Heinrich Jordis-Lohausen
Wir denken an....
Literarische Essays
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Wir denken an.... Literarische Essays 3. Band
Einleitung
Leonardo da Vinci
Raffael Santi
Michelangelo Buonarotti
Tizian
Antonio Correggio
Rembrandt
Caspar David Friedrich
Arnold Böcklin:
Van Gogh
Franz Defregger
Albin Egger-Lienz.
Lukas von Hildebrandt
Auguste Rodin
Marco Polo
Francisco Pizarro
Julius Payer und Karl Weyprecht
Roald Amundsen
David Livingstone
Arthur Schnitzer
Madame Curie
Josef Ressel
Rabindranath Takhur (Tagore) I
Rabindranath Takhur (Tagore) II
Rabindranath Takhur (Tagore) III
Rabindranath Takhur (Tagore) IV
Rabindranath Takhur (Tagore) V
Li-Tai-Pe
Oswald Spengler
Hermann Graf Keyserling
Marc Aurel
Mohammed
Siddharta Gautama
Lao-Tse
Kung-fu-tse
Mahatma Gandhi I
Gandhi II
Gandhi III
Gandhi IV
Gandhi V
Mahatma Gandhi - Zusammengefasste Version
Kakuze Okakura - Das Buch vom Tee
Das Buch der Wandlungen
Kahlil Gibran I
Kahlil Gibran II
Kahlil Gibran III
Kahlil Gibran IV
Impressum neobooks
Heinrich Jordis-Lohausen gehört in jenen weiten Kreis österreichischer Schriftsteller, die auf dem Umweg über das Militär den Weg zur Literatur gefunden haben.
Er ist im Jahre 1907 als Sohn eines k.u.k. Rittmeisters in Seebach bei Villach geboren, wuchs dann in Graz auf und legte auch hier und zwar in der seinerzeitigen Landesoberrealschule in der Hamerlinggasse die Reifeprüfung ab.
Seine lang vorbereitete Absicht, die diplomatische Laufbahn zu ergreifen, musste er bald aufgeben. Die Notwendigkeit sich das Leben selbst zu verdienen, zwang ihn bereits im Jahre 1926 das begonnene Hochschulstudium sein zu lassen und das Dasein eines Studenten an der Karl-Franzens-Universität in Graz mit dem eines Rekruten in der Lazarettfeldkaserne zu vertauschen.
Wir finden Jordis-Lohausen später als Leutnant der Artillerie in Stockerau, dann wieder in seiner Heimatstadt Graz, später, nach in Italien, Frankreich und England betriebenen Sprachstudien, auf der Generalstabsschule in Wien.
Die dort erworbenen Fertigkeiten und die mitgebrachten Sprachkenntnisse führten ihn während des zweiten Weltkriegs in verschiedenartige Verwendungen, von denen eine vorübergehende Tätigkeit an der Deutschen Botschaft in Rom und die eines Verbindungsoffiziers Rommels bei italienischen Einheiten des Afrika-Korps, die hervorstechendsten waren.
Das Kriegsende traf ihn als Führer eines niedersächsischen Artillerieregiments. Die anschließenden Jahre nach kurzer Gefangenschaft als Dolmetscher in Salzburg, später als Hilfsarbeiter, Bürosekretär und Handelsvertreter wieder in Graz.
Bereits in seiner Jugend ein Liebhaber schöner Literatur, hatte Jordis-Lohausen schon früh damit begonnen, schöngeistige Essays, Gedichte in Prosa, aber auch belletristische Skizzen zu schreiben. Die abwechslungsreichen Eindrücke des vergangenen Krieges bestärkten diese Neigungen und ließen den Wunsch aufkommen, sich ihnen nach seiner Beendigung vorbehaltlos zu widmen. Seit 1948 ist Heinrich Jordis-Lohausen ständiger Mitarbeiter des Grazer Rundfunks. Die von ihm verfassten Vorträge der Sendereihe « Wir denken an.... » gehören zu den wertvollsten und beliebtesten Programmbeiträgen.
Otto Hofmann-Wellenhof,
Leiter der Literaturabteilung des Senders Alpenland Graz, im Juni 1951.
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Diese Aufsätze sind für den Rundfunk geschrieben, also bestimmt gehört zu werden, nahe gebracht von einer Stimme, die sie Wort für Wort zu wägen versteht. Nicht waren sie ursprünglich bestimmt, von stummen, das bloße Schriftbild festhaltenden Augen aufgenommen, nicht also gelesen zu werden. Auch sind sie geschrieben im Hinblick auf eine knappe und unumstößlich bemessene Sprechzeit – meist nur 13, allenfalls 14 Minuten. Und das zwang wiederum, der Stimme zur Andeutung zu überlassen, wofür ein eigenes Wort oder gar ein eigener Satz aus Zeitmangel nicht mehr bereitstand.
Dass dies so sein musste – nie ist im Rundfunk unbeschränkt Zeit – bewirkt ihren Stil, auch den Zwang, von jedweder Wiederholung abzusehen. Gedacht waren sie mithin als einmalige, flüchtige Visionen, ihr Erscheinen im Druck zwingt sie mit einem Male zur Dauer. Das widerspricht ihrem Wesen. Widerspricht im Grunde dem Wesen jeden Essays. Essay heißt Versuch und Versuche sind nie etwas Fertiges, sind bestenfalls Übergang und Vergänglichkeit. Unwiederholbarkeit ist ihr wesentliches Kennzeichen. Vielleicht ist alle Kunst so. Und vielleicht trennt gerade das sie von jeglicher Wissenschaft (besonders von ihrer eigenen – der Kunst- und Literaturgeschichte). Wissenschaft ist immer fertig. Ist immer das, was gilt und einwandfrei bewiesen werden kann.
Nichts von alle dem, was in diesen Aufsätzen steht, kann bewiesen werden (außer allenfalls einige Quellenangaben und Daten) also ist nichts Wissenschaftliches an ihnen und kann es nicht sein: Vor allem nichts Fachwissenschaftliches. Alles Menschliche widerstrebt dem Versuch, Teil eines Fachwissens zu werden.
Um ein Leben wiederzuerzählen, bedürfte es wiederum eines Lebens. Auch ein zehnbändiges Werk wäre dazu nicht im Stande, und auch ein hundertbändiges nicht. Und doch gelingt zuweilen, einem Augenblick, was ein derartiges Werk nicht vermag, das Wesen einer Gestalt bis auf den Grund zu erhellen. Wer dann sieht, ist begnadet und zugleich verurteilt zu schweigen. Das Tiefst in uns ist wortlos und spottet jeder Beschreibung.
Man kann einen Strom nicht in Eimer fassen – doch gesetzt den Fall, man könnte es, man würde selbst den letzten Wassertropfen jenes Eimers nie auszuloten vermögen. Und man kann eine Kugel nie dadurch beschreiben, dass man die Punkte ihrer Oberfläche abzählt. Man kann sie auch durch den einen einzigen Punkt in ihrer Mitte nicht beschreiben. Man kann – und das ist der einzige Weg – das Wesen einer Kugel nur aus einem jener unzähligen Strahlen erfassen, die pfeilähnlich ihre Oberfläche mit dem Inneren verbinden.
