Impressum
Vorwort
1. Kapitel: Durch Nacht und Graus
2. Kapitel: Die Ebersteiner
3. Kapitel: Ein entarteter Bruder
4. Kapitel: Schurkenstreiche
5. Kapitel: Auf der Brautschau
6. Kapitel: Ein jüdischer Vampir
7. Kapitel: Die Tuberkelburg
8. Kapitel: Va Banque
9. Kapitel: Die Volkssängerin
10. Kapitel: Unter gleisnerischer Maske
11. Kapitel: Verraten
12. Kapitel: Die Geschichte der Sängerin
13. Kapitel: Frauenherzen
14. Kapitel: Der Bettlerkönig
15. Kapitel: Vergangene Zeiten
16. Kapitel: Überlistet
17. Kapitel: Das nächtliche Gericht
Letztes Kapitel
Der Bettlerkönig
Roman
1. Auflage 2021
ISBN: |
978-3-949122-50-7 |
ISBN E-Book: |
978-3-949122-51-4 |
Autorin: |
Klara Jochner |
Bearbeitung und Herausgeber: |
Norbert Lüttin |
Gestaltung Cover: |
sensdesign GmbH, sensdesign.com |
Druck: |
WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang |
Verlag: |
Salpeterer-Verlag, Rüßwihl 3, D-79733 Görwihl salpetererverlag.de |
© 2021 Norbert Lüttin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Haben Sie Anregungen oder Kritikpunkte zu diesem Buch? Dann senden Sie bitte eine Mail an: salpetererverlag@luettin.de.
Der vorliegende Roman wurde anno 1883 in mehreren Abschnitten in Zeitungen veröffentlicht, von denen zwei bekannt sind. Als Autor wird K. Reichner genannt. Weitere Veröffentlichungen dieses Romans konnte ich nicht finden, sodass ich davon ausgehe, dass der Roman hiermit erstmals als Buch herausgegeben wird.
Auf der Suche nach dem vollständigen Autorennamen stellt man fest, dass K. Reichner ein Pseudonym von Klara Jochner (? – 1913) aus München ist. Sie wird in den Verzeichnissen der Schriftsteller auch als Kinder- und Jugendbuchautorin bezeichnet. Man findet ihre Bücher, die Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, immer noch in Antiquariaten. Ihre Biografie ist jedoch weitgehend unbekannt. Sie schrieb und veröffentlichte unter dem Namen Klara Reichner einige Bücher, wie z.B. „1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit”, die „Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens”, das Kinderbuch „Auch ein Schatzkästlein”, „Aschenbrödel oder der Onkel aus Amerika”, das Gesangbuch „Das Singvögelchen” und gab „Robinson Crusoes Reisen und Abenteuer” neu erzählt heraus.
Die Übertragung des Ur-Textes in dieses Buch erforderte eine moderate Anpassung an die aktuelle Rechtschreibung. Es wurden einige nicht mehr gebräuchliche Begriffe in Fußnoten erklärt. Dabei habe ich lediglich kleine Anpassungen an den heutigen Sprachgebrauch gemacht, um den Schreibstil der Autorin und deren künstlerisch-literarisches Werk möglichst unverfälscht zu lassen.
Einen herzlichen Dank möchte ich an meine Mutter und an meine Frau für das Lektorat zum Ausdruck bringen, die mich im immerwährenden Kampf gegen die Tücken der Rechtschreibung unterstützen.
Sollte der Druck- oder Fehlerteufel irgendwo zugeschlagen haben, bin ich für Korrekturhinweise dankbar. Senden Sie dazu bitte eine Mail an: salpetererverlag@luettin.de.
Rüßwihl, im Juni 2021
Norbert Lüttin
Es war eine tiefdunkle Nacht.
Das öde Schweigen, welches auf der Straße herrschte, wurde nur zuweilen unterbrochen durch das Heulen und Stöhnen des Windes, durch das eintönige Geräusch des in dichten Strömen niederstürzenden Regens.
Unheimlich und drohend erhöhte das Dunkel der Nacht, die undurchdringliche Finsternis, das Brausen des Unwetters, welches fort und fort tobte, als ein Mann, in einen weiten, dunklen Mantel gehüllt, den Kragen bis über die Ohren hinaufgezogen, einen großen Schlapphut tief in die Stirn gedrückt, sich vorsichtig im Bereich der Häuser haltend, durch die menschenleeren Straßen schritt.
Unter seinem Mantel trug er eine verborgene Last, deren leises Wimmern verriet, dass es eine lebendige sei.
Niemand war in dem entsetzlichen Wetter ringsum zu erblicken, dennoch aber bewiesen die forschend überall die Finsternis durchdringenden, blickenden Augen des Mannes, dass er trotzdem Ursache hatte, auf seiner Hut zu sein, damit nicht eine unliebsame Begegnung seinen Weg kreuze.
Endlich atmete er, wie erleichtert, tief auf. Er hatte den Weg erreicht, dem er zugestrebt — eine einsame, entlegene Gegend, wo zwischen Gärten, Wiesen und Feldern selten nur eine menschliche Behausung auftauchte.
Hier war er völlig sicher, nachdem er den schmalen Pfad, der nach dem Fluss führte, eingeschlagen hatte.
Diesen verfolgte er nun, immer am Wasser entlang schreitend. Er achtete nicht darauf, dass die nassen, kahlen Zweige der Weidenbäume, mit denen der Weg dicht bepflanzt war, ihm ins Gesicht schlugen; er eilte nur so rasch als möglich, um mit seiner Bürde vorwärts zu kommen, so gut dies bei deren Schwere und dem aufgeweichten Boden möglich war.
