Die Kette

Cover

meiner Fee

in Dankbarkeit für ihre Liebe

«Eine Fabel ist eine Brücke, die zu den Ufern der Wahrheit führt.»

Arabische Inschrift im Saal der Könige, Alhambra/Granada

Freitag, 28. Februar

Karneval würde dieses Jahr komplett ins Wasser fallen, so viel war sicher. Alfons Becker hatte nichts dagegen. In drei Tagen war Rosenmontag, und der Wetterbericht prophezeite Regen mindestens bis Aschermittwoch. Bestens. Dann hatte er den Wald und den See für sich alleine. Alfons Becker hasste Karneval. Und noch mehr hasste er die Homos, die sich bei schönem Sommerwetter zu Dutzenden an seinem See herumtrieben. Pervers. Manchmal ließ er dann den Hund los, nur so zum Spaß. Aber jetzt war Februar, der letzte Tag des Monats, und es schüttete seit zwei Tagen wie aus Kübeln. Da war kein Mensch im Wald rund um den verlassenen, voll Wasser gelaufenen Steinbruch. Außer ihm. Und dem Hund. Ein Belgischer Schäferhund. Er hatte auch mal einen Deutschen Schäferhund. Aber die waren durch die Überzüchtung zu verweichlicht, wie er festgestellt hatte.

Alfons Becker kniff die Augen zusammen. Der Hund war nicht mehr zu sehen. Jagte wahrscheinlich wieder Kaninchen. Der Regen hatte die Trampelpfade aufgeweicht. Abwärts musste er aufpassen. Nichts als Pfützen und Schlamm. Man konnte sich alle Knochen brechen. Er war nicht mehr der Jüngste.

Der Hund schlug an. Alfons Becker wischte sich mit dem Handrücken das Wasser vom Gesicht. Das Gebell kam von unten, vom See. Der hatte noch Jagdtrieb, der Hund. Gesunden Jagdtrieb. Alfons Becker beschleunigte unmerklich seinen Schritt, kam ins Rutschen, fing sich an einem der überhängenden Zweige. Aufpassen, Alter, aufpassen. Wollen noch ein Weilchen auf der Erde bleiben. Kein Mensch würde ihn hier finden, bei diesem Sauwetter. Der Hund bellte wie verrückt. Halt endlich die Schnauze, du Mistvieh. Lauerte vermutlich vor einem Kaninchenbau, kam nicht dran.

Dann war er unten. Jenseits der Lichtung hämmerte der Regen laut und unerbittlich Muster in die dunkelgrüne Oberfläche des Dornheckensees. Das Bellen kam von der anderen Seite, von dem schmalen Pfad entlang der Wasserlinie unterhalb der Steilwand. Verdammter Köter. Sie hatten ihm den Hund schon mal wegnehmen wollen, weil er ihn immer von der Leine ließ und sich weigerte, ihm einen Maulkorb zu verpassen. Alfons Becker tastete sich mit der rechten Hand vorsichtig an der Steilwand entlang, machte kleine Trippelschritte. Der sonst so raue Basalt war jetzt vermoost und ganz glitschig. Und der Weg zwischen Steilwand und Wasserlinie keinen halben Meter breit.

«Verdammter Köter, halt endlich die Schnauze!»

Der Hund verstummte. Dann war Alfons Becker nahe genug dran, um zu sehen, was den Hund in Aufregung versetzte.

Aus der dunkelgrünen Brühe ragte ein Bein.

 

Die Maschine aus Madrid setzte am späten Morgen des 28. Februar auf dem Rollfeld des Aeropuerto von Fuerteventura auf. Eine halbe Stunde später warf Iris Cronenberg ihre Reisetasche in den Kofferraum des Mietwagens, setzte ihre Sonnenbrille auf und steuerte den Seat Richtung Norden. Ihrer Strumpfhose unter der Jeans hatte sie sich bereits auf der Damentoilette des Flughafengebäudes entledigt, ebenso ihres Pullovers. Es war empfindlich kalt gewesen in Madrid. Sie überholte einen der unzähligen Shuttle-Busse, die unentwegt Touristen zu ihren Urlaubsquartieren auf der Insel karrten, und bog auf die Umgehungsstraße ab, um sich den Weg quer durch die Hauptstadt zu ersparen. Der trostlose Anblick, den Puerto del Rosario schon aus der Ferne bot, genügte ihr. Selbst der Parador Nacional am Rande der Steilküste, auf den das winzige Straßenschild verschämt hinwies, erinnerte eher an eine Kaserne als an die komfortablen, romantischen Herbergen, die sie vom spanischen Festland kannte.

Sie schaltete das Radio ein. Nachrichten. Sie konnte kein Spanisch, und der Nachrichtensprecher hatte den Schnellgang eingelegt. Aber sie beherrschte neben Englisch fließend Italienisch und Französisch, hatte zudem ein Talent für Sprachen und sich im Flugzeug aus dem Reiseführer ein paar spanische Vokabeln angeeignet. Das ging sehr schnell bei ihr, und so erahnte sie, dass es um ein Bombenattentat islamischer Terroristen ging. Ein Attentat auf die US-Botschaft in Madrid. Der Name Al-Qaida fiel in jedem zweiten Satz. Es hatte wohl Tote gegeben.

Die Bombe musste hochgegangen sein, kaum dass sie Madrid verlassen hatte. Was für ein Glück. Womöglich hätten sie noch den Flughafen gesperrt, und sie hätte in Madrid festgesessen. Sie schaltete das Radio aus und folgte den Schildern, die in Richtung Corralejo zeigten.

Überlandleitungen. Strommasten. Zwischen dem Bauschutt am Straßenrand ein paar kümmerliche eingestaubte Palmen. Das Betongerippe eines verlassenen, halb fertigen Hotel-Komplexes. Sonst nichts, nichts als rostbraune, vertrocknete Erde und Geröll aus erstarrter Lava zwischen den nackten Vulkankegeln zu ihrer Linken und der Steilküste zur Rechten. «In diese Insel verliebt man sich erst auf den zweiten Blick», hatte der Mann neben ihr in der Maschine beim Landeanflug versichert.