Anderes wollen auch diese Aufsätze nicht sein als solche Strahlen, « Pfeile nach innen » – jeweils einer von den abertausend möglichen, die von der Peripherie unseres lebendigen Seins seiner Mitte zustreben. In dieser Mitte, unendlich fern in dieser Mitte steht der Mensch.
Heinrich Jordis-Lohausen.
Die einen wurden Maler, ihren Träumen Gestalt zu geben und ihre Träume waren Ihnen Rechtfertigung ihres Tuns, andere weil ihre Augen sich vergafft hatten in Farben und Formen der Welt, die sie einfingen, um sich nie mehr von ihnen zu trennen. So glichen sie Jägern und ihre Werke Trophäen, deren Wert sich nach der Ähnlichkeit von Bild und Abbild bemaß.
Dieser aber malte, weder zu träumen, noch zu bewahren, sondern um einzudringen in das Geheimnis der Dinge und im Versuch ihrer vollendeten Wiedergabe Rechenschaft zu finden auch über Innerstes und Unsichtbares.
So kam es, dass sein Pinsel mehr aussagte, als seine Augen gesehen. Dass ihm, der die Wahrheit suchte – „die Welt wie sie ist“ – die Dinge ihren Doppelsinn preisgaben und seine Werke zu vollkommenen Spiegelbildern ihrer Oberfläche sowohl wie zu Sinnbildern ihres Wesens wurden.
Doch kann niemand ein Ding vollständig malen und wäre es nur das Blatt vom Ast eines Baums. Keiner kann malen, wenn ihm nicht ein zweiter Sinn, ein zweites Gesicht immer wieder die Hand führt, aus der Fülle der Einzelheiten die einen wegzulassen, die anderen aber hervorzuheben.
So ist Malen ein fortwährendes Wählen und Verwerfen, erwächst jedes Werk aus einer fortlaufenden Folge bewusster und unbewusster Entscheidungen. Mit jedem Strich, den er hinsetzt, setzt ein Maler die eigene Signatur. Mit jedem, den er unterlässt, macht er sein Gemälde durchsichtig für etwas, das, dem Auge nicht fassbar, doch alles Sichtbare trägt und es erfüllt bis an den Rand.
Wie weit er dies kann, wie weit das allmähliche Durchsichtig werden und Durchscheinen eines Tieferen ein Werk über die bloße Sprache der Farben und Formen mit einer zweiten und geheimen begnadet, darin und in sonst nichts, liegt sein Rand.
Selten wissen, die den Pinsel führen, von der verborgenen Magie ihres Tuns. Der bestimmt sein sollte, sie in ungewöhnlichem Grade zu erfahren, wurde in einem Gebirgsdorf der Toskana von einem Bauernmädchen geboren.
Nach diesem Dorf führt er den Namen „da Vinci“. Die Welt nennt ihn Leonardo. Und so auch nannte ihn Florenz, wohin – Ser Piero, sein Vater, ihn als 12-jährigen zur Schule brachte.
Er verwirrte seine Lehrer mit Fragen, die sie nicht beantworten konnten, wandte sich dann aber, ihrer trockenen Gelehrsamkeit satt, der Musik zu.
Man berichtet, „Leonardo hätte aus Literatur und Wissenschaft weit größeren Nutzen gezogen, wäre er weniger unbeständig gewesen. So lernte er wohl viel, begann aber alles, um nichts zu Ende zu führen“ (Vasari).
Auch seine Vorliebe für Musik wich bald einer neuen. Wohl führte, wie es schien, über die zärtliche Leiter der Töne der geradeste Weg zum Herzen der Dinge. Aber niemals ließen Töne sich festhalten. Nie ist mehr als bloß einer uns gegenwärtig und von dem ebenvergangenen bleibt kaum ein Erinnern. Musik ist ein sich von Ton zu Ton fortsetzendes Sterben.
Die Welt hingegen in ihrer ganzen Weite zu fassen, nebeneinander und gleichzeitig, vermag der Mensch nur im Schauen. So wird die sichtbare Welt zur Welt des Gesicherten und Gewussten. Alles ist offenkundig an ihr, alles vergleichbar. Eine bloß hörbare Welt hingegen bleibt flüchtig und unvergleichbar wie Wunder und Glauben.
Weshalb, wer erfahren will, ehe er glauben mag, das Geschaffene neu vor sich hinbreiten und den Spuren des Schöpfers auf tausend Wegen mühselig nachwandern muss.
Und das war Leonardo mit Pinsel und Farbe entschlossen zu tun.
Was darum schon an Leonardos frühesten Zeichnungen bestach, war ihre Genauigkeit und die war so auffällig, dass Ser Piero seinen Sohn zu Verocchio brachte, der Mathematiker, Goldschmied, Maler, Holzschnitzer und Bildhauer in einem war, und ihm auftrug, Leonardo auch in den anderen Künsten jene Gründlichkeit anzueignen, der keine Einzelheit unwichtig blieb.
Doch begab es sich, dass Leonardo im Zusammenfügen des Einzelnen zum Ganzen zu solch wundervollen Maßen gelangte, dass die herbere Arbeit des Meisters dagegen wie minder gelungen in den Schatten zurücktrat.
Und das geschah bereits in der bekannten „Taufe“ des Verrocchio durch einen Engel von Leonardos Hand, dessen Antlitz, wie verirrt aus künftiger Vollkommenheit, in sich schon den ganzen Raffael enthält, den ganzen Correggio und alle Anmut der Venezianer, sodass neben dem Christus des Verrocchio, an dem nichts göttlich war als sein Heiligenschein, neben dem taufenden Johannes und einem zweiten ministrantenhaft irdischen Engel der des Leonardo als Abgesandter einer höheren Welt scheinen musste.
So sehr war auch in seiner Haltung Andacht und Anmut zu einem geworden, so sehr seine Gebärde in Schönheit erlöst bis in den Fall seiner Haare und die Schatten seiner Gewänder. Und wen immer seine Entrückung an die ekstatisch verträumten Madonnen des Botticelli gemahnt und an die naiven Seligkeiten Filippo Lippis, er ist von anderen Sternen entsandt wie jene und sein Anderssein wird zum Verkünder einer sich wandelnden Zeit.
Ihm folgt zu gleicher Botschaft die „Madonna in der Felsengrotte“, das erste ganz aus Leonardos Hand stammende und von ihm selbst vollendete Gemälde. Zum ersten Mal wird hier eine Mutter Gottes ohne andere Abzeichen ihrer Hoheit dargestellt als der bezaubernde Würde weiblicher Anmut. Jahrhunderte lang hatten Künstler Puppen gemalt, deren Köpfen und Händen sie wohl Sinn und Ausdruck verliehen, hinter deren erstarrten Gewändern sich jedoch niemals lebende Körper bewegten, war ihnen alles Gemalte doch nur Sinnbild, Erinnerung, Gleichnis, niemals aber wie für Leonardo Erfahrung.
