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Hans-Dieter Schütt

Klaus Lederer

Die Sterne über Berlin

Mit einem Vorwort von Gregor Gysi

 

 

 

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Das fein Geplante / Ist doch zum Schrein.

Das Ungeahnte / Tritt eisern ein.

VOLKER BRAUN

 

 

 

Hier im Reich des Schneekönigs

und unter tausend Sternen

gibt es keine Fragen mehr.

Aber wenn wir wieder unten im Tal sind,

warum wollen wir dann tausend Antworten?

REINHOLD MESSNER

 

 

 

Wir fahren nachts im Boot über den See

und lassen den Himmel dichten.

MICHAEL KRÜGER

 

 

 

Komm lass dich nicht erweichen,

Bleib hart an deinem Kern,

Rutsch nicht in ihre Weichen,

Treib dich nicht selbst dir fern.

FEELING B

 

 

 

 

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Hochzeitsgast: Gregor Gysi gratuliert Klaus und Oskar Lederer, 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Alle Rechte vorbehalten.

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ebook im be.bra verlag, 2021

 

© der Originalausgabe:

be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2021

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Umschlaggestaltung: typegerecht berlin

Titelfoto: ullstein bild / Thielker

ISBN 978-3-8393-0151-7 (epub)

ISBN 978-3-89809-186-2 (print)

 

www.bebraverlag.de

GREGOR GYSI

Ein utopischer Realist

 

 

 

 

Linken Politikerinnen oder Politikern gelingt es nicht häufig, auf Beliebtheitsskalen ganz vorn zu stehen und dann sogar Lob von Medien zu beziehen, die der Politik im Allgemeinen und der Linkspartei im Besonderen eher sehr kritisch gegenüberstehen. Man kann sich sicherlich darüber streiten, ob dergleichen Lob überhaupt erstrebenswert ist. Doch wenn einer wie Klaus Lederer beides geschafft hat, Beliebtheit und Lob, dann lohnt es sich schon deshalb, seinem Woher und Wohin, seinem Wofür und Wogegen nachzuspüren.

Lederer ist einer, der über den berüchtigten Tellerrand hinausschaut und sich Gedanken macht, was eine Gesellschaft zusammenhält und in unserer zum Teil geradezu unversöhnlich polarisierten Welt geändert werden muss, damit wieder wirklicher Zusammenhalt entstünde. Dem promovierten Juristen ging es von Anfang seines politischen Engagements an immer darum, dass Wirtschaft, Politik, Recht, ja die Gesellschaft generell der Menschenwürde gerecht werden mögen. Und Zustände eben nicht so sein und so bleiben dürfen, dass sie diesem Wert, diesem Ziel entgegenstehen.

Die preisbedachte Dissertation Lederers beschäftigte sich kritisch mit der Privatisierung im Wassersektor. Die Forderung: Öffentliche Daseinsvorsorge muss sich im öffentlichen Eigentum vollziehen, zumindest aber in öffentlicher Verantwortung geschehen – wenn sie denn im Interesse der Menschen und nicht im Interesse des Profits von Kapitalgebern geregelt werden soll. Diese klare Erkenntnis in die konkrete Politik einer Koalition umzusetzen, die unter massivem Finanzdruck stand – damit hatte sich die Linke in ihren ersten Berliner Regierungsjahren zu Beginn des Jahrtausends zunächst schwer getan. Zu jener Zeit wurde Klaus Lederer Landesvorsitzender seiner Partei; die Zustimmung des rot-roten Senats zum Verkauf einer Wohnungsgesellschaft ließ die Wählergunst zerfallen. Man muss schon einiges an innerer Stärke besitzen, an Verhandlungskraft, an Geduld und Geschick, um in einer Koalition ein Blatt so zu wenden, dass 15 Jahre später Berlin zur einzigen Großstadt in Deutschland werden kann, in der Mieten dank Mietendeckel – sinken.

Aktuell gibt Lederer keine Ruhe, um der Kunst und Kultur in Berlin in der Corona-Pandemie ein Überleben zu ermöglichen, das wirklich wieder – Leben ist. Von einem für Kultur zuständigen Senator mag man das logischerweise auch erwarten. Doch wer die finanziellen Verteilungskämpfe zwischen den einzelnen Ressorts in einer Regierung auch nur ein bisschen kennt, kann in etwa ermessen, was dies an Kraft und Einsatz, auch Trotz bedeutet. Ein Einsatz für Theater, Kinos, Veranstalter, Clubs, für Künstlerinnen und Künstler – dafür, dass das Land Berlin der Kultur deutlich besser hilft, als es der Bund tut. Wenn in der »BZ« aus dem Hause Springer steht: »Erste Hilfe: Berlin finanziert Kultur stärker und schneller als der Bund« und im Artikel ein kleineres Privattheater mit den Worten »Was wirklich funktioniert, sind die Landesmittel« zitiert wird, so ist das schon ein Ritterschlag für Lederer, auch oder gerade, weil die BZ ihn als Linken so selbstverständlich anerkennend nicht oft erwähnt. Was ich aus eigener Erfahrung kenne.

Als Klaus Lederer 2016 Bürgermeister von Berlin wurde und sich Kultur und Europa als Fachressort erkor, fragten sich einige, warum er sich keinen Politikbereich gesucht habe, der landläufig zu den Schwergewichten zählt. Als Jurist hätte er ja auch den Justiz-Senat beanspruchen können. Heute dürfte sich mancher Kunst- und Kulturschaffende, der die kreative Ruhe der Uckermark der Berliner Hektik vorgezogen hatte, vielleicht fragen, ob es nicht doch besser gewesen wäre, in der Hauptstadt zu bleiben. Allein die Berliner Corona-Hilfen wären dem Brandenburger »Modell«, einem Versteckspiel hinter unzureichenden Bundesregelungen, vorzuziehen.

Wer mit Lederer ins Gespräch kommt, wird schnell bemerken, dass er Argumente der jeweils anderen Seite ernst nimmt, ohne jemandem nach dem Munde zu reden. Er ist das, was man authentisch nennt, und diese Authentizität war schon immer eine der wichtigsten Eigenschaften, wenn man politische Glaubwürdigkeit erlangen wollte. Bei Lederer käme einem nicht die Vermutung in den Sinn, er stelle für einen kleinen politischen Vorteil seine Überzeugungen hintan. Man weiß bei ihm, woran man ist. Daran reiben sich viele, mitunter auch seine eigenen Genossinnen und Genossen.