Ein Geschäftsmann aus Burgos.

Iris Cronenberg hatte mit einem knappen, höflichen Lächeln geantwortet und den Gurt über ihrem Becken stramm gezogen. Sie würde sich nie an das Fliegen gewöhnen.

«Wissen Sie, was Miguel de Unamuno einmal über Fuerteventura gesagt hat?» Ihr Stirnrunzeln deutete er falsch und schickte sich an, ihr etwas Geschichtsunterricht zu erteilen: «Unamuno war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Rektor der Universität Salamanca. In den 20er Jahren hatte ihn Primo de Rivera nach Fuerteventura verbannt. Na ja, selbst schuld. Es hätte schlimmer für den Herrn Professor kommen können. Aber der Diktator hatte was übrig für die Männer des Geistes. Auch wenn sie zu viel und zum falschen Zeitpunkt redeten. Wie der Professor. Miguel de Unamuno war ein kluger Kopf, aber leider ein Baske. Und die haben bekanntlich noch nie viel von Vaterlandsliebe gehalten.»

Er suchte in ihrem Gesicht nach der Wirkung seiner Worte. Vergebens. Iris Cronenberg hatte keine Lust auf Konversation. Nicht beim Landeanflug. Gut geschnittener Sommeranzug, gut geschnittenes Gesicht, volles schwarzes Haar trotz seines Alters, streng nach hinten gekämmt, graue Schläfen, ein sorgsam gestutztes Menjou-Bärtchen unter der schmalen aristokratischen Nase. Einer dieser Sorte Männer, die mit zunehmendem Alter an Attraktivität gewinnen. Sie kannte diese Männer zur Genüge; angefangen bei ihrem Vater.

«Und? Was nun hatte dieser vaterlandslose Baske über Fuerteventura gesagt?»

Er lächelte galant. «Zu Beginn seiner Verbannung verglich er die Insel nicht sehr schmeichelhaft mit einem Haufen vergessener Knochen. Ja, so hat er Fuerteventura beschrieben: ein Haufen vergessener Knochen mitten im Meer! Später aber, in Paris, schrieb er, der Aufenthalt auf der zweifellos kargen Insel habe ihm die Stärke verliehen, in die Wüste der Zivilisation zurückzukehren.» Er lächelte erneut. Charmant. Höflich. Interessiert. Vielleicht doch nicht zu alt. Er sprach ein phantastisches Englisch. Zwar mit leichtem Akzent, aber sein Wortschatz war beeindruckend. «Sie sind Deutsche?»

Sie hatte einen deutschen Pass, aber sie hatte sich nie als Deutsche gefühlt. Als Kölnerin, als Rheinländerin, als Europäerin, als Weltbürgerin. Aber als Deutsche? Sie nickte trotzdem.

Er betrachtete ungeniert ihre Knie, die das Jil-Sander-Kostüm unbedeckt ließ. «Dachte ich mir doch gleich. Deutsches Blut. Sehr gut, sehr gut. Sie tragen die Rettung unserer abendländischen Kultur in Ihren Adern, wissen Sie das?»

Sie lachte laut auf. Nein, wusste sie nicht. Wollte er mit ihr eine Zucht aufmachen?

«Verzeihen Sie mir die Feststellung. Aber Sie sind zu jung, um dies zu begreifen. Das deutsche und das spanische Volk verbindet so viel. Mein Vater fiel in Stalingrad. Als Offizier der Blauen Division. Eine spanische Eliteeinheit aus Freiwilligen. Ich bin stolz auf ihn. Das waren alles tapfere Männer unseres Landes. Große Kämpfer an der Seite der Deutschen. Nur viel zu wenige. Die Blaue Division war Francos bescheidene Dankbarkeitsbezeugung an Deutschland. Eigentlich eher eine Undankbarkeitsbezeugung, gemessen an der unermesslichen uneigennützigen Hilfe, die Deutschland zuvor unserem Land während des Bürgerkrieges zukommen ließ. Denn ohne die deutsche Legion Condor wäre damals nicht nur Spanien, sondern bald darauf auch ganz Europa der atheistischen Barbarei anheim gefallen. So wie nun unsere abendländische Kultur der islamischen Barbarei anheim zu fallen droht. Aber was rede ich. Verzeihen Sie. Es gibt keine größere Sünde, als schöne Frauen mit Politik zu langweilen. Ich bin neugierig: Aus welchem … Teil Deutschlands stammen Sie, wenn ich fragen darf?»

«Aus dem Rheinland. Ich bin in Köln geboren und habe in Bonn ein Internat besucht. Meine Eltern …»

«Aus dem Rheinland! Wissen Sie, was Luigi Pirandello einmal über den Karneval in Bonn geschrieben hat? Ich hoffe, mein Gedächtnis lässt mich jetzt nicht im Stich. Er schrieb: Ich bin außerstande, einen Bonner Karnevalsball zu beschreiben, und was dabei aus den Frauen wird. Alles bis zum Kuss einschließlich ist erlaubt, ohne irgendwelches Vorurteil. Die Liebeserklärung eines Italieners an die Frauen des Rheinlandes. Sie wissen sicher, wer Luigi Pirandello war?»

«Er studierte Ende des 19. Jahrhunderts an der Bonner Universität, er hauste in einer Dachwohnung in der Breite Straße mitten in der Bonner Altstadt, und er bekam später den Literaturnobelpreis – obwohl er ein verdammter Faschist war.»

Er lächelte milde, als ob er der Jugend und vor allem der Schönheit jede Torheit nachsehe. «Daran können Sie ermessen, dass Klugheit und Lebensart keine Frage der politischen Weltanschauung sind. Sie sagten, Sie sind Journalistin? Das stelle ich mir sehr interessant vor. Ich schätze die deutschsprachigen Zeitungen. Sie sind besser als unsere spanischen Blätter. Wir haben noch viel zu lernen.»

