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Die Reihe Management / Organisationsberatung

Die heutige Gesellschaft ist eine organisierte Gesellschaft. Man muss schon lange suchen, um überhaupt noch Bereiche zu finden, die nicht von Organisationen geprägt sind. Unternehmen jedweder Größe und Eigentumsform, Verwaltungen, Schulen, Gerichte, Krankenhäuser, Universitäten, Kirchen, Verbände, Parteien, Vereine etc. – allesamt übernehmen sie gesellschaftliche Funktionen und bestimmen unser Leben. Die Fülle an Aufgaben, die unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung und Digitalisierung gleichzeitig zu erfüllen sind, wie auch die Bandbreite an Organisationskonzepten und Führungsansätzen, mit denen der komplexe Alltag bewältigt werden soll, stecken das Feld ab, in dem Management und Beratung mehr oder weniger wirksam werden.

Die Zeiten, in denen es einfache Antworten auf die vielfältigen Fragen zur Überlebenssicherung einer Organisation und auch zur Steuerung tagtäglicher Entscheidungsprozesse gab, sind seit Langem vorüber. Der Komplexität, mit der heute alle konfrontiert sind, die in verantwortlichen Funktionen in und mit Organisationen arbeiten – Führungskräfte, Manager und Organisationsberater etc. –, wird man mit Rezeptwissen nicht mehr gerecht. Hier setzen die neuere Systemtheorie und mit ihr die Reihe Management/Organisationsberatung im Carl-Auer Verlag an. Beide liefern Konzepte und »Landkarten«, die auch im unübersichtlichen Terrain von Wirtschaft und Organisation Orientierung ermöglichen und Handlungsfähigkeit sicherstellen.

Das Ziel der Reihe ist es, empirisch gehaltvolle Forschungen über die Prozesse des Organisierens wie auch theoretisch angemessene Führungs- und Beratungsansätze zu präsentieren. Zugleich sollen bewährte Methoden einer system- und lösungsorientierten Praxis im Kontext von Organisationen überprüft und neue Ansätze entwickelt werden.

Torsten Groth

Herausgeber der Reihe

Management/Organisationsberatung

Alfred Janes
Karl Prammer

Kontextuelle

Organisationsberatung

Theorien, Methoden, Instrumente,
Fallbeispiele aus der Wiener Schule

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2021

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Management und Organisationsberatung«

hrsg. von Torsten Groth

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: Tom Levold

Redaktion: Markus Pohlmann

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: TZ - VERLAG & PRINT GMBH

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0381-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8270-2 (ePUB)

© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Vorwort

Was bedeutet es, Organisationen zu beraten?

Was tun Berater?

1Die Geschichte der Wiener Schule der Organisationsberatung

1.1Die Anfänge – Ein Biotop entsteht und erste organisatorische Ausdifferenzierung

1.2Ingredienzen des Biotops – theoretische Wurzeln und entwicklungsfördernde Beimengungen

1.2.1Basiseckpfeiler Organisationsentwicklung

1.2.2Basiseckpfeiler Gruppendynamik

1.2.3Zentrale Beimengungen

1.3Die Wiener Schule der Organisationsberatung – von der Geburt als Label bis zum Ende der aktiven gemeinsamen Entwicklungsarbeit

1.4Die gemeinsamen Wurzeln wirken weiter – ein weitgehend losgelöstes Nebeneinander sich wertschätzender Konkurrenten beginnt

1.5Angekommen in der Gegenwart – auf dem Sprung in die Zukunft?

2Know-how-Entwicklung in der professionellen Beratung

2.1Woraus besteht professionelles Beratungs-Know-how?

2.2Wie entwickelt sich professionelles Beratungs-Know-how in der Biografie eines Beraters?

2.2.1Phase 1: Prägung

2.2.2Phase 2: Optimierung der professionellen Standards

2.2.3Phase 3: Innovation

3Organisation in der Organisationsberatung

3.1Organisation als Gegenstand von Organisationsberatung

3.1.1Organisation – ein Begriff ohne Copyright

3.1.2Organisationssprachen

3.2Organisationsberatung und die Organisation von Organisationen – Wie betrachten Organisationsberater Organisationen, und wie kommunizieren sie darüber?

3.3Die Organisation einer Organisation

3.3.1Formale und informale Organisation als Paradoxie

3.3.2Organisationskultur als Spannungsverhältnis zwischen der Wiederholung von Verhaltensmustern und dem freien Willen der dieses Verhalten wiederholenden Akteure

3.4Wie lässt sich Organisation als Gegenstand von Organisationsberatung konzeptualisieren?

3.4.1Entscheidungsprämissen

3.4.2Kommunikationsmuster in Organisationen

3.4.3Der Ordnungsrahmen einer Organisation

3.4.4Entzauberung der Hierarchie

3.4.5Zusammenfassung: Entwicklungen von Ordnungsrahmen und Entzauberung der Hierarchie

3.4.6Zurück in die Praxis – ein virtuelles Fallbeispiel

4Die Methodik der Wiener Schule der Organisationsberatung

4.1Konzeptive Grundlagen

4.1.1Wirkung und Nicht-Wirkung von Beratung

4.1.2Alles ist mit allem verbunden – Jedes steht in einem Zusammenhang

4.1.3Auftragsklärung als intermediärer Raum

4.1.4Intentionale Leere als Haltung des Beraters in der Auftragsklärung

4.1.5Organisationen sind immer »werdend«

4.1.6Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners

4.1.7Jeder Begriff trifft eine Unterscheidung

4.1.8Handeln reduziert Komplexität

4.1.9Kommunikation als funktionaler Wechsel zwischen unterschiedlichen Kommunikationsmodi

4.1.10 Beteiligung und Allparteilichkeit

4.2Methodische Grundlagen

4.2.1Architektur

4.2.2Design

4.2.3Intervention

4.2.4Transformationsmanagement

4.2.5Habitate und Marken

4.2.6Kooperation zwischen Beratern

4.3Entwicklung in den Arbeitskontexten

4.3.1Entstehung und Konsolidierung des Markenkerns

4.3.2Differenzierung der Organisationsberatung – Die Qualifikation der Klienten, Entwicklungsprozesse zu gestalten, nimmt zu

