Rainer Bauer
Die Reise nach Bayern
Nach dem Tod seiner Frau Lena verliert der Schriftsteller Gregor Erlkönig den Halt. Er zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück. Da erreicht ihn ein Anruf seines älteren Bruders Emil, eines berühmten Forschers. Er bittet ihn um Hilfe, was er noch nie getan hat. Mehr will er am Telefon nicht sagen. Sie verabreden sich für das Wochenende zu einer Wanderung auf Emils Berghütte. Gregor soll darauf achten, dass ihm niemand folgt.
Froh über die Ablenkung macht sich Gregor auf den Weg nach Bayern. Emil empfängt nachts Besuch, Stimmen dringen aus seinem Arbeitszimmer, man sieht aber niemanden hineingehen oder herauskommen. Das erzählt Emils Sohn Daniel. Emil schweigt. Er will erst reden, wenn sie in der Hütte sind.
Kurz vor dem Ziel tritt Gregor auf einen morschen Ast, es klingt wie ein Pistolenschuss. Emil wirbelt herum und schießt. Gregor bleibt unverletzt. Zwischen den Bäumen sieht er eine Gestalt und kurz darauf eine Felsspalte, die in eine Höhle führt. Emil versucht, ihn zur Umkehr zu bewegen. Vergeblich. Er geht hinein.
Für Irmgard
Copyright © 2021 Rainer Bauer
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© Netzer Johannes
Umschlaggestaltung: Rainer Bauer
Published in Germany, Juni 2021
Deutsche Erstausgabe, 2021
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Dieses eBook ist auch als Taschenbuch erhältlich.
Rainer Bauer
Die Reise nach Bayern
Nach wahren Ereignissen
I. Geister
Der Anruf
Plötzlich änderte sich sein ganzes Leben. Die Welt war ihm fünfzig Jahre ein Ärgernis gewesen, ein Witz, doch die Götter hatten keinen Humor. Jetzt war Schluss mit den Göttern, aber nicht mit dem Humor. Er hatte sich geärgert, jetzt wollte er lachen. Das funktionierte nicht immer, aber immer besser.
Oktober zweitausendsiebzehn.
Als der Anruf kam, dachte er: ›Nimm nie das Telefon ab! Ist die Nummer unbekannt, musst du nicht rangehen; ist sie bekannt, musst du auch nicht rangehen. Telefone braucht man nur zum Fotografieren. Um Beweise zu sichern. Dass man da war. Jung war. Gelebt hat.‹
Erst wollte er nicht mit ihm reden. Kurz bevor die Mailbox ansprang, rief er sich zur Ordnung. Vielmehr war es Lena, die zu ihm sagte:
›Das kannst du nicht machen. Sprich mit ihm! Sei froh, dass er an dich denkt. Behandle ihn gut! Er ist der einzige Mensch, den du noch hast auf der Welt.‹
›Außer dir.‹
›Ich bin nicht mehr da.‹
›Doch, das bist du. Das wirst du immer sein.‹
›Warum sagst du das, jetzt, wo ich dort bin, wo du mich immer hinhaben wolltest?‹
›Ich will dich nirgendwo hinhaben. Ich bin froh, dass du da bist. Ich liebe dich.‹
›Jetzt störe ich dich nicht mehr.‹
›Du störst mich nicht. Das habe ich dir oft gesagt, aber du wiederholst es wie eine Gebetsmühle. Warum bist du so gemein?‹
›Ich bin müde.‹
›Nicht zu müde, mich zu ärgern.‹
›Ich kann keine Widerworte mehr geben.‹
›Das kannst du immer. Du hast etwas mitgenommen. Ich hätte es gern zurück.‹
›Was?‹
›Den Schlüssel zu unserem Zimmer.‹
›Ich habe nichts, was du nicht auch hast. Gib dir ein wenig Mühe! Ich kann dir nicht vorsagen, was du tun sollst. Bald wirst du siebzig. Werde erwachsen! Sprich mit ihm!‹
›Dein erster Mann wird siebzig. Ich bin dreiundfünfzig. Du hast dir einen Jüngeren gesucht, schon vergessen?‹
›Geh mir nicht auf den Keks.‹
›So bist du!‹
›Nein, so bin ich nicht! Du treibst mich dazu.‹
»Du bringst mich noch ins Grab«, knurrte Gregor ins Telefon.
»Was?«, rief sein Bruder am anderen Ende. »Ich habe doch gar nichts gesagt.« Gregor stellte sich dumm, als sei er mit lebenswichtigen Angelegenheiten befasst, die keinen Aufschub duldeten.
»Hallo? Hallo? Ist da jemand? Ich kaufe nichts.«
Emil sollte nicht glauben, dass er bereitstand, um ihn anzuhören. Monatelang ließ er nichts von sich hören, war auf Reisen, in ein neues Projekt vertieft oder arbeitete an einem neuen Buch, das bald wieder die Bestsellerlisten stürmte. Er rief an, wenn ihm danach war, rücksichtslos, ungeachtet der Zeitverschiebung. Gregors Telefon klingelte zu den unmöglichsten Zeiten.
Hey, du Faultier, wie geht’s dir? Was machst du?
Bevor Gregor antworten konnte, redete er schon weiter:
Ich bin in Südamerika ...
... oder in Thailand, Burma, Kambodscha, Timbuktu, irgendwo auf der Welt. Dieses Mal schien er noch weiter entfernt, jenseits des Sonnensystems. Bemüht, seiner schlaftrunkenen Stimme Festigkeit zu verleihen, murmelte Gregor:
»Wie spät ist es dort, wo du bist?«
Wie zum Hohn erklang die fröhliche Stimme seines Bruders: »So spät wie bei dir, viertel nach zwei am Nachmittag.«
Was? Gregor bekam einen Schreck. Er sah auf die Uhr. Letzte Nacht war er wieder nicht ins Bett gekommen. Dauernd hatte er sich ermahnt:
›Genug. Es ist spät. Du musst schlafen!‹
Kein Licht im Flur. Keine verschlafene Lena, die ihn ins Bett holte: ›Hast du auf die Uhr gesehen? Es ist halb vier! Kommst du?‹
Nein, er musste noch schnell die Welt retten. Vor den Invasoren, den Außerirdischen, mit bloßen Fäusten, Waffen, Hirn und einer gottverdammten Kettensäge! Einen musste er noch erwischen. Den Supermutanten! Den Oberschweinehund! Der musste weg! Wie konnte er ruhig schlafen, solange der noch seinen Kopf auf dem Hals hatte?
›Den Kopf absägen?‹ Lena rieb sich schlaftrunken die Augen.
›Ja, nur den einen noch. Ich hab ihn gleich. Dann komme ich.‹
›Na gut!‹ Sie war beruhigt, fühlte sich beschützt, wenn er mit der Kettensäge Monster enthauptete.
»Ich bin in Bayern. Und du? Wie geht es dir? Was macht unser Frührentner?«
»Emil, ich freue mich, deine Stimme zu hören. Es ist lange her, aber das war der falsche Einstieg. Fang noch mal von vorne an.«
»Was ist los? Du hörst dich an, als wärst du noch im Bett? Schläfst du? Mitten am Tag?«
War er trotz seiner guten Vorsätze wieder abgestürzt? Seit seinem kleinen Schwächeanfall zu Weihnachten traute ihm sein Bruder nicht mehr über den Weg.
