Karl Geller
Dem Teil der Vergangenheit, der Kinder wie Menschen behandelt hat
Der Zukunft
La Lotta
1862
„Ich bezweifle, dass [eine Schule wie Jasnaja Poljana] innerhalb eines weiteren Jahrhunderts allgemein anerkannt sein wird. Es ist nicht wahrscheinlich …, dass Schulen, deren Grundlage die Wahlfreiheit der Schüler ist, selbst in einhundert Jahren, von nun an gerechnet, werden eingerichtet worden sein.“
Lew Nikolajewitsch Tolstoi
Mein herzlichster Dank gilt:
Andreas Rauch für seine, an meine Studie angeschlossene, quantitative Befragung von Schüler an deutschen Demokratischen Schulen.
Andreas Hyler für die Programmierung des Fragebogens der Absolventenstudie mit 28 Absolventen Demokratischer Schulen in Deutschland, die hier aus Zeitgründen leider keine Erwähnung findet, aber später noch veröffentlicht wird.
Susanna Gocke für die Übersetzung der spanischen Quellen.
Ana Irene Pérez Rueda für die Recherchehilfe in den spanischen Quellen und ihre Informationen über die Escuela libre Paideia.
Elisa Marder Zampieri und Lisiane Laffe für Recherche und Übersetzung der portugiesischen Quellen und ihre Einschätzung zu besetzten Schulen in Brasilien, die hier aus Zeitgründen leider keine Erwähnung finden konnte, aber nochmal eigens veröffentlicht werden.
Josh Platzky und Anselm Schindler für Informationen und Recherchehilfe über Rojava.
Nidia Aeraki für die Übersetzung der griechischen Quellen und die Recherchehilfe in den griechischen Quellen.
Dimitrios Sklavenitis für die Recherchehilfe in den griechischen Quellen.
Jos Heuer für die Recherchehilfe in den niederländischen Quellen und sein Interview.
Marie-Therese Hattendorf für allgemeine Recherchehilfen.
Yaacov Hecht für die Weitergabe von Kontakten und seinen Einschätzungen zur Universalität, Allgemeingültigkeit und Korrektheit dieser Arbeit.
Felix Augustinowski, Regina Hofbauer und Lisa Ophüls für diverse Korrekturhilfen.
Michael Lippok für die wissenschaftliche Begleitung und Beratung.
Neba dea akademischa Hilf mecht i mi aa bei moim Vata un moim Großvata bedanka dia zvoadeascht mai Schdudium bezahld hend. A herzlich‘s vergelts Gott dia zwoi!
Zum einen ist dies die wahrscheinlich erste umfangreiche Niederschrift der Geschichte der Demokratischen Schulen und enthält zum anderen eine vermutlich einmalige Übersicht über die aktuelle Situation der Demokratischen Schulen in Deutschland, Europa und der Welt.
In dieser Arbeit wurde versucht, möglichst einfache Sprache zu verwenden, so dass nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Menschen diese Arbeit so gut wie möglich verstehen können. Ich weiß, dass mir das oft nicht gelungen ist. Ich hoffe trotzdem, dass die wichtigsten Aspekte verständlich sind. In diesem Sinne wurden für Begriffe, die alle Geschlechter umfassen, nur die männlichen Geschlechtsbezeichnungen (generisches Maskulinum) benutzt. Dennoch sind alle Geschlechter gemeint. Häufig wurden englische Passagen unübersetzt übernommen, wenn sie in relativ leicht verständlichem Englisch geschrieben sind und keine zentrale Bedeutung für das weitere Verständnis haben.
Demokratische Schulen sind vermutlich die Schulen mit dem radikalsten reformpädagogischen Ansatz. Sie beschränken sich nicht auf eine andere Didaktik, kleine Freiheiten im Schulalltag oder setzen auf Belohnung statt Strafe. Demokratische Schulen haben den Anspruch, Kinder als vollwertige Menschen mit allen daraus resultierenden Konsequenzen zu betrachten.
Dieser Ansatz vereinigt Menschen auf allen Kontinenten. Freilerner, Wirtschaftspioniere, Revolutionäre, liebevolle Eltern, Utopisten, Kinderrechtsaktivisten und Schulbesetzer, um nur einige zu nennen. Die Geschichte Demokratischer Schulen beginnt mit der modernen Demokratie und muss sich trotzdem immer wieder gegen den demokratischen Staat wehren, während dieser ein Schulmodell favorisiert, das aus der vordemokratischen Zeit stammt und kaum praktische Demokratie enthält.