Erst mit ihm wird, vorübergehend, Malen Erkenntnis, werden jene Tausend von Skizzen, die über und über mit Randbemerkungen versehen seine wenigen Hauptwerke vorbereiten und ergänzen, zu Tagebüchern eines Menschenkenners und Gelehrten, der hinter jeder Gewandung den nackten Körper sah und hinter diesem das geheimnisvolle Gefüge der Muskeln, Knochen und Adern.
Leonardo hat eigenhändig an dreißig Leichen seziert und die im Anschluss daran verfertigten Skizzen – so eine des menschlichen Blutkreislaufes – sind Wunder an Klarheit.
„Ein Dichter“, bemerkt Leonardo, „kann mit der Feder nicht sagen, was ein Maler mit dem Pinsel vermag“. Dichten heißt andeuten. Das Angedeutete ausgestalten müssen Schauspieler, Leser und Zuhörer. Jeder tut das auf seine Weise und jeder in anderen Bildern. Keiner sieht je, was der Dichter ursprünglich sah und insofern missverstehen ihn eigentlich alle. Die einzig unmissverständliche Sprache aber, die der mathematischen Zeichen, versagt vor der Fülle des Lebens.
Darum – und obgleich seine linkshändig in Spiegelschrift niedergelegten Aufzeichnungen gesammelt ein zwanzigbändiges Werk umfasst haben würden, wollte Leonardo, was immer er schrieb, nur als Ergänzung des Gezeichneten aufgefasst wissen. Nie wünschte er, als Literat bezeichnet zu werden.
Aber auch nie ausschließlich als Maler. Als Leonardo den Sforza dann zum ersten Mal seine Dienste anträgt, ist plötzlich von ganz anderen Dingen die Rede.
„So vermag ich“, schreibt er da, „Brücken anzufertigen, die bequem zu befördern, dem Feind nach Belieben zu folgen oder zu entfliehen gestatten und wieder andere, die feuersicher und in der Schlacht unverletzbar, ebenso leicht aufzuschlagen, als wieder abzubauen sind. Andererseits verfüge ich über Vorrichtungen, die Brücken des Feindes in Brand zu stecken und zu vernichten...“
Folgt eine lange Aufzählung seiner vielseitigen Fertigkeiten im Artilleriewesen, Minen- und Belagerungskrieg, Festungs- und Kriegsschiffbau; zuletzt die Ankündigung nach oben gedeckter, gepanzerter, mit Geschützen versehener Wagen, „welche den stärksten Feind in die Flucht schlagen, indessen ihnen das eigene Fußvolk gefahrlos zu folgen vermag“.
Obzwar nur ein Bruchteil dieser Entwürfe jemals zu seinen Lebzeiten zur Ausführung kam, war sein Ansehen als Kriegsingenieur doch bald nicht minder begründet als sein Ruf als Wasserbaumeister etwa oder als Anatom.
Und der gleiche Mann, der im Stabe Cesare Borgias an dessen Kriegszügen teilnahm, der die Lombardei entwässerte, der den Florentinern um Pisa zu schlagen, die Umleitung des Arno vorschlug oder als Naturforscher die zeichnerische Anatomie für Menschen und Tiere erfand, war als Architekt maßgebend am Ausbau der Mailänder Domkuppel beteiligt, entwarf als Bildhauer die Reiterstatue Lodovico Sforzas und arbeitete als Maler im Kloster Santa Maria delle Grazie am Letzten Abendmahl.
Jahrelang verfolgte er in freier Natur alle Phasen des Vogelflugs und jahrelang errechnete er in einsamer Kammer, die mathematischen Grundlagen seines Lieblingstraumes: einer menschlichen Flugvorrichtung.
Und wieder der gleiche Mann, der Henkern und Folterknechten bei ihrer Arbeit zusah, um alle Höllen des Diesseits mit dem Zeichenstift festzuhalten, aß aus Liebe zu seinen Mitgeschöpfen weder Fisch noch Fleisch, kaufte, sooft er konnte, auf dem Markt alle Singvögel frei und ließ sie fliegen aus reiner Freude, ihnen Leben und Freiheit zu schenken.
Man erzählt, Leonardo habe auf der Suche nach den tieferen Quellen seines Wesens oft stundenlang in völliger Geistesabwesenheit dagesessen, seine Augen unverwandt auf einen Haufen glimmender Asche gerichtet. Dann sei er aufgestanden und mit einer Fülle neuer Einfälle an die Arbeit gegangen.
Man weiß, dass er, in seine Entwürfe vertieft, oft tagelang nicht zu sprechen war, dass er als Sechziger, getrieben von einem unüberwindlichen Drang nach Weite und Abgeschiedenheit, allein und fern allen Freunden, den – wie man damals meinte – höchsten Gipfel der Alpen, den Monte Rosa erstieg.
„Ein Maler“ – schreibt Leonardo – „muss einsam sein. Denn nur, wenn er einsam ist, ist er auch ganz er selbst… er muss mit sich allein sprechen und sich das Größte und Schönste, das er finden kann, zur Betrachtung auswählen. Dabei muss er verfahren wie der Spiegel, der die Farben aller Dinge annimmt, die vor ihm stehen. Und wenn er so verfährt, geht er vor wie die Natur…. So nur wird er Natur und bar aller menschlicher Nichtigkeit.“.
Und doch – nur wer sich so weit von der Welt abwenden kann, kann sich ihr auch ganz zuwenden, und manche der Fürsten, die ihn beriefen, zogen ihn an ihren Hof weniger ob seiner Kenntnisse, als wegen seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit und seiner Fähigkeit zu unterhalten.
Er diente der Reihe nach den Medici, den Sforza und den Königen von Frankreich. Aber ihn dürstete weder nach Ehren noch Gütern.
Einsamkeit war ihm Atemholen und Besinnen, Geselligkeit Austeilen und Verschwenden.
So schuf der Weltmann Leonardo das „Abendmahl“. Ohne weltlichen Sinn für Schauspiel und Bühne wären dessen Gestalten nicht denkbar, nicht in der musikalischen Bewegtheit ihrer Köper, nicht im wundervollen Zusammenspiel ihrer Mienen und Hände. Weder Castagno, noch Ghirlandaio, noch Raffael oder Andrea del Sarto, die alle das Gleiche versuchten, ist annähernd Gleiches gelungen. All das aber wäre nie mehr geworden als bloß wohlausgewogene Oberfläche, hätte nicht ein anderer als der gewiegte Weltmann die tiefe Erdenbefangenheit der Jünger Christi Ausdruck verleihen wollen und ihre Bedrängnis sinnbildhaft in den engen Vordergrund eines sie freudlos umschließenden Raums gestellt, weitab und wie ausgestoßen von der seligen Grenzenlosigkeit einer abendfernen Landschaft hinter den weit zurückliegenden Fenstern.
