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Impressum

© 2021 Bernhard Honkisz

Herausgeber: Bernhard Honkisz

Umschlaggestaltung: Bernhard Honkisz

Verlag: myMorawa von Dataform Media GmbH, Wien www.mymorawa.com

ISBN 978-3-99125-461-4 (Paperback)

ISBN 978-3-99125-462-1 (Hardcover)

ISBN 978-3-99125-463-8 (E-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

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„Dawa - Dawa“

oder

Ein Leben in fünf Hymnen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Hymne

Das „1er“ Haus

1936

Melissengeist

Puppen!

Nikolaus

Kindergarten

Mit Papa am Schafberg

Winter: Galoschenzeit!

Ca. 1936-37

Die Mi-Tante

Franz Farkas (der Opa)

Schlesien

Troppau 40 Jahre später

Besuch 2012

2. Hymne

Liechtensteinstraße

Kalvarienberg

Schule

1939

Mit Lizzi in Mödling

Papa in Frankfurt 1940

Bruder

Mäntel – Ostern

Läuse

Weihnachten

Der Koffer

Hausarzt

Ohrringerl

Essen

Wenn das der Führer wüsste!

Wiedendorf

1944

1945

Alle Jahre wieder kommt der Nikolaus

Wieder in Wien

Wie war das eigentlich?

Notrezept

Ein seltsames Jubiläum

Firmung 1946

Was bin ich oder Eine kuriose Lehrzeit

3. Hymne

Das Rasierzeug

Das Gebiss!

1948

Die Tochter vom Krampus

Nasse Schuhe

Der Schambureck

Tante Mia und Onkel Willi

Südfrankreich

Ein holländischer Indianer

Noch ein bisserl Amerika – Bill Dowling

Tante Emma und Onkel Ignaz

Engelmann

Sissi!

Unfall

Meine Nase

18. 12. 90 oder

Ein ereignisreicher Tag! (fast ein Lustspiel)

Hausmeister

Häuslgeschichten

4. Hymne

5. Hymne

Erklärungen

Anhang

Nachwort!

Bild- und Inhaltsnachweise

Vorwort

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Wie die Alten erzählen ... Mama war ein Kind, das in der Zwischenkriegszeit auf die Welt kam und in dieser sowie im Krieg ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Auch die Zeit danach war nicht einfach und war geprägt von Wiederaufbau, Eisernem Vorhang und dem Wunsch nach mehr....

Sie begann, als sie schon Alter und Krankheit spürte, ihre Erinnerungen - nicht nur an Kindheit und schöne Zeiten - aufzuschreiben, um sie für die Nachkommen aufzubewahren. Originalzitat: „Bevor ich zu verkalken beginne, versuche ich noch in meinen Erinnerungen zu kramen und alles niederzuschreiben - damit es nicht verloren geht.“

Sie tat dies, weil sie eine sparsame Frau war, in einem alten Buchkalender, in alten Schulheften und auf allen möglichen losen Zetteln. Jedes Stückchen Papier musste herhalten: die Rückseite von Erlagscheinen, Briefumschläge und selbst Zeitungsränder mussten herhalten. So entstand eine Sammlung von nachdenklichen, lustigen, oft auch kuriosen Geschichten. Ergänzt habe ich mit Erinnerungen an ihre Erzählungen und einer Auswahl aus einer unheimlich großen Sammlung an allen möglichen Artefakten, die sie hegte und pflegte.

Übrigens sammeln: Mama verabscheute die von ihr so betitelten „Erbschleicher“. Sie selbst empfand nie Neid auf vererbten Besitz. Sie nahm sich immer derer Gegenstände an, die meist wegen Wertlosigkeit zurückgelassen wurden. Lediglich eine Bitte hatte Mama an die Hinterbliebenen: Fotos und Dokumente! Damit ergab sich im Laufe der Zeit eine Sammlung von Originaldokumenten und Fotos, die uns später bei der genealogischen Aufarbeitung unserer Familie viel Arbeit abnahm - und auch eine Sammlung an Kuriositäten und Scheußlichkeiten, aus deren Menge ich heute schöpfen kann. Ebenso ausgeprägt war ihr Hang zum Zuhören - die Geschichten, die man ihr erzählte, wurden auch aufgeschrieben.