Seit den 1990ern erlebt die westliche Welt eine weitere Schulgründungswelle radikal freier und basisdemokratischer Schulen. Im Gegensatz zu früheren Schulgründungswellen scheint mir erstmals die Voraussetzung für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz zu existieren, da kritische Stimmen gegenüber der »neuen Pädagogik« kaum zu vernehmen sind. Zudem ist die Bewegung weltweit gut organisiert. Erleben wir also heute den Startschuss für den Sieg der Pädagogik vom Kinde aus, den progressive Pädagogen seit über 100 Jahren prophezeien?
Ein Blick in die Geschichte reformpädagogischer Schulen könnte helfen, die weitere Entwicklung vorherzusagen. Doch diese ist für Demokratische Schulen bisher nicht ausführlich aufgeschrieben worden.
Die wenigsten Gründer und Lehrer an Demokratischen Schulen dürften wissen, wo die pädagogischen Wurzeln der Demokratischen Schule liegen, oder wie vielfältig die Bewegung, denn als solche muss sie mittlerweile bezeichnet werden, geworden ist.
Aber nicht nur die Geschichte, auch die Gegenwart dürfte den meisten Menschen im Umfeld Demokratischer Schulen nicht bewusst sein. So lag bis jetzt keine Übersicht mit Anspruch auf Vollständigkeit über die Anzahl oder pädagogische Ausrichtung Demokratischer Schulen der Welt, Europa oder Deutschland vor.
Diese Arbeit wurde verfasst, um dies zu ändern.
Um einen Blick in die Zukunft zu wagen, macht es Sinn sich diejenigen Wirkungslinien von pädagogischen Projekten zu betrachten, die heutige oder ehemalige Demokratische Schulen möglich gemacht haben und dabei zu bewerten wie »erfolgreich« sie in der Verbreitung der Idee waren und wie stark dabei unterschiedliche Wirkungslinien auf welche Art und Weise interagiert haben.
Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet daher:
Wie haben sich die institutionellen Wesensmerkmale Demokratischer Schulen aus ihren ideengeschichtlichen Quellen ergeben?
Unter Quellen seien hier sowohl Ideologien, die privaten und politischen Sozialisationsumstände der Gründerfiguren, pädagogische Vorgängerprojekte, als auch pädagogische Idole verstanden.
Obwohl Ulrich Klemm sechs institutionelle Wesensmerkmale für Demokratische Schulen definiert, habe ich mich auf die beiden wesentlichen beschränkt. Wie später zu sehen ist, bedingen Lernfreiheit und die Demokratische Entscheidungskultur die anderen vier institutionellen Wesensmerkmale bei Klemm und entsprechen sinngemäß der Definition der European Democratic Education Community.
Für die Beantwortung der Forschungsfrage war es wichtig zu analysieren, welche Schulen sich heute als Demokratische Schulen verstehen und wie sich die Bezeichnung »Demokratische Schule« ergeben und verbreitet hat. Es zeigte sich schnell, dass einige Schulen den sogenannten »Demokratischen Schulen« sehr ähnlich sind, teilweise mit ihnen in Kontakt stehen, sich aber nicht als solche bezeichnen oder bezeichnet haben. Dies ließ unterschiedliche Ursprünge vermuten, welche ich tatsächlich auch herausarbeiten konnte.
Die Umstände der Gründung Demokratischer Schulen (Vorgängerschulen, pädagogischer Einfluss, politische Rahmenbedingungen, wirtschaftliche Situation, …) ließ sich nicht von den Gründerpersönlichkeiten und deren Lebensgeschichte trennen, weswegen ich beides nachvollzogen und das Wichtigste festgehalten habe. Des Weiteren interessierten mich konzeptionelle Besonderheiten, ihr Einfluss auf andere Schulen und die Gründe ihres Auftretens bzw. Nicht-Auftretens.
Dabei ist eine globale Übersicht (geographische Verbreitung, Anzahl, Schülerzahl, politische Bedeutung, Organisation, konzeptuelle Orientierung, …) Demokratischer Schulen und ihrer Netzwerke mit dem Schwerpunkt auf Deutschland entstanden.
Aus sprachlichen, zeitlichen und organisatorischen Gründen wurde ein Fokus auf die westliche Welt gelegt, insbesondere auf Deutschland. Dennoch enthält diese Arbeit so gut wie möglich Informationen zu Schulen aus anderen Teilen der Welt, z. B. Japan, Brasilien, Argentinien, Thailand, Indien und Ägypten.
In der akademischen Literatur finden sich einige stark 1 2 3 4Werteorientierte Definitionen demokratischer Bildung. Es findet sich jedoch keine Definition für Demokratische Schule mit Anspruch auf Vollständigkeit, die eine klare Trennung der Schulen in eindeutig Demokratische und eindeutig nicht Demokratische Schulen zulassen würde und sich gleichzeitig mit dem Selbstverständnis aller Schulen, welche sich explizit der Bewegung Demokratischer Schulen zugehörig fühlen, deckt.
Hattendorf fasst unter Berufung auf Kamp 2006 das pädagogische Grundgerüst Demokratischer Schulen so zusammen:
5»Die beiden zentralen Prinzipien sind persönliche Freiheit und gemeinsame Lösungs- und Entscheidungsfindung. Quer dazu verläuft die grundlegende Annahme der Gleichheit aller Individuen: Jeder hat die gleiche Freiheit und den gleichen Anteil an Entscheidungen.«
Selbst Yaacov Hecht, der den Begriff Demokratische Schule erst etabliert hat, äußert sich in seinem einzigen Buch nicht zu einer Definition6. Er schreibt im Gegenteil, dass es der Schulversammlung der Hadera Democratic School lange nicht gelungen ist, eine Schulverfassung zufriedenstellend aufzuschreiben. Zusätzlich zur demokratischen Schulversammlung als oberstes Entscheidungsgremium wurde deshalb die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Schulverfassung festgeschrieben.
Er wiederholt diese zwei Grundpfeiler öfters, ohne konkret auf die praktische Bedeutung einzugehen. 7»Of course when we say democratic education, we do not only mean maintaining democratic procedures in a school, but first and foremost the democratic essence which is expressed in the safeguarding of human rights.«
Diese Unschärfe in der Definition ist zum Teil dadurch begründet, dass sich erst 1987 ein Selbstverständnis unterschiedlicher demokratiepädagogischer Schulen als »Demokratische Schule« entwickelte (vgl. Kapitel 3), die heute noch nicht abgeschlossen ist (vgl. Kapitel 2.5.2.2).
8Auch Prof. Dr. Klemm, der vielleicht bekannteste Forscher zu radikalen Schulversuchen im deutschsprachigen Raum, sieht diese Unschärfe insbesondere zu anderen reformpädagogischen Schulen:
»Eine Abgrenzung ist oftmals schwierig, da bewusst und unbewusst Elemente übernommen werden und es unklar bleibt, wer, der oder die ›Erste‹ war. Es kann vielmehr festgestellt werden, dass eine ganze Reihe von inhaltlichen, methodischen und didaktischen Elementen aus reformpädagogischen und Freien Demokratischen Schulen identisch sind. So ist es auch schwierig, hier oftmals eine klare Differenzierung oder Trennung vorzunehmen.«
Einige Demokratische Schulen haben verschiedene Phasen und Modelle der demokratischen Organisation ausprobiert und sich dabei sehr gewandelt. Besonders gut ist dies bei den Pionieren der Demokratischen Schulen zu beobachten, die von der Existenz anderer Demokratischer Schulen nichts wussten. Dabei ist es nicht immer klar, ab welchem Zeitpunkt der jahrelangen internen Schulentwicklung der Status einer »vollwertigen« Demokratische Schule erreicht ist, bzw. verloren ging.
9Prof. Ulrich Klemm schlägt (statt einer Definition) daher vor, Demokratische Schulen anhand sechs konkreter Merkmale, die sie notwendigerweise erfüllen müssen, zu charakterisieren. Laut ihm erfüllen moderne Demokratische Schulen folgende Aspekte:
»Freiheit bedeutet in Demokratischen Schulen, dass jeder das lernt, was er lernen möchte. Dass jeder dann lernt, wann er lernen möchte und dass jeder mit dem zusammen lernt, mit dem er zusammen lernen möchte. Zeit, Raum, Inhalt und Partnerin und Partner beim Lernen sind individuelle Angelegenheiten.«
So wie Janusz Korczak sein Waisenheim Dom Sierot als folgerichtige Umsetzung der (von ihm formulierten) Kinderrechte sah, so sind auch heute noch Demokratische Schulen darauf bedacht Kinder, ihre fundamentalen Rechte in der Schule zu garantieren. Die Democratic School of Hadera hat eine Art Verfassungsgericht, das Entscheidungen des Lösungskomitees (vgl. Kapitel 2.2.2) im Fall von Menschenrechtsverletzungen aufheben kann.
»Transparenz, Vernetzung, Offenheit sind wichtige Basiselemente der Struktur Demokratischer Schulen. Dies zeigt sich einmal im Bezug zu ihrer unmittelbaren Umgebung. Als Demokratische Schulen verstehen sie sich als aktiven Bestandteil der demokratischen Gesellschaft und öffnen sich für den Alltag außerhalb der Schule.«
6. Regelmäßig tagende Schulversammlung
»[…] die 10 ›oberste Autorität‹ ist die Schulversammlung, d. h. eine Vollversammlung aller Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer, die regelmäßig stattfindet und sowohl relevante pädagogische, soziale als auch disziplinarische Fragen erörtert, Entscheidungen trifft und Regeln festlegt.«
11Maria Schiffner macht außerdem darauf aufmerksam, dass nicht die Schulversammlung der rechtliche Träger der Schule ist, sondern eine Rechtsform die demokratisch sein kann (z. B. ein e. V.), aber nicht sein muss (z. B. gGmbH). In jedem Fall kann der Träger der Schule die Meinung der Schulversammlung ignorieren, wenn deren Kompetenz nicht explizit festgeschrieben ist. Auch die assembly der Sudbury Valley School und der Top-kring einiger Soziokratischer Schulen stehen über der Schulversammlung (in der nur Schüler und Lehrer Mitglied sind). In Summerhill war A. S. Neill Eigentümer und oberster Entscheider. Er beschloss Regeln (in seltenen Fällen) auch mal gegen die Autorität der Schulversammlung.
Die Schulversammlung delegiert an den meisten, insbesondere größeren Schulen Aufgaben und Verantwortung an Komitees und Einzelpersonen. Abseits der Kinderrepubliken liest man zuerst bei Sudbury von solchen Komitees, wobei es als wahrscheinlich angesehen werden kann, dass sie zumindest temporär schon vorher existiert haben, um nicht jedes Detail vor der versammelten Gemeinschaft besprechen zu müssen.
Demokratische Schulen haben sowohl Legislative (Schulversammlung, Kreise, …), Judikative (Lösungskomitee, Tribunal, …), als auch Exekutive (12Beddies Officier, Musikraumbeauftragter, …).
13Insofern herrscht eine primitive Gewaltenteilung, die auf freiwilligem Engagement aufbaut.
14Die EUDEC definiert Demokratische Schulen durch drei Merkmale.
Firm foundations in a values culture of equality and shared responsibility.
Übersetzung: Eine stabile Kultur der Gleichwertigkeit und der gegenseitigen Verantwortung.
Collective decision-making where all members of the community, regardless of age or status, have an equal say over significant decisions such as school rules, curricula, projects, the hiring of staff and even budgetary matters.
Übersetzung: Entscheidungen werden kollektiv von allen Mitgliedern der Gemeinschaft unabhängig von Alter oder Status getroffen. Jeder hat ein gleiches Mitspracherecht zu wichtigen Entscheidungen, wie zum Beispiel Schulregeln, Lerninhalte, Projekte, Anstellung des Schulpersonals und Finanzen.
Self-directed discovery; Learners choose what they learn, when, how and with whom they learn it. Learning can happen inside or outside of the classroom, through play as well as conventional study. The key is that the learning is following the students intrinsic motivation and pursuing their interests.
Übersetzung: Selbstbestimmtes Entdecken; Lernende wählen, was sie lernen möchten, wann, wie und mit wem sie lernen. Lernen kann innerhalb oder außerhalb des Klassenzimmers geschehen, durch Spiel, ebenso wie durch klassisches lernen/studieren und forschen. Lernen muss der intrinsischen Motivation der Schüler folgen und auf ihre Interessen abzielen.