Der allein auf diesem Bilde beides verbindet, jene Ahnung von Ewigkeit und alle Vergänglichkeit und allen Schmerz einer flüchtigen Stunde – ist der Gottessohn in der Mitte. Sein Haupt allein umfließt horizontale Weite. Er allein ist dem Draußen verbunden.
Die Jünger aber sind ganz Nähe, ganz „hier“ und diesseits und gefangen in der Beklommenheit der sie umschnürenden Enge. Draußen aber verrinnt der Tag in Licht und Unendlichkeit.
Leonardo hat dreizehn Jahre an diesem Bild gearbeitet und es ist eines der wenigen, die er selber vollendet hat. Sonst überließ er, wusste er erst den Weg, das Fertigmalen seinen Schülern.
Jedes Tun war ihm ein Experimentieren und jedes Werk ein Versuch – gab es auf Erden doch weder Endgültigkeit noch Vollendung.
Doch gab es eins, warum Leonardo noch rang, die zur Ewigkeit eingefangene, zur Zeitlosigkeit erstarrte Nähe eines Augenblicks. Der Finger des Pan auf Baum, Tier- oder Menschengestalt. Die Griechen hatten es gekonnt. In Stein. Aber in Farben?
Schließlich nach vierjähriger Arbeit gelang Leonardo auch das – gelang das umstrittenste Frauenporträt des Abendlands, ein Antlitz, das leidenschaftlich missdeutet, zum Inbegriff sphinxhafter Unergründlichkeit werden sollte. Obgleich, was vor aller Augen lag, in diesem bis zu den Adern der Augen wesensgetreuen Menschenbild aus Florenz nichts weiter war, als Lächeln und Blick einer Frau, die dem ins Unendliche schweifenden Geist Leonardos die Freude ihrer in sich ruhenden Nähe gegenüberstellte. Wangen und Schultern ihrer jugendlichen Gestalt umspielt das silbrige Licht einer sich in unmessbare Fernen verlierenden Landschaft. Sie dreht ihr den Rücken, als wollte sie sagen: „Ich bin viel einfacher, als ihr denkt. Ich bin in dieser unbegrenzt wirkenden Welt das Begrenzte. Aber merkwürdig: eben jenes Begrenzte vermögt ihr niemals zu fassen!“.
Erscheint das Lächeln der Mona Lisa nach außen gewandt mit einem leichten Anflug von Spott und einer versteckten Erwartung von Lust – sie heißt nicht umsonst „la Gioconda“, die Frohgemute – so wandelt es sich in späteren Frauenzeichnungen dos Leonardos – etwa der heiligen Anna des sogenannten Londoner Kartons – in den Ausdruck einer so reinen und nach innen gekehrten Glückseligkeit, wie ihn Raffael an keiner seiner berühmten Madonnen jemals erreicht oder auch nur angestrebt hat.
Vor ihnen – und der mütterlichen Sanftheit ihrer Urbilder – begriff Leonardo, dass ihm, dem ruhelosen forschenden Mann, der einfache einfältige Weg, allein durch Güte und Glauben selig zu werden, verwehrt war. Er sah und wusste, dass hier die unübersteigbare Grenze lag, zwischen einem Lohn, der erkämpft werden musst und einer Begnadung die zufiel. Raffael ahnte sie gar nicht.
Obgleich selbst Schöpfer der ausgeprägtesten Bildnisse, welche die italienische Renaissance hervorzubringen vermochte, hat Leonardo in seiner Abhandlung über die Malerei mit Nachdruck jene Künstler verspottet, „die nichts als immer nur Menschengesichter malen konnten“. „Seht ihr denn nicht“, so schreibt er, „wie vielerlei Tiere, Bäume, Sträucher, Blumen, Quellen, Flüsse, Landschaften es gibt?“.
Ihm, der jedes Blatt und jeden Halm mit mikroskopischer Genauigkeit nachzeichnete, waren alle gleich nah, wie sie der Ewigkeit gleich nah sind – Pflanze, Tier und Mensch. So hat er – ein Franziskus unter den Künstlern des Abendlandes – als Erster mit dem althergebrachten Vorurteil von der unumschränkt bevorrechteten Stellung des Menschen unter den Ebenbildern des Ewigen gebrochen.
Sein Altersbild – ein Selbstporträt – zeigt uns in der haarscharfen Zeichnung aller wesentlichen Einzelheiten und in einer fast chinesisch anmutenden Kunst des Weglassens aller unwesentlichen, den Kopf eines Weisen, der in rastloser Erforschung der Besonderheiten aller Geschöpfe den einzigen ihm wesensgemäßen Weg sah, ihrem Schöpfer zu dienen.
„Die große Liebe“ – so schrieb er –„entsteht allein aus der Erkenntnis der Dinge“.
Er kam in jenem glücklichen Jahrhundert zur Welt, da sich die Sonne noch um die Erde bewegte, das Himmelreich noch knapp und fast greifbar nahe über den Köpfen der Menschen schwebte, und Italien noch Mittelpunkt der Welt war.
Heute beinahe vergessen – damals unter dem kunstsinnigen Grafen von Montefel-tro einer der glänzendsten Höfe und dichterischer Schauplatz des „Cortegiano“ von Castiglione, des meistgelesenen Buches seiner Zeit – lag Urbino, von Wäldern umgeben, an einem der vielen Wege, die von Norden her nach dem ewigen Rom führen.
Dort, im Schatten dieses Hofes wurde Raffael Santi am Karfreitag des Jahres 1483 geboren. Sein Vater war als Goldschmied, Maler, selbst als Dichter bekannt. Von seiner Mutter wissen wir, dass sie als Mädchen den Namen Magia Ciarla geführt hat. Beide Eltern starben früh und mit elf Jahren stand Raffael allein und verwaist in der Welt.
Mit 16 kam er nach Perugia, in die Werkstätte des Perugino. Da entstand auch sein bekanntestes Jugendwerk, „Lo sposalizio“, die Vermählung Marias. Äußerlich ganz im Stil der umbrischen Schule, zeigt es in hundert feinen Merkmalen doch seinen „künftigen“ Weg.
Alles an diesem Bild ist schon irgendwie Raffael und vieles schon nicht mehr Perugino: die blumenhafte Anmut der Farben und Maße, das beseelte Spiel der Hände, der auffallend weiträumige, zu etwas Grenzenlosem wegstrebende Hintergrund.
Der Eindruck wird bei längerem Hinsehen so stark, dass alles Vordergründige wie im Zeitlosen spielend erscheint und der rückwärts aufragende Tempel wie hingestellt, um durch ein Tor und zwischen hochragenden Säulen nach unsagbaren Ewigkeiten zu blicken.
Es hieße zu viel behaupten, wollte man sagen, dass Raffael diese Wirkung beabsichtigt hat. Wenn irgendeine Kunst im tiefsten Sinn absichtslos ist, dann seine, und wenn eine gerade darum bedeutungsvoll ist, dann wiederum seine. Denn nur das Ungewollte verkündigt sich uneingeschränkt, und erst da, wo keine Absicht mehr dazwischen spricht, beginnt das Göttliche zu sprechen.
