
Aus dem Amerikanischen von Aimée de Bruyn Ouboter

Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Ten Thousand Doors of January
erschien 2019 im Verlag Redhook Books/Orbit.
Copyright © 2019 by Alix E. Harrow
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt mit Genehmigung des Verlages Orbit, New York.
Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Melanie Wylutzki
Titelbild: Stefanie Stefanie Saw – www.seventhstarart.com
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-937-4
www.Festa-Verlag.de

Für Nick,
meinen Gefährten und Kompass
1
Die blaue TÜR
Als ich sieben Jahre alt war, fand ich eine Tür. Aber damit du weißt, dass ich nicht von einer ganz und gar gewöhnlichen Tür spreche – einer, die verlässlich in eine weiß geflieste Küche oder einen Schlafzimmerschrank führt –, sollte ich das Wort vermutlich lieber großschreiben.
Als ich sieben Jahre alt war, fand ich eine TÜR. Da! Siehst du, wie stolz es sich nun von allen anderen abhebt, das T die Angel, an der das ganze Wort zur Seite schwingt und uns einlässt in ein weißes Nichts? Ich stelle mir vor, dass sich bei diesem Anblick die feinen Härchen in deinem Nacken aufstellen, als hättest du etwas Vergessenes wiedererkannt. Dabei weißt du gar nichts über mich; du kannst mich nicht sehen, wie ich an diesem Gelbholzschreibtisch sitze oder wie die salzig-süße Brise durch die Seiten blättert, als suchte sie nach ihrem Lesezeichen. Du siehst nicht die Narben, die sich über meine Haut winden, sich verknoten. Nicht einmal meinen Namen kennst du (er lautet January Scaller – jetzt weißt du doch etwas über mich, und ich habe mein eigenes Argument entkräftet).
Aber was es bedeutet, wenn du das Wort TÜR vor dir siehst, das weißt du. Vielleicht hast du bereits selbst eine gesehen – verrottet und halb offen in einer alten Kirche oder frisch geölt in einer Ziegelmauer. Wenn du zu jenen verträumten Menschen gehörst, deren Füße sie wie von selbst zu ungewöhnlichen Orten tragen, bist du vielleicht sogar schon einmal durch eine hindurchgetreten und hast dich an einem wahrhaft ungewöhnlichen Ort wiedergefunden.
Oder vielleicht hast du noch nie im Leben eine TÜR auch nur aus dem Augenwinkel gesehen. Es gibt nicht mehr so viele davon.
Und trotzdem weißt du über TÜREN Bescheid, habe ich recht? Denn es gibt zehntausend Geschichten über zehntausend TÜREN, und sie sind uns so vertraut wie unsere eigenen Namen. Diese TÜREN führen in die Anderswelt, nach Walhalla, Atlantis und Lemuria, in den Himmel und die Hölle, in all jene Richtungen, in die du nicht mithilfe eines Kompasses finden kannst, ins Anderswo. Viel besser drückt es mein Vater aus, der ein wahrer Gelehrter ist, nicht nur eine junge Dame mit einem Füllfederhalter und ein paar Dingen, die sie sagen muss: »Wenn wir Geschichten wie archäologische Ausgrabungsstätten betrachten und mit dem Pinsel und akribischer Sorgfalt Lage um Lage freilegen, entdecken wir irgendwo immer einen Durchgang. Eine Trennlinie zwischen dem Hier und dem Dort, uns und ihnen, dem Weltlichen und dem Magischen. Wenn sich die Tür öffnet und etwas zwischen den Welten hin- und herfließt, dann entstehen Geschichten.«
Er hat das Wort TÜR nie in Großbuchstaben gesetzt. Aber vielleicht schreiben Gelehrte Wörter nicht groß, bloß weil sie ihnen dann besser gefallen.
Es war der Sommer des Jahres 1901, wenngleich mir die Aneinanderreihung von vier Ziffern auf einer Seite damals noch nicht viel bedeutete. Heute denke ich, dass es ein prahlerisches, von sich selbst eingenommenes Jahr war, ganz in die schimmernden vergoldeten Versprechen eines neuen Jahrhunderts gehüllt. Es hatte das Chaos und Gelärme des neunzehnten Jahrhunderts abgeworfen wie eine alte Haut – die vielen Kriege, die Revolutionen und die Ungewissheit, all jene imperialen Wachstumsschmerzen –, und nun herrschten einzig Frieden und Wohlstand, wohin man auch blickte. Mr. J. P. Morgan war kürzlich zum reichsten Mann in der gesamten Weltgeschichte geworden; Königin Victoria war endlich gestorben und hatte ihr ausgedehntes Reich ihrem Sohn vererbt, der durch und durch wie ein König aussah; diese widerspenstigen Boxer in China waren zur Räson gebracht worden; und Kuba war unter die Fittiche des zivilisierten Amerika genommen worden. Vernunft und Verstand regierten unangefochten, und Zauberei oder das Geheimnisvolle hatte keinen Platz mehr auf der Welt.
Wie sich herausstellen sollte, galt dasselbe für kleine Mädchen, die von der Landkarte hinunterwanderten und dann die Wahrheit über ihre verrückten, unmöglichen Entdeckungen sagten.
Ich fand die TÜR am ausgefransten westlichen Rand Kentuckys, ebendort, wo der Bundesstaat seine große Zehe in den Mississippi taucht. Man erwartet nicht, ausgerechnet dort über etwas Geheimnisvolles oder auch nur mäßig Interessantes zu stolpern: Es ist eine eintönige, ärmlich wirkende Gegend, bewohnt von ebensolchen Menschen. Die Sonne hängt noch Ende August doppelt so heiß und dreimal so hell am Himmel wie überall sonst im Land, und alles fasst sich feucht und klebrig an, wie der Seifenschaum, der auf deiner Haut zurückbleibt, wenn du zuletzt in die Badewanne durftest.
Aber TÜREN – wie Verdächtige in billigen Kriminalromanen – sind oft da, wo man sie am wenigsten erwartet.