Historisch ist es sinnvoll die Demokratischen Schulen im Sinne ihrer Vorläufer mit gleichem Menschenbild (bzw. Kinderbild) weiter zu fassen und auch Schulen ohne (regelmäßige) Schulversammlung zu erwähnen.15
Beispielsweise sind die meisten libertären Schulen (vgl. Kapitel 2.1) keine Demokratischen Schulen nach der Definition aus Kapitel 1.3, in denen die Schulleiter und Lehrer die Entscheidungsmacht auf die Schulversammlung übertragen haben. Dennoch gibt es zahlreiche demokratische Entscheidungsprozesse der Schulgemeinschaft zu Aspekten, die die Gemeinschaft in wichtigen Punkten betreffen. Dies ist allerdings nicht die Norm, sondern die (mehr oder weniger häufige) Ausnahme.
Ein zentrales Anliegen aller in dieser Arbeit erwähnten ideengeschichtlichen Zweige ist ihr Wunsch nach einer Schule, in der ein demokratisches Klima und große individuelle Freiheit herrscht. Ein passender wenngleich unscharfer Überbegriff wäre vielleicht Selbstbestimmung. Außerdem basieren sie alle auf einem ähnlichen Menschenbild. Dieses Menschenbild zieht keine klare Linie zwischen Kind(esalter) und Erwachsenen(alter). Entgegengebrachtes Vertrauen, Rechte und Pflichten hängen daher von der individuellen Situation, dem Wissens- und Könnenstand und nicht vom Alter ab. Die Kinder haben das Recht sich für ihren Weg zu entscheiden. Sie sind frei, ihren Bildungsweg selbständig zu wählen und zu gestalten. Diesen ungefragt zu bewerten ist nicht die Aufgabe der Lehrer, im Gegenteil ist es ihre Aufgabe diesen Weg zu unterstützen, 16 »auch dann, wenn sie den Vorstellungen des Erziehers zuwiderlaufen.«
Es gibt (außer durch staatlichen oder elterlichen Druck) keine Hierarchie der Unterrichtsinhalte und -fächer. Prinzipiell ist alles Wissen gleichwertig. Strafen sind die absolute Ausnahme und kommen sie doch zur Anwendung, dann sind sie vergleichsweise milde oder bestehen aus Wiedergutmachung (z. B. Reparatur zerstörter Gegenstände) statt reiner Bestrafung.
Der Mindestkonsens der Demokratischen Schulen und ihrer direkten Vorläufer ist daher nicht immer die demokratische Schulversammlung, sondern Demokratie als ein Verständnis von Zusammenleben, aufbauend auf gegenseitigem Respekt und größtmöglicher Freiheit des Individuums. Dieser Mindestkonsens bedingt die etwas konkreteren Merkmale, wie sie von Klemm genannt werden (vgl. Kapitel 1.3). Die Merkmale 3, 4 und 6 folgen offensichtlich.
Wenn sich Kinder und Erwachsene mit größtem Respekt und Achtung der persönlichen Freiheit begegnen, dann entstehen ständig neue Gruppenkonstellationen und Aktivitäten. Weswegen eine strenge Alters-, Geschlechter oder andersartige -Trennung sehr unlogisch und deutlich unpraktikabler als eine »natürliche« Trennung nach Sympathie oder Interessen vorkommt (Merkmal 2). Denn Interesse und Sympathie dürfte wohl kaum allein am Alter oder an einem anderen singulären äußeren Merkmal festgemacht werden können (Merkmal 5).
Ebenso unnatürlich wirkt eine ungefragte Bewertung nach standardisierten Maßstäben, wenn sich Lehrer und Schüler auf Augenhöhe begegnen und kein allgemeines Curriculum zu Grunde legen (Merkmal 1). Wobei letzteres direkt aus der individuellen Lernfreiheit folgt.
Kein Curriculum bedeutet in der praktischen Konsequenz, dass Kinder ihren natürlichen Interessen folgen und erklärt die von Klemm genannte Vernetzung nach Außen (Merkmal 5).
Konkret gibt es zwei Aspekte dieses Mindestkonsens und damit wesentliche Merkmale Demokratischer Schulen, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und sich beide im Verlauf der Geschichte spürbar stärker ausgeprägt haben.