Je weiter der Wiesenpfad am Wasser sich hinschlängelte, je einsamer wurde auch die Gegend. Kein Licht drang mehr durch die Finsternis. Totenstille herrschte überall, nur unterbrochen durch das eintönige Niederfallen des Regens, das Heulen des Windes und das leise Murmeln des Wassers.
Der nächtliche Wanderer aber musste gut orientiert sein, denn er verfolgte so sicher und ohne zu straucheln seinen Weg und doch war Vorsicht sehr geboten auf dem schlüpfrigen, engen Pfad, der abschüssig nach dem Fluss führte.
Nachdem er etwa zehn Minuten seinen Weg verfolgt hatte, wurde dieser etwas breiter und er gelangte auf eine Art Halbinsel.
Horchend blieb er stehen.
Der Anblick dieser Halbinsel war bei Nachtzeit ein höchst unheimlicher, obwohl im hellen Sonnenschein man sich nichts Lieblicheres denken konnte, als diesen Aufenthalt, wo freilich nur entmenschte Verbrecher ihr verborgenes Wesen trieben.
Die Ufer waren mit Weiden und Pappeln bepflanzt und fast die ganze Fläche der Insel war mit hohem, dickem Gras überwuchert.
Nachdem der Mann eine Weile horchend stehen geblieben war, ließ er den heiteren Ruf eines Käuzchens erschallen. Alles blieb still; doch nur kurze Zeit. — Dann hörte man deutlich den Lockruf einer wilden Taube und in demselben Augenblick erschien, mit einer Blendlaterne versehen, ein kleiner, zwerghafter Mann neben ihm, mit verschwitztem Gesicht und rotem Bart.
„Gott soll uns behüten — welch ein Wetter!”, begann er in unterwürfigem Tone.
„Ist die Luft rein?”, unterbrach ihn rau und mit befehlendem Tone der Fremde. „Macht schnell! Die Last hier ist wahrlich keine leichte. Macht schnell, dass wir ins Haus kommen! Die schwarze Lene ist doch unterrichtet?”
Nachdem sie sich eine kurze Strecke durch ein Gewirr von Unterholz hindurchgewunden hatten, befanden sie sich plötzlich vor einem halb zerfallenen, kleinen Gebäude, dessen Dach ganz mit Erde und mit Strauchwerk bedeckt war.
Mit einiger Mühe erst entdeckte das spähende Auge in einem Winkel eine kleine, niedrige Tür, welche kaum den Namen einer solchen verdiente, ebenso wenig als wie die elende Baracke selbst den Namen einer menschlichen Wohnung.
Der Zwerg klopfte dreimal an.
Drinnen musste man das Zeichen kennen und erwartet haben, denn unmittelbar darauf tat sich die Türe auf und eine große, hässliche Frau in mittleren Jahren, soweit ihr Alter sich bestimmen ließ, erschien auf der Schwelle. Sie trug einen alten roten Friesrock; ihr Haupt bedeckte ein grellfarbiges Tuch, unter welchem hervor das schwarze, stark mit grau vermischte Haar ihr wild und ungeordnet ins Gesicht hing, das dunkel wie das einer Mulattin1 war. Ihre dürren Hände und Finger, welche sich begierig nach dem Bündel, das der Fremde noch immer unter seinem Mantel trug, ausstreckten, glichen mehr den Krallen eines Geiers, als etwas Menschlichem.
„Tretet schnell herein!”, flüsterte das Weib mit einer Stimme, deren Klang heiser und rau wie die eines Mannes klang.
Der Fremde bückte sich tief, um mit seiner Last hereinzukommen, und legte alsdann mit einer Verwünschung das Bündel, welches er bisher unter dem Arm getragen, auf ein jämmerliches Bett aus Stroh und alten Lumpen nieder.
„Macht schnell, Alte, und sorgt, dass wir nicht um unseren hohen Preis kommen!”, rief er barsch, Hut und Mantel von sich werfend und sich ans Feuer setzend, das auf einem offenen Herde rauchend glimmte. „Habt Ihr keinen Branntwein? Ich bin nass bis auf die Haut.”
Der Zwerg ging eifrig zu einem kleinen Schrank, holte eine dickbäuchige Flasche und ein Glas hervor und setzte beides schmunzelnd vor dem Fremden nieder, der hintereinander mehrere Male das Glas füllte und leerte.
Unterdessen war die schwarze Lene — so hieß das Weib — beschäftigt, die große Decke zu lösen, mit welcher die geheimnisvolle Last, welche der Mann unter seinem Mantel hierher getragen, umhüllt gewesen war. Als die Hülle fiel, kam ein kleines, etwa drei bis vier Jahre altes Mädchen zum Vorschein, mit langem, braunem Lockenhaar, fein und zierlich gekleidet und um den weißen Hals ein schwarzes Bändchen mit einem Kreuz daran tragend.
Das Kind war blass wie eine Leiche und völlig regungslos, wie tot.
Der Fremde erschrak sichtlich bei diesem Anblick.
„Zieht ihr die Kleider aus”, gebot er heftig, „und wickelt sie in warme Decken. Hier, flößt ihr etwas Branntwein ein, damit sie wieder zu sich kommt.”
Der Zwerg näherte sich dem Lager mit grinsender, widerwärtiger Freundlichkeit, während die schwarze Lene eifrig mit der Wiederbelebung des Kindes beschäftigt war.
„Welch ein schönes Kind!”, rief er aus. „Ist wohl vornehmen Blutes, was?”, grinste er.
„Was geht das dich an, verwünschter Zwerg?”, fuhr der Fremde auf.
„Ach, wie seid Ihr heute übler Laune”, antwortete das kleine Männchen unterwürfig.
„Genug, ich muss wieder fort — sogleich!”, rief der Fremde rau. „Ich gebiete dir, schwarze Lene, nimm mir das Mädchen gut in Acht, dass ihr nichts geschieht, sonst fürchtet beide meinen Zorn!”
„Nun, nur nicht so herrisch!”, höhnte die Alte. „Ihr könntet gar ein wenig mehr höflich sein! Doch still, ich glaube, das Kind kommt zu sich.”
Und so war es.
Das Bewusstsein des kleinen Mädchens kehrte schnell zurück, doch kaum hatte sie auf ihre Umgebung einen Blick geworfen, als sie in ein klagendes Weinen ausbrach.
„Macht doch dem Geschrei ein Ende!”, rief der Fremde ungeduldig, der inzwischen Hut und Mantel wieder angelegt hatte. „Und dann hört noch eins! Dem Kinde soll die beste Pflege zu Teil werden, denn fürs Erste ist es uns unumgänglich notwendig. Es muss daher auf seine Erhaltung alle Sorge verwendet werden, damit wir im Notfall ein wertvolles Unterpfand besitzen, wenn uns irgendein Unheil droht. Die Verfolgung gegen uns ermüdet nicht so bald und sollte einer von den Unseren in des Feindes Hand fallen, ehe der Zweck erreicht, der unser Ziel ist, so soll das Kind ein Mittel sein, um uns Leben und Freiheit zu erhalten. Ist die Zeit gekommen, so gibt es ja noch genug sichere Wege, um bei Seite zu schaffen, was uns zur Last wird.”
Der Fremde hatte mit unheimlichem Lächeln diese Worte gesprochen, welches auch seine Lippen umspielte, als er fortfuhr: „Jetzt müssen wir daran denken, das Kind irgendwo unterzubringen, denn hier kann es nicht bleiben. Wir müssen deshalb einen sicheren Aufenthalt auskundschaften, wo wir das Kind jeden Augenblick finden können und in unserer Hand behalten.”
„Ich habe in dem Dorfe Weidenberg eine Verwandte, die alte Norgel, sie nimmt das Kind sogleich gegen gute Entschädigung zu sich und das Dorf ist weit und abgelegen”, erwiderte die schwarze Lene nach einigem Nachdenken.
„Wohl! So bringt das Kind bei Tagesanbruch dorthin und schließt alles ab, wie Ihr wollt!”, entschied der Fremde. „Und nun gehabt Euch wohl! Wenn ich wiederkomme, will ich hören, dass alles in Ordnung und das Kind gut aufgehoben ist, sonst wehe euch beiden!”
Mit diesen Worten ging der unheimliche Gast zur Tür hinaus, ohne zuvor noch einen Blick auf sein Opfer, das noch immer schwach wimmernde Kind, geworfen zu haben.
In dem kleinen, schmutzigen Gemache, dessen Fußboden ausgestampfter Lehm war, während die Wände roh und ohne jeglichen Kalküberzug, und die ganze Einrichtung nur aus einem Tisch, einigen Bänken und dem elenden Bett bestand, herrschte einige Minuten tiefes Schweigen, nur unterbrochen durch das leise Weinen des Kindes, dessen Schluchzen allmählich in das Wimmern der Erschöpfung überging.
Der Zwerg stellte, nachdem der Fremde fort war, sorgsam die Flasche nebst dem Glase wieder in den Schrank zurück, trat dann an den Herd heran und nahm, sich ausstreckend, eine Schüssel von dem Sims, schnitt ein Brot in kleine Stücke und ging damit an die hintere Wand; hier zog er einige hölzerne Riegel heraus, mit denen zwei oder drei kurze Stücke Bretter an die Balken festgenagelt waren, scheinbar für den Zweck, Hausgerätschaften daran aufzuhängen.
Als dies geschehen war, zeigte es sich, dass die Wand, statt aus einfachen, geraden Balken zu bestehen, eine große, hölzerne Türe enthielt, die sehr geschickt mit Streifen von Baumrinde bedeckt war. Die Fugen der Türe waren unter kleinen Brettstückchen verborgen, die man wegnehmen konnte. Von hier aus gelangte man direkt in eine geräumige Höhle, die durch eine große Öffnung von oben im Dach Luftzug erhielt. Diese Höhle führte durch einen unterirdischen Gang ziemlich bis an das Wasser, wo sich unter dem Gebüsch ein kleiner Ausweg befand.
Der Ton von menschlichen Stimmen und die Rufe der Angst, die aus diesem geheimnisvollen Gang zuweilen von Passanten vernommen wurden, hatten die ganze Gegend in Verruf gebracht. Nur wenige ließen sich dort sehen; selbst am hellen, lichten Tage überfiel sie ein Schauder abergläubischer Furcht und gar am Abend würde sicherlich niemand sich dort lange aufgehalten haben.
Auf diese Weise wurde durch den Schrecken, der über die Gegend sich verbreitet hatte, der Ort gemieden, und die Bewohner der Hütte konnten ungehindert dort ihr Wesen treiben.
In dieser Höhle der Seelenhändler befanden sich etwa zwanzig Kinder verschiedenen Alters, Knaben und Mädchen, die meisten drei bis sieben Jahre alt. Das waren die Geister, welche die Umgegend fürchtete.
Als der Zwerg eintrat, drückten sich die Kinder scheu aneinander; nur ein kleiner Knabe blieb trotzig in einer Ecke stehen.
„Hier bringe ich euch euer Abendbrot!”, grinste der Zwerg, indem er die geschnittenen Brotscheiben auf einen kleinen Holztisch schüttete und den Wasserkrug, den er trug, daneben stellte.