»Nein, ich bin hellwach.«
»Okay, du bist also kein Frührentner. Was dann? Wie nennt man das in deinen Kreisen, was du tust? Was machst du den ganzen Tag? Alles okay?«
»Mach dir keine Sorgen. Alles in Ordnung. Ich hatte einen Traum. Riesige Titten haben mich gejagt. Jetzt weiß ich nicht, ob ich entkommen bin oder ob sie mich erwischt haben. Du bist in Bayern? Wie kommt’s?«
Bayern, dachte Gregor im Halbschlaf. Schweinsbraten und Semmelknödel. Fleischpflanzerl, Herrgottsecken und Glockengeläut. Da zog man nicht hin, nach Bayern. Das war eine Frage der Weltanschauung. Das formte den Charakter. Das war ungesund. Aber Emil war schon immer ein wenig Bayern.
»Sei froh!«
»Warum?«
»Du siehst noch Titten.«
»Titten darf man auch nicht mehr sagen. Das Wort hat ein verdächtiges Nebengeräusch.« So wie Mohrenkopf, Negerkuss, Zigeunerschnitzel und Nikolaus. Als könnte man niedrige Gesinnungen aus der Welt schaffen, indem man sie umbenannte. »Und du so?«
»Ich habe alles, was ich brauche.«
Das glaube ich sofort, dachte Gregor.
»Ich wollte mich mal melden und fragen, wie es dir geht?«
»Nach einem Jahr? Das fällt dir früh ein. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Ich arbeite an einem Buch.«
»Wie immer.«
Gregor schrieb Kriminalromane, Thriller und Liebesgeschichten, die sich über kurz oder lang alle zu Horrorgeschichten entwickelten.
»Ich mache etwas Neues, etwas Zeitloses, ein Buch für die ganze Familie, für die Kinder, die Eltern, die Großeltern, das Baby und den Hund. Alle sollen sich wohlfühlen und ihren Spaß haben. Ich will meine Leserinnen und Leser nicht mit negativen Nachrichten und schlechten Gefühle belasten. Die Welt wird nicht besser, wenn wir leiden. Als Depp hast du bessere Chancen im Leben.«
»Wie kommst du darauf?«
»Forrest Gump?«
»Der Film?«
»Film oder Buch. Große Literatur. Wenn du glücklich werden willst, musst du ein Idiot sein.«
»Ich bezweifle, dass das für alle gilt.«
»Tausendmal gehörte Sätze klingen neu und unverbraucht, wenn ein Depp sie sagt. Was aus unserem Mund wie blühender Unsinn klingt, verwandelt sich in Weisheit, wenn es aus dem Mund eines Deppen kommt.«
»Wie heißt das Buch?«
»Die Katze fährt schwarz.«
»Cool.«
»Nicht zu reißerisch?«
»Ich würde es kaufen. Worum geht’s?«
»Eine arme Katze fährt Weihnachten mit dem Zug zu ihrer Mutter.«
»Du willst sagen, wir sitzen alle im gleichen Zug. Wir sind Katzen ohne Fahrschein.«
»Nein, das will ich nicht sagen.«
»Aber das solltest du. Die einen sehen, wenn sie ein Buch lesen, was geschrieben steht. Die anderen lesen zwischen den Zeilen. Text und Subtext. So ist für jeden etwas dabei.«
»Als wir jung waren, fragten wir uns: Was meint der Autor? Was ist die Bedeutung hinter dem Gesagten? Die Mühe macht sich niemand mehr. Ich bin froh, wenn die Leute verstehen, was auf den Zeilen steht.«
Emil seufzte. »Erzähl weiter!«
»Der Vater ist tot, die Mutter liegt im Sterben. Unsere Katze will Abschied nehmen. Sie setzt sich auf ihren Platz.«
»Sitzt sie in Fahrtrichtung?«
»Ja, warum?«
»Ich sitze auch gern in Fahrtrichtung.«
»Sie sitzt in Fahrtrichtung, weil sie lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit sieht. Die Fahrgäste bestellen Kaffee, Croissants, Cola, Glühwein. Nur für unsere Katze ist nichts Passendes dabei.
›Haben Sie auch Mäuse?‹, fragt sie den Schaffner. Der runzelt die Stirn. Er mag keine vorlauten Tiere in seinem Zug.
›Hast du einen gültigen Fahrschein?‹
›Was?‹
Die Katze weiß nicht, wovon er spricht. Sie ist doch nur eine arme Katze, die von Sozialhilfe lebt.
›Einen gültigen Fahrschein!‹
›Ach, vergessen Sie’s‹, sagt sie, ›behalten Sie Ihre Mäuse! Ich bin satt. Bald ist Weihnachten. Ich wollte nur freundlich sein und ein bisschen Konversation machen.‹
In ihrer Verlegenheit bekommt sie einen roten Kopf.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.«
»Alle Mitreisenden sehen zu ihr hin. ›Tut mir leid. Du musst mitkommen,‹ sagt der Schaffner. ›Ich muss dich einsperren. Beim nächsten Halt übergebe ich dich der Polizei!‹«.
»Und dann?«
»Was und dann?«
»Wie geht es weiter?«
»Ich sehne mich nach Geschichten, die gut ausgehen.«
»Weil das Leben nicht gut endet?«
»Ja.«
»Die Katze ist dein Hoffnungsträger. Und dann?«
»Ich will meine Leserinnen und Leser nicht verwirren. Nicht zu viele Personen einführen. Alles einfach halten.«
»Ab drei Personen wird es unübersichtlich. Es gibt sieben Meere, fünf Kontinente und Menschen in allen Hautfarben. Die Welt ist kompliziert, das ist schwer erträglich.«
»Manchmal weiß ich nicht, ob du mich verstehst oder verarschen willst. Du interessiert dich nicht für meine Bücher.«
»Wer verarscht hier wen? Glaubst du, ich bin doof? Du schreibst keine Katzengeschichten. Katzengeschichten sind unter deinem Niveau. Das hast du erfunden, gerade eben, aus dem Stegreif, stimmt’s?«
»Na und? Ich erfinde dauernd Geschichten. Ich bin eine narrative Persönlichkeit.«
»Ein Narr bist du.«
»Was willst du, Professor?«
»Ich will wissen, wie es weitergeht.«
»Nein, willst du nicht. Die Katze interessiert dich einen Scheißdreck.«
»Doch, sie interessiert mich sogar sehr.«
»Nein.«
»Na, hör mal! Wie heißt sie?«
»Was weiß ich, wie die Scheiß-Katze heißt! Soll ich mir darüber auch noch den Kopf zerbrechen?«
»Nenn sie Mohrle oder Maunzerle, so heißen Katzen für die ganze Familie. Mohrle fährt schwarz. Das wärmt das Herz.«
»Das ist mein Buch! Das geht dich nichts an.«
»Verzeihung! Ich rufe an und das Erste, was dir einfällt, ist, dass ich dich verarschen will? Hallo? Merkst du was? Bist du noch bei Trost? Ich bin dein Bruder.«
»Du hast dich seit einem Jahr nicht gemeldet.«
»Jetzt melde ich mich.«
»Du hättest tot sein können.«
»Ich lebe.«
»Arschloch!«
»Ich war beschäftigt.«
»Ach so, wichtige Projekte. Und jetzt hast du Zeit für mich?«
»Deshalb rufe ich an.«
»Was willst du?«
»Reden.«
»So plötzlich?«
»Ja, stell dir vor.«
»Katzengeschichten sind unter meinem Niveau? Nein, du willst sagen, ich bin unter deinem Niveau. Das lasse ich mir von dir nicht sagen! Du kannst mir mal die Füße waschen.«
»Die Füße küssen.«
»Waschen!«
»Bin ich Jesus?«
Gregor legte auf, verärgert, weil er mitten in der Nacht das Telefon abgenommen hatte. ›Warte nur, Freundchen! Das war das letzte Mal. Wenn du beerdigt wirst ... Mich brauchst du nicht einzuladen! Ich komme nicht!‹
Gregor hatte seinen Job an den Nagel gehängt, nicht ganz freiwillig, wie man sagen muss. Er schob seinen Firmenausweis über den Tisch, sein Notebook, sein Handy, seine Passwörter - seine ganze bürgerliche Existenz der letzten zwanzig Jahre. Ein letztes Mal grüßte er den Pförtner und ging aus der Tür. Nackt. Verwundbar. Nicht mehr der Manager, der Berater, der Vertriebsmann, nur noch Gregor Erlkönig.