Nun Meister Perugino ihm nichts mehr zu sagen hatte, wandte sich Raffael mit 21 Jahren nach Florenz.
Er kam mit guten Empfehlungen dahin und sein Talent sowohl wie sein gefälliges und anspruchsloses Benehmen, öffneten ihm rasch die Häuser der Großen und machten ihn bald zum Liebling der gebildeten und vornehmen Gesellschaft.
So oder ähnlich lesen wir in volkstümlichen Lebensbeschreibungen den Beginn seines Aufstiegs.
„Mehr als sonst wo“ – schrieb Vasari – „gelangten die Menschen hier in Florenz zur vollkommenen Beherrschung aller Kunstzweige, denn sie wurden ununterbrochen von drei Kräften angespornt und getrieben: von der Kritik, vom Handelsgeist und von der Ruhmsucht“.
Vasari überging bei dieser Aufzahlung das offenbar Wichtigste: die unmittelbare Gegenwart unzähliger Vorbilder.
Ihre damalige Bedeutung können wir heute kaum noch ermessen. Denn während sich in unseren Tagen die Kenntnis jeden einzelnen Kunstwerks in tausendfältigen Abbildungen über die ganze Welt hin verbreitet, war ihr Erlebnis damals der lebendigen Anschauung eines einzigen Urbildes vorbehalten. Und dahin, zu diesen Urbildern, führen tage-oft wochenlange Wege zu Fuß und im Sattel.
Kunst wollte in jenen Tagen erfahren, im buchstäblichen Sinne des Wortes „erfahren“ werden und wir können heute nur ahnen, was Raffael empfand, als er zum ersten Mal und ohne sie anders als dem Namen nach gekannt zu haben, den Kunstschätzen der Stadt Florenz gegenüberstand.
Er mag lange vor den Farbgluten des Fra Bartolomeo, lange vor den sanften Verträumtheiten des Botticelli und des Filippo Lippi verweilt haben. Er wird die alten wuchtigen Fresken des Masaccio und Castagno bewundert haben und nach ihnen die jüngeren und weltlicheren des Benozzo Gozzoli und Ghirlandaio. Er wird vor den Bronzetüren des Ghiberti und den herben Gestalten des Donatello stehen geblieben und vor dem David des Michelangelo verharrt sein, wie vor dem befremdenden Anruf einer heraufkommenden Zeit. Von der „Gioconda“ des Leonardo aber mag sich der 21-jährige, mutterlose junge Mann nachdenklich zurückgewendet haben zu den Madonnen – denen Botticellis, Lippis und den eigenen, um schließlich zum größten Madonnenmaler aller Zeiten zu werden. Einige seiner bekanntesten – auch die „Madonna im Grünen“ sind Werke jener frühen Florentiner Jahre.
Ihren Ausklang bezeichnet ein Auftrag der Atalanta Baglioni aus Perugia, eine Grablegung Christi.
Schon seine ungewöhnliche Bewegtheit verleiht dem Bild eine Sonderstellung unter den Schöpfungen Raffaels, kaum ist es trotz seines Inhalts ein Bild der Trauer zu nennen, Anmut und Kraft der handelnden Gestalten übertönen den Eindruck des Schmerzes und die feinen, birkenzweigdünnen Silhouetten des verlassenen Kalvarienberges, die lichten Bäume daneben und die erwartungsvolle Weite des Tales – sie alle sind ein einziger Ruf nach Auferstehung.
Raffael ist kein Bildner des Schmerzes wie Michelangelo, kein Maler der Gewalt und kein Maler des Rausches, sondern ein Künstler des stillen, vom Himmel leuchtenden Glücks.
Kinder und Madonnen vor in silbernen Fernen verklingende Landschaften gesellen sich diesem Glück wie ein Stück Sehnsucht oder Heimweh. Diese finden sich gerade in seinen innigsten, unserem deutschen Empfinden verwandtesten Bildern, wie der „Madonna im Grünen“, der „Madonna mit dem Stieglitz“ oder der „mit dem Johannesknaben“.
Nicht lange blieb Raffael in Florenz. Im Herbst 1507, ziemlich zur selben Zeit, da Michelangelo in der Sistina zu malen begann, rief ihn Papst Julius II. nach Rom.
Diesen Ruf verdankte Raffael seinem Landsmann und entfernten Verwandten Bramante, dem neuen Baumeister des Vatikans und Architekten der Peterskirche.
Raffael sollte die Ausmalung der Stanza della Segnatura übernehmen, der Kanzel, von welcher die päpstlichen Rundschreiben ihren Weg um die Erde nehmen. Er war kaum 25 Jahre, aber Geist und Können zählten in Rom jener Tage mehr als Geld oder Geburt oder Alter.
Schon die Vollendung des ersten Gemäldes, der sogenannten „Disputa“ veranlasste Julius, Raffael nicht einen einzigen Saal, sondern eine ganze Flucht von Gemächern zur Ausmalung zu übergeben.
Mit der „Disputa“ war Raffael zur vollen Beherrschung seiner Ausdrucksmittel gelangt. Alles, Komposition, Farbe und Zeichnung verrieten die gleiche, uneingeschränkte Meisterschaft.
Man hat die „Disputa“ mit der Rem- brandt´schen „Nachtwache“ verglichen. Auch diese bezeichnet den Durchbruch des Genies zu voll entfaltetem Können. Das ist ihre Verwandtschaft. In allen anderen Beziehungen klaffen sie weit, fast unvergleichbar weit auseinander und man könnte sie eher als die entferntest denkbaren Gegensätze klassischen Malens bezeichnen. Alles aus jenen Jahrhunderten liegt irgendwie zwischen ihnen – zwischen Raffael und Rembrandt als äußerst möglichen Polen. Denn, während dort noch das Banalste in einem jenseitshaften Licht verklärt wird und jede Frage nach „schön“ und „hässlich“ (im apollinischen Verstand) sinnlos erscheint, erglühen bei Raffael selbst die vom Himmel herabschwebenden Engel und Heiligen in sinnlicher Schönheit und die Anmut ihrer Gebärden verraten uns in jeder Bewegung die Hand, die sie nackt nach dem Ebenbild heidnischer Götter gezeichnet und dann erst mit wallenden Gewändern umhüllt hat.
Göttliches so zu sehen und so zu zeichnen und anders nicht denken zu können als mit den Abzeichen irdischen Ebenmaßes und in diesem Ebenmaß wiederum ein Abbild des Göttlichen zu erblicken – das war: Renaissance.
Das Helldunkel der „Nachtwache“ hingegen trägt in seiner herben Innerlichkeit das Gesicht einer anderen Bewegung der im Norden heranreifenden Reformation.
Zwischen Raffael und Rembrandt liegt die Entfernung von Sternen.
Anders, unmittelbarer, aber auch unbefriedigender ist das Verhältnis zu einem gewaltigen Nebenbuhler, Michelangelo. Sie arbeiteten beinahe Schulter an Schulter, zur gleichen Zeit, unter den gleichen Herren und im gleichen Palast. Und auch heute trennen ihre Werke nur Schritte.