Gierig stürzten sich die armen, halb verhungerten Kinder darüber her; nur der kleine Knabe rührte sich nicht von der Stelle.
Wütend schrie der Zwerg ihn an:
„Warte, du Trotzkopf, ich werde dich in das dunkle Loch einsperren, wohin ich den kleinen, verräterischen Iltis gesteckt habe, der von hier ausbrechen wollte. Hast du ihn nicht jammern gehört?”
Der kleine schrak zitternd zusammen und hob bittend seine Hände empor, während er ängstlich nach einer kleinen Türe sah, hinter welcher ein kurzer, niedriger Gang zu einem kleinen, runden Verschlag führte. Es war ein so niedriger Raum, dass man nur gebückt stehen konnte, lag dicht am Wasser und war feucht und finster.
Dieses Loch war das Schreckgespenst der armen Kinder geworden, seit ein Knabe, der versucht hatte, sich zu befreien, und der gedroht, er werde sie dann alle verraten, die ihn und die anderen Kinder hierher geschleppt, dabei ertappt und zur Strafe in dieses Loch gesteckt worden war. Dort hatte er die ganze Nacht erbarmungsvoll geschrien, aber keiner sich um ihn bekümmert und am Morgen fand man ihn tot. Unter den Bissen der heißhungrigen Ratten, die gierig über ihr armes Opfer hergefallen waren, hatte er unter den entsetzlichen Qualen sein Leben ausgehaucht.
Daran dachte jetzt der kleine Knabe und sein Heldenmut hielt nicht länger Stand vor der furchtbaren Aussicht, in diesen Raum gesteckt zu werden und elend darin zu verkommen. Scheu kam er näher und las — mit den andern — die Brotkrumen vom Tisch auf.
Der Zwerg lächelte zufrieden vor sich hin, wie ein Teufel, welcher weiß, dass ihm seine Beute nicht entgehen kann, und der stets ein Mittel weiß, um widerspenstige zu zähmen und Trotz in Demut zu verwandeln.
Als die „Fütterung” vorüber war, warf der Zwerg noch einen grinsenden Blick umher, ob auch alles in Ordnung sei, denn er führte ein strenges Regiment über seine bejammernswerten Opfer. Dann entfernte er sich, nachdem er allen mit der knöchernen Faust gedroht und den trotzigen, kleinen Knaben noch einmal besonders zürnend angeschaut hatte.
Vorsichtig verschloss er die Eingangstür zu dem Gefängnis der armen Kinder und schritt den Gang entlang.
„Dieser Knabe ist ein gefährliches Element unter seinen Kameraden”, murmelte er vor sich hin, „wir müssen sehen, seiner so bald als möglich ledig zu werden. Mir ist es zuweilen, als ob sein Hiersein einst zu unserem Verderben gereichen könnte. Angst erfasst mich, wenn ich nur daran denke. Aber das ist eine törichte Furcht, wer sollte unseren verborgenen Schlupfwinkel ausfindig machen können?”
Als der Zwerg zurück in den vorderen Raum kam, fand er die schwarze Lene in aufmerksamer Betrachtung vor dem jetzt schlummernden, aber trotzdem noch ab und zu leise aufstöhnenden Kinde stehen, und sein geübter Blick entdeckte sofort, dass das Metallkreuz, welches das kleine Mädchen an dem schwarzen Bande um den Hals getragen hatte, verschwunden sei.
„Wo hast du das Schmuckstück gelassen, Alte?”, fuhr er sie mit gedämpfter Stimme an.
Das Weib richtete die knochige Gestalt hoch auf und trat ihm furchtlos entgegen.
„Was kümmert das dich!”, höhnte sie. „Doch sieh her, beruhige dich. Das Kreuz ist unecht und nicht drei Pfennig wert, ich nahm es an mich, um etwas in Händen zu behalten von dem Kinde — man kann nicht wissen, wofür es gut ist, ich meine für das Kind — es gibt so viele schlechte Menschen!”
Und die schwarze Lene lachte kurz und scharf auf, wie über einen wohlgelungenen Witz, auch der Zwerg kicherte gezwungen ein wenig mit, indem er sich bemühte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, um es mit seiner entschlossenen Verbündeten, die er fürchtete, nicht zu verderben.
Das kleine, zarte Mädchen lag im sanften Schlummer und ein barmherziger Engel, sein Schutzengel, zauberte ihm süße Traumbilder vor die Seele.
Zu welcher Zukunft wird es erwachen, wenn sein Genius2 es nicht mehr mit seinen Flügeln schützt, nachdem der Hölle Arm sich selbst der jungen Menschenknospe bemächtigt — in Nacht und Graus?
1 Mulatte ist eine inzwischen selten verwendete rassistische bzw. diskriminierende Bezeichnung für einen Menschen, dessen Vorfahren teils schwarze, teils weiße Hautfarbe hatten.
2 Genius: Beschützender, vor Unheil bewahrender Geist.
Das Schloss der Ebersteiner war ein alter Herrensitz, niedrig gebaut, mit hoher Bedachung, dessen Anblick einen fast schwermütigen Eindruck auf den Beschauer machte, so düster war sein eigentümlich alt-aristokratisches Gepräge.
Weite Freitreppen, verrostete, eiserne Balkone, vom Unwetter zerstörte Vasen, aus deren grauem Gestein frische Blumen hervorragten, vervollständigten den Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Unweit von dem alten Schloss lag die Meierei mit ihren roten Ziegeln und alles umrahmte der herrliche Park mit seinen alten Linden, seinen Eichen, Pappeln und Kastanienbäumen.