Fünf Jahre überwiesen sie ihm sein Gehalt einschließlich Bonus und Erfolgsbeteiligung, ohne dass er etwas dafür tun musste. Auch damals hatte er mit seinem Bruder am Telefon gestritten:
»Wenn sie mir Geld zahlen, damit ich nicht hingehe, warum sollte ich hingehen?«
Keinen Chef, keinen Vorgesetzten hatte er anerkannt. Für ihn waren das alles dahergelaufene Typen von geringem Verstand, die die Fahrstühle verstopften und in Ärsche krochen. (Er wäre auch gern in einen gekrochen, aber es war kein Platz mehr.) Er redete mit ihnen wie mit Dienstboten, Lakaien, angestellten Handlangern, und ließ sie spüren, was er von ihnen hielt.
»Mit deinem Boss kannst du nicht reden wie mit deinesgleichen.«
»Mein Boss ist ein kleiner Boss. Ein kleiner Kläffer! Ein Bonsai-Boss.«
»Du lässt deinen Schwanz raushängen! Das kannst du dir in deiner Gehaltsklasse nicht leisten. Die kleinen Bosse sind schlimmer als die großen; mit den großen kannst du reden, mit den kleinen nicht.«
»Die Kleinen muss man treten.«
»Denkst du, die lassen dich davonkommen? Das ist wie bei der Mafia, da steht einer für den anderen ein. Du bist ein Rindvieh!«
»Gegen diese Idioten ist die Mafia eine ehrenwerte Familie.«
»Für wen hältst du dich? Glaubst du, du bist klüger als die?«
»Ich bin die hellste Kerze auf der Torte. Das sagt alles.«
»Wer Macht ausüben will, muss sich der Macht unterwerfen. Wer befehlen will, muss gehorchen lernen. Dschungelbuch! Elefantenparade! Hefte deine Augen auf den Arsch deines Vordermanns und folge ihm in den Tod. Sing das Lied der Menschen, die dich ernähren! Du bist der erste Hamster auf der Welt, der mit dem Hamsterrad nicht zurechtkommt.«
Wer unter Gregor Chef war, war ihm egal. Chef wollte er nicht werden, ebenso wenig wie Mitglied in einem Verein, der ihn aufnahm. Als Chef musste er sich mit seinesgleichen herumschlagen, und ein Verein, der ihn aufnahm, taugte nichts.
Fünf Minuten später klingelte erneut sein Telefon.
»Was ist?«
»Was machst du den ganzen Tag? Hast du keine Langeweile?« Sag’s nicht, dachte Gregor, sag’s nicht! Doch Emil war erbarmungslos. »Fällt dir nicht die Decke auf den Kopf?«
»Nein, Emil, das kannst du nicht sagen. Das ist deiner nicht würdig.«
»Was?«
»Fällt dir nicht die Decke auf den Kopf, das ist ein blöder Spruch! Sagt jeder. Du bist nicht wie jeder, also rede auch nicht so.«
»Deshalb habe ich nicht angerufen. Wie geht es dir?«
»Ich muss mir keine Sorgen von Leuten anhören, die mir am Arsch vorbeigehen. Man erwartet von mir keine Lösungen für fremde Probleme. Ich muss keine launischen Sekretärinnen und keine humorfreien Chefs ertragen. Man kann mir Fragen stellen, aber ich muss sie nicht beantworten. Zum ersten Mal in meinem Leben mache ich, was ich will und nicht, was andere wollen. Und werde noch dafür bezahlt. Kennst du ein besseres Geschäftsmodell?«
»Ja, in der Tat, es nennt sich Arbeit.«
Gregor hatte alles versucht, um zu den wichtigen Menschen zu gehören. Menschen, die zählen, die gehört und nicht übersehen werden. Menschen mit Einfluss. Er wollte ein Rädchen im Getriebe sein, ein winziger, aber unverzichtbarer Faktor in der Gleichung des Lebens. Wie oft hatte er mit seinem Chef in einem Raum gesessen und bei sich gedacht:
›Sieh mal, wie es redet. Wie es sich anstrengt. Es denkt!‹
Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen und getröstet: ›Nicht traurig sein, Chef! Wir kommen alle aus der gleichen Fabrik. Fabriken machen Fehler. Sicher gibt es etwas, das du besser kannst. Kartoffeln schälen zum Beispiel, den Müll raustragen. Sprich mal mit deiner Frau.‹
Er hatte seine Claims abgesteckt, Rivalen aus dem Weg geräumt, den üblichen Verdächtigen eins auf die Glocke gegeben, Schleimspuren ausgelegt so breit wie eine sechsspurige Autobahn - das ganze Gekasper, das man macht, um sich Respekt zu verschaffen. Eine Erkrankung hatte ihn aus der Gleichung herausgenommen. Zurück blieb die Erkenntnis: Es war nicht aufgefallen. Er hätte tot sein können. Jetzt war er raus aus dem Hamsterrad und sprach mit seinen Zimmerpflanzen, die ihm Freude bereiteten und keinen Verdruss.
»Ich stehe an der Seitenlinie und nicht mehr auf dem Spielfeld. Was ist mit dir? Bist du nicht im Reich des Bösen?«
»Russland! Ist lange her. Jetzt bin ich in Bayern. Da ist es auch schön.«
Mit zwanzig, dreißig träumte Gregor davon, wie er später einmal sein würde, mit fünfzig, sechzig, siebzig. Eine beeindruckende Persönlichkeit! An den Rollstuhl gefesselt wie Professor Charles Xavier von den X-Men, denn um zu triumphieren, braucht man ein schweres Schicksal. Klug und weise. Was es zu wissen gab, würde er wissen, und dieses Wissen würde ihn demütig machen. Vor der Größe der Natur und der Kleinheit des Menschen würde er demütig sein ergrautes Haupt neigen. Auf quietschenden Gummireifen würde man ihn in Fernsehstudios rollen und ihm große Fragen vorlegen. Menschheitsfragen. Die klügsten Köpfe würden am nächsten Tag in den Zeitungen rätseln, was der große Mann gesagt hatte. In ganzseitigen Artikeln würden sie versuchen, die Antworten zu geben, die er schuldig geblieben war.
Kein Kommentar.
Das ist Tagespolitik, da mische ich mich nicht ein.
