Herausgegeben und bearbeitet
nach der Ausgabe:
M. Michael Ranfts Diaconi zu Nebra, Tractat von dem Kauen und
Schmatzen der Todten in Gräbern, worin die wahre Beschaffenheit derer
Hungarischen Vampyrs und Blut-Sauger gezeigt, auch alle von dieser
Materie bißher zum Vorschein gekommene Schrifften recensiret werden.
Leipzig, 1734.
Impressum.
© 2021 Nicolaus Equiamicus (Hrsg. u. Bearb.)
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.
ISBN: 978-3-7543-3633-5
WER sich jemals ernsthaft mit dem Thema Vampirismus auseinandergesetzt hat, wird mit größter Sicherheit auf den Namen Michael Ranft gestoßen sein.
Dieser wurde im Jahre 1700 im Dorfe Gossa, unweit von Leipzig, geboren und verstarb 1774.
Er studierte in Leipzig Philosophie und Theologie, graduierte 1724 zum Bakkalaureus1 der Philosophie, sowie, im darauf folgenden Jahr, zum Magister der Weltweisheit.
Im Laufe seines Lebens verfaßte er viele philosophische und historische Werke, von denen das vorliegende wohl das berühmteste ist.
Doch wie kam es überhaupt dazu?
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gerieten die in den vorangegangenen Jahrhunderten so verheerenden Hexenprozesse immer mehr in Kritik. Der Absolutismus und die daraus folgende Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses auf das Staatsgefüge ermöglichten nun offene Diskussionen über das Für und Wider solcher Prozesse, ohne daß sich deren Gegner damit unmittelbar in Lebensgefahr begaben.
Die Naturwissenschaften waren bereits unter den wohlwollenden Augen der allmächtigen Fürsten und Könige am Erblühen, da gelangte im Jahre 1725 eine schier unglaubliche Nachricht an die Ohren der gelehrten Welt.
In selbigem Jahre war nämlich in einem kleinen, seit kurzem unter österreichischer Verwaltung stehenden serbischen Dorf namens Kisolowa2 ein einfacher Mann namens Peter Plogojowitz verstorben. Dieses war ja an sich nichts Ungewöhnliches, nur daß Plogojowitz wohl der Ansicht war, nicht so tot zu sein, wie er es eigentlich hätte sein sollen.
Nach Aussage seiner Frau erschien er derselben leibhaftig wieder, und binnen kürzester Zeit starben in besagtem Dorf neun Menschen, die alle vor ihrem plötzlichen Dahinscheiden aussagten, Peter Plogojowitz sei zu ihnen gekommen, habe sie gewürgt und ihnen das Blut ausgesaugt.
Die verängstigte Bevölkerung wandte sich nun an den österreichischen Verwalter ihres Distrikts mit der Bitte, den Leichnam des vermeintlichen Wiedergängers ausgraben zu dürfen, um zu prüfen, ob dieser nicht ein sogenannter Vampir sei.
Der Verwalter sträubte sich zunächst, weil ihm die Sache zu unglaubwürdig vorkam, doch die Gesandtschaft ließ sich nicht abweisen. Also begab er sich schließlich in eigener Person an den Ort des Geschehens. Nach erfolgter Exhumierung des Leichnams traute er jedoch seinen Augen nicht: Der Körper war vollkommen unverwest, Haare, Nägel und sogar frische Haut waren dem vermeintlich Toten gewachsen; außerdem lief ihm frisches Blut aus dem Mund.
Die Einwohner sahen es nun als erwiesen an, daß Plogojowitz ein Vampir sei, schlugen ihm den Kopf ab und verbrannten seinen Körper zu Asche. Das unerklärliche Sterben im Dorf fand damit ein Ende.
Der ratlose Verwalter wandte sich nun mit einem Schreiben an den Kaiser, und dieser, ebenfalls erstaunt, übergab den kuriosen Fall in die Hände der Gelehrten, wodurch er in ganz Europa bekannt wurde.
Michael Ranft erfuhr an seiner Universität in Leipzig davon und verfaßte daraufhin sein erstes Traktat, welches er bis 1728 um ein zweites erweiterte und unter dem Titel „De masticatione mortuorum in tumulis“ in Druck gab.