Springbrunnen, Teiche, in denen die untergehende Sonne sich im vollen Glanze wiederspiegelte, sowie der nahe Fluss gereichten dem alten, moosigen Gebäude zur Zierde, das sich so stolz und verwittert erhob, als hätte es stets ganz unbeirrt in allen Stürmen der Zeit dagestanden und doch war auch über das Haupt dieses altersgrauen Daches schon mancher Sturm hinweggebraust, der das starke Gebäude erschüttert hatte bis in die Fugen.
Solch ein Wetter tobte auch damals, kurze Zeit vor dem Beginn unserer Erzählung, als ob der ganze Himmel ein Feuermeer sei, von welchem Schlag auf Schlag, Blitz auf Blitz niederzuckte, während der Regen in Strömen floss und die Nacht so früh herabsank, dass bei dem düsteren Unwetter kein lebendes Wesen weit und breit mehr zu erblicken war.
Doch halt! Bewegt sich da nicht etwas? Ja, wahrhaftig, es ist eine menschliche Gestalt, die durch das Unwetter mühsam vorwärts dringt, denn nur mit größter Anstrengung vermochte die schwache, gänzlich ermattete Wanderin, welche ein Kind, ein kleines Mädchen, auf ihren Armen trug, ihren Weg durch die schaurige Nacht zu verfolgen.
„Mein Gott, gib mir Kraft, dass ich das Haus noch erreiche! Es kann ja nicht mehr weit sein!”
Eifrig wollte sie weiter gehen, aber die Füße trugen das arme, erschöpfte Weib nicht mehr. Sie schwankte und fiel, um das Kind zu schützen, so unglücklich mit dem Haupte gegen eine Baumwurzel, dass sie vollständig betäubt eine Weile liegen blieb. Da brachte sie ein leises Weinen ihres Kindes wieder zu sich und mit dem Mute der Verzweiflung erhob sie sich vom Boden und ging — oder taumelte vielmehr — eine Strecke weiter.
Sie hatte sich im Fallen die Stirn verletzt, das Blut tropfte von ihrer Schläfe nieder — sie achtete es nicht. Rastlos eilte sie weiter, obwohl es wie ein Nebel sich über ihre Augen zu legen drohte, bis sie endlich ächzend unter einem Baume zusammenbrach.
„Gnadenreicher Gott, der du mich durch mannigfache Gefahren und Prüfungen bis hierher geführt — verlass mich und mein Kind nicht!”
Und wieder wollte sie sich aufraffen und wieder sank sie, leise wimmernd, zurück, mit der Hand an ihre Stirn greifend.
„Großer Gott! Was ist das? Ich — kann — nicht — mehr.”
Todesschweigen folgte.
Auch das Kind war still — es war eingeschlafen.
Es mochte neun Uhr vorüber sein, das Gewitter hatte ausgetobt, der Regen aufgehört, nur der Wind pfiff kalt und traurig durch die Wipfel der hohen Fichten der Wälder, als das heftige Weinen eines Kindes durch die öde Gegend schallte, und als hätte es nur dessen bedurft, um das arme, zusammengebrochene Weib aus ihrer Erstarrung zu reißen, richtete sie sich mühsam auf. Wild starrte sie um sich, aber es war finstere Nacht.
Da sah sie von weitem einen Lichtschimmer wie einen rettenden Stern durch das tiefe Dunkel blitzen. Horch, und jetzt tönte laut und vernehmlich Hundegebell durch die Stille.
„O Gott, gib mir Kraft, dass ich mein Kind rette!”
Und zitternd stand sie mühsam auf und schwankte langsam dahin.
Im Pachthof — denn von dorther drang der helle Schein — saß Hanna, die Pächterin, am Tisch, die Lampe und ein altes Andachtsbuch vor sich, und horchte auf den Sturm, der sich bald in langgedehntem Pfeifen, bald in heftigen Windstößen kund gab und die Fenster des Hauses erschütterte.
Da hörte sie zu wiederholten Malen den Flügelschlag einer Eule an dem Fenster und ihren schrillen Ruf:
„Uhui, uhui, uhui!”
„Gott schütze uns”, murmelte sie, „welch eine furchtbare Nacht!”
Sie war nicht abergläubisch, aber ein dunkles Vorgefühl erfüllte sie mit rätselhafter, unbeschreiblicher Bangigkeit.
Sie trat ans Fenster, um die Läden zu schließen. Da plötzlich wurde die Glocke draußen heftig angezogen.
„Großer Gott!”, rief Frau Hanna laut und erschreckt.
Hatte sie recht gehört? Hatte es wirklich geläutet? Wer konnte so spät noch etwas wollen?
Frau Hanna war bleich geworden; sie fürchtete sich fast zu öffnen.
Rasch ergriff sie die Lampe und eilte damit in die Küche, wo am warmen Herdfeuer noch Philipp, der Knecht, mit der alten Mutter Trine saß.
„Hörtet ihr nichts? Hat nicht jemand geläutet?”, rief sie diesen zu.
„Es ist nichts, Frau Hanna, als der Wind — der gibt heute Abend einen seltsamen Ton, wie wenn man jemanden weinen hörte; es ist mir den ganzen Abend schon so vorgekommen”, meinte bedächtig Mutter Trine, die alte Tagelöhnerin.
In demselben Augenblick wurde wieder draußen laut gegen die Türe geklopft.
„Es ist jemand da und offenbar in Not! Wer es auch sein mag, komm, Philipp, wir wollen öffnen um zu sehen, wer Einlass begehrt.”
Frau Hanna leuchtete dem Knecht mit der Laterne, während er den Riegel zurückschob und die Türe öffnete.
Sie leuchtete hinaus in das Dunkel, aber wie scharf auch ihre Augen umherspähten, sie sahen nichts.