4.3.3Wirtschaftskrisen und die Entzauberung der Organisationsberatung

4.3.4Auswirkungen auf die Organisationsberatung

4.4Redefinition der Methodik – kontextuelle Organisationsberatung

4.4.1Kontextbezogenheit

4.4.2Pragmatische Definition von Beteiligungsräumen

4.4.3Pluralistische Kooperationsverträge

4.4.4Allparteilichkeit

4.4.5Strukturelle Eigenständigkeit

4.4.6Sieben Parameter zur kontextuellen Gestaltung von Architekturen, Designs und Interventionen

5Fallbeispiele

5.1Fallbeispiel 1:

Die Berater als Transformatoren –Radikale Transformation des Rechtsbereichs einer österreichischen Arbeiterkammer-Landesorganisation

5.1.1Ausgangssituation und Einstieg

5.1.2Realisierung des Vorhabens

5.1.3Wie es weiterging

5.1.4Reflexion

5.2Fallbeispiel 2:

Der Berater als Servicetechniker – Umorganisation in einem Funktionsbereich der Lkw-Sparte eines international tätigen Automobilherstellers

5.2.1Ausgangssituation und Einstieg

5.2.2Realisierung des Vorhabens

5.2.3Wie es weiterging

5.2.4Reflexion

5.3Fallbeispiel 3:

Der Berater als Know-how-Zulieferer – Entwicklung eines zeitgemäßen, leistungsorientierten Entgeltsystems für die Arbeiterschaft eines familiengeführten Automobilzulieferers in Norditalien

5.3.1Ausgangssituation und Einstieg

5.3.2Realisierung des Vorhabens

5.3.3Wie es weiterging

5.3.4Reflexion

5.4Fallbeispiel 4:

Die Berater als Agenten der Geschäftsleitung – Reorganisation der Teilorganisation einer GmbH, die in mehreren deutschen Bundesländern kollektive und individuelle Entwicklungsmaßnahmen im Rahmen der beruflichen Bildung und der Rehabilitation anbietet

5.4.1Ausgangssituation und Einstieg

5.4.2Realisierung des Vorhabens

5.4.3Wie es weiterging

5.4.4Reflexion

5.5Fallbeispiel 5:

Der Berater als erfahrener Gesprächspartner – Aufbau einer Struktur für den Bereich Global Business Service eines weltweit tätigen Bergbauunternehmens im Rahmen eines Post-Merger-Prozesses

5.5.1Ausgangssituation und Einstieg

5.5.2Realisierung des Vorhabens

5.5.3Wie es weiterging

5.5.4Reflexion

Nachwort

Literatur

Über die Autoren

Vorwort

Was bedeutet es, Organisationen zu beraten?

Dieses Buch handelt von Organisationsberatung als einer bestimmten Form professioneller Beratung. Aber was ist eigentlich professionelle Beratung? Auf diese Frage existiert keine allgemeingültige Antwort. Zum Begriff der professionellen Beratung existiert kein Copyright!

Die erste Grenze, die es zu ziehen gilt, um zu einem tragfähigen Verständnis darüber zu kommen, was wir hier unter professioneller Beratung verstehen, ist die Unterscheidung zwischen Beratung und professioneller Beratung: Während Beratung generell bedeuten mag, jemandem einen Rat zu geben – z. B. dem eigenen Sohn mit mehr oder weniger Erfolg vorzuschlagen, was er alles wie zu tun hat, um im Jahresabschlusszeugnis zu einer ordentlichen Mathematiknote zu kommen – ist professionelle Beratung eine erwerbsmäßig ausgeübte berufliche Funktion. Um sich als solche ausweisen zu können, braucht sie ein eigenes benennbares Set an grundlegenden Theorien, Methoden, Instrumenten, Prozessen und Spielregeln. So wie jede andere Profession auch.

Organisationsberatung, als eine Form professioneller Beratung, befindet sich diesbezüglich in bester Gesellschaft mit z. B. Zimmerleuten, Zahnärzten, Steuerberatern und Gärtnern.1 Die Tatsache, dass es für Organisationsberater, im Gegensatz zu Zimmerleuten, Steuerberatern und Gärtnern, keine »Gewerbeordnung« gibt, mag einer der Gründe dafür sein, dass Beratung öffentlich immer wieder äußerst widersprüchlich, oft sehr kritisch, konnotiert wird.

Nun, was bedeutet aber dieser Mangel an einer formalen, kanonisierten Ausbildung und damit an formal ausgewiesenen beruflichen Standards konkret?

Beratung verfügt im Gegensatz zu gesellschaftlich etablierten Berufen, wie unsere oben genannten, nach wie vor über keine im Bewusstsein potenzieller Klienten verankerten, professionellen Standards.

Damit existiert seitens dieser Klienten gegenüber professioneller Beratung auch keine von Personen oder Beratungsunternehmen unabhängige Erwartungssicherheit. Was man – unabhängig von einer konkreten Person, deren Arbeit man vielleicht kennt – von Beratern erwarten kann, ist nach wie vor prinzipiell unklar.

Damit muss aber Akzeptanz und Reputation in der Beratung immer noch weitgehend individuell geleistet werden und bleibt insgesamt immer noch unsicher.

Konstruieren wir dazu ein Beispiel:

Nehmen wir an, es existierten zwei konkrete Personen mit einem vergleichbaren Fachwissen. Nehmen wir weiter an, einer der beiden wäre Universitätsprofessor für das Fach »Entwicklung und Implementierung von Softwaresystemen für Betriebe«. Der andere wäre Organisationsberater mit dem gleichen Schwerpunkt, eben auch »Entwicklung und Implementierung von Softwaresystemen für Betriebe«. Gehen wir weiter davon aus, dass beide fachlich in etwa der gleichen Weise kompetent sind; beider fachliches Know-how ist State of the Art. Aber es gibt einen relevanten Unterschied. Verfügt nämlich unser Universitätsprofessor über einen gesellschaftlich verankerten, personenunabhängigen »Reputationsvorschuss«, so muss sich unser Organisationsberater immer wieder persönlich um seine Reputation bemühen. Ob er will oder nicht. Keine Rede von »Vorschussreputation«!