Hauptthema ist natürlich ihre Kindheit und Jugend - die drei Hauptorte des Geschehens das Lichtental im 9. Wiener Gemeindebezirk (Alsergrund), die beiden Orte Elsarn und Wiedendorf, die beide zu Strass im Strassertal gehören und daher als einer zählen, sowie Brättersdorf, der Geburtsort ihrer Großmutter. Sie hat sich ebenso bemüht, alle Geschäfte ihrer Umgebung (und auch, die ihrer Profession, der Schneiderei) listenhaft zu erfassen und gibt damit einen Einblick in die Geschichte des Geschäftslebens im Lichtental.

Wenn auch nur wenige Personen hervorgehoben sind: keine Sorge - alle Menschen in Elfriedes Leben waren mehr als „existent“, vor allem ihr Mann und ihre Kinder, aber das ist vielleicht schon wieder Stoff eines anderen Buchs...

Neben der unveränderten Diktion der damaligen Zeit, also Wörter, die heute berechtigt verpönt sind (man bedenke, ihre - in jungen Jahren - naive Sichtweise politischer Belange), habe ich mich bemüht, die Schreibweise meiner Mutter beizubehalten und habe nur behutsam eingegriffen, um es „lesefreundlich“ zu machen. Selbstverständlich sind die Namen noch lebender Personen abgekürzt oder umschrieben. Bedenken Sie, werte Leserinnen und Leser, dass alle Querverweise zu „heute“, die meine Mutter angibt, nicht unbedingt noch aktuell sind - sie verstarb bereits 2009. Meine Ausführungen dazu habe ich kursiv gehalten.

So bietet sich uns damit ein Einblick in ein bewegtes Leben und in eine andere Zeit.

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1. Hymne

Diese Hymne, auch bekannt als „KernstockHymne“, war die Bundeshymne von 1929 bis 1938 - also Erste österreichische Republik und Ständestaat. Es war die Hymne, die Elfriede als erste hörte und die ihre Kindheit begleitete.

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Sei gesegnet ohne Ende,
Heimaterde wunderhold!
Freundlich schmücken dein Gelände
Tannengrün und Ährengold.
Deutsche Arbeit, ernst und ehrlich,
Deutsche Liebe, zart und weich -
Vaterland, wie bist du herrlich,
Gott mit dir, mein Österreich!

Keine Willkür, keine Knechte, Off'ne Bahn für jede Kraft! Gleiche Pflichten, gleiche Rechte, Frei die Kunst und Wissenschaft! Starken Mutes, festen Blickes, Trotzend jedem Schicksalsstreich Steig empor den Pfad des Glückes, Gott mit dir, mein Österreich!

Lasst, durch keinen Zwist geschieden,
Uns nach einem Ziele schau'n,
Lasst in Eintracht und in Frieden
Uns am Heil der Zukunft bau'n!
Unsres Volkes starke Jugend
Werde ihren Ahnen gleich,
Sei gesegnet, Heimaterde,
Gott mit dir, mein Österreich!

Das „1er“ Haus

Für historische Tatsachen und Jahreszahlen bin ich nicht zuständig, was ich aber im „1er“ Haus (9, Badgasse 1) erlebt habe, will ich in kurzen Abschnitten erzählen, damit es nicht in Vergessenheit gerät.

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Es war wie ein Vierkanthof gebaut. Erst Jagdschloss von Maria
Theresia, dann Kloster „Zum goldenen Engel“, später Wohn-
haus; zweistöckig, in jedem Stockwerk zehn Wohnungen, eine
Bassena und drei „Häusln“ (der sogenannte „Häuslturm“ wurde

Eine der typischen Manuskriptseiten erst nach der Klosterzeit eingebaut). Jeder Tropfen Wasser musste die gleiche Strecke zurück transportiert werden, wo man ihn vorher holte. Gas gab es in fast allen Wohnungen, elektrisches Licht noch nicht. Ein „französisches“ Bad - sprich Lavoir - gab es überall. