CHRISTIANE KROMP
FETTE
SAU
Roman
Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG
Cover: Perry Payne
Buchumschlag: Simone C. Franzius
Bildlizenzen: shutterstock
Korrektorat/Lektorat: Dr. Michael Kracht
Verantwortlich für den Inhalt des Textes ist die Autorin Christiane Kromp
Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH
Buch ISBN: 978-3-96050-201-2
E-Book ISBN: 978-3-96050-202-9
Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH
Hollerallee 8, 28209 Bremen
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INHALT
Teil 1: Lore
1. Ein schrecklicher Geburtstag
2. Wie nimmt man ab?
3. Doktor Lehmanns Vorschlag
Teil 2: Julia
1. Ankunft im Rehazentrum
2. Eine neue Welt
3. Wasserballett
4. Hunger
5. Ein nächtlicher Ausflug
6. Der Spieleabend
7. Mirko
8. Franziska kocht
9. Schmetterlinge und eine Feindin
10. Freundinnen
Teil 3: Heimkehr
1. Neue Lore, alte Welt
2. Spring doch!
3. Gefühllos
4. Sieg auf ganzer Linie
Anmerkungen der Autorin und Danksagungen
Weitere Titel der Autorin bei FRANZIUS
Weitere Titel zum Thema Mobbing und Essstörungen
bei FRANZIUS
Novitäten Frühjahr 2020 / 2021 im Franzius Verlag
»Schaut mal, da kommt sie ja, die fette Sau!«
Lores Herz zog sich zusammen. Jeden Tag dasselbe, dachte sie. Jeden einzelnen Schultag waren diese Worte die ersten, die sie zu hören bekam.
»Ja, da ist sie, die fette Sau! Fette Sau, fette Sau«, hörte sie die anderen im Chor singen.
Dabei hatte sie doch heute Geburtstag. Aber natürlich war dieser Tag keine Ausnahme. Wie hatte sie denken können, dass das irgendetwas ausmachte? Sie war heute dreizehn Jahre alt geworden. Normalerweise ein Grund zur Freude. Aber die anderen würden ihr den Tag wieder zu verderben suchen, das wusste sie jetzt schon.
Eigentlich sollte sie sich inzwischen dran gewöhnt haben, von ihren Mitschülern auf diese Weise begrüßt zu werden. Aber das konnte und wollte sie nicht über sich bringen. Denn das hatte sie nicht verdient.
Ärgerlich wischte sie eine Träne von ihrer Wange. Sie tarnte die Bewegung damit, dass sie ihre langen Haare nach hinten strich. Die dicken lilablauen Strähnen fielen sofort wieder zurück in ihr Gesicht, doch das war ihr nur recht.
»Schaut mal, ich glaube, die heult!«
Triumphierend klang ihr die Stimme von Saskia im Ohr, ihrer schlimmsten Feindin in der ganzen Klasse. Dabei hatte sie dem Mädchen nie etwas Böses angetan.
»Heul doch, heul doch«, hob der böse Chor von Neuem an.
Seit Lore vor ein paar Minuten den Schulhof betreten hatte bis jetzt, als sie in das Schulgebäude eintrat, hing ihr eine immer größer werdende Traube von Mitschülern an den Fersen. Sie hatte das Gefühl, die anderen hatten ihr aufgelauert, damit sie sie schon auf dem Weg in die Klasse quälen konnten. Wie ein Wespenschwarm, der immer wieder versuchte, sie zu stechen, und das so oft wie möglich. Und es tat weh. Verdammt weh sogar.
Sie mussten über die große Schultreppe bis in den zweiten Stock hochsteigen, um ihren Klassenraum zu erreichen. Wie immer, ging Lore beim Erreichen des ersten Stockwerks die Luft aus. Ihre Lunge pfiff wie ein Blasebalg und ihre Beine schmerzten. Sie musste eine Pause einlegen. Hinter ihr johlten ihre Mitschüler schon wieder über ihre Schwäche.
»Die Treppe ist für Gewichte über dreieinhalb Tonnen gesperrt«, rief Jerome. Das ganze Treppenhaus hallte wider von wieherndem Gelächter. Lore zog den Kopf ein und biss sich auf die Lippe, um nicht zu weinen. Wie gemein das war!
Laut schnaufend zog sich Lore weiter am Treppengeländer empor. Das ging ziemlich langsam. Auf dem dritten Treppenabsatz musste sie zum zweiten Mal ausruhen. Warum, verdammt, war das so schwer? Mit großer Mühe erreichte Lore den zweiten Stock, über ihre Kräfte angetrieben von den Spottrufen ihrer Mitschüler, denen sie lieber keine weitere Schwäche zeigen wollte. Bunte Lichter tanzten für ein paar Sekunden vor ihren Augen und sie atmete schwer.
Jetzt überholten sie Saskia und Jerome, staksten unter dem Gelächter der ganzen Meute breitbeinig auf dem Flur vor ihr her, als wären sie Tonnen auf Beinen. Sie ruderten dabei Gleichgewicht suchend mit den Armen. Als ob sie, Lore, so gehen würde! Dazu schnauften sie geräuschvoll. Es war einfach nur gemein! Lore schluckte mühsam die Tränen hinunter, die schon wieder in ihr aufsteigen wollten. Die Genugtuung, dass sie weinte, wollte sie ihren Feinden nicht geben. Besonders nicht Saskia, die gerade ihre Wangen kugelrund aufblies, dabei schielte und mit all ihrer Schminke aussah wie eine deformierte Barbiepuppe. Sie hüpfte vor Lore auf und ab und winkte mit ihren langen Fingernägeln so vor Lores Gesicht herum, dass diese voller Schreck an eine krallenbewehrte Raubkatze denken musste.
»Lasst mich endlich in Ruhe«, schrie Lore. Sie hörte selbst den panischen Unterton.
»Lasst mich endlich in Ruhe, lasst mich endlich in Ruhe«, äfften die anderen sie nach. Hätte sie bloß gar nichts gesagt. Ihr Herz stach in ihrer Brust, die sich immer noch von der Anstrengung des Treppensteigens viel zu schnell hob und senkte. Wäre sie doch bloß nicht so fett!
Sie atmete tief durch und betrat den Klassenraum. Es war noch vor acht, daher war die Lehrerin noch nicht hier. Es herrschte das übliche Chaos, die Kinder rannten durch das Zimmer und bewarfen einander mit Radiergummis. Laut war es in der 7c. Als Lore aber hereinkam, wurde es schlagartig ruhig. Alle beobachteten sie, flüsterten einander etwas zu. Die Stille hatte etwas Bedrohliches, etwas Lauerndes. Wie ein Raubtier, das sich auf den Sprung vorbereitet.
»Buh«, riefen plötzlich zehn Kinder auf einmal. So laut zerriss das die eben noch herrschende Lautlosigkeit, dass Lore vor Schreck zusammenzuckte und ihren Ranzen mit einem Krachen zu Boden fallen ließ. Die ganze Klasse lachte.
»Hast du gerade gefurzt?«, krähte Jerome und hielt sich die Nase zu.
»Ihhh, die fette Sau hat gefurzt! Rette sich, wer kann«, kreischten Saskia und Bernadette und liefen zur anderen Seite des Klassenraumes. Tosendes Gelächter hallte von den Wänden wider.
Lore fühlte, wie eine Hitzewelle ihr Gesicht bis zu den Haarwurzeln zum Glühen brachte. Am liebsten wäre sie im Boden versunken, versuchte aber, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. Sie schob ihren Ranzen zur Seite des Tisches und setzte sich langsam auf ihren Stuhl.
»Ey, Fettsau, pass auf, dass der Stuhl nicht unter dir zusammenkracht,« kommentierte Ali ihre Bewegung. Ein erneutes Anschwellen des Gelächters belohnte diesen Witz.
»O ja, der arme Stuhl!«
»Ich möchte nicht der Stuhl sein!«
»Seht ihr, wie der sich biegt? Der hat bestimmt schon einen Riss!«
»Kein Wunder, bei der Belastung!«
»Ruhe!«, rief eine energische Stimme. Es war die von Frau Jones, der Englischlehrerin. Frau Jones war sehr streng. Die Kinder drehten sich zu ihr um und setzten sich in dem Moment, als die Lehrerin in die Hände klatschte und rief: »Sit down, boys and girls!«
Die beiden Englischstunden gefielen Lore gut. Da war sie wie in ihrem Element. Sie hatte gute Noten in Englisch. Und Frau Jones gratulierte ihr zum Geburtstag.
»Everybody will now sing Happy Birthday for Hanna!«, wies sie die Klasse an. Hanna war Lores englischer Name, den sie sich in der ersten Englischstunde ausgesucht hatte. Ein lahmer Chor setzte ein. Keiner traute sich, die Lehrerin zu ignorieren. Die Blicke allerdings, die die anderen Lore zuwarfen, waren mörderisch. »Das wirst du uns nachher büßen!«, schienen sie zu sagen.
Frau Jones teilte die Tests wieder aus, die sie in der letzten Woche geschrieben hatten. Lore hatte eine Eins. Ein frohes Lächeln verbreitete sich über ihr Gesicht.
»Was grinst du so blöd, fette Sau?«, fauchte Saskia von schräg vor ihr. Lore riskierte einen Blick auf Saskias Bogen. Saskia deckte sofort ihre Zensur ab, doch Lore hatte sie schon gesehen. Das sah nach einer fetten Fünf aus. Lores Lächeln wurde breiter.
»Das kriegst du wieder!«, schien Saskias Blick zu versprechen. Oh je, sie würde schnell sein müssen nach der Stunde. Oder aber sehr langsam.
Um neun Uhr dreißig klingelte es zur Hofpause. Die Kinder johlten los und die meisten stürmten wie befreite Dämonen aus dem Klassenraum. Lore trödelte. Sie packte langsam ihre Bücher und Hefte wieder ein und ihr Pausenpäckchen aus. Ihre Mutter hatte ihr heute einen Apfel geschnitten, das konnte sie schon durch die Brotbox sehen. Und zwei Schwarzbrotschnitten mit Schinken lagen auch dabei. Lore entschied sich für eines der Brote. Trotz aller Hänseleien, heute Morgen hatte sie richtig Hunger. Immer wenn sie etwas aß, fühlte sie sich besser. Besonders nach einem solchen Morgen.
Langsam und umständlich packte sie das Brot aus und gönnte sich einen ersten Bissen. Hmmm, wie köstlich das schmeckte. Lore schloss die Augen.
»Los, Hanna, es wird Zeit, dass du auf den Hof gehst!«, erinnerte sie Frau Jones. Sie sagte es freundlich, aber sehr bestimmt.
»Na los, husch, husch!«, lachte die Lehrerin und unterstrich ihre Worte mit wedelnden Händen. »Ich muss doch die Klasse abschließen.«
Kauend schlenderte Lore zum Ausgang und schaute nach links und nach rechts. Keiner war zu sehen. Waren alle schon draußen? Hatten sie sie vergessen? So unauffällig wie möglich hielt sie sich weiterhin in der Nähe von Mrs. Jones, schlenderte einfach essend hinter der Lehrerin her, die Treppe hinunter und in den Hauptgang und auch dort folgte sie Mrs. Jones, bis die im Lehrerzimmer verschwand. Der Flur war in beiden Richtungen leer. Lore atmete auf. Sie blickte auf ihr Handy. Sieben Minuten der Hofpause hatte sie schon unbelästigt überstanden. Nur ein paar Meter weiter lagen die Mädchentoiletten. Was, wenn sie den Rest der Pause dort verbrachte? Noch einmal schaute sie nach beiden Richtungen. Alle schienen draußen zu sein. Sie hörte ja von hier aus das Schreien, Kreischen und Johlen von allen Jahrgangsstufen. Schwimmbadatmosphäre, nur ohne Chlorgestank.
Eilig schlich sie sich zu den Toiletten hinüber. Gerade, als sie die Außentür mit dem stilisierten Mädchen darauf öffnen wolle, wurde ihr die Klinke aus der Hand gerissen und wüstes Gekicher drang ihr entgegen. Vor ihr standen – Saskia, Bernadette, Sophia und Laura. Keine davon war ihre Freundin.
»Ihhh, das ekelhafte Monster!«
»Schaut mal, wie blöde die glotzt!«
»Die frisst und rennt zum Klo!«
»Warum platzt du nicht einfach?«
»So widerlich. Bäää!«
Die Mädchen lachten hämisch. Saskia begann damit, Grunzgeräusche zu machen. Eine nach der anderen fielen die Mädchen ein, bis es Lore entgegen grunzte wie ein ganzer Schweinekoben.