Wie zufällig verschob er den Zeitungsstapel auf seinem Schoß, sodass sie zwischen der International Herald Tribune und dem Wall Street Journal die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung erkennen konnte. Sie behielt für sich, dass sie für keines dieser Blätter, sondern vornehmlich fürs Privatfernsehen und für verschiedene Lifestyle-Illustrierte arbeitete. Und einst zwar Politikwissenschaft studiert, aber soeben über die aktuellen Haute-Couture-Schauen in Madrid berichtet hatte.

Aber sie hatte genügend Zeit in sterbenslangweiligen Hörsälen verbracht, um zu wissen, dass Primo de Rivera ein verdammter Militarist und reaktionärer Diktator gewesen war, lange vor Franco. Und Miguel de Unamuno ein mutiger Mann, der mit Hilfe seines Sohnes aus der Verbannung auf der Insel fliehen konnte und erst wieder aus dem Exil in Paris nach Spanien zurückkehrte, nachdem man Primo de Rivera zum Teufel gejagt hatte. Iris Cronenberg umkurvte eine Verwehung. Der feine Sand türmte sich meterhoch am Straßenrand auf, jederzeit bereit, mit Hilfe des Windes auch noch das die Dünen zerschneidende schmale graue Band aus Asphalt zurückzuerobern. Und Hitlers Legion Condor hatte die spanische Republik zurück ins Mittelalter gebombt. In einen mittelalterlichen Feudalstaat. 600000 Menschen mussten sterben, weil ein paar spanische Offiziere die Demokratie hassten und von einem feudalistischen Ständestaat träumten.

Der kräftige Wind peitschte unablässig den Sand über die Straße. Fuerteventura, mächtiger Wind. Die Landschaft hatte sich verändert, wie sie erst jetzt bemerkte. Die Vulkanberge traten zurück, machten Platz für die goldgelben Dünen links und rechts der Straße. Das Meer funkelte versöhnlich im grellen Sonnenlicht. Irgendwo da drüben, jenseits des Horizonts, lag die Sahara. Die endlose Dünenlandschaft erschien ihr wie die Miniaturausgabe jener gigantischen Wüste, die den arabischen Norden vom Rest des afrikanischen Kontinents trennte.

Im Flughafengebäude hatte er sich mit einem angedeuteten Handkuss verabschiedet und war lächelnd in der Menge verschwunden. Ein Kavalier alter Schule. Ein perfektes Exemplar des spanischen Machismo. Als wäre er einem Hemingway-Roman entsprungen. Nein, so einfach war es nicht. Ein Fossil. Interessant. Charmant. Arrogant. Ein charmanter, arroganter Reaktionär. Vergiss ihn, Iris. Vergiss ihn einfach. Vergiss alle attraktiven, alten, mächtigen Männer.

Mitten in der unter Naturschutz stehenden Dünenlandschaft erhob sich das beste Hotel der Insel. Oder, besser gesagt, das einzige, das nach intensivem Studium der Prospekte in dem Madrider Reisebüro ihrer Ansicht nach den Namen Hotel verdiente. Es war noch zu Francos Zeiten gebaut worden. Ein hässlicher, sandfarben angepinselter Betonklotz. Iris verlangsamte das Tempo erst, nachdem sie sich im Rückspiegel vergewissert hatte, nicht Gefahr zu laufen, von einem der offenbar stets mit Vollgas über die Schnellstraße bretternden Lastwagen zermalmt zu werden, und bog an dem Schild mit der Aufschrift Riu Palace Tres Islas auf die schmale Zufahrtsstraße zum Meer ab.

Ein formvollendeter Kavalier alter spanischer Schule mit einem einzigen Schönheitsfehler: Er war all ihren Fragen über seine Person ausgewichen. So geschickt, dass sie es zunächst gar nicht bemerkte. Er hatte ihr keine Chance gelassen, ihre Neugier zu stillen. Und sie war von Natur aus verdammt neugierig. Sie wusste nichts über ihn. Nicht mal seinen Namen.

 

«Was hatten Sie eigentlich hier zu suchen?»

Sieh an, der unfreundliche Kommissar konnte nicht nur rumbrüllen, sondern tatsächlich auch ganz normal sprechen. Vor einer halben Stunde, als er hier aufgetaucht war, als Letzter, hatte er ihn gleich angeraunzt, er solle den Hund gefälligst an die kurze Leine nehmen. Der tut nichts, Herr Kommissar, hatte Alfons Becker entgegnet. Das interessiert mich nicht, hatte der Fettsack gesagt und ihn einfach stehen lassen, um sich mit den Tauchern zu unterhalten. Dabei wüssten die doch noch gar nichts von der Leiche, ohne seinen Hund, und wenn er nicht anschließend den ganzen Weg zurück zum Parkplatz gelaufen wäre, um in der Telefonzelle die 110 zu wählen.

«Also? Was hatten Sie hier zu suchen? Bei dem Wetter geht doch niemand freiwillig vor die Tür.» Als ob er den letzten Satz unterstreichen wollte, klappte Kriminalhauptkommissar Josef Morian den Kragen seines Trenchcoats hoch.

«Ich schon. Ich bin bei jedem Wetter hier draußen. Je schlechter, desto besser. Dann hab ich wenigstens meine Ruhe.»

«Wie heißt der Hund?»

«Der hat keinen Namen.»

«Der hat keinen Namen?»

«Der hat keinen Namen!»

«Warum nicht?»

«Der braucht keinen.»

Morian starrte auf die Ledersohle des schwarzen Halbschuhs, der mitsamt dem linken Fuß des Toten in einer Wurzel unmittelbar über der Wasserlinie steckte. Das Hosenbein des anthrazitfarbenen Anzugs war verrutscht und gab den Blick frei auf einen schmalen Streifen schneeweißer Haut, den die zu kurze schwarze Socke nicht bedeckte. Der Rest des Körpers war in der grünen Brühe des Sees verschwunden. Vielleicht sollte er mal das Thema wechseln.

«Sie sind Rentner?»

«Ja. Schon seit drei Jahren.»

«Wohnen Sie hier in der Nähe?»