Wie kommt es zu diesem praktisch höchst bedeutsamen Unterschied? Nachdem beide – wie angenommen – gleichermaßen fachlich qualifiziert sind, kann es nicht am Fachwissen liegen! Woran liegt es dann? Eine erste Hypothese als Antwort:

Der Grund für diesen Unterschied liegt nicht im Fachlichen, sondern in der Art und Weise, wie beide ihr Wissen in die Welt bringen.

Dieses In-die-Welt-Bringen eines weitgehend identischen Bestands an Fachwissen erfolgt in jedem der beiden Fälle durch eine höchst unterschiedliche Abfolge konkreter Schritte. Während unser Professor in Vorlesungen Tafeln vollschreibt, ansonsten Bücher verfasst, Studenten prüft und Anträge für Forschungsgelder einreicht, tut unser Berater – ja was eigentlich?

Dazu eine zweite Hypothese:

Im Gegensatz zur Tätigkeit eines Universitätsprofessors – dieses Beispiel soll hier für viele andere Berufe stehen – existieren zur Tätigkeit von Organisationsberatern keine im gesellschaftlichen Bewusstsein verankerten Standards über Beratungsprozesse.

Darüber, wie Organisationsberater arbeiten, was diese konkret tun, während sie beraten, besteht kein gesellschaftlich vergemeinschaftetes Bild. Das mag erstaunen, wo es doch bereits seit etwa hundert Jahren Organisationsberater gibt (Handler 2007).

Was tun Berater?

Zuallererst: Berater kreieren im Regelfall kein neues Wissen. Berater sind »Transferexperten«. Neues wird auf konkrete Anwendungen bezogen. Es wird redefiniert, kontextualisiert, adaptiert, gegebenenfalls konfektioniert. In jedem Fall wird verfügbares Wissen in die Anwendung gebracht.

Berater sind nicht Erfinder, sondern kontextbezogene Übersetzer und Transporteure von Wissen; »intellektuelle Transportarbeiter«. Darin liegt ihre eigentliche Kompetenz. In dieser Disziplin sind sie den Erfindern des Wissens – üblicherweise Wissenschaftlern – oft überlegen.

Der Raum, in dem dieses Übersetzen und Vermitteln stattfindet, der Beratungsmarkt, ist kompetitiv strukturiert. Zwischen den Übersetzern/Vermittlern herrschen die Wettbewerbsbedingungen des Beratungsmarktes. Wir haben weiter oben darauf hingewiesen, dass bezüglich Beratung keine personenunabhängige Erwartungssicherheit existiert. Ein Grund dafür mag in diesen Wettbewerbsbedingungen liegen. Berater, die in einem kompetitiven Markt erfolgreich sein müssen, haben kein Interesse an einer gesellschaftlich etablierten, positiv formulierten Erwartungssicherheit gegenüber dem gesamten Berufsstand. Eine positive Erwartungssicherheit soll vor allem in der Beziehung zu den eigenen realen und potenziellen Kunden existieren. Ebenfalls aus Wettbewerbsgründen wird auch Transparenz zu den eigenen fachlichen Konzepten und Prozessmodellen ausschließlich den Kunden gegenüber hergestellt. Und auch dort nur so weit wie notwendig.

Das eigentlich Prekäre im Feld professioneller Organisationsberatung ist ein häufig wirksamer struktureller Doublebind: Oft haben Kunden, wenn sie Beratungsbedarf haben, gleichzeitig »das Gefühl«, dass sie diesen Bedarf eigentlich nicht haben sollten. Und zwar, weil sie von sich selbst erwarten und auch annehmen, dass ihre relevanten Umwelten von ihnen erwarten, dass sie das, wofür sie gerne Beratung in Anspruch nehmen würden, eigentlich selbst lösen können sollten.

Eine übliche Lösung, um aus dieser unangenehmen Ambivalenz herauszufinden, besteht in der Innovationszuschreibung gegenüber Beratern! Im Sinne von: Das, was ich von denen bekomme, ist neu, also kann ich noch nicht darüber verfügen, also darf ich sie unter Vertrag nehmen. Mit dieser Konnotation lässt sich dann ein Beratungsvertrag gegenüber relevanten Umwelten leichter argumentieren. Weil Berater um diesen Doublebind wissen, bleiben sie oft auch gegenüber den eigenen Kunden möglichst intransparent.

Über Grundlagen und Quellen der eigenen Expertise wird in der Beratungspraxis grundsätzlich wenig berichtet, nach der Devise: Je weniger ich mir in die Karten schauen lasse, desto wahrscheinlicher und länger mag mein Beitrag als neu durchgehen. Die auf der Beratung lastende Erbsünde ist der Anspruch, etwas nicht Neues so zu arrangieren, dass nach Möglichkeit niemand auf die Idee kommen kann, die innovative Qualität des Angebotenen infrage zu stellen. Aus welchen Gründen auch immer.

Transparenz ist im Feld professioneller Beratung riskant, sowohl gegenüber den Kollegen, mit denen man im Wettbewerb steht, als auch gegenüber den Kunden. Das mag auch der Grund dafür sein, dass unseres Erachtens in keinem anderen Berufsstand so viel ohne Angabe von Quellen abgeschrieben bzw. – ohne inhaltlich Neues hinzuzusetzen – »kreativ umformuliert« wird.

Was ist das Besondere an dem hier ausgeführten Befund? Schließlich wird auch in anderen Berufen mit Wettbewerbsvorteilen taktisch und verdeckt verfahren. Schließlich genießen auch in anderen Berufen unterschiedliche Individuen unterschiedliches professionelles Ansehen und ist das konkrete Niveau der Ihnen gegenüber bestehenden positiven Erwartungssicherheit unterschiedlich. Gewöhnlich überlegt sich doch auch jeder – soweit er es sich leisten kann – zu welchem Arzt er geht.