»Ach, und unser fettes Schwein hat ja heute Ge-burts-tag…«, dehnte Bernadette und verdrehte die Augen. »Ihr singt jetzt Häääppi Bööörsday für sie!«
»Genau. Deine fette Schweinemutter füttert dich heute bestimmt mit Schokoladenkuchen.«
»Meine Mutter ist kein Schwein!«, wehrte sich Lore, doch es klang sehr leise und weinerlich.
»Hä?«
»Was hat sie da gegrunzt?«
»Ich habe es auch nicht verstanden. Kann eben nur ein Schweinchen, nicht wahr?«
Und wieder hob das Grunzen an.
Mittlerweile kullerten zwei dicke Tränen über Lores Wangen.
»Ooooch, schaut mal, die Kleine heult. Ooooch, das ist aber traurig.«
Die Mädchen hatten Lore inzwischen umrundet und drängten sie in das Mädchenklo.
»Sooo, dann werden wir dem Baby mal das Gesicht abwaschen und den Rüssel schneuzen!«
Mit Feuereifer machten sich die Mädchen ans Werk. Sie nahmen sich Klopapier, tunkten es ins Klo und versuchten, ihr damit grob über das Gesicht zu wischen. Lore wand sich, um dem ekligen Lappen zu entgehen, doch die anderen drängten sie schließlich in eine Ecke und hielten sie da zu dritt fest, während Saskia sich daran machte, Lore den triefenden Klolappen durchs Gesicht zu reiben. Ihr schönes Schinkenbrot war ihr bei dem Gerangel aus der Hand gefallen und lag auf dem dreckigen, überschwemmten Fußboden. Lore konnte sich einen Moment von den sie haltenden Händen befreien und es gelang ihr, Sophia in die Hand zu beißen. Sophia zog ihre Hand mit einem Schmerzenslaut zurück und knallte Lore eine. Ausgerechnet jetzt knurrte Lores Magen. Der Zeitpunkt dafür hätte nicht unpassender sein können. Die anderen hörten dieses Geräusch und machten sich natürlich sofort darüber lustig.
»Ohhh, die Fressmaschine hat Hunger!«, kreischte Bernadette.
»Hilfe, passt nur auf, sonst frisst sie uns noch!«, rief Sophia, die Lores Zahnabdrücke noch auf dem Handrücken hatte.
»Ach nein, das würde sie doch nie machen, nicht war, Fettkloß?«, gurrte Saskia mit falscher Sanftheit. Die Drohung dahinter entging Lore jedoch nicht. Suchend schweiften Saskias Blicke über den Fußboden und blieben an Lores herunter gefallenem Schinkenbrot hängen.
»Ah, da ist es ja. Das wolltest du doch gerade fressen, nicht wahr?«
Bernadette fixierte Lore mit dem Unterarm über der Kehle, Sophia und Laura hielten sie in die Ecke gedrängt. Währenddessen hob Saskia das matschige Brot auf und näherte sich damit Lores Mund.
»Na los, mach das Mäulchen auf. Hier kommt was Gutes!«
Lore wand sich, doch konnte sie der Übermacht nicht entkommen.
»Na, los. Ein Häppchen für die fette Schweinemami…«
Das nasse Brot drängte sich an Lores Mund, den sie jedoch fest zusammengepresst hielt. Soweit es ihr möglich war, wendete sie sich ab, sodass das angeweichte Brot jetzt gegen ihre Wange drückte.
»Los, machs Maul auf!«, befahl Saskia jetzt. »Du kannst es doch sonst auch nie erwarten, da was reinzustopfen!«
Wortlos trat irgendjemand Lore mit voller Wucht vors Schienbein. Sie schrie vor Schmerz, sank an der Wand zu Boden und riss den Mund weit auf. Das war die Gelegenheit, auf die Saskia gewartet hatte: Mit Schwung quetschte sie Lore das dreckige Brot in den Mund.
»Komm, mach schön fressi fressi!«, sang Saskia. Die Mädchen lachten, ließen aber von Lore ab. Übelkeit brandete in ihrer Kehle empor. Sobald die anderen sie losgelassen hatten, kroch sie mit vor Scham brennenden Wangen in die nächste Kabine und erbrach sich ins Klo.
»Das musst du immer so machen. Was wieder rauskommt, macht dich nicht noch fetter!«, rief Bernadette und das Lachen der Mädchen hallte übermächtig von den Klowänden wider.
»Ihh, diese Geräusche. Ich glaube, das Klo kotzt gerade.«
»Und mir kommt es auch gleich hoch. Lasst uns hier verschwinden!«
»Was ist denn hier los?«, rief die Stimme einer Lehrerin, diesmal die von Frau Holbein, ihrer Deutsch- und Kunstlehrerin.
»Ich glaube, der Lore ist schlecht geworden«, gab sich Saskia besorgt. Eine Schauspielerin hätte es nicht besser gekonnt.
»Ja, Frau Holbein, wir haben sie zur Toilette begleitet«, log Laura so glatt, als wäre es die Wahrheit. Den artigen Augenaufschlag konnte Lore dabei förmlich sehen. Sie spuckte immer noch ihre Innereien ins Klo.
»Das ist aber nett von euch«, lobte die Lehrerin die Mädchen. »Aber nun geht wenigstens noch den Rest der Pause hinaus. Ich kümmere mich schon um eure Freundin.«
Lore hörte die Tür gehen und auch, wie Saskia spöttisch flüsterte »Freundin…«
»Brauchst du Hilfe, Lore?«, fragte die Lehrerin nun, als sie allein waren. Diese wischte sich den Mund mit Klopapier ab und spuckte noch einmal, um den fiesen Geschmack loszuwerden. Es stank bestialisch in der kleinen Kabine.
»Nein, danke!«, nuschelte Lore. Ihr Hals war rau von ihrer Magensäure – und von ihren Tränen, die ihr über die Wangen strömten wie aus einer Quelle.
»Ich habe dich nicht verstanden. Kommst du bitte heraus?«
Das war Lore sehr unangenehm, würde die Lehrerin sie doch dann in ihrem verheulten und zerrauften Zustand sehen. Aber das war wohl nicht zu ändern.
Sie drückte die Spülung gleich zweimal, in der Hoffnung, auch den Gestank mit hinunterzuspülen. Es half aber nicht wirklich.
Langsam entriegelte sie die Kabine und schob die Toilettentür auf.