Die Meinungen der Gelehrten gingen bezüglich dieses Falles weit auseinander; manche waren der Ansicht, der Teufel hätte seine Finger im Spiel, andere führten die Vorgänge auf natürliche Ursachen zurück, wieder andere schrieben sie der Magie zu und so weiter ...
Zur Jahreswende 1731/32 erregte ein weiterer unerhörter Vorfall die Gemüter. Im Dorf Medvedia im österreichischen Serbien war der ehemalige Soldat Arnold Paole durch einen Sturz vom Heuwagen ums Leben gekommen. Paole hatte zu Lebzeiten des öfteren davon gesprochen, daß er während seiner Dienstzeit im türkischen Serbien von einem Vampir heimgesucht worden sei und sich von diesem nur dadurch hatte befreien können, indem er zu dessen Grab gegangen sei, um von der Erde desselben zu essen und um den vermeintlichen Vampir auszugraben und sich mit dessen Blut zu beschmieren. Von da an sei er von der Plage befreit gewesen.
Doch nach seinem Tod, so schien es, begann er selbst als Vampir umzugehen und tötete Menschen und Vieh. Eine Einwohnerin von Medvedia aß nun vom Fleisch eines auf so mysteriöse Weise ums Leben gekommenen Schafes, starb kurz darauf und wurde ebenso, nach Meinung der Leute, zu einem Vampir. Und das Unheil setzte sich fort.
Wieder gab es welche, die behaupteten, sie würden von Vampiren geplagt werden, dann auch nach kurzer, unerklärlicher Krankheit starben und vor ihrem Tod aussagten, dieser oder jener habe sie gewürgt und ihnen das Blut ausgesaugt.
Es dauerte nicht lange, da erfuhr die Kaiserlich-Österreichische Verwaltungsbehörde davon und entsandte umgehend eine Abordnung aus Offizieren und Militärärzten zur Untersuchung des Falles.
Dort angekommen, stieß man nach Exhumierung der betreffenden Personen auf Ungeheuerliches: Die Körper der Menschen, die man für Vampire hielt, wirkten, obschon vor Wochen beerdigt, frisch und zeigten keinerlei Verwesungsmerkmale, während andere, die zur gleichen Zeit gestorben und direkt daneben begraben worden waren, vollständig verwest aufgefunden wurden.
Ärzte wie auch Offiziere dokumentierten alles und wußten keinen anderen Rat, als die ominösen Leichname enthaupten und verbrennen zu lassen, woraufhin das unerklärliche Treiben auch in diesem Dorf aufhörte.
Der Fall von Medvedia brachte in den Gelehrtenstuben das Faß vollends zum Überlaufen. Binnen kürzester Zeit kursierte eine Flut von Schriften in intellektuellen Kreisen, in denen zu genanntem Phänomen Stellung genommen wurde.
In den meisten dieser Schriften wurde die Abhandlung des Magisters Michael Ranft genannt, zitiert, verdreht oder schlichtweg als eigene Gedanken zu diesem Thema ausgegeben.
Ranft, darüber sehr aufgebracht, verfaßte ein erweitertes Manuskript seiner Schrift „De masticatione mortuorum in tumulis“, in welchem er, oft auf sehr giftige Weise andere Schreiber, vor allem solche, die es wagten, ihn zu kritisieren, literarisch in den Hades verbannte, und ließ es 1734 in Druck geben.
Viele weitere Fälle von Vampirismus sind in den folgenden Jahren nach den Ereignissen von 1725 und 1731/32 an die Öffentlichkeit gebracht und untersucht worden. Begleitet von Hysterie und Panik zieht sich von da ab kontinuierlich die Spur der vermeintlichen Blutsauger durch die Geschichte. Selbst aus der Zeit um 1870/71 sind aus Preußen aktenkundige Fälle dieses Phänomens bekannt.
Und auch heutzutage hat der Vampir noch nichts von seiner Faszination eingebüßt, wie der Fall einer obskuren Vampirjagd des Okkultisten David Farrant und des Theologen Alan Blood (!) auf dem Londoner Highgate Friedhof im Jahre 1970 und noch viele andere obskure Geschichten zeigen.
Daß „De masticatione mortuorum in tumulis“ von Michael Ranft wohl zu den ausführlichsten und meist genannten Werken innerhalb dieses Themengebiets gehört, liegt vor allem an seiner mühevollen und akribischen Auseinandersetzung mit der Materie. Dennoch und leider erlebte es nach 1734 keine erneute Auflage.