Die Dummheit soll man nicht unterschätzen.
Darüber denke ich nicht nach.
Wenn Sie so alt sind wie ich, junger Mann ...
Sie müssen mich nicht ernstnehmen.
Das Leben hatte ihm eine andere Rolle zugeteilt. Er wurde nicht für sein Wirken bezahlt, er wurde bezahlt, um nicht zu wirken. Dreißig Jahre hatte er Kröten geschluckt und sich mit dem Versprechen getröstet: Wenn ich erst einmal in Rente bin, mache ich den Mund auf! Jetzt sollte er in der Versenkung verschwinden, wegbleiben, nichts sagen, keine Stellung beziehen zu Menschheitsfragen, kurz: das Maul halten.
»Wenn man fürs Nichtstun bezahlt wird, hat man’s geschafft. Es ist Krieg, aber du gehst nicht hin. Was willst du? Du bist ein Glückspilz.«
»Alles in trockenen Tüchern.«
»Ich beneide dich.«
»Nein, tust du nicht.«
»Aber wenn du wolltest, könntest du etwas machen? Etwas anderes, meine ich?«
»Es könnte mich teuer zu stehen kommen.«
»Ich habe einen Job für dich.«
»Du?«
»Ich brauche deine Hilfe!«
»Weißt du, was sie mir zahlen? Ich war noch nie so wertvoll. Das kannst du dir nicht leisten.«
Emil war alles, was Gregor hätte werden können, wenn er klüger gewesen wäre. Kein Rebell. Kein Kläffer, der die Menschen verbellte, die es gut mit ihm meinten.
»Ich habe etwas mitgebracht aus Russland, das dich interessieren wird. Du sollst darüber schreiben.«
»Ich? Wieso ich? Du schreibst doch selbst.«
»Ich bin Wissenschaftler. Ich brauche einen Mann mit Visionen. Einen Schriftsteller. Ich habe deine Bücher gelesen. Sie gefallen mir gut. Danke, übrigens!«
»Wofür?«
»Dass ich nicht darin vorkomme. Das weiß ich zu schätzen.«
»Das kann man nicht sagen, Emil.«
»Was? Schon wieder nicht? Was ist jetzt wieder falsch?«
»Es gibt Sätze und Floskeln, die man nicht mehr in den Mund nehmen kann. Sie sind ausgelutscht, verbraucht, verbrannt, verfault, verrottet, leer, so hohl wie die Leute, die sie benutzen. Sie stinken zum Himmel. Haltbarkeitsdatum abgelaufen. Das weiß ich zu schätzen, sagt jeder Gartenzwerg. Führungskräfte, Politiker, Vorstände, alle sagen, das weiß ich zu schätzen. Willst du ein Gartenzwerg sein?
Wenn ich niese, sagt meine Putzfrau nicht Gesundheit, sie fragt: Na, wieder nackig geschlafen? Sie findet das witzig. Das kriege ich nicht aus ihr heraus. Ich traue mich nicht zu niesen, wenn sie da ist. Willst du meine Putzfrau sein?
Das gleiche gilt für Sachen wie: Das volle Programm. Die Kuh vom Eis holen. Ein totes Pferd reiten. Wir sind gut aufgestellt. Am Ende des Tages. Alles im grünen Bereich. Wir nehmen Geld in die Hand. Ich denke darüber nach! Geschwurbel! Bockmist! So reden kleine Männer, die sich größer machen wollen. Ich kenne diese Männer. Ich will nicht, dass mein Bruder so redet.«
»Du sammelst also Sätze, die man nicht sagen darf? Willst du ein Buch daraus machen? Meinst du, das liest jemand?«
»Verarsch mich nicht!«
»Willst du darüber reden?«
»Spiel nicht den Therapeuten! Das kann ich nicht leiden.«
»Du kannst mir mal die Füße küssen, kann man auch nicht sagen. Was kann man denn überhaupt noch sagen, deiner Meinung nach?«
»Es wurde noch nie so viel dummes Zeug geredet und so wenig gehandelt.«
»Kann man davon leben?«
»Das muss ich nicht. Meine Bücher erwirtschaften ein Vermögen.«
»Wie viel?«
»Fünfzig Euro letzten Monat. Vierundzwanzig achtzig.«
Gregor ärgerte sich über seine lausigen Verkaufszahlen.
»Wie alt bist du? Achtzehn oder fünfundsechzig?«
»Dreiundfünfzig.«
»Zu jung, um sich zur Ruhe zu setzen. Mach dich selbstständig. Werde Berater.«
In der Tat hatte er mit dem Gedanken gespielt. Lange genug hatte er sein Leben verplant. Zeit war sein wertvollster Besitz, er wollte sie nicht teilen, er wollte sie für sich. Die Tage sollten ihm gehören, selbst wenn er am Schreibtisch saß, in die Luft guckte und sich fragte:
Warum gibt es mich?
Warum bin ich hier?
Schopenhauer sagt: ›Das Leben ist eine missliche Sache. Ich habe mir vorgenommen, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.‹ Schopenhauer war immer für eine Anekdote gut. So musste man es machen, wenn man zeigen wollte, dass man die Dinge im Griff hatte, obwohl sie einem über den Kopf wuchsen: Nimm dir ein Zitat und distanziere dich von ihm! Das war eine große Kunst. Er beherrschte sie gut.
Seine Freunde sahen ihn an wie einen Hund, der sich ein Loch buddelt, um sich hineinzulegen und der Welt Adieu zu sagen. ›Macht euch keine Sorgen, Leute. Ich habe kein Problem. Wirklich nicht. Zwischen dem organisierten Verbrechen und erfolgreichen Unternehmen besteht kein Unterschied. Ich habe keine Lust mehr. Nein, ich verheimliche nichts. Ich bin nicht krank. Verrückt? Ja, aber harmlos.‹
Ein harmloser Irrer.
»Du musst nicht weiterreden, Emil. Ich weiß, was du sagen willst. Ich kenne die Argumente. Deshalb rufst du nicht an, oder?«
Emil lachte. »Nein. Deshalb rufe ich nicht an. Ich habe etwas für dich, es wird dich berühmt machen.«
»Ein berühmter Mann in der Familie ist genug.«
»Die Geschichte wurde noch nie erzählt.«
»Beginnt sie mit einer Leiche?«
»Nein.«
»Das ist schlecht.«
»Ironie tut dir nicht gut, Gregor. Du schadest dir. Sie haben dir übel mitgespielt. Jetzt sitzt du in der Ecke und schmollst. Du denkst, es kommt nicht auf dich an. Du hast abgeschlossen mit der Welt. Du irrst dich.«
»Geht’s ne Nummer kleiner?«
»Erzählen, was noch nie erzählt wurde, das gibt es nicht. Wir erzählen uns seit Jahrtausenden die gleichen Geschichten mit den immer gleichen Themen: Kindheit und Jugend, Freund und Feind, Arm und Reich, Krieg und Frieden, Liebe und Glück, Alter und Tod. Dazu wurde alles gesagt. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Nicht einmal deinen Geburtstag feierst du allein: Zehn Millionen andere feiern mit. Nicht einmal sterben kannst du allein: Millionen andere sterben mit. Die Welt kennt keine ersten Male. Wenn wir anfangen, hat alles schon begonnen. Wir kommen immer zu spät.«
Gregor las Bücher über Lebenskunst. Er ließ sich erklären, wie man denkt, fühlt, isst, schläft, kackt und pisst. Wie man älter wird, sich fit hält und sich selbst ein Freund wird. Wie man richtig stirbt: Die fünf Geheimnisse guten Sterbens. Lesend nahm er das Leben vorweg, bevor er es lebte, und wenn es nicht lief, wie er es sich vorgestellt hatte, war es das falsche Buch – es gab kein richtiges Leben im falschen Buch.