Das Besondere liegt unserer Einschätzung nach darin, dass etablierte Berufe, bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Akteuren, über professionelle Standards verfügen, die im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert sind. Deswegen werden ihren Akteuren jene Vorschussreputation entgegengebracht, über die Organisationsberater nicht prinzipiell verfügen können. Professionelle Berater sind gezwungen, sich diese Reputation – individuell oder als Beratungsfirma – immer wieder selbst zu »erwirtschaften«. Ob das so gut ist oder nicht, ist letztlich eine professionell bedeutsame Frage.

Bevor wir diesen Argumentationsstrang weiterverfolgen, ist notwendigerweise zu vereinbaren, was wir hier unter professionellen Standards verstehen.

Damit auf einem Markt gegenüber einer angebotenen Dienstleistung so etwas wie eine professionelle Erwartungssicherheit entstehen kann, bedarf es

zumindest rudimentärer Theoriemodelle, den Gegenstand der Dienstleistung betreffend, worauf sich diese bezieht,

angebotener Dienstleistungen und Produkte,

ausgewiesener professioneller Methoden,

praxiserprobter Instrumente und Technologien sowie

verbindlicher und zumindest prinzipiell einklagbarer professioneller Standards.

Ein bestimmtes Ausmaß an Transparenz darüber versetzt potenzielle Kunden – als Marktteilnehmer – in den Stand zu wissen, womit sie zu rechnen haben, wenn sie zu einem Arzt gehen, einen Gärtner verpflichten oder ein Kind der Obhut eines Lehrers überantworten. Und zwar unabhängig von einer konkreten Person. Personenunabhängige Erwartungssicherheit eben!

Etablierte, professionelle gesellschaftlich angebotene Dienstleistungen verfügen jedoch nicht nur über solche Standards. Sie verfügen darüber hinausgehend auch über gewerbliche oder universitäre Institutionen, in denen diese Standards an Aspiranten weitergereicht werden. Bei Ärzten geschieht dies z. B. in Form eines universitären Medizinstudiums mit anschließender Berufseinführungsphase. Bei einem Gärtner ist es eine duale Berufsausbildung als gewerbliche Lehre. Bei einem Lehrer wiederum ist es ein Lehramtsstudium mit anschließender Berufseinführungsphase. In jedem Fall sind die Inhalte zu obigen fünf Punkten systematisiert und als Ausbildungsrichtlinie formuliert – kanonisiert.

Nachdem es diese allgemeinen Systematisierungen für erwerbswirtschaftlich tätige Berater nicht gibt, ist Beratung aus der Wahrnehmung unseres Wirtschaftssystems letztlich immer noch etwas prinzipiell Ungeklärtes, Vorbehaltliches.2

Die beschriebene Abwesenheit etablierter, allgemeingültiger professioneller Standards heißt jedoch nicht, dass der einzelne Berater über keine solchen Standards verfügt. Ganz im Gegenteil! Diese existieren in Fülle. Jeder am Markt tätige professionelle Organisationsberater oder jedes Beratungsunternehmen

verfügt über eigene zumindest rudimentäre Theoriemodelle, den Gegenstand der Berufsausübung betreffend,

bietet eigene definierte Dienstleistungen und Produkte an,

verwendet bei der Ausübung seiner Tätigkeit professionelle Methoden, die er auch ausweist,

verfügt über praxiserprobte Instrumente und Technologien,

hat Vorstellungen zu professionellen Standards, die er an die eigene Arbeit anlegt.

Aus einer übergeordneten Perspektive resultiert daraus eine zweifache Problematik:

Es existieren keine überpersonal verbindlich formulierten professionellen Standards. Somit können solche auch nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert sein; auch nicht bei den professionellen Beratern selbst.

Nachdem es zwischen denen, die als Organisationsberater tätig sind, dazu auch keinen interpersonalen bzw. interinstitutionellen Austausch gibt, existiert auch keine allgemein verfügbare praktische Theoriesprache zur Gestaltung und Steuerung von Beratungsprozessen.

Unser Buch fällt nicht der Hybris anheim, den gesellschaftlich akzeptierten und mit einiger Erwartungssicherheit ausgestatteten Beruf des Organisationsberaters zu erfinden. Aufbauend auf den beruflichen Standards, die sich aus der Tradition der Wiener Schule der Organisationsberatung (Kapitel 1) entwickelt haben, und grundsätzlichen Überlegungen zur Entwicklung von Beratungskompetenz (Kapitel 2), wollen wir einen Beitrag leisten, um den professionellen Dialog zu Themen der Organisationsberatung zwischen Beratern sowie zwischen Beratern und Klienten durch die Bereitstellung theoriegestützter, begrifflicher, methodischer und instrumenteller Standards anzureichern.

Konkret beziehen sich diese Beiträge auf die Bereitstellung

einer beratungsfokussierten, anwendungsorientierten Theorie (Kapitel 3)

zur Beobachtung, zur Reflexion, zum Verstehen und zur Beschreibung von Organisationen in der Vielfalt ihrer Formen und Konstruktionsprinzipien sowie zur Beratung dieser,

zum Stellenwert, zur Gestaltung und zur Wirksamkeit von Beratungsprozessen in Organisationen sowie

zum Verständnis von Beratungskompetenz und ihrer persönlichen Aneignung und Entwicklung;

eines Fundus an praktischen Methoden und Instrumenten (Kapitel 4), die in Beziehung zu diesen Theoriebausteinen stehen und eine erfolgreiche Realisierung von Beratungsaufgaben in Organisationen ermöglichen können;

eines Sets an nützlichen Parametern (Kapitel 4), die es Organisationsberatern unter Bezugnahme auf die verfügbaren Beratungskompetenzen, Theoriebausteine, Methoden und Instrumente ermöglichen, Beratungsprozesse anlass- und auftragsbezogen – kontextbezogen – zu gestalten und zu steuern.