Neben Bodo Ramelow wurde er zum Gesicht einer Politik, die ihre Mehrheiten links von der Mitte findet und die bei aller Begrenztheit der Landesebenen in einem föderalen System – das zum Beispiel die Steuerhoheit im Wesentlichen beim Bund sieht – eines beweisen kann und muss: dass es nicht egal ist, wer regiert. So lassen sich beim Blick auf Berlin auch Vorstellungen entwickeln, wie mit einer solchen politischen Mehrheit die Bundesrepublik aussehen könnte. Und wie diese Mehrheit im Bund Politik machen würde. Im Gespräch mit den Betroffenen. Frei von Entscheidungswillkür von oben herab. Bürgerbewegungen quasi als Lebenselixier fürs Regieren begreifend.

Solche Vision mag sehr utopisch erscheinen, wenn man sich vor Augen führt, dass bei den Grünen, als möglichem Teil einer solchen politischen Mehrheit, gerade eben erst, im neuen Grundsatzprogramm, die direkte Demokratie sehr weit auf die hinteren Ränge geschoben wurde. Aber angesichts der tiefen wirtschaftlichen und sozialen Spaltung stehen wir vor einer Frage, die drängend der Klärung bedarf: Lassen wir zu, dass die Demokratie weiter marktkonform zugerichtet und damit in ihrem Wesen zerstört wird, oder gelingt es, auf demokratischem Wege den Märkten und dem Kapital endlich und bändigend Regeln zu setzen? Die Antwort wird davon abhängen, in welchem Maße die skizzierte Vision in praktischer Politik – für die Mehrheit der Bevölkerung und mit ihr – realisiert werden kann.

Lederers Arbeiten für Kunst und Kultur in der Hauptstadt ist deshalb auch ein Arbeiten für die Demokratie. Ein Kampf um sie. Denn die politische Rechte stellt demokratische Strukturen und Grundrechte grundlegend infrage. Ihr keinen Raum zu lassen und erst recht keine Dominanz zu ermöglichen, ist Lederer wichtig: Menschen brauchen eine Perspektive für ein einigermaßen planbares Leben in sozialer und öffentlicher Sicherheit. Eltern müssen wieder sicher sein können, ihren Kindern werde es einmal besser gehen als ihnen – diejenigen, die scheinbar einfache Lösungen anbieten und einen nationalen Egoismus predigen, dürfen daher nicht weiter zunehmende Resonanz bekommen.

Als Lederer mit seinem Partner vor Jahren eine Lebensgemeinschaft einging, die Ehe gab es noch nicht, hielt ich zur Feier eine kurze Ansprache. Ich wies darauf hin und kann es inzwischen bekräftigen: dass ich in meinem Leben, hinsichtlich schwuler Männer, Zeuge einer gravierenden kulturellen Veränderung gewesen bin. Als ich Kind war, wurden sie noch eingesperrt. Dann wurde die Strafbarkeit – zunächst in der DDR, später in der BRD – aufgehoben. Der Ruch des Unmoralischen blieb wie kalter Rauch in Klamotten hängt. Dann endlich kam offiziell die Lebenspartnerschaft, und nun gibt es die Ehe. So dass zumindest vom Gesetzgeber her eine volle Akzeptanz als Maß gegeben ist. Die sich als Selbstverständlichkeit auch schrittweise in der Bevölkerung durchsetzt. Es gibt Länder, in denen dies noch gänzlich anders aussieht. Klaus Lederer und seinem Partner sagte ich deshalb, dass sie mit ihrer »späten Geburt« Glück hatten. Sie haben die Schrecken der Verfolgung nicht mehr erlebt und können mit vielen anderen zusammen Schritt für Schritt die Diskriminierung abbauen. So fügen sich in einem Leben Anstrengung, harte Arbeit, Veränderung des Zeitgeists und Glück.

Er hat etwas zu sagen, und es ist gut, dass er in meiner Stadt und ja, auch in meiner Partei, etwas zu sagen hat. Umso mehr, als er mindestens genauso gut zuhören wie reden kann. Es möge noch lange so bleiben.

 

GREGOR GYSI, geboren 1948, Rechtsanwalt und Politiker. 1990–2002 und 2005–2015 Fraktionsvorsitzender der PDS und der Fraktion Die Linke im Bundestag. Seit 2020 außenpolitischer Sprecher der Fraktion.

HANS-DIETER SCHÜTT

Der dynamische Gleichmut

 

 

 

1.

Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, so Walter Benjamin, heiße nicht viel. Aber sich in einer Stadt zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, dies brauche Schulung. Es bedarf des wachen Blicks für Licht, dem man ausweicht, und Schatten, die man sucht; es bedarf der Lust auf Überraschungen unterwegs, die man nicht sofort mit Zu- und Einordnung erledigt. Geh hin, wo es nichts zu sehen gibt und wo du dir trotzdem alles merken willst. Wo du nur ums Haus gehst – und es ist ein Weg um die Welt. Jedes Gossengras gehört zur Geschichtsschreibung der Menschheit. Geh schräg. Steig hinab. Sei daneben. Dunkle dich weg. Fahr mit Fernlicht in Sackgassen. Vertrau Wegweisern, die noch keine Aufschrift tragen.

Benjamin band seine Bemerkung über das Verirren ans geschäftige, wirre, brodelnde Berlin. Auch für den Dichter Uwe Johnson, viele Jahrzehnte später, war Berlin ein Grund für Lob. Lob etwa für eine Bahn, »in der ein Fensterplatz noch was wert ist«. Denn dies erlaube Blicke hinaus in des Ortes so besondere Dreifaltigkeit: das Geerbte, das Gekerbte, das Gegerbte. Die S-Bahn: »das Dunkelkarmin, das Ochsenblut, das behäbige Geld darüber. Wir erkennen das Geräusch ohne Nachdenken, die klirrende Durchfahrt, nachts das atmende Bremsen und Anfahren, singende Beschleunigung.«

Berlin ist Großstadt – und längst auch Klein-Staat. Stadtstaat. Bundesland. Klaus Lederer von der Linkspartei ist Senator für Kultur und Europa. Die Kultur ist im Grunde solch eine Benjamin’sche Einladung: sich kundig zu verirren. In Vielfalt, in Mehrfarbigkeit, in Erlebnisfülle. In Berlin dürfen die grandiosen urbanen Angebote des Universalen unanfechtbar behauptet und beschworen werden. Nunmehr muss freilich hinzugefügt werden: wenn nicht gerade Corona-Beschränkungen schwer auf allem lasten.