»Mein Gott, Kind, wie siehst du aus!«, rief Frau Holbein erschrocken. »Komm, wasch dich hier ein wenig. Und dann gehst du bitte nach Hause. Du brütest bestimmt etwas aus.«
Auch Lore erschrak, als sie jetzt ihr Spiegelbild betrachten konnte. Ihr ganzes Gesicht war rot und geschwollen, ihre Haare standen ab und waren verklebt. Ein bisschen von dem Brot klebte immer noch auf ihrer Wange und an ihrem Pullover. Sie wusch sich notdürftig ab und spülte sich den Mund aus.
»Geht es dir jetzt besser?«, fragte die Lehrerin noch einmal besorgt nach. »Oder soll ich dir eins von den Mädchen mitschicken, die sich eben so nett um dich gekümmert haben?«
Entsetzt wehrte Lore ab. »Nein, das ist nicht nötig!«
Mein Gott, dachte sie, und die Haare sträubten sich in ihrem Nacken. Saskia als Begleitung auf dem Heimweg! Ihr wurde kurz schwarz vor Augen. Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden, und hielt sich krampfhaft am Waschbecken fest, das bedenklich knackte.
»Bist du sicher?« Die Stimme der Lehrerin klang wie vom Boden einer Regentonne.
»Ja«, hörte sie sich selbst sagen. »Keine Sorge.«
»Gut, dann hol deine Schultasche und geh heim. Meine halbe Klasse liegt mit Magen-Darm im Bett. Nicht, dass du mir deine Klasse auch noch ansteckst!«
Fast hatten sie Lores Klassenzimmer erreicht, da fragte Frau Holbein noch einmal nach: »Und du bist dir sicher, dass sonst alles in Ordnung ist, Kind?«
Es klang so freundlich, so vertrauenerweckend, dass Lore für einen Augenblick versucht war, ihr zu schildern, was wirklich geschehen war. Doch dann schüttelte sie nur den Kopf. Nein. Das hätte keinen Zweck. Es würde doch nur wieder an ihr ausgehen. Mit dem Nachteil, dass sich die Geschichte noch schneller verbreiten würde als ohnehin schon.
Wer weiß, vielleicht stellte Saskia, die beliebte Saskia, gerade irgendeine gemeine Version der Ereignisse ins Schülernetz. Das hatte sie alles schon einmal erlebt. Sie hatte mit dem Vertrauenslehrer gesprochen, Herrn Fischer, den sie in Mathe und Sachkunde hatte. Der wiederum hatte mit den betreffenden Mitschülern geredet, mit dem Ergebnis, dass sich alle gegen Lore verbündet hatten und sie ins Unrecht setzten. Alles war nur ein Missverständnis. Sie sollten in Zukunft mehr miteinander reden und Lore sollte ihre Fantasie im Zaum halten und besser hinhören. Hinterher hatten sich die anderen in der Klasse gegenseitig beglückwünscht, wie gut das doch gelaufen wäre. Und zu Lore hatten sie höhnisch bemerkt, es würde ihr eh keiner glauben. Genauso war es ja auch, das wusste sie. Es würde wieder so laufen. Selbst wenn ihr die Lehrer glaubten, dann würden die anderen es Lore trotzdem büßen lassen, für die Strafen, die sie dann bekämen. Es hatte eben keinen Zweck, einer Lehrerin ihre Sorgen anzuvertrauen. Auch wenn sie so nett war wie Frau Holbein. So schluckte Lore erneut ihre Tränen hinunter und antwortete: »Danke, es geht schon wieder.«
Frau Holbein schloss ihr den Raum auf, sie holte ihre Schultasche, hängte sie um und trottete hinaus. Das tat sie ausgerechnet in dem Moment, in dem es klingelte und ihr über dreihundert Schüler auf dem Weg in ihre Klassen entgegen strömten, sie anrempelten, als ein Verkehrshindernis, das sich in die falsche Richtung bewegte. Genau so war ihr ganzes Leben, dachte Lore. Sie bewegte sich nie in die richtige Richtung und dauernd nahmen die anderen an ihr Anstoß.
In einer Mischung aus Traurigkeit, Schock und Erleichterung machte sie sich auf den Heimweg. Erleichterung, denn jetzt konnte niemand in ihrer Klasse sie mehr quälen. Schock, denn soweit waren selbst Saskia und ihre Mistziegen noch nie gegangen. Lore fühlte sich hundeelend. Ihr Bein tat weh von dem Tritt. Sie roch immer noch die Kotze auf ihren Klamotten. Zu Hause würde sie gleich duschen und die Sachen in die Wäsche tun müssen. Es war so demütigend gewesen.
Und in der nächsten Zeit würde sie Mamas wunderbare Schinkenbrote nicht mehr genießen können. Immer würden sie sie an die Situation in der Toilette erinnern. Sie wühlte in ihrer Jackentasche und förderte einen Kaugummi zutage. Der eklige Geschmack in ihrem Mund und in ihrem Rachen sollte schnell weggehen.
Die Straßen waren wie leergefegt und nachdem sie den Schulhof weit hinter sich gelassen hatte, war es wunderbar ruhig. Kein anderes Kind schrie hier herum, höchstens vereinzelte Mütter mit Kinderwagen waren zu sehen. Hin und wieder fuhr ein einsames Auto an ihr vorbei. Lore genoss es, wenn es so still war.
Was war vorhin auf dem Klo passiert? Was hatte sie den anderen bloß getan, um so von ihnen behandelt zu werden? Tränen liefen ihr über die Wangen, und nachdem sie einmal angefangen hatten zu laufen, hörte der stete warme Strom nicht mehr auf. Aber hier war es nicht so schlimm, hier sah sie niemand, der sie kannte. So konnte sie ihrer Trauer und ihrem Schmerz freie Bahn lassen. Es tat ihr gut, alles einmal rauszulassen. Warum nur hatte sie keine Freundin? Wenigstens eine? Sie fühlte sich so furchtbar allein. Nur der graue Oktoberhimmel über Hamburg schien mit ihr zu fühlen, denn es begann leise zu nieseln. Lore lief im Automatikmodus zu ihrer Bushaltestelle und stieg in das Fahrzeug ein, ohne es bewusst zu merken, so sehr beschäftigten sie ihre Gedanken.