Den Abschluss dieses Buches bilden Fallbeispiele (Kapitel 5), in denen auftragskonforme kontextbezogene Verknüpfungen der vorgestellten Theoriebausteine, Methoden, Instrumente und Parameter in der Beratungspraxis beschrieben werden. Diese werden im Hinblick auf die gestalterischen Möglichkeiten, die sich damit eröffnen, aber auch auf Grenzen, mit denen man in Beratungsprozessen konfrontiert wird, reflektiert.

Davon handelt dieses Buch.

1Wegen der besseren Lesbarkeit verzichten wir auf Wunsch des Verlages in diesem Buch darauf, geschlechterspezifische Formulierungen zu verwenden. Personenbezogene Bezeichnungen in der männlichen grammatischen Form beziehen sich auf alle Geschlechter.

2Die 2017 eingeführte »ISO 20700: Guidelines for Management Consultancy Services« bzw. die 2019 veröffentlichte deutschsprachige »ÖNORM ISO 20700: Leitfaden für Unternehmensberatungsdienstleistungen« hat mit ihren regulatorischen Empfehlungen bislang nicht wesentlich zur Relativierung dieses Befundes beigetragen.

1Die Geschichte der Wiener Schule der Organisationsberatung

1.1Die Anfänge – Ein Biotop entsteht und erste organisatorische Ausdifferenzierung

In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahren etabliert sich im Raum Wien ein Forschungsbiotop zur systemischen Beratung und Qualifizierung von Organisationen. Zwei Institutionen bieten hierfür den Raum: das Schloss Hernstein und die Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung (ÖGGO)3. Schloss Hernstein, das ehemalige Jagdschloss der Habsburger, ist 1962 von der Wirtschaftskammer Wien gekauft und zu einem Seminarzentrum um- bzw. ausgebaut worden. Seit 1966 werden dort unter dem Label Schloss Hernstein überbetriebliche Seminare angeboten. Rasch wurde der Ort zu einer »Plattform für Produkt- und Marktentwicklung« für Trainings (Oswald 2000, S. 2).

1967 findet hier unter der Leitung von Traugott Lindner, der federführend daran beteiligt war, die Gruppendynamik nach Österreich zu bringen, ein erstes Gruppendynamikseminar statt. In der Folge gründen 1973 einige Gruppendynamiker der ersten Stunde die ÖGGO. Diese fungiert über die nächsten drei Jahrzehnte als Theorieentwicklungszentrum und als zentrale Qualifizierungsplattform für die Weiterentwicklung des Biotops sowie die Rekrutierung der systemischen Beratungsszene in Österreich.

Ende der 1970er, während der 1980er und bis hinein in die frühen 1990er-Jahre werden im Biotop immer wieder Entwicklungsdiskurse mit Vertretern von für relevant befundenen Wissenschaftsdisziplinen geführt sowie mit Repräsentanten anderer (Beratungs-)Biotope, die sich auf ähnliche neueste Erkenntnisse aus Wissenschaft und Feldforschung berufen. Joana Krizanits schreibt in diesem Zusammenhang in ihrem Buch zur systemischen Organisationsberatung von »einer Zeit der Drehtüren« (Krizanits 2009, S. 18).

1987 verfassen drei Vertreter des Wiener Biotops, Axel Exner, Roswita Königswieser und Stefan Titscher, einen Artikel zum spezifischen Beratungsverständnis der Gruppe mit dem Titel Unternehmensberatung – systemisch. Darin arbeiten sie den Unterschied einer systemischen Beratung zur Organisationsentwicklung und Fachberatung, wie diese zu dieser Zeit praktiziert wurden, heraus (Exner, Königswieser u. Titscher 1987).

Während der oben genannten zwei Jahrzehnte eines gemeinsamen kreativen Nachdenkens, Ausprobierens und Weiterentwickelns beginnen einzelne Vertreter aus dem Personenkreis dieses Biotops eigene Beratungsunternehmen zu gründen, bzw. treten weitere Personen daraus Zug um Zug als Mitgesellschafter in diese ein. Das gruppendynamische Prinzip der hierarchiefreien Begegnung auf Augenhöhe wird für diese Firmen als Gestaltungsaxiom übernommen. Dies findet z. B. darin Ausdruck, dass insbesondere zu Beginn alle Trainer und Berater dieser Unternehmen im Wesentlichen gleich verteilte Gesellschafteranteile halten. Als Mitglieder können sie in diesen Organisationsformaten ihren Beruf als Trainer und Berater frei nach ihrem je eigenen systemischen Theoriegedankengut, das sich zuvor im Biotop herausgebildet hat, praktizieren.

1976 gründen erste Mitglieder aus dem Biotop die Gesellschaft für Organisationsentwicklung und Arbeitspsychologie (C/O/N/E/C/T/A)4.

1980 starten weitere Biotopmitglieder die Beratergruppe Neuwaldegg (BGN).

1988 erfolgt eine dritte und fürs Erste letzte größere Firmengründung mit der observe Organisation für systemische Beratung (OSB), die aus einer bereits 1985 zuvor gebildeten kleinen Sozietät, dem observe – Forschungsinstitut für Organisations- und Institutsberatung, hervorgeht.

Alle drei Trainings- und Beratungsunternehmen sind in Wien beheimatet. Weitere frühe Akteure der ÖGGO bleiben als Freelancer oder Mitarbeiter anderer Organisationen in Form von Kooperationspartnerschaften in engem Kontakt mit einem oder mehreren der drei Unternehmen.

1.2Ingredienzen des Biotops – theoretische Wurzeln und entwicklungsfördernde Beimengungen

Die Basisingredienzen dieses systemischen Organisationsberatungs- und Qualifizierungsbiotops stammen primär aus dem Konzept der Organisationsentwicklung sowie der Gruppendynamik. Bereichert werden sie mit all dem, was die Akteure der ersten Stunde, die sich im Rahmen ihrer Arbeit in Hernstein bzw. zur Gruppendynamik treffen, aus ihrem Erfahrungsschatz in Bezug auf Organisationen und die darin interagierenden Menschen in ihren Rucksäcken mitbringen. Auf dieser Grundlage beginnt sich durch die Theorien bzw. Modelle, welche eingeladene Diskurspartner von außen im Rahmen gemeinsamer Theoriesessions einbringen, das Organisationsberatungs- und Qualifizierungsbiotop dieser spezifischen Wiener Ausprägung zu entwickeln.