Lederer, Jahrgang 1974, war Landesvorsitzender seiner Partei; seine Senatsverwaltung ist Teil einer rot-rot-grünen Koalition; inzwischen wurde er Spitzenkandidat der Linken für das im Herbst 2021 neu zu besetzende Amt des Regierenden Bürgermeisters. Das Grün der Stadt, der Ankauf kommunaler Wohnungen, die Bekämpfung der Armut, das kosmopolitische Lebensgefühl und Berlin als Teil eines europäischen Metropolennetzwerks – Lederer wird wissen, wie man für den möglichen großen Schritt ins Rote Rathaus gewichtige Pakete schnürt. Aber in unseren Begegnungen für dieses Buch breitet er vordergründig keine politische Bilanz aus. Und er präsentiert kein Parteiprogramm – Wahlpapiere werden woanders ediert. Er kapriziert sich auch nicht als Kandidat. All das hätte mich wenig interessiert und kaum im Dialog gehalten. Denn interessantere Schlüssellochperspektiven als die eines Politikerbüros gibt es allemal.

Es bleibt also genügend Misstrauen: Wer mit einem Politiker Interviews führt, macht sich generell der Beihilfe zu dessen Eigenwerbung schuldig. Hier nun trotzdem ein Funktionärs-Bild in Frage und Antwort?

Was mich zum Gespräch bewog, war eine Vermutung: Da versucht sich einer in halbhoher Politik, und man sieht ihm an, wie er sich gegen landläufige Rekrutierungsmechanismen des Betriebes wehrt. Eines Betriebes, der überall darauf hinauszulaufen scheint, sich ins Gegenteil seines Auftrages zu verkehren, nämlich: aufzulösen statt zu binden. Was sich in der politischen Praxis allenthalben auflöst, sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Wahrlich, wer die Wahl hat, hat viel Qual: Bevölkerung, die gewonnen werden soll, fühlt sich von Politikern und Parteien zunehmend gepeinigt. Es genügt zur Bestätigung das lähmende Erlebnis eines TV-Tages mit »phoenix« oder »n-tv«: Ausführungen, Einlassungen, Erörterungen. Statements. Pressekonferenzen, Gesprächsrunden. Fraktionen sitzen, Ausschüsse sitzen, Kommissionen sitzen. Räte, Präsidien, Gremien aller Art. Alles sitzt. So geht der Betrieb. So scheint alles stillzustehen. Kontakt zum Leben: Fehlanzeige.

Man betrachte sich die Aufenthaltsorte von Politikern: Gemeinplatz, Schleudersitz, Listenplatz, Regierungsbank, Hinterbank oder jene lange Bank, auf der die Probleme gehortet werden. Gefesselte Gullivers allesamt. Und ihre Lektüre erst! Akten, Rundschreiben, Vorlagen, Dossiers, Entwürfe, Positionspapiere, Bulletins, Resolutionen, Protokolle, Gutachten, Anfragen, Anträge, Berichte, Richtlinien, Entschließungen. Angesichts dessen muten Treffen mit Politikern wie eine fatale Einladung an: Komm mit ins Elend!

Lederer weiß das. Er kann Elend weglächeln. Er lächelt gern, weil es ihm ein Entree für Gedanken ist. Die er dort hat, wo andere nur Argumente vorbringen. Manchmal freilich gehen sie aus. Ein Tweet vom Ende des vergangenen Jahres: »Ich kann nicht mehr. Heute bin ich richtig durch. Schnauze voll. Morgen wird es wieder besser sein. Es hilft, an die zu denken, die wirkliche Probleme haben. Mir geht es doch gut.«

2.

Er ist einer von den großen Kerls. Große, oder präziser: lange Kerls neigen zur Herablassung. Das ist ein natürlicher Reflex, denn die Welt der meisten anderen Menschen befindet sich nun mal auf einem etwas niedrigerem Niveau der Körpergrößen, und das Herabneigen bekommt damit etwas charmant Ungelenkes. Weil der Eindruck vermieden werden soll, man selber blicke von oben herab, sei also – bleibe man ungebeugt – herablassend. Demnach kann Augenhöhe für große Kerls eine Turnübung sein. Gegen den Verdacht des Hochmuts. Der aufrechte Gang, welch Paradoxon, erhält damit zwangsläufig etwas Gekrümmtes. Klaus Lederer weiß auch das und lässt sich also, wenn er in eine Begegnung hineingeht – herab. Was bleibt ihm übrig. Lächelt er jetzt vorsichtshalber? Nein, zugewandt. Er genießt sich selber auf angenehme Weise und möchte wahrscheinlich am liebsten, dass Menschen, die mit ihm in Kontakt kommen, dies auch tun. Oft, so der Eindruck, schafft er das.

Ist das schon Verhandlungsgeschick? Der Journalist Stefan Willeke hat es in der Hamburger »Zeit« so beschrieben: Klaus Lederer vom Flügel »der Total-Pragmatiker und Halb-Reformer« habe »ein Händchen dafür, schwerwiegende Konflikte fein zu zerbröseln«. In den Jahren als Landeschef der Berliner Linken gelang es ihm zum Beispiel, sehr heftigen, nicht ungefährlichen innerparteilichen Richtungskämpfen auf eine Weise beizukommen, dass die gemeinsame Handlungskraft bewahrt blieb.

Er war »der erste Alternative auf dem Chefsessel der Berliner Sozialisten«. So die »taz« 2005, als Lederer Vorsitzender des PDS-Landesverbandes geworden war. »Mit spektakulären Bekanntmachungen über einen neuen Kurs kann ich nicht dienen«, war damals einer seiner ersten Sätze in ein Mikrofon. Diese erste, grundlegende Maßnahme: Maß einzig an dem zu nehmen, was die Wirklichkeit vorgibt. Die Wirklichkeit, nicht die Utopie. Eine Vorsichts-Maß-Nahme. Das leise Treten als Ausdruck von Courage. Lederer wurde so zum Leadsänger des Backgrounds. Er hört nicht schlechthin zu, er hört offen. Er sammelt, ehe er entscheidet. Es sind die kleinen Kreise, die er zu großen Impulsgebern erhebt.