Bis an die Zähne bewaffnet mit Literatur, lernte er, dass einfache Dinge einfach sind, solange man nicht so genau hinsieht. Besser war es, von einfachen Dingen Abstand zu nehmen (von komplizierten sowieso). Am besten von allen Dingen. Am besten wurde man ein Buddha.
Emil widersprach heftig: »Dazu ist längst nicht alles gesagt. Wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir gehen.«
»Ich weiß, wohin ich gehe. Besser, ich wüsste es nicht. Die großen Fragen interessieren mich nicht, wichtiger sind die kleinen Fragen: Was gibt’s zu essen? Wer kocht? Wie wird das Wetter? Gibt es ein Mittel gegen Übelkeit? Wie überstehe ich den Tag?«
»Das ist kein Unsinn, Gregor! Unser Wissen über den Menschen ist äußerst lückenhaft. Die Wissenschaft bemüht sich, Licht ins Dunkel zu bringen.«
»Bald gibt es Computer, die sämtliche Schriftstücke kennen, die Menschen verfasst haben. Dann musst du nur noch sagen, was du willst: Eine Liebesgeschichte mit fünfhundert Seiten, einen Krimi mit dreihundert oder ein psychiatrisches Gutachten. Der Computer erfüllt dir jeden Wunsch. Es wird noch nicht einmal etwas kosten. Du musst dich nur anmelden und deine persönlichen Daten hinterlegen.«
»Computer sind nicht kreativ. Sie können den Künstler nicht ersetzen.«
»Leser brauchen keine Künstler. Sie wollen lesen, was sie schon zig tausendmal gelesen haben. Künstler sind viel zu anstrengend.«
Insgeheim sah sich Gregor durchaus als Künstler. Ein Künstler sah in einem Stein keinen Stein, er sah eine Göttin. Nur der Künstler konnte sie aus ihrem Gefängnis befreien, indem er alles überflüssige Gestein entfernte. Er fragte sich nicht, wie die Frau in den Stein gekommen war und ob es nicht gute Gründe gab, sie drinzulassen. Er fragte sich nicht, wer sich solche Theorien ausdachte. Nein, Gregor war schon immer bereit, Frauen zu sehen, wo keine waren.
Ein Bildhauer sah die Schönheit im Stein, ein Schriftsteller sah sie in der Sprache. Künstler sahen und hörten das Verborgene im Rauschen der Welt. In Gregors Werkstatt stapelten sich Manuskripte, die er sich immer wieder vornahm. Er korrigierte, kürzte, strich, schrieb um, stellte das Ende an den Anfang und den Anfang ans Ende. Schöner wurde es nicht. Er fand keine Göttin. War er nicht begnadet genug? Wollten die Frauen nicht von ihm befreit werden? Fehlte ihm der Blick für Menschen, der Abstand, den man braucht, um sein Material zu gestalten?
Sollte er es mit Tieren versuchen?
»Vielleicht gibt es bald eine neue Art von Roman«, sagte Emil, »eine, die wir riechen, schmecken, hören und fühlen können. Wo wir alles hautnah miterleben.«
»Dann empfehle ich dir, keine Krimis und Bücher über den Krieg zu lesen. Nein, die Romane der Zukunft sind Emojis. Bilder. Piktogramme. Katerprosa und Katzenpoesie. Vor zwanzigtausend Jahren trafen sich Menschen in einer Höhle und bemalten die Wände. Jetzt tippen sie sprechende Kackhaufen in ihr Handy. Der Weg, den wir zurückgelegt haben, ist kürzer als man denkt.«
»Du hast schon alles gesehen? Alles ist untersucht und erforscht? Alle Geschichten sind erzählt? Falsch! Du hörst dich an wie ein alter Mann. Das Leben steckt voller Überraschungen. Es gibt immer wieder etwas Neues. In der Arktis fand man Löcher im Eis, kreisrund, zwei Meter im Durchmesser. Woher kommen sie? Wer hat sie gemacht?
Vor einem Jahr wurde ein Baby geboren, das nach vier Wochen sprechen und nach acht Wochen schreiben und rechnen konnte. Nach drei Monaten machte es Abitur und nahm ein Studium auf. Nach neun Monaten löste es die Riemannsche Vermutung, eines der größten Rätsel der Mathematik, und erhielt dafür ein Preisgeld in Höhe von einer Million US-Dollar. Nach weiteren neun Monaten schrieb es seine Autobiografie: Mein Leben. Jetzt, keine zwei Jahre alt, studiert es Physik mit dem Ziel, die Welt auf eine Formel zu bringen, die jeder versteht.«
»Das Leben wird immer schneller.«
»Dieses Kind hat kein Gehirn.«
»Es ist hirnlos?«
»Ja, bis auf ein paar Grundfunktionen im Hirnstamm.«
»Ich habe schon lange vermutet, dass mit unseren Hirnen etwas nicht stimmt.«
»Sie sagen, es liegt an der Milch. Was ich sagen will: Die Welt ist nicht auserzählt. Langsam verstehe ich, warum du keinen Erfolg hast. Liest du noch Zeitung oder passt das nicht zu deiner präsenilen Weltflucht?«
Gregor sah tagelang nicht fern, er hörte kein Radio und ging nicht ins Internet. Die Welt schlug eine Richtung ein, die ihm nicht gefiel. Ein amerikanischer Präsident trat alles mit Füssen, was er für richtig hielt. In Deutschland saßen Nazis im Parlament. Großbritannien kehrte Europa den Rücken. Alte Gräben rissen auf, Zäune wurden hochgezogen, Grenzen verschoben. Abschottung und nationale Egoismen waren auf dem Vormarsch, die Vernunft auf dem Rückzug. Das war nicht die Zukunft, die er sich ausgemalt hatte. Das war die Zeit seiner Eltern, die in den Zweiten Weltkrieg führte.
Sah er Nachrichten, wusste er nicht, was er glauben konnte. Fotos, Filmen und Bildern misstraute er. Wenn alles manipuliert werden konnte, wurde es manipuliert. Er konnte nicht sagen, was richtig und falsch war - wie sollte er urteilen ohne Information? Moralische Instanzen hatten ihren Kredit verspielt. Priester, Präsidenten, Politiker, Vorstände erfüllten ihn mit Abscheu.
»Ich lese alles über das Universum, weil es weit weg ist. Wenn sie mich im Geschäft ein Arschloch nannten, hatte ich wenigstens eine Identität. Man ist wer, wenn man ein Arschloch ist. Jetzt sagt mir die Wissenschaft, dass selbst Arschlöcher kein Unikat sind. Sie haben Doppelgänger.«
»Du denkst zu viel, weil dir eine Aufgabe fehlt. Dir kann geholfen werden.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Die Sache ist zu wichtig, um sie am Telefon zu besprechen.«
»Wenn ich meinen Arsch bewegen soll, musst du mir schon sagen, worum es geht.«
Moment!