Raffael war der Schützling Bramantes und Bramante Michelangelos Feind. Das genügte, die beiden nie zueinander finden zu lassen. Sie waren auch sonst verschieden genug und das sprichwörtliche Glück Raffaels und Unglück Michelangelos nur Spiegelbilder ihrer entgegengesetzten Veranlagung. Wo sich jener mühelos Freunde gewann, schuf sich Michelangelo Gegner über Gegner. Und während dem einen scheinbar alles wie von selbst zufiel, verrieb sich der andere titanische Geist immer von neuem an selbstgeschaffenen Widerständen.
Auch Raffael verzehrte sich in seiner Arbeit, stiller bloß, gleichmäßiger wie eine klar und ohne Flackern zum Boden herabbrennende Kerze. Auch sein Wirken war nicht Hingebung allein, sondern ebenso sehr unermüdlicher, niemals erlahmender Fleiß. Und nicht nur die Leichtigkeit seines Schaffens, sondern auch seine unfassbare Menge ein Ergebnis äußerster Selbstzucht. Klarheit und Ziele und Liebenswürdigkeiten im Umgang mit Menschen sicherten seinen Erfolg. Denn Leo X. übergab ihm nach dem Tode Bramantes nicht nur den Bau der Peterskirche, sondern überdies noch die Vermessung aller altrömischen Kunstdenkmäler und die Leitung ihrer Ausgrabung.
In seinen letzten Jahren war er darum von einer stets wachsenden Zahl von Schülern umgeben und sein Gefolge glich dem eines Fürsten.
Spätere Zeiten haben Raffael und Michelangelo immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt, um sodann, je nach wechselndem Zeitgeschmack, dem Einen oder dem Anderen den Vorzug zu geben.
Ein scheinbarer Mangel an Tragik im Leben Raffaels schien vielen gleich einem Mangel an innerem Gewicht, doch wissen wir über sein intimeres Leben zu wenig, um seinen geheimen Verzicht zu kennen.
Er war Waise mit 11 Jahren. Sein Leben – ein stiller Anstieg und sein Ende – schon mit 37 Jahren – kam schnell und leicht.
Wir suchen heute auch in Werken vergangener Meister das trotzige Aufbegehrende und Eigenwillige unserer Zeit.
Wir wollen das Zerrissene, Unreife, Unzulängliche, das wir im Gesamtstil vergangener Zeiten vermissen, wenigstes im Leben ihrer Einzelnen wiederfinden. Und glauben uns einem Michelangelo, Rembrandt, Beethoven näher, weil wir noch hinter ihrer Stärke geheime Anklänge unserer eigenen Schwäche vermuten. Wir wollen das Menschliche, Nur-Menschliche, auch an den Großen und misstrauen als verschworene Demokraten den Göttern.
Raffael hingegen schuf wie „von Gottes Gnaden“, unmittelbar aus sich selbst heraus und ohne Reflexion.
Die Alten hätten gesagt, ein Gott habe das gemalt und er nur den Pinsel geliehen.
In einer deutschen Lebensbeschreibung Raffaels heißt es: „Rose ist Rose, Nachtigallengesang – Nachtigallengesang.“ Man kann sie hinnehmen, man kann sie genießen, man kann sich vor ihnen verneigen. Sie sind vollkommen, schon so, wie sie sind und lassen sich tiefer nicht mehr ergründen.
„Kunst ist eine Sache der Edlen und nicht der Plebejer.“ Und darum – und weil nur der Edle sich stets überfordert – in jedem Fall Torso; Eingeständnis einer Niederlage und so Sinnbild eines Menschentums, das zwar das Tier überwand, aber Gott nicht erreichte.
In Florenz steht, in Marmor gehauen, die Gestalt eines streitbaren Jünglings. „Er hält sein Knie auf dem Rücken des Gegners, doch schweift sein Blick unentschlossen über ihn weg in die Ferne und sein zum Schlag erhobener Arm scheint gegen die Schulter zurückzufallen. Er heißt ‚der Sieger‘, aber er will keinen Sieg mehr. Er ekelt ihn, er hat ‚gesiegt‘ und ist doch selbst der Besiegte.“
Mit dieser Interpretation einer weltbekannten Statue eröffnet Romain Rolland seine Studie über das Leben Michelangelos. Jenes Bildwerk war als einziges bis zuletzt im Atelier des Meisters verblieben. Mit ihm hat Michelangelo seinen Katafalk schmücken wollen. Der an seiner Tat verzweifelnde Held, der Adler mit den gebrochenen Flügeln bedeutet ihn selbst – ist Inbegriff seines Lebens.
Er ist mit den Frühlingswinden geboren, am 6. März 1475 in Caprese – inmitten der Felsen des Apennin und getragen vom Stolz eines alten Geschlechts. „Ich bin nicht der Bildhauer Michelangelo, ich bin Michelangelo Buonarotti“ - schleudert er später den Römern entgegen. Keiner kann mehr werden – auch nicht durch sein Werk – als von Anfang in ihm war – und kein Baum seine Krone höher gegen den Himmel tragen, als sein Same Wurzeln in die Tiefe gesenkt hat. Und Michelangelo Buonarotti hing an seinen Wurzeln und seinem Stamm desto zäher, je älter er wurde – „Dass nur unsere Sippe, unsere Rasse erhalten bleibt, dass nur sie nicht stirbt!“ Fortleben in Kindern und Kindeskindern (die er niemals haben würde – sein nächster Nachkomme war ein Neffe) ist ihm wichtiger als Fortleben im Werk. Das ist da, dem Leben zu dienen, nicht umgekehrt, einem hochgemuten, gesteigerten Leben, über allen Niederungen der Gewohnheit und der Gewöhnlichkeit.
Als Michelangelo mit kaum 13 Jahren gegen den Widerstand aller Verwandten seinen Willen durchsetzte, Künstler zu werden, geschah es einzig mit der bereits zitierten Begründung, dass „die Übung der Kunst eine Sache der Edlen sei und nicht der Plebejer...“ – und eine Sache derer, denen das Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit zum unaufhörlichen Antrieb wird, das Äußerste zu vollbringen. Das Unzulängliche Michelangelos ist offenkundig: seine äußere Erscheinung war nahezu abstoßend, seine unbändige Kraftentfaltung geschlagen mit einer Hässlichkeit, die sich in Sehnsucht nach Schönheit verzehrte und der – ganz hellenisch (ganz wie den Richtern der Phryne) – jede greifbare, mit Händen und Augen tastbare Wohlgestalt als unmittelbarer Ausdruck göttlicher Begnadung erschien.