Die Frage nach einem Heil hat ihn nie bedrängt. Einer Mission hing er nie an und nach. Er gehört zum Beispiel auch nicht zu jenen, die eine links so hervorstechend gewordene Identitätspolitik mit nervender Tendenz zur Selbstradikalisierung betreiben. Queeres Selbstbewusstsein? Natürlich. Lederer präsentiert es. Aber fern jener neuen Ideologie, die »aus jeder Sachfrage eine Frage der Ehre macht«, wie es der Dramaturg Bernd Stegemann im »Spiegel« formulierte. In einem Essay warnte er vor »Aktivisten, die sensibel nach Kränkungen fahnden und blind für ihre eigene Aggressivität sind, mit der sie andere anprangern«. Lederer ist das Pendant. Er steht gegen die Vorherrschaft des vermeintlich politischen Richtigen, das sein Urteil einzig aus dem Glaubenssatz bezieht: Diese Gesellschaft will mich nicht so, wie ich bin. Ein Glaubenssatz, der sich gern als linkes Bekenntnis betrachtet. Lederer steht gegen derartig unterkomplexes Denken aus dem heraus, was Stegemann »Wutspannung« nennt. Zudem ist er keiner von den Genossen, die nach wie vor und explizit in vorwiegend östlicher deutscher Geographie ihre so wichtigen Selbstbejahungsstellen finden. Er ist also keiner von denen, die noch immer in der politischen Gefahr stehen, dass ihre DDR-grundierte Bodenhaftung zu blockierender Hermetik wird. Lederer: für sowas zu jung, zu klug, zu neugierig.

Als Kultursenator war er Ende 2016 auf Tim Renner gefolgt. Einer fatalen Unrühmlichkeit hatte dieser Staatssekretär von Wowereits leichtfertigen Gnaden die Krone aufgesetzt, als er den Direktor der Tate Gallery of Modern Art, Chris Dercon, zum Intendanten der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz machte. Nach einem Vierteljahrhundert Frank Castorf. Ein Proteststurm brach los. Warnungen gingen an Renner, das Theater nicht mehr zu betreten. Als er 2018 dort eine Filmvorführung besuchte, traf er auf den Schauspieler Alexander Scheer. Der schüttete ihm ein Glas Bier über den Kopf.

Vier Jahre nachdem Lederer Senator geworden war, einige Monate nach dem Beginn der Corona-Krise, »ernannte« ihn Reimund Spitzer, der Betreiber des Golden-Gate-Clubs, in einem Gespräch mit dem »Tagesspiegel« zum »St. Georg der hauptstädtischen Kulturlandschaft«. Die Zeitung kommentierte: »Wer weder Rheinländer noch katholisch geprägt ist, würde auf den Drachentöter-Vergleich vielleicht nicht kommen. Doch was Lederer vor seiner Senatorenzeit im Blick hatte – Minderheitenschutz und Bürgerrechte – das will er auch im Kulturbereich realisieren.« Und er tat es.

Einen »Beschützer soziokultureller Nischen« und »Apostel der Teilhabe« bezeichnete ihn Frederik Hanssen im »Tagesspiegel«. Und plötzlich dann war er der sehr Entschiedene – und war dies entschlossener als andere. Er nämlich war es, der im Corona-Anbruch des Frühjahrs 2020 – gewissermaßen gegen den eigenen Herzschlag – das Schließen der hauptstädtischen Theater und anderer Kulturinstitutionen betrieb. Mit bitterem Dank an seine Mathematiklehrerin, die »uns die Exponentialfunkton lehrte«. Es drückten die Bergamo-Bilder mit den Corona-Toten, und Fantasie war ihm nicht, wie gewöhnlich, die Rettung vor der Welt, sondern die Öffnung in sie hinein. Fantasie produzierte nämlich noch schlimmere Bilder als die realen italienischen aus der Lombardei, schuf somit Visionen der Angst, deren Verwirklichung auch den Freiheitsort Berlin in die Existenznotlage eines Sperrgebiets zwingen könnten. Und so offenbarte der gelassen nachdenkliche Senator seine Fähigkeit auch zum operativ befähigten Krisenmanager. Eine Fähigkeit, die sich übers Jahr zu halten wusste.

Mit Energie und gespannter Wachheit versucht Lederer, eine schon etwas bejahrte, aber bewahrte Jungenhaftigkeit ins Amt zu verlängern. Im Rhythmus der täglichen Stresserzeugung ist das nicht immer leicht. Aber er passt sehr auf, möglichst oft einer zu sein, der nicht nur immer aufpasst. Etwa wenn es um politische Korrektheit geht. Auf einer Pressekonferenz im November vorigen Jahres verkündete der Regierende Bürgermeister, Michael Müller, Coronaschutz-Maßnahmen. Als er von zu schließenden Friseursalons sprach, strich sich der mit auf dem Podium sitzende Lederer mit ironisch kommentierendem Lächeln übers kurze Haar. Er selber redete Minuten später über die sehr ernsten Corona-Diskussionen mit Müller, dabei sei koalitionäres Vertrauen, ohnehin vorhanden, noch einmal derart gewachsen, dass er Zuversicht spüre in die Verlängerung dieser politischen Partnerschaft in Berlin. Lange vorm Wahlkampf um den neuen Senat schon ein Koalitionsangebot? Und wieder dieses Lächeln, jetzt dezent offensiv. Müller hörte. Ja, hörte – zu, nicht offen. Saß plötzlich wie festgeklemmt. Ihm fiel nur ein, den Kopf zu schütteln und ebenfalls zu lächeln. Aber in der Weise, wie man etwas Flapsiges weglächelt.