«Da unten in Oberkassel. Wenn Sie da oben vom Parkplatz links den Berg runterfahren …»

«Ich weiß, wo Oberkassel liegt. Habt ihr seine Adresse?» Jetzt brüllte er schon wieder. Gegen den Regen an. Die drei Uniformierten, die auf der gegenüberliegenden Seite des Steinbruchs damit beschäftigt waren, zwei Flutlichtmasten zu installieren, nickten diensteifrig, der mittlere hob die rechte Hand und streckte den Daumen nach oben. Die drei korpulenten älteren Herren in ihren schlecht sitzenden, zu engen Uniformen sahen aus, als hätten sie schon vor zehn Jahren ihre Pensionierung verpasst. Notbesetzung. Alle verfügbaren Bonner Kräfte waren in die Kölner Innenstadt und zum Flughafen abkommandiert. Das BKA hatte Hinweise auf einen möglichen terroristischen Anschlag. Morian ging das langsam auf die Nerven. Auf der einen Seite wurde aus Kostengründen permanent Personal abgebaut, seit Bonn nicht mehr Bundeshauptstadt war, auf der anderen Seite wurden die verbliebenen Kräfte ständig ausgeliehen und kreuz und quer durchs Land verschickt, weil das BKA wieder mal irgendwelche Hinweise auf irgendwelche durchgeknallten Islamisten hatte. Und er konnte dann sehen, mit welchen Pappnasen er einen Mord aufklären sollte. Morian starrte wieder auf die Ledersohle vor sich in der Wurzelgabelung. Wer auch immer der Tote war: Er hatte sich nicht gerade das ideale Schuhwerk für einen winterlichen Waldspaziergang im Regen ausgesucht.

«Vielen Dank, Herr Becker. Sie haben uns sehr geholfen. Sie können jetzt gehen. Wir melden uns dann bei Ihnen. Sie müssen nämlich Ihre Beobachtungen noch einmal später im Polizeipräsidium zu Protokoll geben.»

«Und wie geht’s jetzt weiter, Herr Kommissar?»

«Sie meinen, was wir jetzt machen? Unsere Arbeit natürlich. Wir müssen zunächst die Identität des Toten ermitteln.»

«Wer das ist? Brauchen Sie nicht großartig zu ermitteln. Kann ich Ihnen auch so sagen. Das ist Heinz Lewandowski.»

Jetzt war der Kommissar aber echt sprachlos. Alfons Becker genoss den Moment. Morian starrte den Rentner an, der grinste unverhohlen triumphierend zurück.

«Ja, da staunen Sie, Herr Kommissar. Als ich kam, stand oben auf dem Parkplatz nur ein einziges Auto. Müssten Sie eigentlich auch gesehen haben, den silbergrauen Mercedes. Aber als Sie kamen, standen da ja schon die vielen Polizeiautos rum. Also als ich kam, da dachte ich noch bei mir, Mensch, das ist doch das Auto vom Heinz. Was macht der denn hier? Na ja, und dann hab ich im Vorbeigehen gesehen, dass die Fahrertür nur angelehnt war und der Zündschlüssel steckte. Mensch, Heinz, dachte ich noch so bei mir, das ist aber unvorsichtig. Schon mal von Heinz Lewandowski gehört? Der Waffenhändler! Den kennt jeder unten im Dorf. Schließlich ist er ja von hier …»

«Ich weiß, wer Heinz Lewandowski ist. Vielen Dank, Sie können jetzt wirklich gehen!»

Josef Morians Laune war ohnehin nicht die beste, dank des Dauerregens und der Wasserleiche. Aber er hatte keine Lust, sich obendrein von einem faschistoiden Rentner vorführen zu lassen. Und die uniformierten Senioren drüben auf der anderen Seite des Sees, die konnten sich schon mal warm anziehen.

 

Iris Cronenberg warf Koffer und Handtasche aufs Bett und trat hinaus auf den Balkon. Das Panorama war atemberaubend. Unter ihr, wie eine blau eingefärbte Amöbe unter dem Mikroskop, lag im schützenden Winkel des V-förmigen Gebäudes der Pool, von Palmen umsäumt. Und von Menschen in Liegestühlen. Jenseits des eingezäunten Parks mit seinen von üppig in sämtlichen Farben blühenden Büschen eingerahmten Tennisplätzen breitete sich der endlose, goldgelbe, fast menschenleere Strand aus. Warum war dort niemand zu sehen? Wahrscheinlich war der Pool beheizt und das Meer noch zu frisch. Oder aber die Gäste schätzten die aseptische Umgebung des Hotels mehr als Wind, Sand und Salzwasser. Zum Greifen nah erhob sich aus dem türkis schimmernden Meer die kleine Insel Lobos, dahinter die große Schwester Lanzarote. Ein dickes weißes Fährschiff verließ den Hafen von Corralejo und stampfte hinaus aufs Meer. Lineas Fred. Olsen stand in blauen Lettern auf dem weißen Rumpf. Seltsamer Name für eine spanische Fähre.

Sie sog die salzige Luft des Atlantiks ein und schloss für einen Moment die Augen. Sie war nicht zum Vergnügen hier. Sie hatte zu arbeiten. Im Süden der Insel. «Modern Life» erwartete ihre Reportage bis Ende nächster Woche.

Den Mode-Text hatte sie noch von Madrid aus via Internet abgesetzt. In Deutschland war es kalt, und es regnete ununterbrochen, so hatte die zuständige Redakteurin am Telefon geklagt. Vielleicht hatte sie deshalb auch ohne langes Zögern den Anschlussjob zugesagt, als die Münchner Redaktion sie in Madrid anrief. Außerdem zahlte «Modern Life» verdammt gut, und sie konnte das Geld gebrauchen. Sie konnte immer Geld gebrauchen. Sie hatte für die paar neuen Klamotten von Strenesse, die drei Wolford-Bodys und die Armani-Schuhe ein kleines Vermögen in Madrid gelassen. Sie konnte bei guten Klamotten und bei verrückten Schuhen einfach nicht widerstehen. Vielleicht sollte sie nicht mehr über Mode schreiben. Kaufsucht hatte ihr Therapeut das genannt. Da hatte sie die Therapie auf der Stelle abgebrochen. Sicher war sicher.

Sie klappte das Notebook auf und wählte sich über ihr Handy ins Internet ein. Sie konnte es nicht ausstehen, auf fremdsprachige Zeitungen oder Rundfunkprogramme angewiesen zu sein, deren Sprache sie nicht in dem Maße verstand, wie es ihr permanenter Hang zum Perfektionismus verlangte. In Deutschland regnete es also immer noch. In Bagdad hatte der Mob vier italienische Krankenschwestern erhängt. In Jerusalem hatte ein irrer Selbstmord-Attentäter sich und 21 Besucher eines Supermarktes in die Luft gesprengt. Im US-Bundesstaat Idaho hatte das FBI einen Syrer festgenommen, in dessen Wohnung man Anleitungen zum Basteln von Bomben gefunden hatte. In Madrid gab es noch keine Spur von den Bombenlegern. Iris klappte das Notebook wieder zu. Sie hatte genug gesehen.

Was den neuen Job betraf, war es nicht besonders klug, sich so weit im Norden Fuerteventuras einzuquartieren. Denn das Objekt ihrer Recherche befand sich am südlichen Ende der lang gestreckten Insel. Aber ihre Neugierde hatte am Ende gesiegt. Sie war noch nie im Leben auf den Kanaren gewesen und hatte auch nicht vor, ein zweites Mal zu kommen. Aber sie kannte jemanden, der hier lebte. Hier im Norden dieser grauenhaften Insel. Jemanden aus ihrem früheren Leben. Und den wollte sie unbedingt wiedersehen, aus purer Neugierde.

Außerdem brauchte sie einen Inselführer und Dolmetscher. Sie blickte hinüber zu den weißen Häusern der Hafenstadt Corralejo. Die kürzeste Verbindung war der Strand. Eine halbe Stunde Fußmarsch, schätzte sie. Sie hatte die Adresse eines Restaurants im Hafen. Nichts weiter. Aber sie hatte große Lust, ihn wiederzusehen. Und sei es auch nur, um sich fürchterlich zu ärgern.

Was wohl das Wahrscheinlichste war.

Sie duschte ausgiebig, schlüpfte in ihren Badeanzug und zog ein schlichtes weißes, knielanges Leinenkleid über. Sie nahm die Flipflops aus ihrem Koffer, steckte Geldbörse, Haarbürste, Schlüssel und eine Plastiktüte in ihre Joop-Tasche und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss.

«Un cortado, por favor.» Der junge Mann hinter dem Tresen der Pool-Bar verzog keine Miene, als er ihre Bestellung entgegennahm. Er verzog auch keine Miene, als er ihr den Mokka mit dem winzigen Schuss heißer Milch zuschob. Dagegen erhellte sich seine Miene, als sich ein gewaltiger, schweißtropfender Schädel in Iris’ Blickwinkel schob. Der Mann, dem der Schädel gehörte, wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht, setzte seine Baseballkappe wieder auf und quetschte sich zwischen Iris und den Tresen, als sei sie Luft.

«Pedro! Na, alles klar auf der Andrea Doria?» Der Dicke lachte schallend. Sein voluminöser Rumpf über den dürren Beinen bebte.

«Alles klar, alles klar», stammelte der Kellner auf Deutsch.

«Na prima! Due Espresso, aber pronto! Für mich und meine Holde. Und was trinkt ihr?»

Iris trat einen Schritt zurück, um den Angesprochenen Platz zu machen. Ein zweiter Mann, der nicht nur wegen der identischen Baseballkappe aussah wie der Zwillingsbruder des Italien-Experten, schob zwei abgemagerte, lederhäutige Frauen vor der Theke in Position, indem er jeder einen Klaps auf die knochigen Hintern verpasste.

Proleten.

Iris Cronenberg hasste Proleten.

Der Zwilling trank Bier, seine Frau Sangria, der Italien-Kenner Espresso, pronto, ebenso seine blondierte Frau, die es nicht für nötig befand, für den Ausflug an die Theke das Oberteil ihres Bikinis anzulegen, sondern stattdessen den jungen Spanier hinter dem Tresen provozierend anstarrte. Sie waren aus Düsseldorf, das blieb Iris nicht lange verborgen. Sie redeten laut und ungeniert. Der Italien-Kenner zahlte alles mit großer Geste und großen Scheinen und aus Versehen auch Iris’ Kaffee. Der junge Kellner hatte ohnehin den Überblick verloren, seit die Frau mit den großen, nackten Brüsten damit begonnen hatte, ihm Eiswürfel in den Hemdkragen zu stecken. Iris schulterte ihre Tasche und ging, vorbei an den Tennisplätzen, den Werkstätten und der brummenden Aufbereitungsanlage des Pools. Sie schlüpfte durch die schmale Öffnung des Zauns und ließ die glückselige, dröhnende Pronto-Welt hinter sich. Sie war von einer Sekunde zu nächsten allein mit dem Meer und der brüllenden Brandung.

 

Kriminalhauptkommissar Josef Morian musste gar nicht erst den Kopf heben und aus dem Fenster neben seinem Schreibtisch sehen, um festzustellen, dass es immer noch regnete. Die Tropfen trommelten unablässig gegen die Scheibe. Heinz Lewandowski. Geboren in Bonn-Oberkassel. Vor 57 Jahren. Seit 25 Jahren verheiratet mit Doris Lewandowski, 44 Jahre alt.

13 Jahre jünger als ihr Mann.

Ein Jahr jünger als Morian.

Keine Kinder. Seit drei Monaten getrennt lebend.

Morian konzentrierte sich wieder auf die Akte vor sich auf dem Schreibtisch. Das Mordopfer.

Opfer. Der Begriff passte so gar nicht zu Heinz.

Hauptschulabschluss, anschließend absolvierte er eine Lehre als Großhandelskaufmann. Steile Karriere bei der Düsseldorfer Rheinmetall. Dann machte er sich selbständig. Sehr vermögend, auch wenn die Belegschaft seiner Firma lediglich aus ihm und einer Sekretärin bestand. Lewandowski war Makler: Immobilien, Grundstücke, Gemälde, Maschinen, ganze Fabrikanlagen.

Und Waffen.

Vor allem Waffen. Wegen der Waffen waren hin und wieder Morians Kollegen vom OK hinter ihm her gewesen, konnten ihm aber nie etwas beweisen. Wie so häufig bei der organisierten Kriminalität. Weil es keine Geschädigten als Zeugen gab. Außer den Kindern in der Dritten Welt, die auf seine lukrativen Landminen traten. Lewandowski hatte sich grundsätzlich für alles interessiert, was eine satte Provision versprach. Er kaufte nicht, und er verkaufte nicht, er handelte nicht, er brauchte kein Lager und keine Handlanger. Er vermittelte nur. Und kassierte seine Provision. Er brachte Menschen zusammen, Käufer und Verkäufer. Er schuf den Marktplatz für Angebot und Nachfrage. Und er hatte beste Beziehungen in aller Welt.

Vor allem zu allen Irren dieser Welt. Das stand natürlich nicht so in der Akte, die er sich bei den Kollegen vom Kommissariat Wirtschaftskriminalität besorgt hatte.

Im Büro roch es muffig. Daran war Morian nicht unschuldig. Er hatte den triefnassen Trenchcoat und das klamme Jackett über zwei Stuhllehnen gehängt und die Stühle vor den Heizkörper geschoben. Dann hatte er seine aufgeweichten Schuhe ausgezogen, auf den Sitzflächen platziert, schließlich auch noch seine nassen Socken dazugelegt.

Der Lärm jenseits der Bürotür hörte sich an, als würde eine Horde Büffel durch den Flur getrieben. Noch mehr Bonner Beamte und die Hundestaffel wurden nach Köln beordert. Ein anonymer Anrufer hatte gedroht, mitten im Hauptbahnhof eine Bombe zu zünden, wenn die Amis nicht binnen 24 Stunden irgendwelche inhaftierten afghanischen Taliban-Kämpfer freilassen würden. Morian versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Unfall, Selbstmord oder Mord? Die Klärung dieser Frage war nach der Besichtigung des Tatorts stets die erste Aufgabe für den Leiter einer Mordkommission.

Falsch! Die erste Aufgabe war, die nächsten Angehörigen zu informieren. Und das musste noch heute geschehen.

Denn Heinz Lewandowski war im Bonner Stadtteil Oberkassel geboren und aufgewachsen. Die Nachricht von seinem Tod im nahen Dornheckensee würde sich im Dorf, wie die Oberkasseler ihren Stadtteil nannten, wie ein Lauffeuer verbreiten. Josef Morian wollte sich nur einen kurzen Moment aufwärmen, um wieder klar denken zu können. Angehörige von Mordopfern aufzusuchen war ohnehin nicht der angenehmste Job. Morian hatte sich noch nie davor gedrückt. Aber in diesem speziellen Fall hätte er liebend gern einen Kollegen geschickt.

 

Iris Cronenberg hatte sich getäuscht. Sie brauchte eine knappe Stunde bis Corralejo. Es wäre sicher etwas schneller gegangen, hätte sie nicht auf halber Strecke Lust verspürt, zu baden. Ihr war heiß vom schnellen, ungewohnt anstrengenden Marsch durch den Sand, und das türkisfarbene Meer wirkte verlockend. Sie faltete das Kleid so sorgfältig, wie der Wind dies zuließ, und klemmte es unter ihre Tasche. Sie rannte in die Brandung, hielt den Atem an, stürzte sich kopfüber in die erste Welle, schwamm ein paar Züge, machte schließlich kehrt. Das Wasser war noch überraschend kalt, aber die Sonne und die wunderbar salzig schmeckende Luft trockneten ihre Haut und ihr Haar im Nu. Sie stopfte den nassen Badeanzug in die Plastiktüte in ihrer Tasche und genoss eine Weile, mit geschlossenen Augen, den warmen Wind, der ihre nackte Haut streichelte. Schön.

Fast so schön wie Sex, dachte sie. Fast.

Sie schob das Gefühl beiseite. Denn es erinnerte sie daran, dass sie schon lange keinen Sex mehr gehabt hatte. Eine der Folgen eines Lebens in Hotelzimmern rund um den Globus. Aber sie hatte sich dieses Leben ausgesucht. Und keine Lust, abends in den Piano-Bars einen dieser gelangweilten, langweilenden, notgeilen Handelsvertreter in ihren Spießer-Anzügen abzuschleppen, die in jeder Hotelbar dieser Welt zu Dutzenden herumhingen.

Noch nicht.

Das nächste Mal würde sie auf den Badeanzug verzichten. Falls sich die Gelegenheit zum Baden noch einmal finden würde. Denn sie hatte nicht vor, auch nur eine Sekunde länger als für den Job nötig auf dieser gottverlassenen Insel zu bleiben.

Sie streifte das Kleid über und marschierte weiter, immer weiter, den endlosen Strand entlang, nach Norden.

Die Adresse war nicht schwer zu finden. Das Vereinslokal lag gleich an der Mole. «Cofradía de Pescadores» stand über der Eingangstür. Die Fischereibruderschaft betrieb also ihr eigenes genossenschaftliches Restaurant. Das versprach gutes Essen und schlechten Service. Aber sie war nicht wegen des Essens hier. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster und bestellte einen Fino.

Als der dicke Mann mit dem gewaltigen Schnauzbart und dem in den Hosenbund eingesteckten Küchenhandtuch den trockenen, eiskalten Sherry brachte, sprach sie ihn an, auf Spanisch, mit Hilfe der Sätze, die sie sich zuvor auf dem Hotelzimmer aus dem Wörterbuch zurechtgelegt hatte.

«Muchas gracias. Sind Sie Juan Carlos? Ich suche Max Maifeld.»

Der Mann schien sie nicht gehört zu haben. Er nahm das Ende des Küchenhandtuchs und wischte damit ihren Tisch, bevor er das Glas abstellte. «Karte?»