Es ist daher sehr zu hoffen, daß sein Werk mit dieser Überarbeitung den heutigen Wißbegierigen wieder zugänglich gemacht werden kann. Ich wünsche dem Leser bei der Lektüre desselben jedenfalls Erkenntnis, Erstaunen und nicht zuletzt eine wohlige Gänsehaut…
Der Herausgeber.
1 Der niedrigste akademische Grad.
2 Kisolowa hatte wenige Zeit zuvor noch unter türkischer Herrschaft gestanden. Den Menschen dort war das andauernde Gezänk zwischen dem Türkischen Reich und der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie um die Grenzgebiete nur zu vertraut.
MEIN Leser, ich habe am 27. September 1725 in Leipzig einen öffentlichen Vortrag „Über das Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern“ gehalten, der auf einen wundersamen Fall aus Ungarn zurückgeht. Weil ich aber meine Ausführungen zu diesem Thema damals nicht ganz abschließen konnte – ich hatte mir vorbehalten, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal davon zu sprechen, wurde aber durch meinen unvermuteten Wegzug aus Leipzig daran gehindert –, habe ich im Jahre 1728 alles, was ich davon zu Papier gebracht hatte, in Form eines Traktats mit dem Titel „De masticatione mortuorum in tumulis liber singularis, continens duas dissertationes, quarum prior historico-critica, posterior vero philosophica est“3 an die Öffentlichkeit gebracht.
Obwohl ich nicht annahm, in dieser Sache ein weiteres Mal die Feder ansetzen zu müssen, sehe ich mich durch die „Aktenmäßige Relation4 von den sogenannten Vampyren in Serbien“, die vor einiger Zeit aufgetaucht ist, genötigt, zu den in verschiedenen Schriften mal positiv, mal negativ dargestellten Inhalten meines Traktats Stellung zu beziehen.
Ich möchte damit sowohl meine Hypothese gegen die ungerechten Urteile einiger Gegner verteidigen als auch die Geschichte von den angeblichen Vampiren zu erklären versuchen.
In diesem Sinne gebe ich der neugierigen Welt diese aus drei Teilen bestehende Schrift an die Hand. Der erste Teil beinhaltet die deutsche Übersetzung meines lateinischen Traktats „De Masticatione mortuorum in tumulis“.
Der zweite Teil erläutert die aktenmäßige Relation von den Vampiren auf Grundlage meiner Hypothese und der dritte stellt schließlich alle Schriften, die bisher zum Thema Vampire veröffentlicht worden sind, in kurzen Auszügen dar, wobei ich zugleich die Gelegenheit wahrgenommen habe, mich gegen einige Widersacher zur Wehr zu setzen.
Ich hoffe, meine Ausführungen sind nicht mißfallend oder unangenehm, und empfehle mich hiermit der Gewogenheit des werten Lesers.
Nebra, 10. November 1733.
Michael Ranft.
3 „Vom Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern, ein Buch, zwei Abhandlungen enthaltend, von welchen die eine historisch-kritisch, die andere wahrlich philosophisch ist“.
4 Offizieller Bericht.
GENEIGTER Leser!
Du darfst dich nicht wundern, daß wir uns so lange unter der Erde aufgehalten haben, da die Reise dorthin sehr gefährlich ist und uns durch viele unwegsame Einöden und karge Orte führt.
Inzwischen sind wir aber über den Anblick der Gräber nicht erschrocken, sondern mit gutem Glück zu denselben hinabgestiegen. Nun kommen wir jedoch von diesen wieder zurück und sind dessen wohl eingedenk, woran wir erinnert worden sind.
Ob wir allerdings Orpheus‘ Schicksal teilen, der damals seine Eurydike aus der Hölle geholt und, ehe er sich versah, wieder verloren hatte, mögen andere beurteilen.
Du aber, geneigter Leser, lebe wohl und bleibe unseren Studien gewogen!