Alle anderen Mädchen, die sie kannte, hatten Freundinnen. Und je fieser sie sich benahmen, umso cooler fanden die anderen Kinder diese Mädchen. Zum Beispiel Saskia. Die war geradezu bösartig. Und sie war, genau wie ihre Freundin Bernadette, schon einmal sitzen geblieben. Aber sie hatte unter den Jungs gleich mehrere Verehrer und die Hälfte aller Mädchen in der Klasse als Freundinnen. Ohne Charakter war sie und ohne Verstand, aber geschminkt und aufgemacht wie eine Barbiepuppe, mit ihren welligpastelligen Einhornhaaren und ihren Klamotten, die stets der neuesten Mode entsprachen. Ständig unternahm sie Shopping Touren, sie ging ins Kino, sie durfte ihr Leben genießen. Warum war das so ungerecht? Warum war Lores Leben die Hölle und Saskia hatte alles, was Lore sich wünschte? Saskia war weder besonders klug noch besonders hübsch. Von besonders nett ganz zu schweigen. Es müsste umgekehrt sein, dachte Lore. Sie, Lore, war die Nette und die Kluge. Sie sollte also auch beliebt sein und jede Menge Freunde haben. Und sie sollte die Party des Jahres schmeißen, von der alle noch wochenlang reden würden und auf die eingeladen zu werden eine Ehre wäre. Stattdessen bekam diese blöde Mistkuh alles in den Allerwertesten gesteckt, obwohl die blöd war wie Bohnenstroh und fies obendrein. Es war so ungerecht!
Als Lore sich vor vier Wochen in einem Anfall von Verzweiflung ihre Haare lila gefärbt hatte, weil Farbtöne wie diese gerade modern waren in ihrer Klasse, da hatten sie alle ausgelacht. Obwohl sie Saskia und Bernadette für ähnliche Färbeaktionen gratuliert hatten. Wo war da die Logik? Lore würde niemals cool sein. Ganz egal, was sie machte. Ihr Sichtfeld verschwamm vor ihren Augen. Es war einfach nicht fair.
Der Bus hielt an ihrer Haltestelle, als wäre er dorthin geflogen. Rasch stieg Lore aus, gerade noch rechtzeitig, bevor der Bus seine Türen zischend wieder schließen wollte. Hinter ihr her schimpfte die ältere Dame, die Lore bei ihrem eiligen Ausstieg beinahe umgerissen hatte. Aber sie war zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, als dass sie sich darum hätte bekümmern können.
Saskia war die ungekrönte Königin. Lore hingegen – nun, einen größeren Gegensatz konnte sie sich gar nicht denken. Lore war nett, aber auch fett. Es fing schon mit ihrem Vornamen an. Hannelore. Furchtbar. Darum hatte sie sehr bald darauf bestanden, nur noch Lore gerufen zu werden. »Hanne« hatte sie auch ausprobiert, aber da hatten die Kinder schon im Kindergarten hinter ihr her gerufen: »Hanne ist panne« oder »Hanne, die Pfanne«. Und kurz vor Weihnachten hatten sie gesungen »Hanne sieht aus wie ne Tanne«. Weil sie damals schon dick gewesen war. Und Mutters selbst gestrickte grüne Wollpullover hatten dann den Rest besorgt.
Und wenn sie Schluss machte? Sich einfach umbrächte? Dann wäre der Schmerz ein für alle Mal vorbei. Aber das konnte sie ihrer Mutter nicht antun.
Fast war sie schon vor ihrer Haustür angelangt, da fiel ihr wieder ein, dass sie ja heute Geburtstag hatte. Ihre Mutter hatte ihr eine ganz besondere Überraschung versprochen. Bestimmt würde sie Lores Lieblingsessen kochen. Mutter hatte sich extra freigenommen.
Sorgfältig beseitigte Lore alle Spuren ihrer Tränen und schnaubte in ihr letztes Taschentuch. Mama sollte sich keine Sorgen machen, sie hatte schon genug davon. Schließlich arbeitete sie in zwei Jobs, um für sich und Lore ein gemütliches Heim zu schaffen. Ihr Vater war Polizist gewesen und vor ein paar Jahren gestorben. An einem Herzinfarkt. Mitten im Dienst. Seitdem hatten sie es so viel schwerer. Wenn Lore mal was außer der Reihe haben wollte, hörte sie ihre Mutter seufzen und dann sagen: Ach, wenn dein Vater noch leben würde, dann könnte ich dir das Geld dafür geben. Aber so ...
Ihr Vater. Hannes Kröger. Wie sehr sie ihn vermisste. Sie war gerade mal acht Jahre alt gewesen, als er eines Tages morgens fröhlich losgegangen war – und abends nicht mehr nach Hause kam. Seitdem war er nie wieder nach Hause gekommen. Weil er an jenem Tag im Büro gestorben war. Einfach so. Der Arzt hatte ihrer Mutter und ihr erklärt, dass Vater es gar nicht gemerkt haben konnte, weil es so schnell ging. Lore verstand das bis heute nicht. Wie kann jemand nicht merken, wenn er stirbt?
Mutter hatte sich lange zurückgezogen. Sie war Lore wie ein Roboter vorgekommen. Hatte nicht gelacht, nicht geweint, nur noch gearbeitet und geschlafen. Inzwischen ging es Mama wieder besser, obwohl sie immer noch Bilder von Lores Vater im Wohnzimmer stehen hatte, mit einem schwarzen Band über einer Ecke.
Lore war froh darüber und wollte nicht, dass es ihrer Mutter je wieder so schlecht ging. Und deshalb behielt sie ihre Sorgen für sich. Zwar wusste ihre Mutter, dass sie keine Freunde in der Klasse hatte, aber das war ja schon früher im Kindergarten so gewesen. Lore musste einfach abnehmen. Dann würde sich so vieles ändern.
Sie probierte ein Lächeln, bevor sie zuerst die Haus- und dann die Wohnungstür aufschloss.
»Lore? Bist du das?«
Mama war da. Lore hörte ihre Schritte, während sie die Jacke an die Garderobe hängte.
»Ist die Schule schon aus?«, fragte Mama lächelnd. »Ich bin noch gar nicht fertig mit den Vorbereitungen. Ist Herr Fischer noch krank?«
Den Rest des Tages hätte Lore Unterricht bei diesem Lehrer gehabt. Das war ihr ganz entfallen gewesen. Was für ein Glück, dass Frau Holbein sie nach Hause geschickt hatte. Denn Herr Fischer hielt sie ja seit den Vorfällen vor ein paar Monaten sowieso für eine hysterische und paranoide Spinnerin.