Und doch war dieser Florentiner so ungriechisch wie Shakespeare etwa oder wie Beethoven. Und neben dem zeushaft überlegenen Leonardo und dem apollinisch zarten Raffael gemahnt seine vulkanisch eruptive Natur bloß an die Düsternis des unterirdischen, von Aphrodite immer von neuem betrogenen Hephaistos. Darum erscheint sein Leben als eine ununterbrochene Kette von Gewaltleistungen, gefolgt von Zusammenbrüchen. Doch immer schnitten diese tiefer in sein Wesen, als die vorangegangenen Aufschwünge. Und immer mehr wurde sein Weg, trotz wachsenden Ruhms und zunehmender Anerkennung, ein Weg in die Vereinsamung. So war Michelangelo der an inneren Spannungen reichste, aber auch der unglücklichste und zerrissenste unter den großen Männern der zu Ende gehenden italienischen Renaissance. Und im Schatten seines leicht verletzlichen Stolzes gediehen Misstrauen, Ränkesucht und Gewalttätigkeit. Er übergoss den um Jahrzehnte älteren Leonardo auf offener Straße mit bitterem Hohn, bloß weil ihm dessen weltmännische Selbstsicherheit zuinnerst zuwider war. Und Torrigiano zerbrach ihm das Nasenbein, weil es den beiden nicht möglich war, in Frieden nebeneinander zu arbeiten. Michelangelo duldete niemanden neben sich, außer einigen Handlangern, und manche gerade seiner kühnsten Entwürfe scheiterten, weil er alles selbst und allein machen wollte – vom Lösen der Blöcke in den Steinbrüchen bis zu den letzten Handgriffen am vollendeten Werk. – Als gäbe es eine Zeugung aus Stein, als ließe sich in wahnwitziger Kraft aus der Härte des Marmors herausschlagen, was ihm, dem Missgestalteten, an Süße des Lebens verlorenging. Doch war dies nur ein auswegloser Kampf mit sich und mit allen Menschen, dem Material und der zyklopenhaften Größe der gewählten Projekte. Der gewaltige Block carrarischen Marmors, an dem sich 40 Jahre hindurch keines Menschen Hand mehr gewagt hatte und aus dem unter dem Hammer Michelangelos sodann die sieghafte Gestalt des David hervorwuchs, war nur der Anfang. Ihm folgte der gigantische Entwurf zum Grabmal Julius II. Acht Monate lang wühlte Michelangelo allein in den Brüchen. Dann türmte sich ein Gebirge unbehauenen Steins vor den Fenstern des Vatikans. Doch ehe das Titanenwerk Wirklichkeit ward, spielten die Intrigen Bramantes, spielten die Pläne zur neuen Peterskirche, und eines Tages ist das Grabmal vergessen und verworfen und Michelangelo steht vor verschlossenen Türen. Zornerfüllt lässt er den Papst wissen, dass er auf weitere Gastfreundschaft verzichte, gibt Auftrag, den Marmor, so wie er ist, einem Juden zu verkaufen und reitet nach Norden. Umsonst jagt Julius fünf seiner bestberittenen Kavaliere hinter ihm her. Umsonst alle diplomatischen Vorstellungen der Signoria, die ihrem großen Mitbürger wohl zu jeder gewünschten Genugtuung verhelfen, aber doch um seinetwillen keinen Krieg führen will.
Erst als Julius Bologna belagert und Stadt und Staat von Florenz damit von zwei Seiten umklammert, wird es Zeit, Künstler und Papst um jeden Preis einander zu nähern und zwei Jahre später ist Michelangelo wieder in Rom. Vom Grabmal ist allerdings nicht mehr die Rede. Julius II. beauftragte ihn mit der Ausmalung der sixtinischen Kapelle.
Michelangelo vermutet dahinter – misstrauisch wie immer – einen Schachzug Bramantes, der ihn vor aller Welt bloßstellen und damit erledigen soll – und verweigert die Ausführung. Die Malerei sei nicht sein Handwerk und die Deckenmalerei am allerwenigsten. Schließlich geht er so weit, Raffael, seinen schärfsten Nebenbuhler, für die Ausmalung der Sixtina vorzuschlagen, vergebens. Der Papst bleibt unerbittlich und erreicht, worauf es ihm ankommt: Michelangelo begeistert sich schließlich für die verheißene Aufgabe und verbeißt sich in sie.
Er schließt sich völlig ab von der Welt. Ist Monate lang für niemanden zu sprechen, findet kaum mehr Zeit, einen Bissen zu sich zu nehmen und schläft (obgleich nebenan Paläste für ihn bereitstehen), auf einer Bank unter den Gerüsten. Er malt liegend, mit nach rückwärts verrenktem Kopf und kann sich vor Schmerzen kaum noch bewegen, wenn er herabsteigt. Aber eines Tages, nach wiederholtem Drängen, steht er vor Julius II. wie Herkules vor seinem König: das Unerhörte ist gelungen und die Sixtina des verrückten Michelangelo überschattet die Stanzen des glückhaften Raffael.
Dann stirbt Julius II. Nun will Michelangelo dessen Grabmal vollenden, doch liegt seinem Nachfolger, einem Mediceer, mehr am Ruhm des eigenen Hauses, als an dem seines Vorgängers und Michelangelo erhält Weisung zum Bau der Fassade von San Lorenzo in Florenz. Und mit der gleichen Rastlosigkeit, mit der er eben vier Jahre lang an der Sixtina gearbeitet hat, stürzt er sich jetzt in die neue Aufgabe.
Unterdessen bezichtigen ihn seine Feinde der Bestechlichkeit, weil er statt der staatseigenen Brüche von Pietrasanta die ausländischen von Carrara bevorzugt und nötigen ihn, die gewählten Blöcke liegen zu lassen und in Pietrasanta von vorne zu beginnen. Nun aber stecken sich die Steinbrecher von Carrara hinter die Genuesen und sämtliche Schiffer verweigern den Abtransport. Daraufhin müssen die Steine mit ungeschulten Kräften und auf mühevoll gebahnten Wegen auf dem Landweg nach Florenz gebracht werden – und als sie schließlich dort anlangen, sind drei Jahre nutzlos verstrichen, von sechs großen Monolithsäulen vier auf dem Wege zerborsten, die Geduld der Auftraggeber erschöpft und der Auftrag zurückgenommen. Die Fassade von San Lorenzo wurde niemals errichtet.
Damit schwand – die vielen kleineren ungerechnet – die zweite große Hoffnung des Bildhauers Michelangelo. Seit er vor 15 Jahren in den Dienst der Päpste getreten war, hatte er Gebirge von Marmor in ihrem Auftrag in Bewegung gesetzt, aber nur den 20. Teil davon hat sein Meißel jemals berührt. Die besten Werke waren Entwurf und Torso geblieben und die besten Jahre vorbei.
Zwar traute der nächste in der Reihe der Päpste, Giulio da Medici oder Clemens VII. seinen Händen ein drittes gewaltiges Werk an: Die Grabkapelle der Mediceer – aber die erlittenen Enttäuschungen sitzen zu tief. Und als im Jahre 1527 in Florenz der Aufstand ausbricht, steht Michelangelo auf Seiten der Aufständischen und leitet als verantwortlicher Baumeister die Ausgestaltung der Verteidigungswerke der Stadt. Zwar zwingen ihn Intrigen des Condottiere Malatesta Baglioni vorübergehend zur Flucht nach Venedig. Zurückberufen durchbricht er jedoch bald ein zweites Mal den Ring der Belagerer und kämpft weiter in den Reihen der Florentiner, bis der Verrat Baglionis den verhassten Mediceern die Stadt in die Hände spielt.