Dieser sekundenkurzen Szene, gar nicht weiter wichtig, kann man ein Kalkül Lederers unterstellen und hätte sie wohl schon sehr überinterpretiert. Aber man kann des Senators Bemerkung auch für einen ehrlichen Reflex halten, und vielleicht ist damit überhaupt nichts überinterpretiert. Denn: Warum nicht sagen, was man nach anstrengenden Gesprächen mit SPD (und Grünen) empfindet? Warum nur immer gefiltert leben? Warum nur fortwährend diese Rekrutierung durch Taktiken? Warum nur immer Vorsicht und Rücksicht darauf, wann welche Absicht »nach draußen« darf?

3.

Politik ist ein Geschäft im Zerrfeld von Spannungen. Ordnung ist da nicht wirklich hineinzubringen. Wir wählen, wählen ab, wählen falsch und als Konsequenz beim nächsten Mal gar nicht. Oder wählen wieder nur so wie immer schon. Also erneut falsch. Wir lassen uns von den behaupteten Tendenzen der aktuellen Entwicklung fangen oder nicht. Alles wechselt alle paar Jahre, das Entscheidende freilich ändert sich nicht: Unterm Druck welcher Regierung, unterm Druck welcher Opposition, unterm Flaggenmix welcher politischer Farben auch immer – die Renitenz des Wirklichen straft die Propheten jeglicher geschichtlichen Geradlinigkeit Lügen. Denn Regierungszeit wechselt, die Zeiten ändern sich so rasch nicht. Und nur eine einzige Frage, entstanden aus sozialen Erfahrungen und gegen sie, geprägt von Psyche und Temperament, vereint allzeit alle Menschen: Wie soll man leben? Die gültige Antwort weiß niemand, kein Dichter, kein Forscher. Kein Politiker. Diese einzige Frage also. Und die Suche nach Antworten trennt die Menschheit seit jeher in zwei Gruppen, unabhängig davon, wer jeweilig an der Macht ist. Welt: Was für die einen Möglichkeitsräume sondergleichen darstellt, ein riesiges Selbstverwirklichungsfeld, das gilt den anderen als Arena des Scheiterns, als ein Amphitheater des immerwährenden Ruins. Melancholiker, Frohnaturen, Macher und Zauderer, Gelegenheit Begreifende und Flucht Ergreifende, Schwermütige und Weltverbesserer, Träumer und Pragmatiker, auf Abbruch Existierende und jene, denen die neuen Ufer nie ausgehen – sie alle existieren seit jeher und für immerdar auf zwei sehr wesensverschiedenen Planeten, die aber zufällig den gleichen Namen tragen: Erde.

Und so blüht eine Fantasie, die Frieden brächte: Es müssten nur zwei Wahrheiten zusammenfinden. Dass die Ideale nicht zu Ende sind – davon erzählen die einen; dass die tägliche Entzauberung der Ideale auch weitergeht – davon erzählen die anderen. Und: Jedes Wissen interessiert jeden. Das wär’s: Der Blick derer, die nur Zukunft schauen, kreuzt sich mit dem Blick derer, die leider schon zu viel gesehen haben.

Aus dieser Fantasie entwickelt Klaus Lederer das, was man vielleicht einen dynamischen Gleichmut nennen könnte. Zur Philosophie seiner linken Lebenskunst gehört nämlich, etwas zu genießen, das für eine Programmpartei wie die seine schwer erträglich sein muss: den Status fortwährenden Übergangs, den Zustand des Unentschiedenen, die Unwägbarkeiten des offenen Ausgangs.

Dass Linke wie Lederer mitregieren, wirkt auf Länderebene als Zeichen wider die geläufige deutsche Lage, besonders zu beobachten im großkoalitionär geprägten Bundestag: Die Regierung ist im Grunde der Exekutivausschuss der Parlamentsmehrheit, die Kontrolleure im Parlament bilden nur die stagnierte Minderheit. Jeder Einspruch wie gegen die Wand gesprochen. Lederer ist Protagonist einer belebenden Totengräberei, wie sie bereits in mehreren Bundesländern dirigierende Praxis ist: Die Zeit der Volksparteien gehört der Vergangenheit an.

Der Sinn von Politik sei Freiheit, sagt Hannah Arendt. Freiheit in solcher Perspektive ist nicht gemeint als Fähigkeit und Privileg des einzelnen Subjekts oder als Eigenschaft des isolierten Ichs, sondern als eine Form des Miteinander-Seins, als eine Realität, die nur stattfindet, wo mehrere sich treffen. Politik ist das Geschehen, in dem sich übergreifende, handlungsleitende Ideen und ein kollektives Bewusstsein formen, daher ist es auch der Vollzug von Auseinandersetzung und Konflikt.

Können Parteien das je wieder werden? So frei, so einladend, so aufklärerisch?

»Unübersichtlichkeit« ist ein Wort, das Lederer gern ausspricht. Es klingt bei ihm nicht wie eine Last, eher wie eine Lockung. Vielleicht schaffen es Parteien doch noch, Triebkräfte kommender Frühe zu sein, vielleicht aber stolpern sie alsbald der Moderne hinterher wie ein überlasteter Gepäckträger mit einem Berg alter Koffer. Jeder Koffer gefüllt mit Kampfbegriffen, die Meilenstein sein wollten, aber vom Stein nur noch das hinderliche Gewicht haben. »Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert«, sagt Heiner Müller. »Wie lang hält die Erde uns, und was werden wir die Freiheit nennen?«, fragt Volker Braun.

4.

In jedem besseren Frage-Antwort-Fluss erinnern sich die Gesprächspartner gegenseitig an ihre intelligenteren Möglichkeiten. Man entdeckt die Freude, navigationsfähig zu sein in einem Problemraum. Genau von dieser Art waren die Gespräche mit Klaus Lederer. Sie fanden von Juni bis Dezember 2020 statt. Wenn er so rede und sich dabei Fasern des Ingwer-Tees von der Zunge zupfe, so der »Tagesspiegel«, spüre man, wie hinter der linken Rhetorik »ein in formaler Logik geschultes Mathematikergehirn mit ungeheurem Tempo Verknüpfungen« herstelle. Schnell redet er, die Hände reden gleichsam mit, als seien sie am Knüpfen der geistigen Verbindungen beteiligt.