Lore schüttelte den Kopf. Jetzt kam ihre Mutter zu Lore geeilt, stand nun nahe vor ihr – und verzog angeekelt das Gesicht.
»Ihhh, was stinkt denn hier so?«, fragte sie erschrocken.
»Ich«, gab Lore beschämt zu. »Mir ist in der Pause schlecht geworden. Da hat Frau Holbein mich nach Hause geschickt.«
Lores Mutter runzelte die Stirn.
»Arme Süße. Du wirst mir doch nicht ausgerechnet heute krank? An deinem Geburtstag?«
Sie fasste ihrer Tochter an die Stirn, fühlte die Temperatur wie ein menschliches Thermometer.
»Zu warm bist du jedenfalls nicht. Aber du stinkst wirklich. Bitte, mein Schatz, geh ins Bad. Gib mir die Klamotten raus, ich tu sie gleich in die Waschmaschine.«
Dankbar schlüpfte Lore ins warme Badezimmer und duschte lange. Sie stellte sich dabei vor, wie all die schlimmen Erlebnisse von heute und den ganzen Jahren von ihr abgewaschen und durch den Ausguss weggespült würden.
Ihre Mutter hatte derweil die Waschmaschine angeworfen. Als Lore frisch gewaschen und mit nach Weichspüler duftenden Sachen ins Wohnzimmer kam, umarmte ihre Mutter sie fest.
»Noch einmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Engel«, flüsterte sie zärtlich. Dann führte sie Lore zu ihrem Zimmer.
»Ich habe dir deine Geschenke auf dein Bett gelegt. Hoffentlich gefallen sie dir.«
Lore gab ihrer Mutter einen Kuss.
»Danke, Mama.«
Und jetzt folgte eine glückliche Viertelstunde, in der sie die vier Päckchen auspackte. Ihre Mama hatte ihr ein Schminkset und einen Kosmetikspiegel geschenkt, beides Dinge, die sie sich schon lange gewünscht hatte. In einem weiteren Päckchen waren Lores Lieblingspralinen. Und das letzte, sehr kleine Schächtelchen enthielt eine Kette. Sie war aus antikem, schwarz angelaufenem Silber und daran hing ein sichelförmiger Anhänger in Gestalt eines Mondes.
»Der ist von Oma«, sagte ihre Mutter leise. »Am Wochenende wollen wir sie im Heim besuchen. Sie wollte gerne, dass ich dir diese Kette gebe. Oma hat sie von ihrer Mutter bekommen.«
Ehrfürchtig betrachtete Lore den Anhänger. Er war wunderschön gelb und blau emailliert.
»Danke, Mama«, sagte Lore noch einmal und umarmte ihre Mama.
Diese drückte sie genussvoll in ihre Arme.
»Und nun«, verkündete ihre Mutter feierlich, »habe ich noch eine ganz besondere Überraschung für dich.«
Lore sah ihre Mutter an und wartete, dass sie weitersprach.
»Ich habe eine Geburtstagsfeier für dich vorbereitet. Vier Mädchen aus deiner Klasse werden nachher zu uns kommen. Na, was sagst du?«
Lore blieb der Mund offenstehen. »Was?«, fragte sie entgeistert.
»Ja, meine Knuddelmaus, du wirst vier Geburtstagsgäste haben. Ich habe extra einen schönen Kuchen gekauft. Und Luftballons und Süßigkeiten. Und ich habe Spiele vorbereitet …«
»Aber, Mama, ich bin doch nicht mehr acht!«
»Was würdest du denn gerne machen?«
Da musste Lore sich nicht lange besinnen.
»Ins Kino gehen! Mit meinen Gästen. Wen hast du denn überhaupt eingeladen?«
Sie fragte das nicht ohne Misstrauen.
»Sarah und Lea und Kristin und Aischa«, zählte Mutter an den Fingern ab.
Die Auswahl war sogar Ok, diese Mädchen hatten noch nie bei Saskias Gemeinheiten mitgemacht.
»Die Kinder und die Eltern haben fest zugesagt. Weißt du, wenn diese Mädchen erst einmal merken, wie nett du bist, dann kannst du sie vielleicht als Freundinnen gewinnen. Dann würden sie dir beistehen gegen die anderen Mädchen …«
Lore nickte. Schon zum dritten Mal an diesem Tag schmerzte sie die Kehle von ihren Tränen.
»Danke«, flüsterte sie erstickt. »Wann wollen sie kommen?«
»Um fünfzehn Uhr.«
Lore verbrachte die Zeit bis dahin zwischen Hoffen und Bangen. Würden die anderen wirklich kommen? Würden sie es wagen, Lore von dem Aussatz zu befreien, den sie an sich zu haben schien? Aischa war erst zwei Wochen in der Klasse. Sie hatte sich noch nicht so richtig orientiert, noch keinen festen Freundeskreis gewonnen. Ein zurückhaltendes, schüchternes Mädchen, das alle freundlich anlächelte. Sogar Lore. Sarah und Lea waren locker miteinander befreundet, aber nicht mit Saskia oder Bernadette. Allerdings unternahmen sie manchmal was mit einer der anderen Terrorzicken rund um Saskia. Besonders mit Sophia. Mit Laura nicht.
Das große Ereignis in der Klasse war der vierzehnte Geburtstag von Bernadette gewesen. Wer auf der Liste ihrer geladenen Gäste stand, der konnte sich zum Adel in der Klasse zählen. Lore war natürlich nicht eingeladen gewesen. Und Saskia hatte keine Möglichkeit ausgelassen, alle in der Klasse darauf hinzuweisen. Wochenlang, immer wieder von Neuem. Gott sei Dank lag der Geburtstag dieser Kuh schon zwei Wochen zurück. Nur der vierzehnte Geburtstag von Saskia stand noch bevor, im nächsten Mai. Lore fürchtete sich jetzt schon vor dem Getue, das diese Bitch wieder darum machen würde.
Kristin schließlich hatte Schuppenflechte. Keiner mochte sie berühren, die Kinder fanden ihren Ausschlag so eklig. Doch hatte Lore den Eindruck, Kristin mochte sie nicht wirklich leiden. Auf dem Klassenausflug letztens hatte Lore versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Kristin hatte das abzuwehren gewusst. Lore wusste nicht, warum, denn einen anderen Gesprächspartner hatte das andere Mädchen auch nicht gefunden.