Gregor kam ein Gedanke. Russland! Emil war in Russland. Schlagzeilen fielen ihm ein, die von einem sensationellen Fund im russischen Eismeer berichteten:
Flaschenpost macht uns zu Zeugen einer untergegangenen Zivilisation.
Hatten wir Besuch aus dem All?
Muss die Geschichte neu geschrieben werden?
Zwölf Jahre war es her. Zweitausendfünf. Im ewigen Eis wurde eine Handschrift gefunden, die niemand lesen konnte. Die Presse berichtete, sie sei entschlüsselt worden. Emil war Experte für alte Sprachen, ein Sachverständiger für antike Schriften. Der Experte schlechthin!
Das Buch aus dem Eis.
Natürlich, das musste es sein. Der Inhalt war nicht bekannt. Umso mehr wurde spekuliert. Um das ewige Leben sollte es gehen. Ein Elixier der Unsterblichkeit. Ein Jungbrunnen. Eine Zeitmaschine. Eine Abkürzung zwischen den Dimensionen. Einen Raketenantrieb, schneller als das Licht. Die Lösung aller Energieprobleme.
Ein Bild war ihm im Gedächtnis geblieben. Ein Mann saß auf der Toilette und beobachtete das Leben in Welten unterhalb von sich, während Welten oberhalb von ihm den Mann auf der Toilette beobachteten. Verschiedene Ebenen der Wirklichkeit. Hörte sich reichlich verworren an, sollte aber alles irgendwie in dem Buch enthalten sein.
»Das Buch aus dem Eis, meinst du das? Ich habe davon gehört und es genauso schnell wieder vergessen. Ich hielt es für einen Scherz.«
Vielleicht war etwas dran an der Sache. Doch was die Medien daraus machten, war krank. Die übliche Hysterie! Der übliche Hype! Wie sollte er aus dem Sensationsgeschrei das Körnchen Wahrheit herausfiltern, falls es eines gab?
»Ein Scherz? Daran habe ich nicht gedacht. Nach allem, was wir wissen, gab es zu dieser Zeit kein intelligentes Leben auf der Erde, das solche Scherze machen konnte. Dazu braucht man Verstand.«
»Verstehe.«
»Tatsächlich? Dann weißt du mehr als ich. Das Buch aus dem Eis! Ja, das meine ich. Die Presse nannte es so, ich nicht. Ich nenne es Artefakt 19 oder, wenn ich mich an den Text halte: Die Protokolle des Halbwaisen Ulrik vom Knödel. Die Knödelschriften.«
»Semmel- oder Kartoffelknödel?«
»Denkst du auch an etwas anderes als ans Fressen? Wie viel Tonnen wiegst du inzwischen?«
»Drei! Hab eine abgenommen. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Weißt du am besten.«
»Bei dir muss es heißen: Nach dem Fressen ist vor dem Fressen! Daher kommst du zu nichts.«
»Okay, Emil, ich will nicht streiten. Wie ist die Faktenlage?«
»Die Fakten sind ein Buch für sich, das kannst du auch schreiben, aber später, wenn wir fertig sind. Du hast Fantasie. Stell dir vor: Eine Million Jahre vor unserer Zeit schreibt jemand einen Brief. Warum?«
»Woher weiß du, dass es ein Er und keine Sie war?«
»Er, sie, es - irgendwer schreibt einen Brief. An wen? Was will er erreichen? Offenbar ist der Inhalt wichtig genug, um festgehalten zu werden. So weit klar? Kannst du mir folgen? Bist du auf Sendung.«
»Ja, ich folge dir.«
»Eine Million Jahre. Wie sah es auf der Erde aus? Wie müssen wir uns diese Zeit vorstellen? Der Mensch und seine Vorläufer, Neandertaler und Konsorten, sind weit weg. Zukunftsmusik. In Südafrika hocken ein paar haarige Hippies in einer Höhle und machen Feuer. Die eigentliche Sensation jedoch ist die Tatsache, dass dieses Buch gar nicht existieren dürfte. Die Schrift war noch nicht erfunden. Also frage ich mich ...«
»Wer ist der Halbwaise Ulrik vom Knödel?«
»Wer hat diesen Brief geschrieben? Nach langer Zeit wird er zugestellt. Das auftauende Eis macht’s möglich. Alle wollen wissen, was drinsteht. Doch den Inhalt kennt nur eine Person.«
»Die, die ihn entschlüsselt hat. Du.«
»Ich bin der Einzige, der den Inhalt kennt, aber nicht der Einzige, der daran arbeitet. Teile des Werks sind in falsche Hände gefallen. Doch die Bedeutung hat noch niemand erfasst. Du bist der Zweite, wenn du meine Einladung annimmst. Was hältst du davon?«
»Kommt drauf an, was drinsteht.«
»Gregor! Scheißegal, was drinsteht. Allein dass dieses ... dieses ...« Er suchte nach einem passenden Wort. »... dieses Ding existiert ist eine Sensation. Vergiss, was du gelesen hast. Das ist Spekulation.«
»Lügenpresse.«
»Nicht alles ist falsch. Aber sie stützen sich nicht auf Fakten, weil sie die Fakten nicht kennen.«
»Okay, wenn du es sagst. Du musst es wissen. Wie bist du da rangekommen?«
»Durch den Yeti.«
Der Yeti. Der Schneemensch des Himalaja. Eine Legende? Ein Fabelwesen? Nein, Reinhold Messner hat ihn gesehen - nicht Auge in Auge, doch seinen riesenhaften Schatten im Schnee, bevor er schnaufend in einer Höhle, einer Felsspalte oder hinter einem Berg verschwand.
Emil machte sich einen Namen im Skandal um die Yeti-Papers, dem größten Medienskandal seit den Hitler-Tagebüchern. Eine deutsche Illustrierte schickte ihren klügsten Kopf, sie hätten den dümmsten nehmen sollen, einen Fotografen und ein Kamerateam in den Himalaja, um eine Reportage über die jüngst entdeckte Yeti-Höhle zu machen. Mit Hochglanzfotos und einer eigens eingerichteten Website mit 360 Grad Panoramablick:
Hier wohnt der Yeti! Treten Sie ein!
Falls Sie noch nicht drin waren, gehen Sie hinein! Sehen Sie sich um! Betrachten Sie die Felsmalereien. Die Gemälde an den Wänden! Alles Nazi-Raubkunst. Gesucht von Museen auf der ganzen Welt. Millionen wert. Kein Mensch weiß, wie der Yeti sie ins Hochgebirge geschleppt hat. Auf welchen verschlungenen Pfaden. Ob er der Eigentümer ist oder sie gegen Entgelt verwahrt. Der Hausherr ist getürmt. Ein verwackeltes Foto zeigt ihn von hinten, wie er mit einer Hand seine Baseballmütze festhält - die rote mit dem aparten Schottenmuster - und einen schneebedeckten Hang hinabschliddert.
Die Tagebücher stellten sich schnell als Fälschung heraus. Emils Name wurde nicht genannt, aber er war es, der den entscheidenden Hinweis gab: dreiste Fälschungen! Warum war es nicht aufgefallen, obwohl es im Nachhinein offensichtlich war? Die Geschichte war zu schön. Sie füllte Titelseiten und Geldbeutel. Man wollte sie glauben.
Sie erinnern sich nicht?