DU wirst dich wundern, geneigter Leser, warum ich auf diesen Seiten ein solches Thema auszuführen mir vorgenommen habe, welches mit so vielen und großen Gegensätzen behaftet ist, daß ich wahrlich zu tun haben werde, demselben gerecht zu werden. Es gehört zur Naturlehre und damit zu einer Disziplin, deren Geheimnisse auch der beste Naturkundler nicht erforschen könnte, selbst wenn er sich seine ganze Lebenszeit hindurch Tag und Nacht damit beschäftigen würde. Was wirst du demnach von mir halten, der ich ein Gottesgelehrter bin und doch keine Bedenken habe, mich der Untersuchung der verborgensten Kräfte der Natur zu widmen? Da jedoch ein Gelehrter alles zu untersuchen wagen sollte, darf es dir auch nicht so merkwürdig erscheinen, daß ich diese schwere und höchst sonderbare Lehre vom Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern, soweit sich’s ausführen läßt, abzuhandeln mir vorgenommen habe. Überhaupt erst aufmerksam wurde ich auf das Thema, als in den öffentlichen Zeitungen vor kurzem über ein sonderbares Werk der Natur berichtet wurde, vom dem ich glaube, daß dergleichen an toten Körpern kaum jemals wahrgenommen worden ist. Ich nahm mir sogleich vor, meine eigenen Gedanken dazu niederzuschreiben und zur Probe auf öffentlichem Katheder zu verteidigen. Aber kaum hatte ich die Arbeit aufgenommen, sah ich ein derart weites Feld vor mir und mußte erkennen, daß es mit einer einzigen Abhandlung wohl nicht getan sein würde. Du wirst es daher, geneigter Leser, zu verstehen wissen, daß ich dir zwei Abhandlungen zu dieser Materie liefere: eine, die historisch und kritisch ist, und eine zweite, rein philosophische. Zunächst möchte ich dir die historisch-kritische Abhandlung vorstellen. Du wirst sie zwar nicht für gewöhnlich, wohl aber auch nicht für außerordentlich erachten. Die Kürze der Zeit und andere Gründe hinderten mich daran, mich mit angemessenem Fleiß dem Thema zu widmen. Ich bilde mir daher nicht im geringsten ein, Lob oder Ruhm der Gelehrten dadurch zu erlangen, sondern bin zufrieden, wenn meine Arbeit dir, geneigter Leser, nicht ganz vergeblich und verdrießlich erscheint. Dieses verspreche ich mir um so gewisser, da mir zur Zeit noch kein Autor bekannt ist, der außer mir zu dieser Materie etwas geschrieben hätte, einmal abgesehen von Philipp Rohr aus Mark-Rahnstatt, der im Jahre 1679 an unserer Universität zu Leipzig diesbezüglich ebenfalls eine Abhandlung verfaßt und öffentlich verlesen hat. Sie führt den Titel „Dissertatione Historico-Philosophica de Masticatione mortuorum“. Anfangs glaubte ich darin Verwertbares für meine Studien zu finden, aber nachdem ich sie genauer untersucht hatte, befand ich, daß sie zwar vieles versprach, tatsächlich jedoch wenig halten konnte. Deshalb möchte ich dir meine Arbeit ausdrücklich empfehlen und glaube, daß du, sollte dieser erste Versuch gut aufgenommen werden und so Gott will, in kürze vielleicht schon etwas Gründlicheres und Besseres erwarten kannst.
5 ... wurde an der Universität zu Leipzig am 27. September 1725 öffentlich vorgetragen.
Die ganze Natur ist voller verborgener Kräfte. Die Naturlehre hat zwar zu unseren Zeiten beinahe den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht, aber es trägt sich doch immer und täglich etwas zu, was die gelehrtesten Meinungen der Weltweisen umkehren kann. Diejenigen, die behaupten, die ganze Natur wirke nicht anders als mechanisch, verwerfen damit all ihre verborgenen Kräfte als Weibermärchen, die bereits in den Schulen des Aristoteles ihren Ursprung genommen haben. Dadurch daß sie die Natur nicht anders als von hinten ansehen und alles von deutlichen Experimenten abhängig machen, gelangen sie sozusagen mit ihren äußersten Fingern nicht an jene Kräfte, weil sie ihnen jenseits aller Grenzen des Möglichen zu liegen scheinen. Und gewiß, die Zeichen, die sich zu unseren Zeiten im Reiche der Natur geäußert haben, sind so beschaffen, daß man sich nicht wundern darf, wenn fast alle – selbst die besten – philosophischen Orakel darüber verstummen.