Da tönte das leise Weinen eines Kindes an ihr Ohr, rasch stieg sie die steinernen Stufen hinab und stieß mit dem Fuß gegen einen menschlichen Körper.
„Philipp, komm schnell!”, rief sie. „Es liegt jemand hier!”
Sie leuchtete näher und der matte Lichtschein der Laterne fiel auf eine Gruppe, deren Anblick der warmherzigen Frau die Tränen in die Augen trieb.
Am Fuße der Treppe lag ein totbleiches, junges Weib, dicht an sich gepresst ein Kind, welches leise weinte.
War die Frau tot?
Frau Hanna befasste sich nicht lange mit nutzlosen Gedanken. Sie nahm das Kind aus den erstarrten Armen der Daliegenden, befahl dem Knecht, die Frau ins Haus zu bringen, die ganz durchnässt war, und übergab drinnen das Kind der Mutter Trine, während sie selbst bemüht war, die Fremde der nassen Kleidungstücke zu entledigen.
Philipp hatte die Bewusstlose sorgfältig aufs Bett niedergelegt. Sie war ärmlich, jedoch sehr ordentlich und mit einem gewissen Geschmack, der vergangene bessere Zeiten verriet, gekleidet.
„Ich glaube, die Ärmste ist vor Hunger und Erschöpfung ohnmächtig geworden!”, flüsterte Frau Hanna. „Und wie kalt sie ist!”
Schnell bereitete sie warmen Tee, flößte der halb erstarrten davon ein und rieb die matten Glieder mit gewärmten Decken.
Sei es nun, dass die angenehme Wärme die Lebensgeister der Leidenden aufs Neue belebten, oder war es die innere Angst der Mutter um ihr Kind — sie richtete sich plötzlich auf und rief:
„Wo ist mein Kind?”
„Beruhigen Sie sich, Ihr Kind ist wohlgeborgen”, sprach Frau Hanna mit milder Stimme. „Ich werde es Ihnen sogleich bringen.”
„Oh, Hanna, hast auch du mich vergessen?”, flüsterte die Kranke schwach.
Bei dem Klang dieser Stimme schien eine plötzliche Flut von Erinnerungen auf Hanna einzudringen. Sie stürzte vor dem Bette auf die Knie, schlang die Arme in leidenschaftlicher Zärtlichkeit um die Sprechende und schluchzte und weinte wie ein Kind.
Die bleiche Frau ließ sich die Liebkosungen Hannas mit der größten Teilnahmslosigkeit gefallen; sie war offenbar zu matt und elend, um im Vollbesitz ihrer Empfindungen zu sein.
„Meine teure, junge Gräfin! Meine freundliche, gütige Herrin! So kehren Sie zu uns zurück? Sie, die ich als den Abgott Ihres Vaters und des ganzen Hauses gesehen, die von allen gefeiert und angebetet wurde!”
„Ja”, versetzte die Verstoßene ruhig, „und die jetzt ärmer ist, als die Bettlerin am Wege, die wenigstens ohne Scheu ihre Hand nach einer milden Gabe ausstrecken darf. Der Wohltätigkeit Fremder habe ich die elenden Gewänder zu verdanken, die mich bedecken, und die Toten in der Gruft meiner Ahnen würden entrüstet ihre Särge sprengen, wenn sie mich sehen könnten, so elend wie ich jetzt bin!”
„Ja, das würden sie — das würden sie”, schluchzte Hanna.
„Und nun, Hanna, höre, was ich dir zu sagen habe. Ich fühle, dass mir nicht mehr lange Zeit zu leben bleiben wird. Deiner Obhut vertraue ich den einzigen Schatz an, den ich noch besitze: Die Urkunde über meine Vermählung und die Legitimität meines Kindes, bewahre sie”, und sie heftete ihre dunklen Augen fast drohend auf Hanna, indem sie diese beim Arm ergriff, „bewahre und hüte sie wie das Leben deines einzigen Kindes. Lass dich durch keine Bestechung, durch keine Überredung dazu bewegen, sie herauszugeben. Mein unnatürlicher Bruder wird überall — nah und fern — danach suchen. Er wird nichts unversucht lassen, sie aufzufinden.”
„Nichts soll mir das Geheimnis entreißen, meine teure, junge Herrin!”, rief Hanna, indem sie auf Knie niedersank und ihr Versprechen durch einen Schwur bekräftigte.
„Niemals werde ich dieses Papier jemandem anders aushändigen, als demjenigen, den Sie mir nennen werden.”
„Nur — ihm, wenn er noch am Leben ist!”, flüsterte die junge Frau mit matter Stimme. „Oder, sollte er nicht mehr zu den Lebenden zählen, meiner Tochter, sobald sie erwachsen ist und einen Gatten hat, der sie beschützen kann.”
Hanna zeigte in eine Ecke des Zimmers.
„Erinnern Sie sich noch dieses Andenkens?”, fragte sie, auf einen mit sonderbarer Schnitzarbeit verzierten, kleinen, altertümlichen Schreibtisch deutend.
„Ja, ja”, murmelte die Fremde traurig, „dieser Schreibtisch stand früher in meinem Ankleidezimmer im väterlichen Schloss. Man bezeichnete meinen Urgroßvater als den Verfertiger desselben.”
„Als ich heiratete”, sprach Hanna, „schenkten sie ihn mir, weil ich Sie darum bat. Sie werden sich entsinnen, dass er ein Geheimfach hat, das wir zufällig entdeckten, als wir noch Kinder waren.”
Sie drückte mit dem Finger auf ein kleines, geschnitztes Blatt und es entstand eine Öffnung, groß genug, um die Papiere aufzunehmen.