So hatte Lore mal wieder alleine gehen müssen, während sich alle anderen in Dreier- und Vierergruppen lebhaft unterhielten, miteinander lachten und eifrig schwatzten. Traurig fuhr sich Lore über das Gesicht. Was war es nur, das die anderen von ihr fernhielt? Sie stank nicht, sie hatte keine Schuppenflechte – aber irgendwie schien sie einen unsichtbaren Ausschlag zu haben, den nur die anderen wahrnehmen konnten. Sie mieden sie. Lag das wirklich nur an ihrer Figur? Bernadettes Schwester Odette war auch ziemlich mollig, aber die hatte jede Menge Freundinnen. Was hätte Lore darum gegeben, auch nur einen einzigen Tag in deren Haut zu schlüpfen, einen Schultag mal aus der Perspektive dieser Mädchen zu erleben. Einen Tag nicht gepiesackt oder im Klo getreten und zum Kotzen gebracht zu werden.
Wenn die Gemeinheiten der anderen aber doch an ihrer Figur lagen? Wenn sie nur abnehmen müsste, damit die anderen sie als eine der ihren betrachten würden? Wenn nun keiner kam und alle sie morgen in der Schule auslachen würden für ihre Hoffnung, ein ganz normales Mädchen mit einer ganz normalen Geburtstagsfeier zu sein – und nicht »die Fette«?
Sie schaute auf die Uhr. Schon halb drei. Mühsam kam Lore auf die Füße, hängte sich Omas Mondanhänger um den Hals und sah nach, was ihre Mutter machte. Vielleicht kamen die Kinder ja doch, die eingeladen waren.
Liebevoll deckten sie zu zweit den Tisch. Lores Mutter achtete taktvollerweise darauf, dass nur fünf Gedecke auf dem Tisch standen.
»Ich ziehe mich dann mit einer Zeitschrift in die Küche zurück. Damit ihr Mädels euch ohne Zuhörer auch Sachen erzählen könnt, die nicht für meine Ohren bestimmt sind.«
Sie lächelte und kniff Lore in die Wange. »Ist doch so, oder? Ihr habt doch so langsam eure kleinen Geheimnisse.«
Lore nickte. Die anderen vielleicht, dachte sie betrübt. Sie nicht. Ihr Leben war ein offenes Buch.
Bald schon war es drei Uhr. Der Kuchen stand auf dem Tisch, das Feuerzeug lag daneben, wegen der Kerzen.
»Das ist doch immer das Schönste. Die Geburtstagskerzen ausblasen und sich was wünschen…«
Es wurde Viertel nach drei, es wurde halb vier. Es klingelte jedoch keine Seele. Kopfschüttelnd lief ihre Mutter zum Telefon, rief die Mädchen eines nach dem anderen an.
Zwei erreichte sie gar nicht. Bei Aischa ging ihre Mutter dran, die scheinbar kein Wort Deutsch konnte und einfach nicht verstand, was Lores Mutter von ihr wollte. Da legte diese genervt auf. Die vierte, Kristin, wusste angeblich von nichts, und als Lores Mutter ihr anbot, einfach doch noch zu kommen, lehnte sie ab, weil sie heute schon was anderes vorhätte.
Mit tränenfeuchten Augen schaute ihre Mutter sie an, in den Trümmern ihrer eigenen Planung.
»Es tut mir so leid, Süße«, sagte sie leise und streichelte über Lores Arm. Doch diese sprang auf und rannte in ihr Zimmer, wo sie sich einschloss und sich nun schon zum zweiten Mal am heutigen Tage ihren Tränen überließ. Was war nur mit ihr los, dass alle sie so sehr hassten?
Lores Mutter klopfte leise, beinahe zaghaft an ihre Tür. Es war mittlerweile halb fünf und nun stand es ganz sicher fest, dass niemand mehr kommen würde. Bleischwer fühlte sich Lore. Und unendlich müde und leer.
Noch einmal klopfte es an ihrer Tür.
»Lore, mein Schatz, ich weiß, ich kann dir keine Freundin ersetzen, aber magst du mit mir ins Kino gehen?«
Lore schniefte. Nein, sie wollte jetzt nicht wieder mit ihrer Mama ins Kino. Sie hatte mit den anderen Mädchen ins Kino gewollt.
Den Rest des Nachmittags und des Abends verbrachte Lore in ihrem Zimmer. Sie ignorierte alle Versuche ihrer Mutter, zu ihr durchzudringen. Sie musste jetzt allein sein, konnte selbst ihre eigene Mutter nicht ertragen. Irgendwann versank sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie mitten in der Nacht erwachte, völlig durchgeschwitzt, klebrig im Gesicht und am ganzen Körper - und immer noch angezogen. Ihr Wecker zeigte drei Uhr sieben. Mit bleischweren Gliedern erhob sie sich ächzend und verfluchte, nicht zum ersten Mal, ihre Pfunde. Wenn ich doch nur nicht so fett wäre, dann würden mich die anderen Kinder bestimmt anerkennen. Dann wären sie nett zu mir, so, wie ich es verdiene.
Sie streifte ihre Klamotten ab. Die waren jetzt bestimmt ganz verknittert. Auf einmal fing sie an zu frieren. Die Zähne klapperten ihr, sie zitterte am ganzen Leib. Schnell kroch sie wieder unter ihre warme Bettdecke – so wie tags zuvor über den dreckigen Fußboden im Klo. Brr, war der eklig gewesen. Bei diesem Gedanken zitterte sie trotz der Decke von Neuem. Es wollte einfach nicht aufhören, ihr wurde nicht warm. Da setzte sie sich wieder auf die Bettkante, schlüpfte in die warmen Pantoffeln und ging zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer hinüber, wo diese auf der ausgezogenen Couch unruhig schlief. Lore kroch zu ihr und kuschelte sich an ihre Mutter, die sie im Halbschlaf seufzend umarmte. Erst dann konnte auch Lore wieder in den Schlaf finden.
Am nächsten Morgen, einem Samstag, erwachte Lore davon, dass ihre Mutter sich aus der Decke schälte und aufstand. Mühsam fand sie wieder ins Hier und Jetzt. Der Geruch von Kaffee und der von kochender Milch drang an ihre Nase. Sie befreite sich aus der Decke und schlurfte in die Küche, wo ihre Mutter schon eifrig zugange war.