1.2.1Basiseckpfeiler Organisationsentwicklung

Der Begriff Organisationsentwicklung (OE) taucht als Organizational Development (OD) 1957 im Rahmen der Trainingsgruppenarbeit beim damaligen US-amerikanischen Chemiekonzern Union Carbide auf. Gegen Ende der 1970er-Jahre etabliert sich der Begriff dann im deutschen Sprachraum im Rahmen der staatlich geförderten Programme zur Humanisierung der Arbeit sowie der Gründung der damaligen Gesellschaft für Organisationsentwicklung (GOE) 1980 und der Zeitschrift für Organisationsentwicklung (ZOE) 1982. Von Anfang an versuchen Mitglieder des Wiener Biotops ihr beraterisches Tun in der ZOE in Worte bzw. Modelle zu fassen.

Von Beginn an besteht bei den Akteuren dieses Biotops der implizite Anspruch, ihr theoretisches Denken und praxisbezogenes Tun in Form von Verschriftungen einzufangen. Dies geschieht über intern in Umlauf gebrachte Papiere genauso wie über das Schreiben von Artikeln und Büchern. Deren Inhalte werden von den Mitgliedern des Biotops und mit befreundeten Personen/Gruppen aus dem systemischen Beratungsumfeld diskutiert und in Anwendungsversuchen verifiziert bzw. weiterentwickelt.

Beispielhaft sei hier das Buch Radikale Marktwirtschaft genannt, das CONECTA gemeinsam mit Fritz B. Simon 1992 veröffentlicht; oder Managerie – Jahrbuch für systemisches Denken und Handeln im Management, das Barbara Heitger von der BGN gemeinsam mit Christof Schmitz und Peter W. Gester ab 1992 ein Jahrzehnt lang herausgibt. Rudolf Wimmer von der OSB, einer der zentralen Akteure des Biotops von Anbeginn, ist über lange Zeit Herausgeber der ZOE. Diese stellt auch heute noch »das« Periodikum im deutschsprachigen Raum zur Organisationsentwicklung dar. Sie firmiert aktuell unter dem Namen OrganisationsEntwicklung Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management.

Die Abteilung für Organisationsentwicklung und Gruppendynamik, die Ralph Grossmann am von acht österreichischen Universitäten getragenen Interuniversitären Forschungsinstitut für Fernstudien (IFF) aufbaut, wirkt in Österreich auf universitärem Boden als Forschungs- und Entwicklungsplattform. Diese Abteilung wird später als Teil der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) in die Alpen-Adria-Universität Klagenfurt mit einem Standort auch in Wien eingegliedert. Neben einem einschlägigen Doktoratsstudium wird dort bis 2015 ein Postgraduate-Masterstudium Organisationsentwicklung angeboten.5

Das Grundkonzept der Organisationsentwicklung ist von einem prozesshaften, evolutionären Entwicklungsansatz geprägt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit finden sich ihre Wurzeln in

der Human-Relations-Bewegung in den USA, an deren Beginn die Hawthorne-Experimente von William Dickson, Elton Mayo, Fritz Roethlisberger in der Western Electric Company in den 1920er-Jahren stehen;

den Arbeiten Kurt Lewins und seiner Mitstreiter Kenneth Benne, Leland Bradford, Roland Lippitt etc. ab den 1940er-Jahren (Stichwörter: Gruppendynamik [»group dynamics«], Aktionsforschung [»action research«]) mit den Trainingsgruppen (»T groups«) im geschützten Raum auf neutralem Boden (»stranger groups«) und später dann innerhalb von Organisationen (»family groups«) sowie der Gründung der National Training Laboratories (NTL);

der Entwicklung der Methode des survey-guided feedback von David Bowers am Institute for Social Research (ISR) an der Universität von Michigan aufbauend auf Lewins Arbeiten am Massachusetts Institute of Technology (MIT);

dem soziotechnischen Systemansatz am Londoner Tavistock Institute of Human Relations (TIHR) in den 1960er-Jahren – aufbauend auf den Arbeiten von Fred Emery und Eric Trist –, welcher (u. a. als Ergebnis seiner Kohlebergbaustudien) die Organisationsstrukturen der personalen und sozialen Dimension als hochrelevant zur Seite stellt und den Begriff der »teilautonomen Gruppen« prägt.

1.2.2Basiseckpfeiler Gruppendynamik

Die Gruppendynamik fußt auf einem Teil derselben Wurzeln, aus denen sich die Organisationsentwicklung herausgeschält hat. Denn einer ihrer wesentlichen Väter ist der bereits genannte Kurt Lewin. 1939 bringt dieser die Dynamik von Gruppen ins Spiel (Lewin 1939). Bereits 1938 verwendet Jacob Levy Moreno, der Begründer der Soziometrie und des Psychodramas, den Begriff Gruppendynamik (Moreno a. Jennings 1938). Zentrale, frühe Impulse kommen von Raoul Schindler, 1959 Mitbegründer des Österreichischen Arbeitskreises für Gruppentherapie und Gruppendynamik (ÖAGG), mit dessen Interaktionsmodell zur Rangdynamik in Gruppen. Traugott Lindner, einer der zentralen Akteure der Gruppendynamik in Europa, treibt die an den NTL geborene Gruppendynamikidee im Rahmen des European Institute of Transnational Studies (EIT) voran. Im Zuge seiner gruppendynamischen Workshops begeistert er Interessierte auch in Österreich und stellt damit Motive bereit, die zur weiter oben erwähnten Gründung der heutigen Österreichischen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung (ÖGGO) beigetragen haben.