Es gibt einige unter den Weltweisen, die alle Naturwunder entweder Gott oder dem Teufel zuschreiben. Nur, wer hält diese Art zu philosophieren nicht für abergläubisches Geschwätz? Dergleichen Leute geben doch ganz offenbar zu erkennen, daß sie hinsichtlich der Kräfte in der Natur von großer Unwissenheit kennzeichnet sind. Wir leugnen zwar die Wirkungen der Geister auf die Leiber nicht, sondern geben vielmehr mit beiden Händen zu, daß nicht nur Gott noch täglich in der Natur nach seiner besonderen Vorsehung Wunder tut, sondern auch der Teufel aufgrund seiner großen Kenntnis, die er von den Kräften der Natur hat, Wunderdinge ausrichten kann. Aber deswegen alles den Geistern und ihren unmittelbaren Wirkungen zuzuschreiben, mutet uns allzu unreif philosophiert an. Denn es geschehen immer wieder merkwürdige Zeichen in der Natur, die weder von Gott noch vom Teufel unmittelbar herrühren können. Beide handeln ja nach ihren Absichten, daher müßte sich in solchen Wunderdingen stets entweder göttliche Güte oder teuflische Bosheit offenbaren.
Vor ungefähr drei oder vier Jahren war der gelehrten Welt ein so sonderbares Beispiel poetischer Entzückung zu Ohren gekommen, wie es seit Menschengedenken kaum jemals gehört worden war. Wer die in den deutschen „Actis Eruditorum“6 beschriebenen Umstände eingehender betrachtet, der wird zwar die verborgenen natürlichen Kräfte bewundern, aber auch in diesem Fall weder Gottes noch des Teufels unmittelbarer Einflußnahme etwas zuschreiben können. Denn wenn Gott in den Lauf und die Macht der Natur durch ein Wunderzeichen eingegriffen hätte, müßte eine dahintersteckende göttliche Absicht7, die entweder die Ehre Gottes oder das Heil der Menschen anbeträfe, erkennbar sein. Keines von beiden läßt sich jedoch feststellen. Es dem Teufel zuzuschreiben, kommt auch nicht in Betracht, da es sich bei dem Poeten um eine Person handelt, an deren Untadeligkeit niemand zweifelt. Über andere Umstände schweigen wir vorerst.
Es ist demnach gewiß, daß in der Natur viele Kräfte verborgen liegen, über deren Wirkungen wir in Verwunderung geraten, ohne daß wir eine bestimmte Ursache dafür erkennen können. Wer wollte aber deswegen ihre Existenz leugnen? Ein einfältiger Mensch wahrscheinlich, der wegen mangelnder Intelligenz nicht imstande ist, die Ursachen der geschehenen Dinge zu erforschen, würde viel dem Teufel zuschreiben. Doch das würde ja eben bedeuten, von der Unkenntnis einer Sache auf deren Verneinung zu schließen. Dabei ist eines gewiß: Die Natur bleibt unerforschlich. Je einfacher jedoch ihre Kräfte werden, desto näher kommen sie den ersten Anfangsgründen und um so mehr werden sie zu Wunderwerken gemacht.
Um die Existenz der verborgenen Kräfte der Natur um so deutlicher erklären zu können, behaupten wir, daß alle Geister und Körper wechselweise aufeinander wirken. Denn es wirken die Geister auf Geister, es wirken die Geister auf Körper und es wirken schließlich auch die Körper auf Körper. Daß allerdings auch die Körper auf Geister wirken – und das unmittelbar! – ist wohl nicht anzunehmen. Unter den verborgenen nehmen sicherlich die Wirkungen der Körper auf Körper den ersten Rang ein, weil sie von den menschlichen Sinnen erfaßt werden können. Ihre Ursache und Existenz sind so fest begründet, daß sich bislang kein echter Philosoph fand, der es wagte, sie in Frage zu stellen. Allgemein als Sympathie und Antipathie bekannt, sind ihnen große Werke gewidmet, allen voran wahrscheinlich Athanasius Kirchers „Magnetismus der Natur“.