«Nein, danke. Ich suche …»

«Kenne ich nicht.» Der Mann ging zurück in die Küche. Schöne Pleite. Max, du verdammtes Arschloch.

 

Das schmiedeeiserne Tor stand offen. Morian steuerte den Wagen über den von Rasen und Buchsbäumen gesäumten Kiesweg auf die Gründerzeit-Villa zu und parkte neben dem einzigen Auto vor der Freitreppe zur Haustür. Ein BMW-Cabriolet. Ein Z4, wie die verchromten Buchstaben am Kofferraumdeckel verrieten. Laut TÜV-Plakette auf dem Nummernschild knapp ein Jahr alt. Sein alter, klappriger Volvo kam Morian in dieser Umgebung etwas deplatziert vor. Er selbst kam sich ebenfalls etwas deplatziert vor. Morian nahm zwei Stufen auf einmal, um dem Regen so schnell wie möglich zu entfliehen. Die Schuhe und die Socken waren immer noch nicht trocken. «Doris Lewandowski» stand auf der Messingtafel über dem Klingelknopf. Heinz Lewandowski war also bereits aus ihrem Leben gestrichen.

Doris ließ sich mit dem Öffnen der Tür Zeit. Etwa fünf Minuten. Morian hatte schon die Hand ausgestreckt, um ein drittes Mal zu läuten. «Komm rein», sagte sie, nicht weiter erstaunt, ihn zu sehen, drehte sich um und ging zurück in das riesige Wohnzimmer, in das bequem die komplette Notruf-Leitstelle des Polizeipräsidiums gepasst hätte. Der Rotwein schwappte bei jedem Schritt gefährlich nah an den Rand des bauchigen langstieligen Glases, das sie achtlos in der rechten Hand trug. Sie war alt geworden, dachte Morian. Nicht äußerlich. Sie hatte eine tadellose Figur in dem rostbraunen Hosenanzug. Sie war groß und schlank und hatte einen Gang, den ihr so schnell keine nachmachte. Aber ihre Augen waren seltsam alt geworden. Alt und kalt.

Früher hatten diese Augen immer so fröhlich geblitzt. Früher. Morian hatte diese Augen vor 25 Jahren zum letzten Mal gesehen.

«Irgendwann musste das ja mal passieren», sagte sie seltsam tonlos und ließ sich auf eines der beiden burgunderroten Sofas mitten in der Wohnhalle fallen. Morian wusste nicht, ob sie ihr Wiedersehen oder Lewandowskis Tod meinte. Ein paar Tropfen aus dem Glas hatten bei dem kühnen Schwung nun doch den Weg auf den Fußboden gefunden. Doris Lewandowski warf ihnen einen gleichgültigen Blick nach, der eindeutig besagte, dass für die Beseitigung der Flecken auf dem Berberteppich jemand anderes als sie zuständig war. Während Morian noch grübelte, ob man nicht besser gleich Salz draufstreuen sollte, warf sie mit einer eleganten Kopfbewegung ihre rostbraune lockige Löwenmähne in den Nacken und schlug die Beine übereinander. Der Hosenanzug passte perfekt zur Haarfarbe. Morian konnte sich nicht mehr an die ursprüngliche Farbe ihrer Haare erinnern. Brünett, ja, aber nicht so schillernd, nicht so glänzend.

Außerdem war sie damals nicht so mager.

«Wer hat es dir erzählt?»

«Wer es mir erzählt hat?» Ihre Stimme wurde laut und schrill und überschlug sich. «Halb Oberkassel hat es mir erzählt. Das Telefon stand nicht mehr still. All die netten Nachbarn, voller Anteilnahme, und alle platzten vor Neugier. Du kommst also zu spät. Wie ist es passiert? Hat man ihn ersäuft?»

«Das wissen wir noch nicht. Theoretisch könnte es auch ein Unfall gewesen sein. Obwohl er für einen winterlichen Waldspaziergang im Regen nicht ganz passend gekleidet war.» Morian kratzte sich am Kopf. «Kannst du dir vorstellen, dass er sich umgebracht hat?»

Doris Lewandowski lachte auf. «Heinz sich umgebracht? Das ist wohl ein Scherz. Der würde noch fröhlich Champagner saufen, wenn ein Erschießungskommando vor der Tür stünde.» Sie war betrunken. Sonst wäre ihr aufgefallen, dass sowohl Tempus als auch Inhalt ihres letzten Satzes ziemlich daneben waren.

«Entschuldigung, ich habe dir gar nichts angeboten. Was möchtest du trinken?»

«Nichts, danke.» Morian schüttelte den Kopf.

«Oh, ich vergaß. Josef Morian, ein Mann mit moralischen Prinzipien. Daran hat sich offenbar nichts geändert.»

Etwas Verächtliches lag in ihrem Tonfall. Morian bezweifelte, dass es alleine ihn betraf. Vielleicht verachtete sie inzwischen alle Männer. Vielleicht auch die ganze Welt.

«Wer hatte Grund, ihn umzubringen?»

«Na, ich zum Beispiel.» Sie lachte wieder laut und schrill. «Und einige tausend weitere Personen. Wer ständig mit dem Feuer spielt, kommt eines Tages darin um, früher oder später. Der Drecksack verlässt mich vier Tage vor der Silberhochzeit. Kannst du dir das vorstellen? Zieht einfach aus, mit nichts weiter als zwei Koffern, lässt mir generös das Haus mit dem ganzen Plunder, lässt mich einfach hier sitzen. Wegen dieser kleinen Nutte. Und das nach 25 Jahren Ehe. Sieh mich an! Sehe ich so scheiße aus, dass man mich einfach wegwirft?»

Nein, dachte Morian. Kein Mensch hatte verdient, weggeworfen zu werden. Aber er spürte, dass Heinz Lewandowski sie nicht wegen ihres Ausssehens oder ihres Alters verlassen hatte. Morian sagte aber nichts. Sondern wartete.

Doris Lewandowski leerte das Glas in einem Zug.

Sie schwiegen eine Weile.

25 Jahre Quälerei im Fitnessstudio, 25 Jahre Dauerbestrahlung unter der Sonnenbank, 25 Jahre Hungerdiät, 25 Jahre Angst vorm Altwerden. Morian konnte ihre Angst sehen. Sie stand ihr ins Gesicht geschrieben. Doch in Wahrheit hatte ihr nicht das Alter, sondern die Angst vor dem Älterwerden jede Sinnlichkeit und Frische geraubt. Die Angst und die bittere Erkenntnis, den Kampf am Ende zu verlieren, hatten deutliche Narben in ihrem einst so schönen Gesicht hinterlassen.

«Wie heißt sie?»

«Wer? Die kleine Nutte?»

Morian sah sie nur an.

«Eva Gering. 34 ist sie. Zehn Jahre jünger als ich. 23 Jahre jünger als er. Könnte also seine Tochter sein. Diese kleine, dralle, unbekümmerte, dämliche Kuh. Fußpflegerin. Ob du es glaubst oder nicht: Er hat sie kennen gelernt, als er sich die Hornhaut von seinen hässlichen Füßen schaben ließ. Ist das nicht romantisch?»

«Wo finde ich sie?»

«Versuch’s doch mal in der adretten Praxis, die er ihr eingerichtet hat. Pediküre und Maniküre. Mitten im Dorf, auf der Königswinterer Straße. Er wollte immer, dass ich zu Hause bleibe. Doris, das haben wir doch nicht nötig, dass du arbeitest, hat er immer gesagt. Pflege dich lieber und tu was für deinen schönen schlanken Körper, hat er immer gesagt. Und dieser kleinen dicken Kuh richtet er sogar einen eigenen Laden ein. Dieses Arschloch. Kinder wollte er nie. Schatz, lass uns lieber das Leben genießen, hat er immer gesagt. Würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sich herausstellte, dass er diesen Bauerntrampel auch noch geschwängert hat.»

«Wolltest du Kinder?»

Sie zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief, mit geschlossenen Augen. Sie vermied seinen Blick. Morian wusste, dass er keine Antwort auf seine Frage erhalten würde. Aber er wusste nicht, warum er die nächste Frage stellte:

«Hattet ihr noch Sex? Ich meine …»

«Du meinst die letzten Jahre? Ist das nun dein privates Interesse, oder gehört das zum Verhör?»

«’tschuldigung. Vergiss es.»

«Dieses Schwein. Macht mich zum Gespött der Leute. Ich hatte schon alles organisiert für die Silberhochzeit. Schatz, lass uns ein großes Fest geben, hat er gesagt. Kauf dir was Schönes zum Anziehen. Das Kleid hängt noch im Schrank. Als er ging, habe ich ihn noch gefragt: Und was wird jetzt aus dem Fest? Mach dir darüber keine Sorgen, hat er gesagt. Ist doch alles schon bezahlt. Meine Sekretärin wird sich um die Absagen kümmern.»

«Wie heißt sie?»

«Seine Sekretärin? Meurer. Gisela Meurer. Die hat er schon ewig. Die kannte er noch von Rheinmetall. Er hatte sie abgeworben und mitgenommen, damals, als er sich selbständig machte. Sie ist ihm sklavisch ergeben, die Gute. Nichts ist ihr zu viel. Sie hegt geradezu mütterliche Gefühle für ihn. Na ja, zu Hause wartet ja auch niemand auf sie …»

Morian irritierte, dass sie ständig in der Gegenwartsform sprach, als ob ihr Mann noch lebte. Angehörige ignorieren den Tod des Opfers. Das hatte er schon oft beobachtet. Nur wunderte ihn, dass ausgerechnet Doris Lewandowski nicht wesentlich mehr emotionale Distanz an den Tag legte. Offenbar fehlte ihr etwas; und wenn es auch nur der Mensch war, über den sie sich ärgern konnte.

«Hast du ihn nach seinem Auszug noch einmal wieder gesehen?»

«Heinz? O ja. Auf einem Foto in der Zeitung. Zusammen mit seiner kleinen, fetten Nutte. Das war eindeutig das stärkste Stück. Hast du nicht in der Zeitung gelesen, wie das neue Bonner Prinzenpaar heißt? Heinz I. und Eva I. Die hätten sich doch tatsächlich in drei Tagen beim Rosenmontagszug feiern lassen. Jetzt muss sie sich leider einen neuen Prinzen suchen. Willst du wirklich nichts trinken?»

Morian schüttelte den Kopf. «Wo wohnt denn diese Eva Gering?»

«Bei ihm natürlich. Als er hier Hals über Kopf mit seinen beiden Koffern verduftet ist, hat er sie gleich mitgenommen, in seine Jagdhütte im Siebengebirge. Mein Refugium, hat Heinz immer gesagt. In seiner kleinen, schäbigen Jagdhütte hat er mich damals rumgekriegt. Ich war so naiv. Warum hast du damals eigentlich nicht versucht, mich zu halten?»

Die Frage kam so unvermittelt, dass Morian um eine Antwort verlegen war. Er hatte sich Nacht für Nacht die Augen aus dem Kopf geheult, als sie ihn gleich nach dem Abi verließ, ohne ein Wort der Erklärung, um diesen kleinen, schmächtigen Angeber mit seinem Porsche zu heiraten. Er hatte nicht die geringste Chance, damals.

Und noch immer keinen Porsche.

Morian erhob sich aus dem Sofa. «Danke für deine Zeit. Bleib ruhig sitzen. Ich finde alleine raus.»

Als er nach seinem Mantel griff, stand sie plötzlich neben ihm, schickte sich an, etwas zu sagen, legte schließlich mit verlegener Miene ihre Hand auf seine Hand, versuchte ein Lächeln, was ihr nicht recht gelang. Sie war wohl etwas aus der Übung. Das Glas mit dem Rotwein glitt ihr aus der Hand, zerschellte neben dem Berberteppich auf den Terracottafliesen.

Morian ging ohne ein weiteres Wort.