Es überraschte mich während der Gespräche, wie wiederkehrend schnell Klaus Lederer von Alltäglichkeiten auf Astronomie zu sprechen kam, auf Sterne, auf Konstellationen weit außerhalb unserer Begreifensgabe. Um just diese Gabe zu schärfen. Das Unbegreifliche als Trainingsfeld für die Zuversicht ins Wissen. Und ebenso für die Zuversicht, dass Wissen nicht alles ist. Weiß der Himmel!, so ruft der Mensch seine Unsicherheit hinaus. Der Himmel als das, was diese Stadt Berlin teilte (Christa Wolf); der Himmel als der Ort, von wo Engel herabkamen (Wim Wenders). Der Himmel über Berlin; ein nordischer. Irgendwo in dieser Stadt liegt vielleicht noch ein Stück Stacheldraht. Hat vergessen, was es bewachen sollte. Gegenüber der Senatsverwaltung in der Brunnenstraße, wo Klaus Lederer arbeitet, prangen an einem Gebäude groß und weiß, die Worte von oben nach unten, über die gesamte Fassade verteilt: »Dieses Haus stand früher in einem anderen Land.«

Und wieder Heiner Müller: »Berlin ist das Letzte. Der Rest ist Vorgeschichte./ Sollte Geschichte stattfinden, wird Berlin/ der Anfang sein.«

War das schon? Ist das gerade? Kommt das erst?

 

Hans-Dieter Schütt     Berlin, im März 2021

 

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Arbeitsplatz: Rednerpult im Abgeordnetenhaus, 2010

I

 

»Du bist ganz Gegenwart.

Du wirfst dich rein.

Kommt Zeit, kommt … was weiß ich.

Ich spiele nicht auf Platz.

Aber ich verkrampfe nicht.«

 

 

Klaus Lederer, den Kaffee trinken Sie aus einer Tasse, auf der steht etwas Eindeutiges: »Der Kapitalismus funktioniert nicht.« Auf der anderen Seite der Tasse der Verweis auf Marx.

Das ist eine völlig groteske Beschriftung. Erstens stimmt sie nicht, zweitens hat es Marx so nie gesagt. Karl Polanyi hat vom Kapitalismus als einer »Teufelsmühle« gesprochen, das trifft es eher. Ja, die Tasse … ein Geschenk mit komischer Aufschrift, aber ich mag sie trotzdem (lacht). Mein Fundus an Büro-Kaffeetassen ist groß, heute ist zufällig diese dran. Hauptsache heiß.

 

Sind Sie ein Morgenmensch, ein Wochenanfangstyp?

Eher gehe ich mit gemäßigtem Temperament in Tag und Woche. Aber das Leben und seine Abläufe richten sich ja nicht danach (lacht). Gestehen muss ich: An die Schlagzahl, die mir in meiner jetzigen Tätigkeit abgefordert wird, kann ich mich wahrscheinlich nie ganz gewöhnen. Mir liegt der ruhige Start. Ich bin ein Nachmittagsmensch, tendierend zum Nachtmenschen.

 

Vorsicht bei der Aussprache. Klingt wie Machtmensch.

Immer genau hinhören!

 

Mark Aurel soll gesagt haben, ein Mann von vierzig Jahren und in ausreichend höherer Stellung habe alles Wesentliche erfahren, was im Leben zu erfahren sei.

Ich bin über vierzig und kann das nicht bestätigen.

 

Vielleicht ist Ihre Stellung noch nicht ausreichend hoch.

An Höhe habe ich in dem Zusammenhang noch nie gedacht. Höchstens in einer Hinsicht: Wege nach oben sind – schräg.

 

Was ist denn an Ihrer Laufbahn so schräg?

Ach, das war nur eine schiefe Sprachspielerei. Hoch, schräg … alles unpassende Wörter. Fallhöhe, das klänge noch am plausibelsten (lacht). Ich kann nur sagen, dass ich nie drauf aus war: Da will ich hin! Ich konnte eigentlich in jeder Phase meines Lebens nur verwundert feststellen: Aha, da bist du also jetzt gelandet.

 

Sie sind doch kein Spielball!

Neugierig bin ich.

 

Nicht auch ehrgeizig?

Zielstrebig, wenn ich zu einer Sache Ja sage.

 

Senator genannt zu werden – wie fühlt sich das an?

Es hat etwas Surreales, etwas Unwirkliches. Wenn ich den »Regierenden« irgendwo vertrete …

 

Ach ja, Sie sind ja auch Bürgermeister. Einer der zwei Stellvertreter.

… also wenn mich zum Beispiel ein Bezirksbürgermeister »Senator« nennt, dann hoffe ich immer, in seiner Tonlage möge ein winziger Anteil Ironie mitschwingen. Auch weiß ich, dass der Fahrer meines Dienstwagens Angestellter der Stadt Berlin ist, nicht meiner. Ich kann sehr wohl auch mit der Straßenbahn fahren, und ich mach’s bisweilen. Ich wohne nicht im Dienstwagen, und ich finde es schon bezeichnend für das allgemeine Bild vom Politiker, wenn dich der Nachbar geradezu erstaunt anspricht: Schön, dass du nicht wegziehst, jetzt, wo du doch Senator bist.

 

Hans Magnus Enzensberger sagt: »Der Eintritt in die Politik ist ein Abschied vom Leben. Ein Kuss des Todes.«

Da ist was dran, wenn man von der Berufspolitik spricht.

 

Was tun Sie dagegen?

Mich nicht küssen lassen. Ich versuche, mich in diesem Betrieb möglichst nicht herauslocken zu lassen. Aus mir selber. Ich mühe mich um Verbindlichkeit, um kontrollierte Lautstärken und eine angemessene Schrittgeschwindigkeit (lacht). Öffentlich zu sein, ohne allzu auffällig zu werden, das wär’s. Und deshalb habe ich das Befristete meines politischen Daseins gewissermaßen festgeschrieben, es steht auf meiner Website, es ist die öffentliche Selbstermahnung, nicht einzuknicken in der Überzeugung: Es gibt noch eine Welt woanders. Ich habe diesbezüglich keine Agenda und hatte nie eine.

 

Auf Ihrer Website steht: »Mein Leben habe ich nicht der Politik geweiht, Berufspolitiker werde ich nicht auf ewig sein.«

Ja, denn dafür ist es abseits von Plenar- und Sitzungssälen viel zu bunt. Aber das heißt ja nicht, dass ich nun, da ich Berufspolitiker geworden bin, energiegedämpft arbeite.