1. Freiheit
Freiheit vor allem im Sinne von Lernfreiheit, also die Freiheit was, wann, wie, wo, mit wem und ob gelernt wird selbst zu entscheiden. Einige andere Schulen der Reformpädagogik, darunter insbesondere die Montessorischulen haben bereits das Wie, Wann und mit Wem deutlich freier gestaltet, als es die staatlichen Schulen getan haben. Was aber gelernt wird, bzw. ob überhaupt gelernt werden muss, haben nur die wenigsten Schulen ihren Schülern freigestellt.
2. Demokratische Entscheidungskultur
Die zweite historische Entwicklung ist die der Etablierung der demokratischen Entscheidungskultur. Dies kann von situativen Gemeinschaftsentscheidungen und situativer Beachtung der Kinderwünsche durch die Pädagogen bis zur Schulversammlung als höchstes beschlussfähiges Organ der Schule gehen. Die ersten Schulen und Kinderrepubliken mit Parlament, wie Summerhill und die George Junior Republic waren auch im Alltag stark durch die Gründerväter geprägt, die sich (wenn auch selten) gegen den Willen der Mehrheit stellten. Eher beeinflussten sie Mehrheitsentscheidungen durch ihre Position und ihr Charisma, manchmal stellten sie sich aber auch ganz offen gegen eine getroffene Entscheidung. Darüber hinaus gab und gibt es an manchen Schulen Fragen, die grundsätzlich nicht von der Schulversammlung entschieden werden können, wie die Einstellung der Lehrer in Summerhill. Wichtig für alle Demokratischen Schulen ist aber, dass jedes Mitglied der Schulgemeinschaft Teil der Schulversammlung ist. Lediglich die Soziokratischen Schulen funktionieren mit imperativen Mandaten für das höchste beschlussfähige Organ. Allerdings reicht zur Wahl der Vertreter keine einfache Mehrheit aus. Es braucht einen Konsent (vgl. Kapitel 2.5.1), wodurch indirekt wieder alle an der Entscheidung beteiligt sind.
Jüngere Schulgründungen schafften immer häufiger »den Sprung« von der Schülermitbestimmung zur selbstorganisierten Schule mit der Schulversammlung als höchstes Gremium, oder wurden gleich so gegründet. Dies ist sehr wahrscheinlich vor allem der Sudbury School und ihren vielen Nachfolgern zu verdanken. Methodos e. V. (vgl. Kapitel 2.6.2), besetzte Schulen (vgl. Kapitel 2.7) und die Schule für Erwachsenenbildung (vgl. Kapitel 2.7.2) zeigen, wie Lehrer sogar komplett oder weitestgehend aus der Organisation der Schule herausgehalten werden können.
Auffällig ist, dass es keine Schule mit Schulversammlung zu geben scheint in der selbstbestimmtes Lernen nicht erlaubt ist, wenn gleichzeitig die Schulversammlung mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet ist. Eventuell Ausnahmen davon sind das Dom Sierot (vgl. Kapitel 2.3) und Paideia (vgl. Kapitel 2.1.4). Allerdings habe ich hier den Eindruck, dass ein Schüler der selbstbewusst formuliert was er lernen oder nicht lernen möchte keine strafenden Konsequenzen befürchten muss. Auch wenn ich es für wahrscheinlich halte, dass Lehrer in manchen Fällen versuchen argumentativ auf den Schüler einzuwirken etwas (anderes) zu lernen. Die ausgewertete Quellenlage ist dazu leider nicht eindeutig.
Darüber hinaus unterscheiden sich die Schulversammlungen durch die Art der Entscheidungsfindung. Mit dem Aufkommen der Soziokratischen Schulen entstand eine Alternative zur Mehrheitswahl: der Konsent (vgl. Kapitel 2.5.1).
Die Mehrheitswahl verhindert zumindest in der Theorie die Herrschaft einer Minderheit (z. B. Lehrer) gegenüber der Mehrheit (z. B. Schüler). Der Konsent hat zudem den Anspruch auch die Minderheit vor der Mehrheitsmeinung zu schützen. Dennoch beschränkt eine voll entwickelte Soziokratie in der Praxis das direkte Mitspracherecht in Kreisen, in die man nicht delegiert wurde und/oder auf Grund der damit einhergehenden Verpflichtung nicht delegiert werden wollte.