Die Existenz der Sympathie und Antipathie wird so leicht niemand in Zweifel ziehen, der von der anziehenden Kraft des Magnets einige Kenntnis hat. Hunde haben mit ihrem ungewöhnlichen Geheule nicht selten den bevorstehenden Tod von Kranken angekündigt, und daß ein jedes Tier am bloßen Geruch erkennen kann, was ihm zur Speise gut ist, sehen wir täglich. Wem ist nicht bekannt, was die musikalische Harmonie in den Gemütern der Menschen für eine Art der Sympathie erweckt? Was vermögen nicht in diesem Fall die Erb- und Einbildungskrankheiten? Was geben nicht die Mordlüsternen und jene, die bestimmte Tiere wie etwa Katzen nicht leiden können, für sonderbare Beispiele für Sympathie und Antipathie ab? Und wer will alles aufzählen, was zum Beweis der Existenz der Wirkungen der Körper auf Körper dient und einem jeden im gewöhnlichen Leben zur Genüge bekannt ist.
Auch viele andere Naturzeichen sind, obgleich von größerer Wichtigkeit, keineswegs aus einer teuflischen Zauberei heraus geschehen. Dazu gehören das Bluten toter Körper, die Wünschelrute, die Bezauberungen durch eine magische Einbildung, die Vorahnungen der Tiere, das Beschreien bzw. der böse Blick, die denkwürdigen Träume, der Tarantelbiß, der Einfluß der Gestirne. Daneben gibt es noch viele andere Dinge, deren Ursachen man sehr wahrscheinlich den verborgenen Kräften der Natur zuschreiben kann, z. B. das Einpfropfen9 bei Bäumen, die Raserei von Hunden, die Übertragung der Pocken, das sympathetische Pulver10 und dergleichen. All das bringt man doch nicht im geringsten mit teuflischer Magie in Verbindung. Wir maßen uns zwar nicht an, allen Einfluß der Geister bei solch verborgenen Wirkungen der Natur zu leugnen, weil uns mehr als bekannt ist, mit welcher List der Teufel des öfteren durch magische Künste zu betrügen pflegt, um dadurch sein teuflisches Reich zu vergrößern. Da er sein Werk jedoch größtenteils mit Hilfe sogenannter Hexen ausübt, denen er auf mancherlei Weise die verborgenen Kräfte der Natur zugänglich macht, kommen wir zu dem Schluß, daß sich die verborgenen Wirkungen der Natur auch ohne Zutun des Satans entfalten.
Nachdem eingehend beleuchtet wurde, daß es vielerlei Arten von Wirkungen der Körper auf Körper gibt, wollen wir nun auf ein Phänomen zu sprechen kommen, das wir das „Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern“ nennen. Längst haben uns unsere Großeltern vieles von in Gräbern fressenden Toten erzählt, aber wir haben dagegengehalten, daß es uns widerstrebe, diesen Märchen und äsopischen Fabeln, an denen sich nur die alten Weiber ergötzen, Glauben zu schenken. Warum nicht? Nun, wir haben derartige fressende Tote nicht selbst gesehen. Außerdem können wir uns ein solches Phänomen rational nicht erklären und des Aberglaubens beschuldigt zu werden, fürchten wir ebensosehr wie die Verletzung unseres ehrlichen Namens. Wen wundert es also, daß wir all die Beispiele, die hin und wieder in den historischen Schriften vorkommen, bisher in Zweifel gezogen haben? Es gibt wohl einen Menschenschlag, der von Natur aus dazu neigt, aus jedweder abergläubischen Mutmaßung ein mir nicht nachvollziehbares Vergnügen zu schöpfen. Solchen Zeitgenossen fällt es leicht, alles zu glauben, was sie hören. Was jedoch über ihren Verstand hinausgeht, das schreiben sie ohne Bedenken den höllischen Geistern und der teuflischen Zauberkunst zu.