Kein Wunder! Die Mainstreet-Medien führen uns hinters Licht. Trau keiner Nachricht, die du nicht selbst gefälscht hast! Durchaus möglich, dass wir in einem Reagenzglas leben, geschüttelt, nicht gerührt, und den Beginn einer neuen Versuchsreihe miterleben: Sie erhitzen uns mit einem Bunsenbrenner und sehen, was passiert! Wir leben in einer Computersimulation, auf einem von, sagen wir, fünf Versuchsplaneten, fünf verschiedenen Erden: Die eine kriegt Klimawandel, die nächste Trash-TV, die dritte Politik, die vierte die Krätze und die letzte alles auf einmal: Das sind wir. Über die Sichtblende beugt sich das Forscherauge. Aufgescheucht rennen wir herum. Sie messen uns den Blutdruck, den Hirndruck und den Puls und fragen sich bang:
Wie kommen die aus der Scheiße wieder heraus?
»Den Russen gefiel die Yeti-Geschichte, sie erschütterte die Glaubwürdigkeit der westlichen Presse. Wenn die Russen nicht werden können wie wir, sollen wir werden wie die Russen. Seitdem fehlt nie ein Hinweis auf die Yeti-Papers, frei nach dem Motto: Seht, wie dumm die westlichen Medien sind! Sie fallen auf jede Lüge herein. Schenkt ihnen keinen Glauben!
Als einziger Nicht-Russe erhielt ich eine Einladung, im Team mitzuarbeiten. Ich konnte mich nicht wehren. Sie wollten mich unbedingt dabeihaben.«
»Eine einmalige Gelegenheit.«
»Das sprichwörtliche Angebot, das du nicht ablehnen kannst. So eine Chance kriegst du nur einmal im Leben. Ich sagte sofort zu. Nun weißt du, worum es geht. Reicht das, um dein Interesse zu wecken?«
»Muss ich mich sofort entscheiden?«
»Ich mache für diesen Job keine Ausschreibung. Ich brauche jemand, auf den ich mich absolut verlassen kann. Blut ist dicker als Wasser.«
Gregor hörte die Dringlichkeit in der Stimme seines Bruders, aber es schwang noch etwas anderes mit: Angst. Emil war ein angesehener Mann; wenn er nicht um seinen Ruf fürchtete, warum Gregor? Schlimmer als das Zeug, das er schrieb, konnte diese Geschichte auch nicht sein.
»Hört sich an, als könnte ich nicht Nein sagen.«
»Neinsagen ist keine Option.«
»Warum machst du es nicht selbst?«
»Ich brauche deine Fantasie und dein Talent. Das wird die größte Aufgabe deines Lebens, das Beste, was du gemacht hast, glaub mir.«
»Größer als der T-Rex?«
Saurier und Zeit, die Autobiografie des letzten T-Rex war Emils größtes Projekt. Weltweit erfolgreich machte es ihn zu einem reichen Mann.
»Der T-Rex?« Emil lachte. »Das ist lange her, das war vor der Jahrtausendwende. Da gab es kein Internet und keine sozialen Medien. Ein Mann wurde bewundert, wenn er etwas auf dem Kasten hatte. Heute muss man sich seiner Bildung schämen. Wissen und Denken sind nicht mehr in Mode. Nein, nicht zu vergleichen. Viel größer. Ein großer Schritt für die Menschheit.«
»Und ein kleiner Schritt für dich.«
»Durchaus nicht.« Emil wurde ernst. »Allein schaffe ich es nicht, aber zu zweit können wir es stemmen. Du musst mir helfen!«
»Okay. Wann?«
»Am Wochenende?«
»So kurzfristig?«
»Freitagabend bis Sonntagnachmittag. Ich rede, du hörst zu. Ablehnen kannst du immer noch. Pack dir ein paar warme Sachen ein! Festes Schuhwerk, warme Unterwäsche, eine dicke Jacke. Wir laufen zur Hütte.«
Gregor, der seiner eigenen Hose nicht vertraute und zum Gürtel noch Hosenträger trug, war sich nicht sicher, was er machen sollte. Er holte sich eine zweite Meinung ein.
Was meinst du, fragte er sich.
Warum nicht? Was hast du zu verlieren?
Ich habe zu tun.
Es könnte natürlich sein, dass er dir auf den Sack geht.
Emil geht mir ständig auf den Sack!
Du musst dich mit Menschen umgeben, die dir guttun.
Emil war wie ein Phantomschmerz. Ein amputiertes Bein. Es tat gut, es ab und an zu spüren und zu denken, es wäre noch da. Er überlegte hin und her, und am Ende sagte er sich:
Gut, Erlkönig. Aber ich warne dich: Ein falsches Wort und ich setze mich sofort ins Auto!
Hätte er geahnt, was ihn erwartete, hätte er die Zugbrücke hochgezogen und wäre unbekannt verreist.
Frauen, die sich nach ihm umsahen
Gregor freute sich auf die Reise. Einen Wecker hatte er sich schon lange nicht mehr gestellt. Wie hatte er das gehändelt, als er noch Manager war?
Gehändelt.
Wo viel gehändelt wurde, wurde gar nichts gehändelt. Da wurde nur geschwätzt.
Alle Händler und Unterhändler raustreten! An die Wand stellen - erschießen!
Sich Gregors Zorn zuzuziehen war leicht. Ein falsches Wort genügte. An seine Zeit im Geschäft erinnerte er sich wie an einen Film, in dem er mitgespielt hatte, nicht als er selbst, als Seriendarsteller, der den Schurken spielte.
Als Erstes kochte er sich einen Kaffee. Ohne Kaffee kam er nicht in die Gänge. Das Frühstück ließ er ausfallen, das wollte er unterwegs nachholen.
Er bewohnte eine Altbauwohnung im fünften Stock. Mit dem Aufzug fuhr er in die Tiefgarage. Sein Auto war das einzige, das in seiner Box stand, alle anderen waren leer. Ihre Besitzer gingen früh zur Arbeit und kamen spät zurück. Obwohl mitten in der Stadt, einen Steinwurf von allen Sensationen, war das Haus sehr still. Keine beklemmende, eine angenehme Stille.
Er brauchte kein Auto. Theater, Park, Innenstadt, Cafés, Restaurants, Supermärkte und Ärzte waren Gehminuten entfernt oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln schnell zu erreichen. Sein alter Mercedes war die letzte Nabelschnur, die ihn mit seinem früheren Leben verband. Viel Zeit hatten sie miteinander verbracht. Auf Autobahnen, Parkplätzen, in Raststätten, Hotels, Frühstückspensionen und unzähligen Staus. Gejagt von Terminen. Tausendmal auf die Uhr geblickt, tausendmal zu spät gekommen. Die Tinte unter einem Vertrag war noch nicht trocken, da war er schon unterwegs zum nächsten. Telefonkonferenzen mit Berlin, USA, Russland ...
»Wie geht’s, alter Freund?«
Der Mercedes sah so alt aus, wie er sich fühlte, wie er kam er kaum noch die Steigung hoch. Längere Fahrten waren sie beide nicht gewohnt.
Der Motor erstarb mit einem Winseln.
Vorsichtig, um nicht die Wand zu schrammen, ließ er den Wagen rückwärts und nahm einen neuen Anlauf. Der Motor machte ein paar Umdrehungen, die Scheinwerfer flackerten, wurden trüb und gingen aus.
Batterie leer!