Es gibt Agile Learning Center, deren Schulversammlung mit eingeschränkter Entscheidungskompetenz ausgestattet ist und im Konsent entscheidet und Sudbury-Schulen die in ihrer Schulversammlung (hier höchstes Organ der Selbstverwaltung) mit Mehrheit entscheiden. Bei beiden ist offensichtlich ein höherer Grad an Demokratie erkennbar, als bei einer Schule deren Schulversammlung eingeschränkte Kompetenzen hat und per Mehrheitsbeschluss entscheidet. Ein Vergleich der beiden Modelle in Bezug auf den Grad ihrer Demokratisierung macht pauschal allerdings keinen Sinn. Wenn überhaupt dann ist dies im Einzelfall sinnvoll und möglich.
Ich schlage deshalb eine Wertebasis und drei aufsteigende Demokratisierungs-Stufen für die Einteilung Demokratischer Schule vor:
0. Selbstbestimmtes Lernen ohne Schulversammlung
1. Schulversammlung mit eingeschränkter Entscheidungskompetenz (Organisation des Alltags und des Lernens)
2. Schulversammlung als höchstes Organ der Selbstverwaltung ODER Konsent-Entscheidung in der Schulversammlung
3. Schulversammlung als höchstes Organ der Selbstverwaltung UND Konsent-Entscheidung in der Schulversammlung
Dabei ist die erste Ordnung mit Null bezeichnet, da Selbstbestimmung die Wertebasis Demokratischer Schulen darstellt. Es ist allerdings möglich, dass die Lehrer den Wunsch äußern, dass die Schüler »etwas« lernen. Ob gelernt wird, liegt nicht ausschließlich im Verantwortungsbereich der Schüler. Dies widerspricht der Definition von Selbstbestimmung der EUDEC (vgl. Kapitel 1.3), erscheint mir aber im historischen Kontext als sinnvoll. Zum einen ist der Unterschied zwischen den beiden Definitionen gering, außerdem gelang es mir oft nicht die jeweiligen Schulen entsprechend genau zu kategorisieren.
Die Schulversammlung in der ersten Stufe hat die absolute Entscheidungskompetenz über wichtige Bereiche des Schulalltags und ist beispielsweise kein Morgenkreis, der dem Lehrer als Forum seiner Tagesplanung dient und nur bei Bedarf für Entscheidungen befragt wird.
Das ODER in der zweiten Stufe ist, als »entweder oder« nicht als »und/oder« zu verstehen.
Die zentralen, in dieser Arbeit genannten, Schulen sind in der nebenstehenden Graphik nach diesen vier Stufen kategorisiert und im Sinne ihrer ideengeschichtlichen Historie (vgl. Gliederung des Kapitels 2.) sortiert. Waldorfschulen und staatliche Schulen in Deutschland erfüllen keine der Stufen, auch nicht die nullte Stufe als Vorrausetzung für eine Demokratische Schule und sind, ebenso wie Montessorischulen, als Vergleichswert aufgeführt. Montessorischulen dagegen unterscheiden sich stark. Einige von ihnen erfüllen die Vorrausetzung einer Schule mit selbstbestimmtem Lernen, die Mehrheit wohl eher nicht.
4 Stufen der schulischen Demokratie-Entwicklung.
Die Schulen in der Stufe 2 (bis auf die Agile Learning Centers) praktizieren keine Konsent-Entscheidungen und betrachten die Schulversammlung als höchstes Organ der Selbstverwaltung. Die durchschnittlichen Agile Learning Centers entscheiden im Konsent, aber die Schulversammlung stellt (faktisch) nicht das höchste beschlussfähige Organ dar. Montessorischulen können sehr unterschiedlich gestaltet sein und gehören deshalb nicht immer in Stufe 0.
1 Sahling 2017.
2 Skiera 2003. S. 334f
3 Graner 2007. S. 23
4 Hofmann 2013.
5 Hattendorf 2017. S. 22
6 Hecht 2017. S. 81
7 Hecht 2017. S. 329
8 Klemm 2013. S. 117
9 Klemm 2013. S. 130–134
10 Graner. S. 27
11 Schiffner 2007. S. 56
12 Preater 2016.
13 Stephens 1988. S. 29–39
14 European Democratic Education Community Democratic Education Info
15 Auch Klemm (2013) bezeichnet Jasnaja Poljana als Demokratische Schule, obwohl sie keine echte Schulversammlung besaß.
16 Skiera 2003. S. 342–344