Ich war nur deshalb in Kentucky, weil Mr. Locke mich auf eine seiner Geschäftsreisen mitgenommen hatte. Er sagte, das sei »etwas ganz Besonderes« und für mich »eine wunderbare Gelegenheit zu sehen, wie man die Dinge anpackt«. In Wirklichkeit ging es jedoch darum, dass meine Kinderfrau zu hysterischen Anfällen neigte und im vergangenen Monat nicht weniger als viermal mit Kündigung gedroht hatte. Damals war ich ein schwieriges Kind.
Oder vielleicht wollte Mr. Locke mich auch aufheitern. Gerade hatte ich nämlich eine Postkarte von meinem Vater bekommen. Darauf war ein Mädchen mit brauner Haut zu sehen, das einen spitzen goldenen Hut trug und ein mürrisches Gesicht machte. TRADITIONELLE BURMESISCHE TRACHT war neben ihr eingeprägt. Auf der Rückseite standen drei säuberliche Zeilen in brauner Tinte: Ich verlängere meinen Aufenthalt, komme erst im Oktober zurück. Denke an dich. JS. Mr. Locke hatte über meine Schulter mitgelesen und ungeschickt meinen Arm getätschelt, was wohl Kopf hoch heißen sollte.
Eine Woche später wurde ich in das Abteil eines mit Samt und Holz ausgekleideten Pullman-Schlafwagens verladen, der stark an einen Sarg erinnerte. Ich las Die Rover-Jungs im Dschungel, Mr. Locke den Wirtschaftsteil der Times und Mr. Stirling starrte mit der professionellen Ausdruckslosigkeit eines Hausdieners ins Nichts.
Aber ich sollte Mr. Locke ordentlich vorstellen; er wäre empört, so zwanglos und nebenbei in die Geschichte eingeführt zu werden. Gestatten? Mr. William Cornelius Locke, Beinahemilliardär und Geschäftsführer von W. C. Locke & Co, Eigentümer von nicht weniger als drei herrschaftlichen Häusern an der Ostküste, Verfechter der Tugenden ORDNUNG und ANSTAND (Wörter, die er zweifelsohne gern hervorgehoben sähe – siehst du das A, das wie eine Frau mit vor der Brust verschränkten Armen dasteht?) und Vorsitzender der Archäologischen Gesellschaft von Neuengland: Das war schon in meiner Kindheit eine Art Club für reiche, mächtige Männer, die außerdem Amateursammler waren.
Ich nenne sie nur deshalb »Amateure«, weil es in Mode war, dass reiche Männer abschätzig von ihren Liebhabereien sprachen. Dabei deuteten sie eine wegwerfende Handbewegung an, als könnte es ihrem guten Ruf abträglich sein, wenn sie zugaben, sich ernsthaft etwas anderem als dem Geldverdienen zu widmen.
Manchmal kam es mir so vor, als wäre Mr. Lockes ganzes Geschäftsleben eigens darauf ausgelegt, seine Sammelleidenschaft zu finanzieren. Sein Heim in Vermont (in dem wir tatsächlich auch lebten, im Gegensatz zu den beiden ungenutzten Herrensitzen, die vor allem einem Zweck dienten: aller Welt einzuschärfen, wie bedeutsam er war) war ein riesiges privates Smithsonian, so vollgestopft, dass es nicht aus Steinen und Mörtel, sondern aus Artefakten zu bestehen schien. An Organisation mangelte es etwas: Breithüftige Frauenfiguren aus Kalkstein standen neben indonesischen Paravents, die mit so aufwendigen Schnitzereien bedeckt waren, dass sie wie feine Spitze aussahen; Pfeilspitzen aus vulkanischem Glas teilten sich einen Schaukasten mit dem taxidermisch präparierten Arm eines Edo-zeitlichen Kriegers. (Ich verabscheute den Arm, musste ihn mir aber immer wieder anschauen; dabei fragte ich mich, wie er ausgesehen haben mochte, als er noch mit einem lebendigen Mann verbunden gewesen war und richtige Muskeln gehabt hatte, und was sein Besitzer wohl davon gehalten hätte, dass ein kleines Mädchen in Amerika seine papiertrockene Haut anstarrte und nicht einmal seinen Namen kannte.)
Mein Vater arbeitete für Mr. Locke. Ich war bloß ein auberginengroßes Bündel in einem alten Reisemantel gewesen, als Mr. Locke ihn angeheuert hatte. »Deine Mutter war gerade erst gestorben, musst du wissen, sehr tragische Geschichte«, pflegte Mr. Locke für mich zu rezitieren, »und dein Vater – ein Bursche wie eine Vogelscheuche, mit dieser merkwürdigen Hautfarbe, der noch dazu, gnade ihm Gott, die Arme hoch und runter tätowiert hatte – irrte mit einem Säugling mitten im Nirgendwo herum. Da habe ich mir gesagt: Cornelius, das ist ein Mann, der dringend ein bisschen Mitgefühl braucht!«
Noch vor Anbruch der Abenddämmerung hatte Vater in Lohn und Brot gestanden. Jetzt bereiste er die Welt, sammelte Gegenstände »von einzigartigem Wert« und schickte sie Mr. Locke, damit der sie in gläserne Schaukästen mit Messingschildern legen und mich anschreien konnte, wenn ich sie anfasste oder die aztekischen Münzen stahl, um damit Szenen aus Die Schatzinsel nachzuspielen. Und ich blieb in meinem kleinen grauen Zimmer auf Haus Locke und schikanierte die Kinderfrauen, die mich bändigen sollten, und wartete darauf, dass Vater heimkam.
Als ich sieben Jahre alt war, verbrachte ich deutlich mehr Zeit mit Mr. Locke als mit meinem leiblichen Vater, und ich liebte ihn, wie man jemanden nur lieben kann, der sich in einem dreiteiligen Anzug am wohlsten fühlt.
Wie üblich hatte uns Mr. Locke in der besten Unterkunft weit und breit eingemietet. In Kentucky war das ein weitläufiges Hotel aus Kiefernholz am Ufer des Mississippi: Es war eindeutig von jemandem erbaut worden, dem ein Grandhotel vorgeschwebt, der in seinem Leben aber noch nie eins gesehen hatte. Die Tapete war bunt gestreift wie Bonbonpapier, und elektrische Kronleuchter hingen von den Decken, aber von den Bodendielen stieg ein saurer Fischgeruch auf.