Michelangelo verschmäht es anfangs zu fliehen und erwartet trotzig seine Verurteilung. Der Papst indessen hält seine Hand über ihn – und zwingt ihn so erneut in den Dienst seines Hauses. Doch wagt es Michelangelo fortan ohne seinen Schutz nicht mehr, in der Stadt seiner Väter zu leben und, als Clemens VII. stirbt, bleibt auch der vierte große Entwurf, das Grabmal der Medici, unvollendet.
Er ist nun 60 Jahre alt und die 20, die ihm noch zu leben bleiben und die er in Rom verbringen wird, sind – trotz unbestrittenen Ruhms, trotz neuer rastloser Arbeit – Jahre des Verzichts. Alles, wonach er gestrebt, war Bruchstück geblieben. Die, an denen er gehangen, waren tot, die Heimat verschlossen, Italien in Händen der Spanier oder Franzosen. Selbst seine Feinde hatten ihn längst im Stich gelassen: Leonardo war tot, Raffael und Bramante….. und Rom schien darauf zu warten, einzig von seinen Händen vollendet zu werden.
Und zugleich waren es Jahre letzter, oft verhängnisvoll stürmischer Leidenschaften. So seine überschwenglichen Neigungen zu Febo di Poggio, zu Cecchino dei Bracci und Tommaso dei Cavalieri oder die wilde, quälerische Hassliebe zu einer gleichzeitig verachteten und begehrten Unbekannten – daneben die zart ausgeglichene von gemeinsamer religiöser Schwärmerei getragene Freundschaft zu Vittoria Colonna. Als auch sie starb, umgab ihn die Einsamkeit fortan wie eine einzige, nicht mehr unterbrochene Stille. Nun stand er über den Menschen. Auch über sich und seinen Enttäuschungen. Auch über den Trümmern seines Werks, das sich steil über das all der anderen erhob, wie die Kuppel von St. Peter über den Dom Bramantes.
Nun war er der „Sieger“, der den irdischen Sieg nicht mehr wollte.
Am Rand er Dolomiten, nahe der Grenzen Tirols, liegt, inmitten himmelstarrender Berge die kleine Landschaft Cadore. Dort wählten die freien Männer im Jahre 1321 einen gewissen Guecello, Sohn des Tommaso von Possale zum Oberhaupt. Seither tauchten die Guecelli oder Vecelli, wie sie später genannt wurden, immer wieder in den Chroniken der Gegend auf, und die Cadoriner sind längst Untertanen des Löwen von San Marco, als Gregorio Vecelli im Jahre 1486 seine beiden Söhne Francesco und Tiziano zu einem Oheim nach Venedig bringt. Die beiden Knaben sind 12 und 9 Jahre alt. Die neuartige Welt, die mit einem Schlag über sie hereinbricht, ist das Gegenteil ihrer bisherigen Umgebung. Venedig ist damals die reichste und glänzendste unter den Städten des Abendlandes und selbst weitgereiste und weltbewanderte Männer verfallen dem Zauber ihrer orientalisch anmutenden Prachtentfaltung. Zu solcher Einschätzung allerdings fehlt den beiden Bergkindern der Vergleich zu anderen Städten. Umso unbefangener bestaunen sie ihr, sich in ständig wechselnden Spiegelungen wandelndes Antlitz und verfallen so allmählich dem eigentümlich malerischen Zauber Venedigs, das der Plastik toskanischen Bauens – wie mit Absicht – das Bezwingende einer ganz und gar zum Gemälde gewordenen Architektur gegenüberstellt. Vielleicht aber verwundert sich der kleine Tiziano mehr noch als über alle schillernde Mannigfaltigkeit des venezianischen Stadtbildes über den überraschenden Anblick seiner Umgebung: Das war keine Landschaft mehr, der mit der Zeichnung klarer einfacher Umrisse beizukommen war, wie den Bergen seiner Heimat. Hier, in dieser verwirrenden Flachheit der Lagunen, an deren unfassbaren Horizonten sich Wolken zu Wasser und Wasser in Wolken verwandelten – hier verlor sich alle Wirklichkeit in den Sinnestäuschungen einer nur mehr in Lichtwerten zu begreifender Atmosphäre. Noch ahnte der neunjährige Tizian nichts davon, dass er eines Tages berufen sein sollte, diese beiden frühen Erlebnisse – das venezianische und das der Lagunen, selbst zu Ende zu denken: der Malerei die Farbe und der Landschaft die Atmosphäre zu erobern. Wir hören nicht viel von Tizians Lehrjahren. Er ist zuerst seinem Meister Bellini gefolgt, dann schloss er sich zeitweilig seinen gleichaltrigen Mitschülern Giorgione und Palma Vecchio an. Frühreifer als er, eilten sie ihm zunächst weit voraus. Sein eigener Stil entfaltet sich spät und im Gegensatz zu Giorgione war er nicht der Mann, die Welt in jungen Jahren in Erstaunen zu setzen. Erst allmählich, und im Gefolge einer von Jahr zu Jahr ständig zunehmenden Erfahrung wuchs er in seine spätere Größe hinein. Und er wuchs mit einer für alle eifersüchtigen Nebenbuhler beängstigenden Stetigkeit. Denn, während Geschlecht um Geschlecht immer neue Generationen ins Grab sinken, arbeitet der längst zur legendären Gestalt gewordene Tizian unermüdlich weiter, das einmal begonnene zu vollenden. Bei solch gleichmäßiger Entwicklung lässt sich ein einzelner Zeitpunkt als Beginn eines Aufstieges nicht festsetzen. Immerhin ist im Jahre 1513 sein Ruf schon so weit verbreitert, dass er von Rom aus die Aufforderung erhält, in päpstliche Dienste zu treten. Diese Einladung spielt er so geschickt gegen die venezianischen Stadträte aus, dass sie ihn nicht nur gleichberechtigt neben Bellini mit der Ausschmückung des Dogen-Palastes betrauen, sondern darüber hinaus noch die Einkünfte eines Sensals am Kaufhof der Deutschen – dem sogenannten fondaco dei tedeschi – überlassen. Nach Rom geht er nicht, doch folgt er in den nächsten Jahren wiederholten Einladungen der Herzöge von Ferrara, Mantua und Urbino.
Dann bringt der Winter des Jahres 1532 die erste Begegnung mit Karl V. und Vasari. Tizians zeitgenössischer Biograph berichtet, der Kaiser habe, nachdem er Tizian in Bologna kennengelernt, keinem anderen Künstler mehr gesessen. Sein Lohn jedenfalls entsprach der Gebärde eines Weltherrschers. Denn nach Spanien zurückgekehrt, ernannte er Tizian zum Pfalzgrafen, mit allen aus dieser Würde entspringenden Vorrechten und erhob seine Kinder zu Edelleuten des Reiches.