 

Wenn man in der Politik einen bestimmten Rang hat wie Sie, in anderen Bundesländern heißt das: Minister – hört man dann nicht doch jene Türen zuschlagen, die in ein anderes Leben führen?

Als mir die Spitzenkandidatur für den Wahlkampf 2016 angetragen wurde, war es für mich nicht zwingend, nunmehr, bei einem möglichen guten Ergebnis, in die politische Dauerschleife einzutreten. Wolfgang Schäuble ist seit 1972 im Bundestag. Das war zwei Jahre vor meiner Geburt. Für mich eine Ewigkeit im politischen Getriebe. Das wird mir nicht passieren.

 

Hoffen Sie.

Ich weiß es.

 

Hoffen Sie.

Ich weiß es. Jetzt Regierungspolitik mit zu betreiben, das heißt für mich: Verantwortung wahrnehmen, aber mit klarer Vorstellung, mit wem und wie lange.

 

Wie lange?

Sie glauben doch nicht wirklich an eine Antwort jetzt. Aber es wird ein Danach geben. Das entscheide ich zum richtigen Zeitpunkt.

 

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Pressekonferenz mit Cello, dem »Instrument des Jahres 2018«, Berliner Philharmonie

 

Richtig ist?

Ein Zeitpunkt, an dem ich noch ein Empfinden für Zukunft habe. Ich glaube an diesen richtigen Zeitpunkt und daran, dass ich ihn nicht verpasse. Alles andere würde mich handlungsunfähig machen.

 

Aber die Karriereplanung …

Das Wort sticht bei mir nicht. Politiker der Linkspartei und Kultursenator bin ich nicht aufgrund eines lang gehegten persönlichen Plans geworden. Angenommen habe ich die jetzige Herausforderung, weil ich fand: Berlin hat seine Kultur lange unter Wert behandelt. Da wollte ich eine Alternative bieten. Aber wenn man dann an so einer Stelle ist, betreibt man für sich keine Zukunftsplanung.

 

Vorsicht.

Nein, du bist ganz Gegenwart, nicht mehr, nicht weniger. Du wirfst dich rein. Kommt Zeit, kommt … was weiß ich.

 

Der Wahlkampf kommt.

Ich gehe sehr frei da hinein. Und ich gehe ins Risiko, das weiß ich.

 

Keine Freiheit ohne Abhängigkeit: Wer A sagt, muss Bürgermeister sagen. Und zwar: Regierender Bürgermeister.

Muss nicht. Kann. Ich will. Und spiele nicht auf Platz. Aber ich verkrampfe nicht.

 

Sie wollen. Warum?

Wir haben als Linke im Wahlprogramm vor Jahren gesagt: »Die Stadt gehört euch.« In der Koalition arbeiten wir jetzt seit vier Jahren auch daran. Aber für ein Gemeinwesen, in dem niemand zurückgelassen wird, gibt es immer noch sehr viel Arbeit.

 

Stimmen Sie dem Grundgesetz zu: Solange einer Geld verdienen muss, muss er sich was gefallen lassen?

Gehalt bekommen heißt: gehalten werden? Das stimmt nur zu einem Teil.

 

Erstens kommt es auf die Höhe des Gehalts an …

Wir können das abbrechen! Das ist eine rhetorische Technik, die wirft einem Gysi vor, dass er ein Genießer ist, die kritisiert an einem Lafontaine oder sonst wem die Rotwein-Leidenschaft, und sie nimmt einem Lederer wahrscheinlich übel, dass er meist kostenfrei Veranstaltungen der sogenannten Hoch- und Höchstkultur besucht. Wer links ist, bekämpft Armut, muss doch aber nicht selber Hartz IV beziehen, um glaubwürdig zu sein. Das zum einen. Zum anderen: Ich empfinde das, was ich tue, wirklich als Traumjob. Momentan. Ich bin darin glücklich. Momentan. Aber ich weiß: Irgendwann werde ich diese Aufgabe nicht mehr nach meinen eigenen Ansprüchen erfüllen können. Hohe Ansprüche taugen nur, wenn sie mit dir selber wachsen, immer ein Stück über dich hinaus. Und außerdem habe ich eine ziemlich gute Vorstellung davon, was ich eines Tages ohne eine 60- bis 80-Stunden-Woche machen werde.

 

Was denn?

Vielleicht Klavier oder Cello lernen, mehr Bücher lesen und mehr schreiben, vielleicht wieder Lehraufträge übernehmen. Ich würde gerne meine Sprachkompetenz verbessern und mehr von der Welt sehen, mein persönlicher Globus hat noch zu viel unentdecktes Land. Ich hoffe, dass ich das alles hinbekomme, solange es noch Spaß macht.

 

Das ist der Vor-Gedanke ans ferne Alter?

Fern?

 

Ich bitte Sie, was weiß ein relativ junger Mensch wie Sie übers Alter?

Danke. Aber was ich eines Tages wissen werde, ahne ich schon. Allein die Literatur ist voll von diesem Wissen. Nehmen wir das Reisen. Eines Tages wird aus dem Satz: »Da möchte ich wieder hin« der Satz: »Da möchte ich nochmal hin.« Und wenn der Geist dann trotzig sagt, ich will, antwortet der Körper möglicherweise: Ja, aber ich kann nicht mehr … Dann ist es zu spät.

 

Warum sind Sie links?

Man könnte sagen, aus anatomischen Gründen: Herz statt Ellenbogen.

 

Weniger pathetisch?

Das freie Spiel der Kräfte soll nicht entscheiden, wer als gesellschaftsfähig gilt und wer nicht.

 

Verstehen Sie, dass manche Leute Angst vor den Linken haben?

Klar. Ist noch keine Ewigkeit her, dass diese Linken in Deutschland Demokraten wurden. Als Opposition nimmt man uns längst wahr und ernst. Aber was passierte, wenn wir mal wieder die Macht hätten? Blieben dann alle Linken Demokraten?

 

Wäre Deutschland besser, wenn die Linke die parlamentarische Mehrheit hätte?

Die Frage verführt zum »Ja«.

 

Das Jahr 2021 ist auch in Ihrer Partei ein Jahr personeller Wechsel. Wie sehr beansprucht Sie das?