Mr. Locke segelte am Hoteldirektor vorbei, wedelte dabei mit der Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen – »Behalten Sie das Mädchen im Auge, guter Mann« –, und entschwand in die Lobby. Mr. Stirling folgte ihm auf dem Fuß wie ein Hund in Menschengestalt. Locke begrüßte einen Mann mit einer Fliege, der auf einem der geblümten Sofas saß. »Governor Dockery, hocherfreut! Ich habe Ihr letztes Schreiben mit allergrößtem Interesse gelesen, das versichere ich Ihnen … Und wie kommen Sie mit Ihrer Schädelsammlung voran?«
Aha. Deshalb waren wir also hergekommen: Mr. Locke war mit einem Kumpel aus der Archäologischen Gesellschaft verabredet; sie würden den Abend damit verbringen, gemeinsam zu trinken, Zigarren zu rauchen und zu prahlen. Jedes Jahr im Sommer fand auf Haus Locke ein elegantes Fest für die Mitglieder der Gesellschaft und ihre Frauen statt, gefolgt von einer formellen Versammlung, an der nur Mitglieder teilnehmen und auf der weder mein Vater noch ich uns sehen lassen durften. Ein paar Enthusiasten konnten es jedoch nicht abwarten und trafen einander, sooft sie nur konnten.
Der Direktor lächelte mich an, wie kinderlose Erwachsene es häufig taten: gezwungen, als würde er gleich in Panik geraten.
Ich lächelte zurück und zeigte dabei alle meine Zähne. »Ich gehe ein bisschen raus«, erklärte ich voller Zuversicht.
Er lächelte noch angestrengter und blinzelte dabei unsicher. Die Leute sind meinetwegen immer verwirrt. Das liegt daran, dass meine Haut kupferrot ist, als wäre ich von oben bis unten mit Zedernholzstaub bedeckt, ich aber helle, runde Augen habe. Dazu die teuren Kleider … War ich nun ein verwöhntes Schoßhündchen oder ein Dienstmädchen? Sollte der arme Direktor mir Tee servieren? Mich zu den Küchenhilfen stecken? Mr. Locke sagte immer, dass ich »so eine Art Zwischenwesen« sei.
Ich stieß eine Blumenvase um, flüsterte ein unehrliches »O weh« und schlich mich davon, während der Direktor fluchte und mit seinem Jackett an der Wasserlache herumtupfte. Ich sah zu, dass ich vor die Tür kam. (Fällt dir auf, wie beiläufig sich das Wort in die gewöhnlichste Geschichte hineinstiehlt? Manchmal glaube ich, dass sich in den Winkeln jedes einzelnen Satzes Türen verbergen – ihre Knäufe sind Punkte, ihre Angeln Verben.)
Die Straßen waren nicht viel mehr als von der Sonne ausgeblichene Bänder, die sich immer wieder kreuzten und schließlich vom schlammigen Flussufer abgeschnitten wurden, aber die Bürger des kleinen Ortes Ninley in Kentucky schienen dennoch entschlossen, sie entlangzuflanieren, als handelte es sich um die ordentlich gepflasterten Straßen einer richtigen Stadt. Sie starrten mich an und tuschelten.
Ein Hafenarbeiter schubste einen anderen an und zeigte mit dem Finger auf mich. »Willst du wetten, dass die Kleine eine Chickasaw ist?«
Sein Kumpel schüttelte den Kopf, griff auf seine beeindruckenden persönlichen Erfahrungen mit Indianermädchen zurück und sagte: »Könnte sein, dass sie von den Westindischen Inseln kommt. Oder sie ist ein Halbblut.«
Ich blieb nicht stehen. Die Leute redeten immer so, wenn sie mich zum ersten Mal sahen, steckten mich in diese oder jene Schublade, aber Mr. Locke hatte mir versichert, dass sie alle gleichermaßen falschlagen. Er nannte mich »ein vollkommen einzigartiges Exemplar«. Als ich ihn einmal gefragt hatte, ob ich farbig war – eins der Dienstmädchen hatte so etwas gesagt –, hatte er geschnaubt. »Merkwürdig gefärbt vielleicht, aber wohl kaum farbig.«
Zwar wusste ich nicht recht, woran man farbige Leute überhaupt erkannte – aber so, wie er das Wort aussprach, war ich erleichtert, dass es auf mich nicht zutraf.
Wenn ich mit meinem Vater zusammen unterwegs war, fanden die Spekulationen über unsere Herkunft gar kein Ende. Seine Haut ist dunkler als meine – ein schimmerndes Schwarzrot –, und seine Augen sind so schwarz, dass sogar das Weiße darin mit Braun durchsetzt ist. Wenn du dir dazu noch die Tätowierungen vorstellst – Tintenspiralen, die sich von seinen Handgelenken aus in die Höhe winden –, einen abgetragenen Anzug, eine Brille und einen verwirrenden Akzent … Tja. Die Leute gafften.
Trotzdem hätte ich viel dafür gegeben, ihn bei mir zu haben.
Ich war so konzentriert darauf, den Blicken auszuweichen und nicht in eins dieser weißen Gesichter zu schauen, dass ich gegen jemanden stieß. »Oh, entschuldigen Sie, Ma’am, ich …«
Eine alte Frau, vornübergebeugt und faltig wie eine bleiche Walnuss, blickte tadelnd auf mich herab. Es war ein geübter, großmütterlicher Blick, wie gemacht für Kinder, die herumrannten, nicht aufpassten und gegen sie liefen.
»Es tut mir leid«, sagte ich noch einmal.
Sie antwortete nicht, aber ihre Augen veränderten sich, als klaffte darin ein Abgrund auf. Ihr Mund öffnete sich, und ihre verschleierten Augen wurden riesig. »Wer … Wer zum Teufel bist du?«, zischte sie.
Ich nehme an, die meisten Leute mögen keine Zwischenwesen.
Natürlich hätte ich zurück in das Hotel mit dem Fischgeruch huschen und mich im Schutz von Mr. Lockes Geld verstecken können, wo mir die verdammten Einwohner Ninleys nichts anhaben konnten – so hätte es sich gehört. Aber ich benahm mich, wie Mr. Locke oft beklagte, manchmal recht unschicklich, unbesonnen und obstinat (ein Wort, von dem ich annahm, dass es nichts Schmeichelhaftes bedeutete, da es sich in schlechter Gesellschaft herumtrieb).
