente sichern, aber wie es das Schicksal wollte, kam es nicht dazu. Systemwechsel. Pech gehabt. Dumm gelaufen.

Er überstand es, dass seine Heldentaten nunmehr vergebliche Liebesmüh waren ‒ alles für die Katz ‒ und es sogar eher angebracht war, darüber zu schweigen.

Nichts kann ihn mehr verwundern, überraschen. Willi ist abgehärtet und diese Härte fordert er ebenso den Anderen ab. Jammern bringt nichts. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Es gibt keinen Grund, morgens stundenlang im Badezimmer Wurzeln zu schlagen – insbesondere als Mann. Und schon gar nicht, sich exzessiv mit irgendwelchen Düften einzunebeln. Zack, zack und die Sache ist erledigt! Ein Mann sollte schnell, gewandt und zielgerichtet sein. Er sollte sich keine langen Haare wachsen lassen, keine Hosen tragen, die in den Kniekehlen hängen und auch keine Kapuze über den Kopf ziehen, wie ein Henker vor der Exekution. Nein, so etwas sollte ein Mann nicht tun ... die Liste ist lang.

Zum Glück ist Zuzanna kein Mann.

Obwohl sie einer hätte werden sollen! Das Schicksal spielte jedoch Willi in alter Gewohnheit einen Streich. Es sparte nicht mit beklagenswerten Überraschungen.

Willi verlor seinen Vater sehr früh, vielleicht wünschte er sich deshalb so sehnlichst einen Sohn.

Einen Vater suchte er sein ganzes Leben lang. Er suchte ihn in Männervereinen, dort, wo er sich immer wieder die Anerkennung der höchsten Autoritäten erkämpfen konnte. Er war der Beste, der Ehrgeizigste, immer der Erste. Überall die Nummer Eins, der Primus unter den Primussen. In der polnischen Volksarmee hob er sich in kürzester Zeit stark vom Durchschnitt ab. Man kann durchaus sagen, dass er glänzte. Wenn da nur nicht seine Vergangenheit wäre, die ihn immer wieder einholte, die Tränen der Mutter, das bedenkliche Schicksal des Bruders, der alarmierende Familienname … – dann hätte er heute die Rente eines Generals.

Vielleicht.

Es hätte aber auch ganz anders enden können.