Die großen, dunklen Augen der Ausgestoßenen glänzten wie im Fieber, als sie alles mit ansah. Dann lehnte sie sich matt in die Kissen zurück und sagte mit leiser Stimme:
„Ich möchte jetzt mein Kind sehen.”
Hanna hob das schlafende, kleine Mädchen aus Mutter Trines Armen und brachte es der bleichen, jungen Frau. Sie nahm das Kind, drückte es leidenschaftlich an ihre Brust, küsste es wiederholt und flüsterte:
„Mein armes, armes Kind, Gott schütze dich! Nimm es, Hanna”, fuhr sie dann fort, „und behüte es, bis ich wieder gesund sein werde und wenn nicht, so nehme Gott sich der Verlassenen und Verwaisten an, und der Himmel segne dich, Hanna, so wahr du deinem Schwur getreu bleibst!”
Die Nacht verging auf dem Pachthof in trauriger Erregung; als indessen der Tag zu dämmern begann, sah Hanna das Gesicht der Kranken deutlicher. Es war so bleich und eingefallen, als ob die Hand des Todes schon das Siegel darauf gedrückt hätte. Die Augen aber, diese großen, dunklen, glänzenden Augen sprachen eine beredte1 Sprache. In ihrem stummen Ausdruck lag eine ganze Geschichte von Elend und von Leiden.
Die Hände wie zum Gebete faltend, trat Hanna auf den Zehenspitzen näher.
„Hanna”, sagte die Fremde, „ich schlafe nicht, komme her und höre, was ich dir zu sagen habe, du treue Seele. Ich wollte noch einen Versuch machen, um das Herz meines Vaters zu erweichen und seine Vergebung zu erflehen. Deshalb bin ich hierhergekommen, aber”, setzte das arme Weib mit klagender Stimme hinzu, „ich werde nicht mehr die Kraft haben. Ich fühle es — ich werde dieses Lager nicht wieder lebend verlassen.”
„Das Herz des Herrn Grafen rühren!”, unterbrach sie Hanna in bitterem Tone. „Ja, wenn der junge Herr nicht wäre, — der hat ein Herz von Stein!”
„Ich würde es dennoch versucht haben, Hanna!”, sprach die Leidende, indem sie die vor ihr stehende flehend anblickte. „Und weil ich nun nicht kann, Hanna, so gehe du aufs Schloss. Erzähle meinem alten Vater alles, dass sein verstoßenes Kind reumütig zu ihm wiederkehrt, elend und von aller Welt verlassen. Ich ersehne seine Verzeihung noch vor meinem Ende für mich und für mein armes Kind, damit ich ruhig sterben — in der Heimat sterben kann. Oh, Heimat — welch süßer Klang liegt in diesem einen Wort! Diese Hoffnung, dass es mir gelingen würde, Verzeihung zu finden, war und ist der einzige Lichtstrahl in meinem großen Elend, Hanna. Ich habe es ja längst gewusst, dass es so kommen musste, aber da es nun da ist, das Ende, geht es doch fast über meine Kräfte. Ich begreife es selber nicht, dass ich noch immer Tränen habe in meinem endlosen Jammer und Herzeleid.”
Die Kranke bedeckte, von ihrem Weh überwältigt, mit beiden Händen die einst so schönen, jetzt tief in den Höhlen liegenden Augen. Hanna, tief bewegt, versprach ihr, alles zu tun, was sie verlangt hatte. Das Herz wollte der treuen, anhänglichen Dienerin fast brechen, als sie die Tochter ihrer Wohltäterin, die Gespielin ihrer Kindheit und die Gefährtin ihrer Jugend, so elend und gebrochen wiedersehen musste. Was hatte die allgewaltige, treue Liebe, die dieses junge Weib aus dem Schlosse ihrer Väter getrieben, aus der einst so schönen, einer herzlichen Rose gleichenden Mädchenblüte gemacht? Was war übrig geblieben von der bezaubernden Schönheit?
Eine Ruine — ein welkes Blatt!
Bevor Hanna sich ihrem Versprechen gemäß am Vormittag aufs Schloss begab, hatte sie eine längere Beratung mit ihrem Manne, dem braven Pächter Sommer, gehalten, welcher in allen Dingen seiner Frau zu folgen pflegte, von deren Verstand und warmem Herzen er die höchste Meinung hatte.
„Nun, Hanna”, sagte er, selbst tief erschüttert von ihrem Bericht, „du wirst wohl wie stets das Rechte finden. Ich glaube zwar kaum, dass du zu dem alten Grafen wirst gelangen können, der ja seit langer Zeit schon krank und menschenfeindlich sein soll. Ich habe es dir nur nicht sagen wollen, weil du vom Schloss nichts hören wolltest. Ich glaube übrigens, der alte Herr da oben hat die Gräfin Leonore noch nicht vergessen.”
„Oh, Stefan, wenn du Recht hättest!”, seufzte Hanna. „Aber mir ahnt nichts Gutes, obwohl ich alles daran setzen werde, den Wunsch meiner armen Gräfin zu erfüllen.”
Und mit schwerem Herzen machte sich Hanna auf den Weg, um den harten Gang nach dem Schlosse anzutreten.
Als sie dort anlangte, wollten ihr die Diener den Eintritt verweigern und jede Unterredung mit dem alten Grafen verwehren. Es sei unmöglich, ihn zu sprechen, sagten sie, denn alle fürchteten den jungen Grafen Herbert, der ja einst ihr Herr werden würde, und dieser hatte seit des alten Grafen Krankheit strengen Befehl gegeben, niemanden — wer es auch sei — bei seinem Vater vorzulassen, für welchen jede Erregung tödlich wirken könne.