Und so rannte ich davon.
Ich rannte, bis meine spindeldürren Beine heftig zitterten und meine Brust sich wie ein Blasebalg hob und senkte und dabei gegen die feinen Nähte meines Kleides stieß. Ich rannte, bis die unbefestigte Straße bloß noch ein gewundener Pfad war und Blauregen und Geißblatt die Gebäude in meinem Rücken verschluckt hatten. Ich rannte und versuchte, weder daran zu denken, wie die alte Frau mich angesehen hatte, noch mich zu fragen, wie viel Ärger ich bekommen würde, weil ich mich davongeschlichen hatte.
Erst als ich merkte, dass ich nicht mehr über ausgedörrte Erde, sondern über umgeknicktes Gras lief, wurde ich langsamer. Ich fand mich auf einem einsamen, überwucherten Feld wieder, über dem sich der Himmel aufspannte, so blau wie die Kacheln, die mein Vater aus Persien mitgebracht hatte. Es war ein majestätisches Blau, das die ganze Welt zu verschlingen schien und in das man hineinfallen konnte. Hohe rostrote Gräser wiegten sich unter diesem Himmel, und ein paar vereinzelte Zedern reckten sich ihm entgegen.
Ich weiß nicht, ob es der starke Duft trockenen Zedernholzes in der Sonne oder das wogende Gras war, das mit dem Himmel zu einer orange und blau gestreiften Tigerin verschmolz, aber irgendetwas an dieser Landschaft weckte in mir das Bedürfnis, mich zwischen die trockenen Halme zu kauern wie ein Rehkitz, das auf seine Mutter wartet. Stattdessen stakte ich tiefer in das Feld hinein und strich mit den Handflächen über die gekräuselten Ähren wilden Getreides.
Beinahe hätte ich die TÜR gar nicht gesehen. Das haben alle TÜREN gemeinsam: Sie stehen unauffällig im Halbschatten, bis jemand sie auf genau die richtige Weise anschaut.
Der alte Holzrahmen stand schief wie das erste Element eines Kartenhauses. Nägel und Angeln hatten sich im Lauf der Zeit aufgelöst und Rostflecken auf dem Holz hinterlassen. Von der Tür selbst waren nur ein paar unerschrockene Bretter übrig geblieben, an denen noch ein wenig abblätternde Farbe haftete: Sie war so königsblau wie der Himmel.
Damals wusste ich noch nichts über TÜREN – selbst wenn du mir eine dreibändige Sammlung mit Augenzeugenberichten und Anmerkungen zu dem Thema überreicht hättest, hätte ich dir nicht geglaubt. Aber als ich jene heruntergekommene blaue TÜR einsam in dem Feld stehen sah, wollte ich, dass sie anderswohin führte. Fort aus Ninley in Kentucky, an einen fremden, unerforschten Ort, so riesig, dass ich ihn endlos durchwandern konnte.
Ich legte die Handfläche gegen die abblätternde blaue Farbe. Die TÜR ächzte in den Angeln, genau wie es die Türen der Geisterhäuser in meinen Heftromanen und Abenteuergeschichten immer taten. Mein Herz pochte in meiner Brust, und meine naive Kleinmädchenseele hielt den Atem an und wartete darauf, dass etwas Märchenhaftes passieren würde.
Natürlich war gar nichts auf der anderen Seite der TÜR, nur die Kobalt- und Zimttöne meiner eigenen Welt, der Himmel und das Feld. Und – Gott weiß, warum – der Anblick brach mir das Herz. Ich setzte mich in meinem hübschen blauen Leinenkleid auf den Boden und weinte. Was hatte ich erwartet? Einen jener magischen Durchgänge, über die Kinder in meinen Büchern immerzu stolperten?
Wäre Samuel da gewesen, hätten wir wenigstens so tun können, als ob. Samuel Zappia war mein einziger Freund, der nicht aus einem Buch stammte: ein dunkeläugiger Junge mit einer ausgeprägten Schwäche für Schundhefte und dem abwesenden Blick eines Seefahrers, der zum Horizont schaut. Zweimal die Woche kam er in einem roten Pferdewagen, auf dessen Seite in verschnörkelter goldener Schrift FAMILIE ZAPPIAS LEBENSMITTELLADEN stand, nach Haus Locke, und normalerweise steckte er mir die neueste Ausgabe des Argosy oder des Halfpenny Marvel zu, während er Mehl und Zwiebeln ablud. An den Wochenenden schlich er sich aus dem Laden seiner Familie, um mit mir am Seeufer zu spielen: Dann erschufen wir raffinierte Fantasiewelten, in denen es vor Geistern und Drachen nur so wimmelte. Sognatore, nannte seine Mutter ihn. Samuel sagte, das sei Italienisch für »Nichtsnutziger Junge, der seiner Mutter ganz furchtbaren Kummer bereitet, weil er immer bloß träumt«.
Aber Samuel war an jenem Tag auf dem Feld nicht bei mir. Deshalb zog ich mein kleines Tagebuch aus der Tasche und schrieb eine Geschichte.
Als ich sieben Jahre alt war, war das Tagebuch mein wertvollster Besitz – wenn es auch fragwürdig sein mochte, ob ich die rechtmäßige Besitzerin war. Ich hatte es weder gekauft noch geschenkt bekommen, ich hatte es gefunden. Kurz vor meinem siebten Geburtstag hatte ich im Pharaonenzimmer gespielt: Ich hatte alle Urnen auf- und wieder zugemacht und sämtlichen Schmuck angelegt. Dabei hatte ich auch eine schöne blaue Schatztruhe geöffnet (Truhe mit gewölbtem Deckel, verziert mit Elfenbein, Ebenholz und blauem Steingut, ägyptisch; ursprünglich Teil eines identischen Paars). Und auf dem Grund der Truhe hatte dieses Tagebuch gelegen: Leder in der Farbe gebräunter Butter, cremeweiße Baumwollseiten, so rein und einladend wie frisch gefallener Schnee.
Ich dachte, dass Mr. Locke es in die Truhe gelegt haben könnte, damit ich es fand – ein heimliches Geschenk, das er mir nicht persönlich überreichen musste –, deshalb nahm ich es ohne zu zögern an mich. Ich schrieb hinein, wenn ich mich einsam oder verloren fühlte, wenn mein Vater fort und Mr. Locke beschäftigt war, wenn meine Kinderfrau sich schrecklich aufgeführt hatte.
Ich schrieb recht häufig hinein.
Meistens Geschichten: Sie ähnelten denen, die ich in Samuels Ausgaben des Argosy las und die von mutigen blonden Jungen mit Namen wie Jack, Dick oder Buddy handelten. Ich investierte viel Zeit in Überschriften, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen (»Das Geheimnis des Knochenschlüssels«, »Die Gesellschaft des goldenen Dolches«, »Das fliegende Waisenmädchen«), und gar keine in die Handlung. Doch als ich in dem einsamen Feld neben der TÜR saß, die nirgendwohin führte, da wollte ich eine andere Geschichte schreiben. Eine wahre Geschichte, in die ich hineinkriechen konnte, wenn ich nur fest genug an sie glaubte.
Es war einmal ein mutiges und opstinates (Rechtschr.?) Mädchen, das fand eine TÜR. Die TÜR war magisch, deshalb wird sie in großen Buchstaben geschrieben. Das Mädchen öffnete die TÜR.
Und eine einzige Sekunde lang – ein seltsam ausgedehnter Moment, der erst endete, als ich den Punkt malte – glaubte ich es. Nicht so, wie Kinder sich einreden, dass es den Weihnachtsmann oder Feen gibt, sondern mit derselben felsenfesten Überzeugung, mit der man an die Schwerkraft oder an den Regen glaubt.
Irgendetwas bewegte sich. Ich weiß, das ist eine beschissene Beschreibung (verzeih mir meine undamenhafte Ausdrucksweise), aber ich habe keine Ahnung, wie ich es anders in Worte fassen könnte. Es war wie ein Erdbeben, das keinen einzigen Grashalm zum Zittern brachte, wie eine Sonnenfinsternis ohne Schatten – eine gewaltige, aber unsichtbare Veränderung in der Welt. Eine unerwartete Brise zupfte an den Seiten meines Tagebuchs. Sie roch nach Salz, nach warmem Gestein und einem Dutzend fremder Düfte, die in einem verwilderten Feld am Ufer des Mississippi nichts zu suchen hatten.
Ich steckte mein Tagebuch wieder in meine Rocktasche und stand auf. Vor Erschöpfung zitterten meine Beine wie junge Birken im Wind, aber ich kümmerte mich nicht darum. Die TÜR schien in einer leisen, klappernden Sprache zu murmeln, die aus Holzfäule und abblätternder Farbe bestand. Wieder streckte ich eine Hand aus, zögerte, und dann …
Dann öffnete ich die TÜR und trat hindurch.
Ein hallendes Nirgendwo empfing mich, drückte gegen meine Trommelfelle, als wäre ich zum Grund eines tiefen Sees hinabgetaucht. Meine tastende Hand verschwand im Nichts; mein Stiefel schwang in einem nicht enden wollenden Bogen voran.
Heute nenne ich dieses Nirgendwo, den Ort-zwischen-den-Orten, »Schwelle« (SCHWELLE, besser gesagt; die Linie des S ist der gewundene Pfad durch die Leere). SCHWELLEN sind gefährlich, weil sie weder im Hier noch im Dort existieren, und wenn du über eine hinweggehst, ist das so, als tätest du einen Schritt über den Rand eines Abgrunds hinweg – in dem naiven Glauben, dir würden schon Flügel wachsen. Du darfst nicht zögern oder zweifeln. Du darfst das Dazwischen nicht fürchten.
Mein Fuß kam auf der anderen Seite der TÜR auf dem Boden auf. Der Geruch nach Zedernholz und Sonnenlicht wurde durch einen Kupfergeschmack in meinem Mund verdrängt. Ich öffnete die Augen.
Es war eine Welt aus Salzwasser und Felsen. Ich stand auf einer hohen Klippe, umgeben von einem endlosen silbernen Meer. Tief unter mir lag, eingefasst von der geschwungenen Küstenlinie der Insel, wie ein Kiesel in einer hohlen Hand, eine Stadt.
Zumindest glaubte ich, dass es eine Stadt war. Die üblichen Erkennungsmerkmale fehlten: Weder quietschten Straßenbahnen hindurch noch sah ich eine Dunstglocke aus Ruß und Rauch darüber hängen. Stattdessen bildeten weiß gekalkte Steingebäude kunstvolle Spiralen. Überall standen Fenster offen, die wie winzige schwarze Augen aussahen. Ein paar Türme überragten die anderen Häuser, und die Masten kleiner Schiffe zogen sich an der Küste entlang wie ein Wäldchen.
Ich hatte wieder angefangen zu weinen, ohne jedes Theater. Ich weinte, als gäbe es etwas, das ich dringend haben wollte, aber nicht bekommen konnte. Wie mein Vater manchmal weinte, wenn er dachte, dass er allein war.
»January! January!«
Mein Name klang, als würde ihn in weiter Ferne ein billiges Grammofon abspielen, aber ich erkannte Mr. Lockes Stimme, die durch die Türöffnung zu mir herüberhallte. Ich wusste nicht, wie er mich gefunden hatte, wohl aber, dass ich Ärger zu erwarten hatte.
Ich kann dir gar nicht sagen, wie wenig ich zurückgehen wollte. Wie das Meer roch – wie ein Versprechen! – und wie die gewundenen Straßen aussahen – wie eine geheimnisvolle Schrift! Hätte nicht Mr. Locke mich gerufen – der Mann, der mich mit auf Reisen nahm und mir hübsche Leinenkleider kaufte; der Mann, der meinen Arm tätschelte, wenn mein Vater mich enttäuschte; und kleine Tagebücher versteckte, damit ich sie fand –, wäre ich vielleicht geblieben.
So aber drehte ich mich zu der TÜR um. Von dieser Seite betrachtet sah sie anders aus: Ein verfallener Bogen aus verwittertem Basalt erhob sich vor mir, in dem nicht einmal ein paar zusammengenagelte Bretter lehnten, die als Tür hätten dienen können. Stattdessen flatterte ein grauer Vorhang in der Öffnung. Ich zog ihn beiseite.
Ehe ich jedoch durch den Basaltbogen treten konnte, sah ich vor meinen Stiefelspitzen etwas glitzern: Eine silberne Münze lag halb vergraben in der Erde, geprägt mit Worten einer fremden Sprache und dem Profil einer gekrönten Frau. Die Münze fühlte sich warm in meiner Hand an. Ich ließ sie in die Tasche gleiten.
Dieses Mal glitt das Dazwischen über mich hinweg wie der Schatten eines Vogelflügels. Der trockene Geruch nach sonnenbeschienenem Gras stieg mir wieder in die Nase.
»Janua… Oh, da bist du ja!« Mr. Locke war in Hemdsärmeln und Weste. Er schnaufte ein bisschen, und die Enden seines Schnauzbarts waren gesträubt wie der Schwanz einer beleidigten Katze. »Wo warst du denn? Ich hab mich heiser geschrien … Ganz zu schweigen davon, dass ich mein Treffen mit Alexander unterbrechen musste! – Was ist das?« Er starrte die blau gefleckte TÜR an. Sein Gesicht wurde schlaff.
»Gar nichts, Sir.«
Sein Blick, scharf wie Eis, löste sich von der TÜR und richtete sich auf mich. »January. Sag mir, was du getrieben hast.«
Ich hätte lügen sollen. Das hätte mir so viel Kummer erspart. Aber es ist so: Wenn Mr. Locke einen mit seinen mondblassen Augen auf eine bestimmte Weise anschaut, macht man eigentlich immer das, was er von einem will. Vermutlich ist W. C. Locke & Co. deshalb so erfolgreich.
Ich schluckte. »Ich … Ich hab gespielt und bin durch die Tür da gegangen, sehen Sie? Sie führt woandershin. Zu einer weißen Stadt am Meer.« Wäre ich älter gewesen, hätte ich vielleicht gesagt: Ich konnte Salz riechen, Alter und Abenteuer. Es war der Geruch einer anderen Welt, und ich will sofort dorthin zurückgehen und über die fremden Straßen laufen! Stattdessen fügte ich wortgewandt hinzu: »Es war schön da.«
»Sag mir die Wahrheit!« Seine Augen drückten mich ganz klein zusammen.
»Das tue ich! Ich schwöre!«
Er wandte den Blick nicht gleich von mir ab. Ich sah, wie sich die Muskeln in seinem Unterkiefer anspannten und lockerten.
»Und wo ist diese Tür hergekommen? Hast du … Hast du sie gebaut? Aus dem Schutt da?« Er zeigte mit dem Finger auf den überwucherten Berg verrotteten Holzes hinter der TÜR, die verstreuten Knochen eines Hauses.
»Nein, Sir. Ich habe sie bloß gefunden. Und eine Geschichte über sie geschrieben.«
»Eine Geschichte?« Ihm war nicht nur anzusehen, dass ihn jede unerwartete Wendung unseres Gespräches mehr ins Schwimmen brachte, sondern auch, wie sehr ihm das missfiel; worum es auch ging, Mr. Locke hatte die Zügel gern fest in der Hand.
Ich kramte in meiner Tasche nach meinem kleinen Tagebuch und drückte es ihm in die Hand. »Hier, sehen Sie? Ich hab mir eine Geschichte ausgedacht, und dann war die Tür … Also irgendwie war sie dann offen. Das ist die Wahrheit, wirklich, ich schwöre es Ihnen.«
Sein Blick huschte viel häufiger über die Seite, als eine Geschichte es rechtfertigte, die nur aus drei Sätzen bestand. Dann holte er einen Zigarrenstummel aus seiner Westentasche hervor, riss ein Streichholz an und paffte, bis das Ende der Zigarre glühte wie das feurige orangerote Auge eines Drachen.
Er seufzte, als müsste er seinen Investoren schlechte Nachrichten überbringen, und klappte mein Tagebuch zu. »Was für ein Unsinn, January. Wie oft habe ich nun schon versucht, dir die Fantasterei auszutreiben?«
Er strich mit dem Daumen über den Einband meines Tagebuches, dann warf er es beinahe bedauernd auf den Holzhaufen hinter sich.
»Nein! Sie können doch nicht …«
»Es tut mir aufrichtig leid, January.« Er streckte die Hand nach mir aus, als wollte er nach mir greifen, brachte die Bewegung aber nicht zu Ende. »Ich tue lediglich, was getan werden muss, um deinetwillen. Ich erwarte dich zum Abendessen.«
Ich wollte mich wehren. Wollte mit ihm streiten, mein Tagebuch aus dem Dreck fischen – aber ich konnte es nicht.
Stattdessen rannte ich davon. Zurück über das Feld, über die gewundenen unbefestigten Straßen, hinein in die sauer riechende Lobby des Hotels.
Und so kommt es, dass meine Geschichte mit einem mageren Mädchen beginnt, das innerhalb weniger Stunden gleich zweimal wegläuft. Kein besonders heldenhafter erster Auftritt, nicht wahr? Aber manchmal – wenn man ein Zwischenwesen ohne Familie und Geld ist und nichts weiter besitzt als die eigenen zwei Beine und eine silberne Münze – bleibt einem nicht viel anderes übrig.
Und wäre ich kein Mädchen gewesen, das zum Ausreißen neigte, hätte ich die blaue TÜR nicht gefunden. Und dann hätte ich nicht viel zu erzählen.
Aus Furcht vor Gott und Mr. Locke verhielt ich mich nicht nur an diesem Abend, sondern auch noch am nächsten Tag ungewöhnlich ruhig. Mr. Stirling und der nervöse Hoteldirektor behielten mich im Auge. Der Direktor behandelte mich wie ein wertvolles, aber gefährliches Zootier. Eine Weile unterhielt ich mich damit, auf den Tasten des Flügels herumzuhämmern und ihn dabei zu beobachten, wie er immer wieder zusammenfuhr, aber schließlich brachte er mich in mein Zimmer und schlug vor, ich solle zu Bett gehen.
Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, da kletterte ich bereits aus dem niedrigen Fenster und schlich mich davon. Die Straße war mit Schatten übersät wie mit flachen schwarzen Wasserlachen, und als ich die Wiese erreichte, schimmerten die ersten Sterne durch den Rauch- und Tabakschleier über Ninley. Ich stolperte durch das hohe Gras und spähte in der Dunkelheit nach der Kartenhaussilhouette.
Aber die blaue Tür war nicht da.
Stattdessen fand ich einen ungleichmäßigen schwarzen Kreis im Gras. Von meiner TÜR war nichts geblieben als ein Haufen Asche und ein paar Brocken Holzkohle. Mein kleines Tagebuch lag zwischen den Kohlen, von der Hitze gewellt und rußgeschwärzt. Ich ließ es dort zurück.
Als ich in das eingesunkene, nicht besonders luxuriöse Luxushotel getaumelt kam, war der Himmel darüber schwarz wie Teer, und meine Kniestrümpfe hatten Flecken. Mr. Locke saß in eine ölige blaue Rauchwolke gehüllt in der Lobby, seine Wirtschaftsbücher und Papiere vor sich ausgebreitet. Sein Lieblingsbecher aus Jade war mit einem Abendscotch gefüllt.
»Und wo kommst du so spät noch her? Bist du noch einmal durch diese Tür spaziert und auf dem Mars herausgekommen? Oder vielleicht auf dem Mond?« Aber sein Ton war sanft. Die Sache ist die: Mr. Locke war wirklich gut zu mir. Auch in den schlimmsten Augenblicken noch.
»Nein«, räumte ich ein. »Aber wissen Sie was? Ich wette, es gibt noch viel mehr TÜREN. Ich wette, ich könnte sie finden und Geschichten über sie schreiben … Und dann würden sie alle aufgehen! Es ist mir egal, ob Sie mir glauben.«
Ich hätte meinen dummen Mund halten sollen. Ich hätte den Kopf schütteln, mich mit einem angedeuteten Schluchzen in der Stimme entschuldigen und mich dann in meinem Bett verkriechen sollen. Die Erinnerung an die blaue TÜR hätte wie ein geheimer Talisman sein können, den man in der Rocktasche verborgen bei sich trägt. Aber ich war sieben, ich war störrisch und ich wusste noch nicht, was wahre Geschichten einen kosten können.
»Ach, tatsächlich?«, sagte Mr. Locke nur, und ich marschierte in mein Zimmer, überzeugt davon, dass ich einer härteren Strafe entgangen war.
Erst als wir eine Woche später zurück nach Vermont kamen, begriff ich, wie gründlich ich mich getäuscht hatte.
Haus Locke war ein gewaltiger Palast aus rotem Stein am Ufer des Lake Champlain. Ein Wald aus Schornsteinen und Türmen mit Kupferdächern wuchs daraus hervor. Sein Inneres war holzgetäfelt, verwinkelt und vollgestopft mit dem Eigentümlichen, Seltenen und Wertvollen. Ein Reporter des Boston Herald hatte einmal geschrieben, es sei »eine architektonische Fantasie, die mehr an Ivanhoe erinnert als an den Wohnsitz eines modernen Mannes«. Gerüchten zufolge hatte ein verrückter Schotte das Haus in den 1790er-Jahren in Auftrag gegeben. Eine Woche hatte er darin gelebt, dann war er für alle Zeiten verschwunden. Mr. Locke hatte es in den 1880ern ersteigert und damit angefangen, es mit den Wundern der Welt zu füllen.
Vater und ich waren in zwei Räumen im dritten Stock untergebracht: Er hatte ein ordentliches, rechtwinkeliges Büro, ich ein graues, muffig riechendes Zimmer mit zwei schmalen Betten darin, die für mich und meine Kinderfrau gedacht waren. Die neueste war eine deutsche Einwanderin: Miss Wilda. Sie trug Kleider aus dicker schwarzer Wolle, und ihre Miene brachte deutlich zum Ausdruck, dass sie zwar noch nicht viel vom zwanzigsten Jahrhundert gesehen haben mochte, ihm jedoch bereits von ganzem Herzen abgeneigt war. Sie liebte Kirchenlieder und frisch gefaltete Wäsche; Lärm, Unordnung und freche Kinder waren ihr zuwider. Wir waren natürliche Feinde.
Noch in der Vorhalle führte Mr. Locke ein kurzes Gespräch mit Wilda. Danach glitzerten ihre Augen wie auf Hochglanz polierte Mantelknöpfe.
»Mr. Locke sagt, du bist in letzter Zeit überreizt, Täubchen, beinahe schon hysterisch.« Miss Wilda nannte mich häufig »Täubchen«, sie glaubte an die Macht der Suggestion.
»Das stimmt nicht, Ma’am.«
»Ach, mein armes, liebes Kind. Wir bekommen dich im Nu wieder hin!«
Das beste Mittel gegen Überreizung war ein ruhiges, ordentliches Umfeld ohne Ablenkungen, daher wurden alle Gegenstände aus meinem Zimmer entfernt, die bunt und interessant waren oder mir etwas bedeuteten. Die Vorhänge wurden zugezogen und das Bücherregal geleert (nur Die illustrierte Kinderbibel blieb zurück). Meine rosa und goldene Lieblingstagesdecke – Vater hatte sie mir im letzten Jahr aus Bangalore geschickt – wurde gegen ein gestärktes weißes Laken ausgetauscht. Samuel durfte mich nicht besuchen.
Miss Wildas Schlüssel drehte sich im Schloss, und ich war allein.
Zuerst stellte ich mir vor, eine Kriegsgefangene der Rotröcke oder vielleicht der Rebellen zu sein, und übte einen Gesichtsausdruck aufmüpfiger Standhaftigkeit ein. Aber schon am zweiten Tag glich die Stille zwei Daumen, die sich in meine Trommelfelle bohrten. Meine Beine zitterten, so groß war der Drang zu rennen, weiter und immer weiter, zurück zu dem Feld mit den Zedern, durch die Asche der blauen TÜR und in eine andere Welt.
Am dritten Tag verwandelte sich mein Zimmer erst in eine Kerkerzelle, dann in einen Käfig und schließlich in einen Sarg. Ich lernte meine größte und schrecklichste Angst kennen, sie schwamm durch mein Herz wie Aale durch eine Unterwasserhöhle: eingesperrt zu werden, einsam irgendwo gefangen zu sein.
Irgendetwas in meinem Inneren zersprang. Ich riss mit zu Klauen verkrümmten Fingern an den Vorhängen, brach die Knöpfe von Schubladen ab und trommelte mit den Fäusten gegen die verschlossene Tür. Dann setzte ich mich auf den Boden und weinte einen großen atemlosen Tränensee, so lange, bis Miss Wilda mit einem Teelöffel Sirup zurückkam, der mich für eine Weile von mir selbst fortbrachte. Meine Muskeln zerliefen zu öligen, trägen Flüssen, und mein Hinterkopf trieb auf der Oberfläche dahin. Ich konnte den Blick nicht von den Schatten lösen, die über die Teppiche krochen, ein erschreckendes Schauspiel, das keinen Platz für irgendetwas anderes ließ. Schließlich schlief ich ein.
Als ich aufwachte, saß Mr. Locke an meinem Bett und las die Zeitung. »Guten Morgen, meine Liebe. Wie fühlst du dich heute?«
Ich schluckte säuerliche Spucke hinunter. »Besser, Sir.«
»Das freut mich.« Er faltete seine Zeitung mit der Präzision eines Architekten. »Hör mir jetzt gut zu, January. In dir steckt großes Potenzial, aber du musst lernen, dich anständig zu betragen. Von heute an ist Schluss mit diesem ganzen versponnenen Unsinn, dem Davongeschleiche und den Türen, die nicht dorthin führen, wo sie hinführen sollten.«
Er betrachtete mich mit einem Gesichtsausdruck, der mich an alte Darstellungen Gottes erinnerte: väterlich und streng, seine Liebe abhängig davon, ob man sich ihrer als würdig erweist. Seine Augen waren Steine, deren Gewicht mich niederdrückte. »Du wirst tun, was man von dir erwartet, und ein braves Mädchen sein.«
Wie sehr wollte ich Mr. Lockes Liebe würdig sein! »Ja, Sir«, flüsterte ich. Und ich war brav.
Mein Vater kam erst im November wieder zurück. Er wirkte so zerknittert und müde wie sein Gepäck. Seine Ankunft spielte sich wie üblich ab: Die Kutsche knirschte die Auffahrt hoch und hielt vor dem erhabenen steinernen Herrenhaus. Mr. Locke ging nach draußen, um meinem Vater lobend auf die Schulter zu klopfen, und ich wartete mit Miss Wilda in der Vorhalle. Sie hatte mich in ein gestärktes Trägerkleid gesteckt; es war so steif, dass ich mich wie eine Schildkröte in einem übergroßen Panzer fühlte.
Die Tür öffnete sich und gegen das blasse Novemberlicht zeichnete sich, dunkel und fremdländisch, seine Silhouette ab. Er blieb auf der Schwelle stehen, weil das normalerweise der Augenblick war, in dem ein aufgeregtes kleines Mädchen gegen seine Knie prallte.
Aber ich rührte mich nicht. Das erste Mal in meinem Leben rannte ich nicht zu ihm. Die Schultern der Silhouette sackten hinab.
Das kommt dir grausam vor, habe ich recht? Ein mürrisches Kind, das seinen Vater dafür bestraft, fort gewesen zu sein. Aber ich kann dir versichern, dass ich damals gründlich verwirrt war. Seine Gestalt in der Türöffnung zu sehen machte mich schwindelig vor Zorn; weshalb, wusste ich nicht. Vielleicht lag es daran, dass er nach Dschungel, Dampfschiffen und Abenteuern roch – nach schattenverhangenen Höhlen und nie geschauten Wundern –, und meine Welt war so bedrückend gewöhnlich. Oder dass ich eingesperrt gewesen und er nicht gekommen war, um die Tür zu öffnen.
Er machte drei zögerliche Schritte und ging vor mir in die Hocke. Er sah älter aus als in meiner Erinnerung. Die Stoppeln an seinem Kinn waren nicht mehr schwarz, sondern schimmerten mattsilbern, als wäre jeder Tag, den er anderswo verbracht hatte, für ihn drei Tage lang gewesen. Nur seine Traurigkeit war noch dieselbe, als läge ein Schleier vor seinen Augen.
Er legte eine Hand auf meine Schulter. Seine Tätowierungen wanden sich wie schwarze Schlangen um seine Handgelenke. »January, stimmt etwas nicht?«
Die vertraute Art, auf die er meinen Namen aussprach, sein Akzent, seltsam und gar nicht seltsam zugleich, hätten mich beinahe die Haltung gekostet. Ich wollte ihm alles erzählen – ich bin über etwas Wunderbares und Ungezähmtes gestolpert, es reißt ein Loch in die Gestalt der Welt. Ich habe etwas geschrieben, und es ist wahr geworden –, aber ich hatte meine Lektion gelernt. Ich war jetzt ein gutes Mädchen.
»Es ist alles in bester Ordnung, Vater«, sagte ich. Meine kühle Erwachsenenstimme traf meinen Vater sichtlich wie eine Ohrfeige.
An diesem Abend sprach ich bei Tisch nicht mit ihm, und ich schlich mich später auch nicht in sein Zimmer, um ihm Geschichten abzubetteln (und du musst wissen, dass er ein meisterhafter Geschichtenerzähler war; er sagte immer, seine Arbeit bestehe zu neunundneunzig Prozent daraus, Geschichten aufzuspüren und ihnen zu folgen, um zu sehen, wo sie ihn hinführten).
Aber ich hatte diesen ganzen versponnenen Unsinn hinter mir gelassen. Die Türen – oder TÜREN –, die Träume von silbernen Ozeanen und weiß gekalkten Städten. Die Geschichten. Wahrscheinlich gehörte das zum Erwachsenwerden einfach dazu.
Dir verrate ich allerdings ein Geheimnis: Ich besaß noch immer die silberne Münze mit dem Bildnis der fremden Königin darauf. In meinen Unterrock war eine kleine Tasche eingenäht; die Münze lag körperwarm an meiner Taille. Wenn ich sie in der Hand hielt, konnte ich das Meer riechen.
Zehn Jahre lang war sie mein größter Schatz. Bis ich siebzehn wurde und Die zehntausend Türen fand.