1.2.3Zentrale Beimengungen

In den späten 1970ern und über die 1980er-Jahre hinweg bis hinein in die 1990er-Jahre erfolgt in dieser Biotopgruppe eine Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten, die kurz zuvor bzw. zu dieser Zeit en vogue werden. Dies sind im Besonderen:

Konzepte zur neueren System- und Evolutionstheorie bzw. Biologie:

insbesondere das Konzept der »Autopoiesis« der Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela (z. B. Maturana u. Varela 1987),

Gregory Batesons Aussagen zur Lern- und Kommunikationstheorie mit seinen Lerntypen und dem Kontextbezug von Kommunikation und Handlungen (z. B. Bateson 1972),

Konzepte der Kommunikationswissenschaften:

insbesondere Paul Watzlawicks Kommunikationstheorie mit seinen pragmatischen fünf Axiomen, etwa »Man kann nicht nicht kommunizieren.« (Watzlawick, Beavin u. Jackson 1969);

Konzepte der Soziologie:

Hier fokussiert die Aufmerksamkeit der Wiener Biotopmitglieder auf die Arbeiten des Soziologen und Wissenschaftstheoretikers Niklas Luhmann. Er interpretiert Gesellschaft als operativ geschlossenen Prozess der Kommunikation und führt wichtige Begriffe wie die »operative Geschlossenheit« sozialer Systeme, die Innen-Umwelt-Differenz sowie die »strukturelle Kopplung« ein (z. B. Luhmann 2002).

Konzepte eines Radikalen Konstruktivismus:

Die erkenntnistheoretische Kernaussage des »Radikalen Konstruktivismus«, den Ernst von Glasersfeld begründete, lautet: Wahrnehmung ist immer ein Produkt der Sinnesreize und Verarbeitungsleistung eines Individuums – also immer subjektiv (Glasersfeld 1996).

Konzepte der Kybernetik zweiter Ordnung:

Prägend mitgestaltet von Heinz von Foerster lautet eine ihrer zentralen Aussagen, dass der Beobachter und das Beobachtete untrennbar miteinander verbunden sind. Demnach ist eine Beobachtung nie unabhängig vom Beobachter (z. B. Foerster 1984a).

Zudem erfolgt eine Auseinandersetzung mit Konzepten, die zu dieser Zeit außerhalb des Biotops aus forschungsseitig unterlegter Arbeit im Feld entstehen. Dies sind insbesondere:

Erfahrungen und Konzepte der Systemischen Familientherapie:

Zum einen sind dies die Praxisberichte und Interventionskonzepte der Mailänder Gruppe um Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin, Giuliana Prata (1977). Zum anderen ist dies die Arbeit am Heidelberger Institut für Familientherapie mit Helm Stierlin an der Spitze sowie Fritz B. Simon, Gunthard Weber und Peter W. Gester (z. B. Simon u. Stierlin 1984; Groth 1996). Beide Gruppen treten in einen intensiven Gedankenaustausch, der zum Teil bis heute praktiziert wird. Ihre Erfahrungen, Konzepte und Interventionsansätze werden teilweise unmittelbar in den Organisationsberatungskontext transponiert. Als Stichwort sei hierzu das »zirkuläre Fragen« genannt.

Aussagen zur Prozessberatung und Unternehmenskultur von Edgar Schein: Edgar Schein vom MIT – ebenso ein Pionier der Organisationsentwicklung – liefert mit seinen Aussagen und Praxisberichten sowie den Erfahrungen aus seiner unmittelbar wissenschaftlich fundierten Beratungsarbeit in Unternehmen wertvolles Basismaterial (Schein 1999).

Eingebracht bzw. aufgearbeitet und ins kollektive Wissen des Wiener Biotops eingewoben werden diese Konzepte im Rahmen von gemeinsamen Dialogsessions, welche Vertreter des Biotops mit Gianfranco Cecchin, Heinz von Foerster, Peter Fürstenau, Siegfried Hirsch, Niklas Luhmann, Humberto Maturana, Fritz B. Simon, Francisco Varela und anderen organisierten. Diese anregenden Theorie- und Praxisdiskurse lassen das spezifische gemeinsame systemische Grundverständnis der Mitglieder des Wiener Beraterbiotops zu Organisationen und zu zweckmäßiger beraterischer Entwicklungsarbeit in Organisationen entstehen.

1.3Die Wiener Schule der Organisationsberatung – von der Geburt als Label bis zum Ende der aktiven gemeinsamen Entwicklungsarbeit

Bis hinein in die 1990er-Jahre kooperieren einzelne Mitglieder der drei Wiener Beratungsfirmen und aus deren Umfeld über wechselseitige Einladungen in Beratungs- und Forschungsprojekte sowie in Form von Anbietergemeinschaften. Neben diesen Kooperationen auf Personenebene erfolgen punktuell auch Kooperationen auf Firmenebene. Zum einen besteht zu diesem Zeitpunkt noch die imaginäre Klammer »Mitglied und Akteur in der ÖGGO« und/oder »Mitglied bzw. Kooperationspartner in einer oder mehreren der drei Beratungsgesellschaften«. Gleichzeitig beginnen sich die drei Firmen am Markt jetzt aber auch explizit als eigenständige Beratungsunternehmen und Trainingsanbieter auszuschildern. Immer noch werden Vertreter der drei Firmen und deren Kooperationspartner über Publikationen und Auftritte auf Tagungen bzw. Kongressen gemeinsam sichtbar, wenngleich gemeinsame Meetings bzw. Workshops ab Beginn der 1990er zur Ausnahme werden. Ein Muss hingegen bleibt die Teilnahme an öffentlichen Kongressen der ÖGGO. Diese etablieren sich in den 1990er-Jahren in der deutschsprachigen Szene der systemischen Personalisten,6 Organisationsentwickler und Berater/Trainer als renommierte Großveranstaltungen. Immer wieder präsentieren hier Vertreter der drei Beratungsunternehmen und deren jeweilige Netzwerkpartner Ergebnisse aus deren Feldarbeit und theoretischen Entwicklungsarbeit. Die Inputs liefern Material für anregende Diskurse, die Verschriftungen leisten einen Erfahrungs- und Theorietransfer zu interessierten Dritten (z. B. Dalheimer, Krainz u. Oswald 1998; Lobnig, Schwendenwein u. Zvacek 2003).