Mit Hilfe eines akkubetriebenen Ladegeräts erzeugte er einen Zündfunken, der Motor sprang an, nun musste er gleich losfahren. Erneuter Anlauf, dann waren sie draußen, zweimal rechtsrum, Richtung Autobahn. Plötzlich lachte er laut heraus, als er sich an etwas erinnerte, an das er lange nicht gedacht hatte. Warum jetzt? Keine Ahnung. Gregor glaubte, der Welt mit Erklärungen beizukommen. Was man erklären konnte, konnte man ändern. Doch nicht alles konnte man erklären. Vieles begriff er nicht und viele Entscheidungen erwiesen sich im Nachhinein als falsch, obwohl er sie gründlich durchdacht hatte. Kaum hatte er einen Entschluss gefasst, funkte das Leben dazwischen.
Ein weitläufiger Platz in Lyon, Südfrankreich. Sie saßen in einem Straßencafé, er und Inès, seine französische Freundin, die ein kurzes himmelblaues Kleid und hohe schwarze Stöckelschuhe trug, dazu viel weiße Haut und ein freches Gesicht. Sie waren jung, unantastbar, unsterblich. Die Sonne schien. Der Himmel war blau. Postkartenwetter.
Von links betrat eine gebückte Gestalt den Platz.
Ein alter Mann.
Ein Penner?
So sah er aus, aber was heißt das schon? Gregor sah auch aus wie ein Penner, wenn er sich drei Tage nicht rasierte. Schwer zu sagen, ob einer alt aussah, oder ein Penner war oder beides. Er konnte auch Thomas Middelhoff sein, gestern Vorstand, heute mittellos. Der mittellose Middelhoff. Vor all den Leuten, die am Samstagmorgen dort in der Sonne saßen, ihr Frühstück genossen und ihren Kaffee tranken, satt und selbstzufrieden in die Sonne blinzelten, blieb der Mann stehen, breitete seine Arme aus und rief laut über den Platz:
Salut, les bourgeois!
Einen Moment sahen sie sich verblüfft an. Dann sagte Inès:
»Kannst du dir das in Deutschland vorstellen? So etwas erlebst du nur in Frankreich.«
»Salut, les bourgeois? Was heißt das?«
»Guten Morgen, ihr Spießer!«
Nachdem er seine Botschaft losgeworden war, setzte der Mann seinen Weg fort, gebückt und unscheinbar.
»Ein arbeitsloser Professor der Philosophie. Ein König ohne Reich. Armer Kerl!«
Daran dachte er. Daran und an das himmelblaue Kleid, die schwarzen Schuhe, Inès schöne Beine und manches andere, das sie geteilt hatten.
Wo war sie?
Ging es ihr gut?
Gregor wünschte es ihr von Herzen. Sie hatte es verdient; leider bekommen wir nicht immer, was wir verdienen. Die Erinnerung war schön, aber schmerzlich. Er schob sie weg.
Emil wohnte in einem winzigen bayrischen Dorf unweit der österreichischen Grenze. Walden ob der Otter. Dorthin fuhr man, wenn man in schöner Natur Langlauf machen wollte, doch dafür war es Ende Oktober zu früh. Dieses Wochenende wurden die Uhren auf Winterzeit umgestellt. Der schöne, aber kurze Spätherbst war vorbei. Es war diesig. Nebelschwaden hingen in den Straßenschluchten. Seit Tagen wurde es nicht hell. Die Autos fuhren mit Licht.
Er wollte nicht über Frankfurt, Stuttgart und München fahren. Er wollte fahren, wo wenig Verkehr war. Deshalb brauchte er für die neunhundert Kilometer mehr als zwölf Stunden, aber das machte nichts, er hatte Zeit. Gregor stellte das Radio an. Beim ersten Sender Werbung, beim zweiten Werbung, beim dritten Werbung. Dann fragte eine Stimme:
»Welcher Politiker der letzten fünfzig Jahre hat Sie am meisten beeindruckt?«
»Kater Falk,« antwortete Gregor wie aus der Pistole geschossen.
»Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?«
»Kater Falk.«
Sein zwanzig Jahre alter Mercedes Diesel schnurrte zuverlässig vor sich hin. Die ersten dreihundert Kilometer kam er zügig voran. Das Wetter verschlechterte sich, es begann zu schneien. Der erste Schnee. Dichte Flocken nahmen ihm die Sicht. Die Scheibenwischer schrappten über die Scheibe und hinterließen Schlieren.
Gregor beschloss, eine Pause einzulegen.
Er wechselte auf die rechte Spur und kroch auf den nächsten Rasthof zu, wobei er ständig in den Rückspiegel sah. War der Wagen hinter ihm vor zwei Stunden auch schon da? Zwei große rechteckige Scheinwerfer. Ein BMW Geländewagen. Ein Auto wie ein Panzer. LED-Licht. Ein großer schwarzer Wagen, der konstant hinter ihm blieb.
Warum überholte er nicht?
Wie lange folgte er ihm schon?
Wie konnte er ihn loswerden?
Er versuchte zu erkennen, wer hinter dem Steuer saß. Zwei Personen. Das Geschlecht konnte er nicht ausmachen. Wenn ihn ein Wagen überholte, prüfte er die Marke, überzeugt, dass, wer immer hinter ihm her war, eher BMW oder Mercedes als Fiat oder Hyundai fuhr, eher einen spritsaufenden SUV oder eine Limousine als einen Kleinwagen. Das Böse reist gern bequem. Er versuchte, sich die Kennzeichen und die Gesichter zu merken, wenn sie kopfschüttelnd oder den Vogel zeigend an ihm vorbeizogen.
Emil hatte ihn nervös gemacht mit seiner Bemerkung, er solle auf Verfolger achten. So ängstlich hatte er ihn noch nie erlebt. Wochenlang saß er in Höhlen tief unter der Erde, ohne Licht und Geräusche, um das Geheimnis unserer inneren Uhr zu ergründen. Er erkundete versunkene Städte in Mexiko und Grabkammern in Ägypten, ritt auf Eseln durch den Dschungel, trotzte großen und kleinen Tieren, Hitze und Kälte. Nun saß er in seinem bayrischen Herrgottswinkel und hatte Angst.
Niemand verfolgt dich, Emil! Keine Sau interessiert sich für dich! Das bildest du dir ein. Das ist das Wunschdenken eines einsamen alten Mannes.
Gregor war zufrieden, wenn sich niemand für ihn interessierte. Wenn er sich nicht ärgern musste (er fand trotzdem Gründe, sich zu ärgern). Wenn ihn kein verrückter Führer zu den Waffen rief und niemand ihn töten wollte. Er stieg aus dem Wagen und strebte auf die Raststätte zu.
Ein Hund folgte ihm.
»Wer bist du, Fremder? Wo kommst du her? Bist du ein illegaler Flüchtling? Das Volk? Ein Sorgenhund? Willst du dir deine Wurst zurückholen? Was guckst du so finster? Ich habe sie nicht. Zu wem gehörst du?«
Viele Worte für einen fremden Hund.
Gregor schnupperte. »Verfaulter Fisch! Musst dich mal wieder waschen.«
Im Führerhaus eines parkenden LKWs saß ein Mann bei geöffneter Tür und schlief. Der Hund trug keine Marke. Ein herrenloser Hund? Das brachte etwas zum Klingeln.
»Sei gegrüßt, Hund!«
Seien Sie gegrüßt, Herr Doktor Weinert!