Hanna aber war nicht die Frau, die sich so leicht abweisen ließ.
Da sie wohl wusste, dass keiner der Diener es wagen würde, einem Befehl entgegen zu handeln, welcher mit Androhung des Verlustes der Stelle erteilt worden war, so suchte sie des alten Grafen vertrauten Kammerdiener Friedrich auf. Wenn einer, so konnte nur dieser ihr helfen.
„Im Namen der Gräfin Leonore, der sterbenden Gräfin Leonore”, flehte sie ihn an, „lassen Sie mich nur wenige Worte mit ihrem Vater sprechen. Der Himmel wird es Ihnen lohnen, denn Sie vollbringen ein gutes Werk mit dieser Tat.”
Und Friedrich widerstand der Bitte nicht, welche im Namen seiner unvergesslichen, jungen Gräfin Leonore an ihn erging. Er führte Hanna zu seinem Herrn, dem alten Grafen Eberstein.
„Warten Sie einen Augenblick, Frau Hanna”, flüsterte er, als sie das Vorgemach erreichten, das eine dichte Portiere2 von des Grafen Wohnzimmer abtrennte, „ich will Sie anmelden.”
Gleich darauf hörte Hanna des Grafen Stimme sagen:
„Du sagst, Friedrich, Hanna Sommer sei hier, um mich zu sprechen? Ich will sie nicht sehen!”
„Oh, gnädiger Herr”, bat der alte Diener, „seien Sie nicht hart mit ihr, haben Sie Mitleid.”
„Was will sie von mir? Ich will Ruhe haben. Ich bin müde und erschöpft. Sage der Frau, dass ich nichts für sie tun kann, dass ich sie nicht anhören kann und will.”
„Sie werden mich dennoch hören, Herr Graf!”, sprach da eine sehr ernste Stimme, und Hanna trat, die Falten der trennenden Portiere zurückschlagend, mit festem, sicherem Schritt ins Zimmer.
Es ist unmöglich, den Eindruck zu beschreiben, welchen Hannas Anblick auf den alten Herrn, der dort zusammengekauert und fröstelnd in seinem reichgeschnitzten Samtlehnstuhl am Kamin saß, einsam und elend inmitten aller Pracht, auszuüben schien.
Die große Liebe und Treue, welche sie für die junge Gräfin unverändert stets im Herzen getragen, waren jedermann bekannt; machte Frau Hanna doch nie einen Hehl daraus. Außerdem genügte die bloße Erscheinung der Gespielin und früheren Zofe seiner Tochter allein, um den alten Grafen mächtig zu erschüttern.
In diesem alten Schloss aber schienen die Wände Ohren zu haben. Noch ehe Hanna ihre Botschaft auszurichten im Stande war, ertönten rasche Schritte hinter ihr und — Hanna fühlte im tiefsten Herzen, dass jetzt alles verloren sei — ins Zimmer trat der Mann, welcher der Urheber all des Unglücks Leonores war und dem in diesem Augenblick nicht zu begegnen Hanna kein Opfer zu groß gewesen wäre: Graf Herbert!
Gewaltsam bemühte Hanna sich, wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen.
„Was geht hier vor?”, fragte der junge Graf mit Härte. „Wie kann man es wagen, meinen Vater gegen seinen Wunsch und gegen meine Befehle zu belästigen? Friedrich, führen Sie augenblicklich den Herrn Grafen in sein Schlafgemach — Sie sehen, wie ruhebedürftig der alte Mann ist. Mit Ihnen rede ich nachher — vorerst will ich mit dieser Frau hier sprechen!”
Was Graf Herbert von der Ruhebedürftigkeit des Grafen, seines Vaters, sagte, schien allerdings begründet; wenigstens ließ der Greis, sichtlich erschöpft, hilf- und willenlos sich von dem alten Diener fortführen, ohne auch nur einmal den Kopf nach der Pächterin zurückzuwenden.
Nachdem die schwere Eichentüre sich hinter ihm geschlossen hatte, wendete sich Graf Herbert Eberstein Hanna zu. Es lag ein unaussprechlicher Hochmut, fast ein Triumph in den kalten Blicken, mit denen er sie musterte, während er sich an den Kamin lehnte und die Arme über der Brust verschränkte.
Der junge Graf besaß eine hohe vornehme Gestalt; er war eine angenehme stattliche Erscheinung mit männlich schönen, beim ersten Augenblick bestechenden Zügen, aber in seinem Gesicht konnten alle Leidenschaften sich spiegeln, in seinen Augen glühte oft ein unheimliches Feuer, während List und Verschlagenheit darin aufblitzten und mit dem Ausdruck eines ungebändigten Hochmuts wechselten.
Vielleicht wusste Graf Herbert schon, was die Pächterin hier im Schlosse suchte, denn wohl mochte schon zu ihm die Kunde gedrungen sein, dass der Pachthof seit gestern Nacht eine fremde Frau nebst ihrem Kinde in seinen Mauern barg. Allein in seinen Mienen war nichts davon zu lesen, als er zu der Frau, die das Haupt zum Gruße neigend, sich ihm näherte, sprach:
„Was wollten Sie von meinem Vater, Hanna? Verschonen Sie mich mit Bitten und Tränen. Ich kann nichts tun. Was wollen Sie also von mir?”
„Gerechtigkeit, Herr Graf”, rief Hanna, auf welche das Auge des jungen Grafen stets wirkte, wie der bannende Blick einer giftigen Schlange, so wenig sie auch sonst die Furcht kannte. „Gerechtigkeit für Ihre unglückliche Schwester! Gräfin Leonore liegt sterbend im Pachthof!”