»Guten Morgen, meine Kleine«, begrüßte sie ihre Tochter und gab ihr einen Kuss.
»Mama, ich muss abnehmen«, verkündete Lore entschlossen.
Ihre Mutter starrte sie an, als hätte sie gerade den Wunsch geäußert, nackt durch die Fußgängerzone zu laufen.
»Du willst wirklich abnehmen?« Ihre Mutter klang skeptisch. »Das hast du doch schon so oft versucht.«
»Ich weiß, Mama«, murmelte Lore und sah beschämt zu Boden. »Aber diesmal meine ich es ernst. Ich will meinen nächsten Geburtstag mit ganz vielen Freundinnen feiern. Ich will nicht mehr so fett sein!«
»Aber Schätzchen, du bist doch nicht fett!«, wiegelte ihre Mutter ab. »Du bist nur etwas mollig. Das wächst sich noch raus, das ist doch alles Babyspeck …«
»Das ist kein Babyspeck, Mama! Und ich bin kein Baby mehr!«
Tränen der Wut schossen ihr in die Augen und sie lief schnell in ihr Zimmer und drehte den Schlüssel um. Mit dem Rücken lehnte sie sich gegen ihre Zimmertür, während sie laut schluchzte.
»Natürlich bist du kein Baby mehr«, hörte sie ihre Mutter ihr nachrufen.
»Bitte, Süße, ich habs doch nicht so gemeint!«, flehte sie jetzt vor Lores Tür. Erst nach einer halben Stunde ließ Lore sich erweichen, ihr Zimmer wieder zu verlassen. Stumm umarmte sie ihre Mutter, während ihr von neuem Tränen über die Wangen rollten.
»Es wird alles gut, meine Kleine«, flüsterte ihre Mutter. »Es wird alles …«
»Nein, Mama!«, rief Lore und löste sich aus der engen Umarmung. »Es wird nicht alles gut! Jedenfalls nicht von alleine. Wie kann ich abnehmen lernen?«
Ihre Mutter betrachtete sie so, als hätte sie sie noch nie gesehen. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor sie antwortete.
»Am besten wird es sein, wir gehen zu deinem Kinderarzt, Dr. Lehmann. Der hat bestimmt eine gute Idee. Das geht aber erst nächste Woche.«
»Machst du bitte einen Termin für mich? Gleich am Montag?«
»Wenn du das wirklich willst.«
»Ja, ich will!«
Das Wochenende schlich dahin wie zäher Kaugummi. Am Samstagnachmittag besuchten sie Lores Oma im Seniorenheim. Sie aßen zusammen Kuchen, aber Lore bestand diesmal auf einen Obstkuchen ohne Sahne. Oma gratulierte Lore auch noch einmal zum Geburtstag, aber sie war doch schon ziemlich vergesslich. Wenn sie nicht von früher erzählte, dann brachte sie vieles durcheinander. Lore bedankte sich für das schöne Geschenk, doch ihre Oma blickte sie verständnislos an. Da holte Lore den Mondanhänger unter ihrem Pullover hervor und zeigte ihn ihrer Oma.
»So einen habe ich auch!«, rief diese lebhaft. »Ich muss nachher mal schauen, wo er ist.«
Mit offenem Mund starrte Lore zu ihrer Großmutter herüber. Lores Hand mitsamt der Kuchengabel blieb in der Mitte zwischen ihrem Teller und ihrem Mund in der Schwebe. Wusste Oma nicht mehr, dass sie Lore den Anhänger geschenkt hatte? Ein kalter Schauder überlief Lore bei diesem Gedanken. Würde ihre Mama und später sie selbst irgendwann auch so werden?
Lore bemühte sich danach um freundliche Konversation, was ihr jetzt aber nicht mehr so recht gelingen wollte. Selbst ihr Lächeln geriet gezwungen, obgleich sie ihre Oma liebte.
Nach zwei Stunden war es für die alte Dame genug – und auch für Lore. Sie verabschiedeten sich von Oma und gingen wieder heim.
Das restliche Wochenende schaute Lore im Internet nach, was alles zum Abnehmen empfohlen wurde. Sie blickte da bald nicht mehr durch, so viele verschiedene Mittel gab es. Und alle versprachen schnellen Erfolg ohne Anstrengung. Dabei hatte sie immer gehört, dass Bewegung und Gemüse der richtige Weg wären. Bäh, sie mochte Gemüse nicht wirklich. Und Bewegung – o mein Gott, das erinnerte sie nur an die furchtbaren Sportstunden. An all die grässlichen Demütigungen, denen sie da regelmäßig ausgesetzt war. Und das sollte sie aus eigenem Antrieb machen? Und sich auslachen lassen, weil sie das alles nicht konnte? So langsam bekam sie Zweifel. Ob sie das schaffen würde? Oder ob sie nicht lieber eine Pille nehmen sollte, um auf diese Weise Gewicht zu verlieren? Das klang viel besser. Es klang machbarer. Sie machte sich eifrig Notizen, damit sie Dr. Lehmann danach fragen konnte. Sollte der ruhig sehen, wie ernst es ihr diesmal war.
So sehr das Wochenende sich bis Sonntagmittag auch hingezogen hatte, so plötzlich war es wieder Montagmorgen. Mit einem sehr mulmigen Gefühl packte Lore ihren Turnbeutel für die letzten beiden Stunden. Sie hasste Sport. Doch da sie sich nun mal vorgenommen hatte, abzunehmen, dachte sie, dass sie sich wohl mit Sport würde abfinden müssen. Wenn das überhaupt half. Bei dem, was sie im Schulsport machen mussten, bezweifelte sie eine positive Wirkung.
Lore verfolgte genau, dass ihre Mutter den Termin mit Dr. Lehmann absprach, bevor Mutter sich auf den Weg zur Arbeit machte. Leider ging es kurzfristig nur am Dienstagvormittag, doch sie wäre an diesem Tag von der Schule befreit. Gut. Der Arzt würde ihr ein Attest mitgeben, sozusagen eine Entschuldigung vom Doktor.
Für heute nahm sich Lore ganz fest vor, die Mädchen zur Rede zu stellen, die an ihrem Geburtstag nicht gekommen waren. Diesmal würde sie das Ganze nicht auf sich beruhen lassen. Mit ganz neuer Energie machte sie sich auf den Weg zur Schule.