Dann gibt es auch Mitmenschen, die letztlich nur die Rechtgläubigkeit der evangelischen Religion daran hindert, daß sie dem keinen Beifall geben können, was zu glauben ihnen eigentlich nicht schwerfällt. Vor der Beschuldigung der Ketzerei haben sie ein solches Grausen, daß sie lieber blindlings auf die Worte ihrer Lehrer schwören, als sich wegen abweichender Ansichten verketzern zu lassen. Dabei haben sie meistens gar keinen Grund, etwas zu befürchten. Die Wahrheit der Heiligen Schrift wird oftmals bloß aus Vorurteilen heraus für beleidigt gehalten. Das wird unter anderem an der Haltung gegenüber der Lehre von der natürlichen Zauberkunst deutlich. Dadurch daß die alten Gottesgelehrten aus Unkenntnis der verborgenen Kräfte der Natur alle Wunderdinge dem Teufel und seinen Zauberkünsten zugeschrieben haben, ist uns das Vorurteil in den Kopf gepflanzt worden, daß alle Lehre der natürlichen Zauberkunst auf die Leugnung der göttlichen Wunderwerke abziele. Aber das stimmt nicht. Die göttlichen Wunderwerke lassen sich auf eine so herrliche Weise von den Wunderdingen der Natur unterscheiden, daß man sich wundern muß, wie sie miteinander verwechselt werden können. Die Zerteilung der Wasser im Roten Meer und des Jordans, die Auferweckung der Toten und viele andere herrliche Taten, die Christus, die Propheten und Apostel durch Gottes Finger im Alten und im Neuen Testament vollbracht haben, sind und bleiben der Natur Geheimnisse. Zu deren Erklärung und Nachahmung wäre selbst das gesamte Höllenheer mit allen Schwarzkünstlern nicht fähig, auch wenn sie mit vereinten Kräften daran zu arbeiten anfingen.
Aber wer wollte deswegen alle Wirkungen der Körper auf Körper leugnen, nur weil sie im Lauf der Natur als etwas ungewöhnlich erscheinen? Der göttlichen Wahrheit wird dadurch doch nichts entzogen. Wir behaupten vielmehr, daß es dem evangelischen Glauben nützlich sei, wenn gezeigt werden kann, wie weit Gottes Wunder über denen der Natur stehen. Es ist uns allen bekannt, daß der Wunderglaube innerhalb der römischen Kirche einen hohen Stellenwert einnimmt. Wenn nun wir, die wir von der Gegenpartei und eines besseren Glaubens sind, alle wunderlichen Dinge in der Natur sogleich für Wunderwerke oder wenigstens für Wirkungen einer teuflischen Magie ausgeben wollten, könnten wir da nicht sehr leicht von unseren Widersachern betrogen und hintergangen werden? Das Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern werden die Papisten11 ohne Zweifel auch für ein göttliches Wunder halten. Und wer weiß, was für eine Lehre sie vielleicht damit zu bekräftigen suchen? Wer will es uns also übel nehmen, wenn wir das Kauen und Schmatzen einer natürlichen Wirkung des Körpers zuschreiben? Wenn uns auch ihre Art und Weise alle Zeit verborgen bleiben sollte, so steht zumindest fest, daß die Existenz dieser Sache bewiesen ist.
Ehe wir dieses sonderbare Naturwunder betrachten, wollen wir die Beispiele anführen, die der Sache Gewißheit geben. Überhaupt verdienen hier nachgeschlagen zu werden: Schwimmers kuriose Abhandlungen, Kornmanns „Von den Wunderdingen der Toten“, Garmanns „Von den Wunderdingen der Toten“, Harsdörffer im „Tragischem Theater“, Rohr in den „Abhandlungen über die schmatzenden und kauenden Toten“ und Voigt im „Physikalischen Zeitvertreiber“, die allesamt beflissen sind, Beispiele von kauenden und schmatzenden Toten zu sammeln. Einige sonderbare Beispiele dazu findet man auch in den Tischreden des seligen Luthers, bei Mollern in den „Jahrbüchern von Freiberg“, bei Konrad Schlüsselburg in der „Gründlichen Erklärung des 91. Psalms“, in Martin Böhms „Von den drei Landplagen“, bei Adam Röthern in „Pestpredigten“, Wenceslaw Hageneclo in der „Chronik von Böhmen“, Heinrich Rothen im „Anhang von den schmatzenden Toten“, Pitzschmann im „Leichenredner“, Ignatius Hanieln „Von der Pest in Schiefelbein“, Erasmus Franzisci im „Höllischen Protheus“ und bei Stieflern im „Historienschatz“. Interessant ist auch, was Pfarrer Gabriel Rzaczynsky in der „Geschichte der natürlichen Wunder des Königreichs Polen“, die im Jahre 1721 in Sendomir herausgegeben wurde, schreibt. Darin berichtet er vom Bluten der Körper und von den Toten, die in ihren Gräbern noch Fressen und die Lebendigen in der Nachbarschaft als Gespenster umbringen. Die Polen nennen sie Upiers und Upierzyca, von welchen der genannte Autor sehr glaubwürdige Zeugnisse anführt.