Diejenigen, die eine Partei nach außen repräsentieren, sind nicht automatisch identisch mit denen, die sie führen. Das war, ist und bleibt so. Ich muss gestehen: Es gab Zeiten, da haben mich personelle Fragen, im Zusammenhang mit dem Zustand der Partei, schon mal mehr interessiert. Mich bewegt anderes. Zum Beispiel stören mich Lagerbildungen nach alten Mustern.

 

Was meinen Sie damit?

Es reicht nicht, sich in einer großen historischen Tradition der Arbeiterbewegung zu fühlen und diese Vergangenheit der antikapitalistischen Kämpfe dann dauernd so, als gäbe es sie noch, gegen eine ruppige Gegenwart verteidigen zu wollen. Das ist langweilig. Das reißt nicht hoch und reißt nicht sehr viele Leute mit. Wenn du relevant sein willst, musst du die Wagenburg verlassen.

 

Und in eine Regierung gehen, etwa in die von Berlin.

Zum Beispiel.

 

Die Gefahr besteht darin, sich den Verhältnissen anzuschmiegen, statt sie zu verändern.

Ebenso bleibt es eine Gefahr, sich Illusionen über das zu machen, was in einer spezifischen Situation erreichbar ist. Alles richtig. Aber man kann als politische Minderheit nicht so tun, als könne man andere Parteien oppositionell vor sich herjagen und ständig moralstolz darauf verweisen, wie wenig man sich selber an der Gesellschaft die Hände schmutzig macht. Der Protestgestus steht einer linken Partei im hoch entwickelten, rücksichtslosen Kapitalismus grundsätzlich gut zu Gesicht, ist Teil ihres Wesens …

 

Aber?

Wenn darüber hinaus die Übersetzung von sozialen Interessen und Bedürfnissen in praktische, institutionelle Politik nicht gelingt, dann schleift sich die Attraktivität des Protests ab. Wenn wir auf die jeweilige Lage nur immer mit einer weiteren Radikalisierung der Protestpose antworten, wird es eines Tages sehr schwer, überzeugend für realistische Wege der Veränderung zu werben und die Spielräume dafür zu nutzen.

 

Es gibt Linke, für die existiert nur die soziale und die Friedensfrage.

Zentral wichtige Fragen, zweifelsohne. Aber sie führen bei manchen eben zur Zwangsparole, den Kapitalismus abzuschaffen, und zwar möglichst sofort. Denn: Dessen schäbigste Form, der Imperialismus, trage den Krieg als Keim in sich wie die Wolke den Regen. Bei diesen leidenden, sich ständig im Kampf befindlichen Linken macht man sich schon verdächtig, wenn man diese einfache, wünschenswerte Botschaft nicht permanent auch verkündet, bis zum Anschlag.

 

Nur immer dieser Druck, diese Fixierung, diese Reduktion des Lebens auf Kampf. Und auf Arbeiterklasse!

Dabei ist die Welt der abhängig Beschäftigten äußerst vielfältig. Da passt nichts mehr in eine landläufige Parole. Der tariflich abgesicherte Fabrikarbeiter in Großunternehmen ist heute – falls er es je war – nicht mehr prototypisch. Die Maschine vertreibt den Menschen. Dessen Arbeitsanteil an der Warenproduktion geht relativ zurück, und die verbleibende Drecksarbeit zieht zynisch in die Länder des Südens oder findet hierzulande eher im prekären Dienstleistungsbereich statt als in der Fabrik. Es gilt, diese Dynamik analytisch zu erfassen und daraus progressive Politik zu entwickeln. Hier von überlebten Bildern auszugehen, führt in die Sackgasse. Die sich dort auftut, wo vor die Wahrnehmung schon wieder die Definition gesetzt wird.

 

Überspitzt gesagt: Man kann nicht erst dann mit Gestaltung beginnen, wenn man die Mehrheit hat.

Es ist doch seltsam, dass auch in unserer Partei von manchen gern gesagt wird, gemeinsame Politik mit bürgerlichen Parteien mache erpressbar, man müsse gewissermaßen Abstand wahren, man gehöre nicht dazu – aber wenn es um die Sicherung von Mandaten geht, um die Verteidigung von claims, da wird mit Bandagen gekämpft, dass man nur staunen kann über diesen Fleiß und diese Wendigkeit, sich im bürgerlichen Politikbetrieb zu halten.

 

Das Thema moderner linker Gesellschaftskritik besteht nicht mehr in Zukunftsgewissheit, in Zukunftsbesitz gar?

Allein das Ende des rohstoffextensiven Fordismus mit Massenproduktion und Massenkonsum steht für viele Veränderungen nach 1989. Nationalstaatliche Steuerungen werden unterlaufen, und globale kapitalistische Dynamik mit ihren ökologischen und globalen sozialen Konsequenzen stellt uns vor ganz neue Herausforderungen. Hinzu kommt der Zusammenbruch des real existierenden, parteibürokratischen Sozialismus als Versuch, eine humanistische Gesellschaft diktatorisch, per ordre über die Menschheit bringen zu wollen. Mit allen bitteren Folgen und eben auch dem Erbe schlimmer Verbrechen. Mich macht das demütig, für mich folgt: Linke müssen raus aus dieser hinderlichen Selbstbeschränkung, jegliche Veränderung unterhalb der »Abschaffung des Kapitalismus« – wie eigentlich und zugunsten wovon? – lohne den Einsatz nicht.

 

Was haben Geringschätzung und Herablassung und die Kultivierung der Fremdheit im System zur Konsequenz?

Dass jedes noch so kleine Denken und Handeln in Alternativen, auch in parlamentarischen Strukturen, als zwecklos erachtet wird. Mein Freund Robert Misik hat mal auf die Frage, warum der Klügere nachgebe, geantwortet: weil der Klügere weiß, was passiert, wenn zwei Züge frontal aufeinander zufahren. Also sucht er nach rettenden Weichenstellungen. Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, bleibt auf seinen eingefahrenen Gleisen.

 

Es heißt bei Kritikern, die Frage, wer in dieser Gesellschaft was vom großen Kuchen abbekomme, also die soziale Frage, werde bei den Linken leider durch vehemente Identitätspolitik in den Hintergrund gedrängt.