1998 fassen Roswita Königswieser und Axel Exner das Interventions-, Designund Architekturrepertoire, das sich im Laufe der Jahre in der praktischen Feldarbeit und der Reflexion darüber bei den Mitgliedern des Wiener Beraterbiotops herausgebildet hat, in ihrem Buch Systemische Intervention erstmals umfassend zusammen (Königswieser u. Exner 1998).

Das Ereignis, an dem erstmals dieses spezifische Wiener Systemikerbiotop mit einem eigenen Terminus eingefangen wird, ist die EXPO-Weltausstellung 2000 in Hannover. Im Rahmen der Vorbereitungen hierzu wird für die Vertreter des ostösterreichischen Biotops der systemischen Organisationsberater das Label Wiener Schule der Organisationsberatung7 gefunden. Gleichzeitig stellt dieses Ereignis auch den letzten gemeinsamen Außenauftritt der drei Firmen CONECTA, BGN und OSB dar und läutet de facto die Ära eines sich voneinander loslösenden Nebeneinanders ein.

1999 lädt die Österreichische Bundesregierung über die Bundeswirtschaftskammer und diese wiederum über und mit dem Hernstein Institut die drei Firmen CONECTA, BGN und OSB aus dem Bereich Systemische Beratung dazu ein, auf der EXPO 2000 als Repräsentanten innovativer österreichischer Dienstleistungsunternehmungen aufzutreten. Gemeinsam mit dem Hernstein Institut firmieren die drei Beratungsunternehmen auf der Weltausstellung dann als Die Wiener Schule der Organisationsberatung.

In Abgrenzung zu anderen systemischen Beraterinitiativen, die sich parallel mehr oder weniger in Kooperation mit dem Wiener Biotop in der Zwischenzeit gebildet hatten, listet Margit Oswald in einem Basistext für Journalisten zur EXPO einige Attribute auf, die dieses Wiener Biotop spezifizieren: »eine gewisse innere Leichtigkeit«, »sich als Berater selbst nicht zu ernst nehmen«, »professionelle Bescheidenheit«, »spielen mit unterschiedlichen Rollen und Sichtweisen«, eine »Tendenz zum Leicht-Sinn bei hintergründigem Tiefgang« sowie »die Fähigkeit, unterschiedliche Sinne anzusprechen« (Oswald 2000, S. 8 f.).

Nach dem gemeinsamen EXPO-Auftritt entwickelt sich jedoch keine Energie zu einer weiteren gemeinsamen Vermarktung des Labels. Als Zuschreibung bleibt die Bezeichnung am Markt aber bestehen. Einige Jahre später fügen dann einzelne Wiener Organisationsberater dieses Label zu ihrem Firmennamen hinzu.

1.4Die gemeinsamen Wurzeln wirken weiter – ein weitgehend losgelöstes Nebeneinander sich wertschätzender Konkurrenten beginnt

Relativ unmittelbar nach der EXPO setzen bei den drei Firmen CONECTA, BGN und OSB samt deren jeweiligen Netzwerken erste auch für den Markt sichtbare inhaltliche und organisatorische Ausdifferenzierungen ein.

War es vor dem Jahr 2000 die absolute Ausnahme, so entwickelt sich von nun an eine nicht zu übersehende Spin-off-Dynamik. Immer wieder treten einzelne Mitglieder bzw. Gruppen von Beratern aus den drei Firmen aus und organisieren sich neu. Kooperationen, Wissensdiskurse mit Dritten werden von nun an getrennt geführt. Nur noch punktuell auf der Ebene befreundeter Personen findet ein übergreifender Diskurs statt. Den skizzierten Basiswerten bleiben jedoch alle Akteure weiterhin verbunden.

Ab jetzt wird eher versucht, durch eigene Produktentwicklungen und entsprechende Publikationen am Markt eigene Marken zu positionieren.

Beispielsweise präzisieren einzelne Mitglieder der CONECTA ihren Beratungsansatz unter dem Label Transformationsmanagement (TM). Im Jahr 2001 führen Alfred Janes, Karl Prammer und Michael Schulte-Derne bei der Schilderung dreier Fallbeispiele erstmals diesen Terminus ein (Janes, Prammer u. Schulte-Derne 2001). Prammer und Janes entwickeln den Ansatz theoretisch und praktisch weiter (Janes u. Prammer 2003; Prammer 2009).

2006 präzisieren Roswita Königswieser, Ebru Sonuc, Jürgen Gebhardt und Martin Hillebrand von Königswieser & Network ihre Beratungstätigkeit mit ihren Ausführungen zur »Komplementärberatung« (Königswieser, Sonuc, Gebhardt u. Hillebrand 2006). Diese elaborieren sie und andere aus dem Netzwerk Zug um Zug weiter (Königswieser u. Lang 2008; Königswieser, Burmeister u. Keil 2012).

Mitglieder der OSB beginnen in dieser Zeit ihre Beratungsarbeit fokussiert auf Themen wie Strategie (Nagel u. Wimmer 2002), Führung (Nagel, Oswald u. Wimmer 2005) und Familienunternehmen (Simon, Wimmer u. Groth 2005) auszudifferenzieren. Rudolf Wimmer, der seit 1999 eine Professur für Führung und Organisation am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) an der Privatuniversität Witten/Herdecke inne hat, spricht von einem »Dritten Modus« (Wimmer, Glatzel u. Lieckweg 2014).

2009 führen Roswita Königswieser, Erik Lang und Rudolf Wimmer in der ZOE ein moderiertes Streitgespräch, in dem letztlich das Gemeinsame mehr als das Trennende der beiden Ansätze Komplementärberatung und Dritter Weg sichtbar wird (Königswieser, Lang u. Wimmer 2009).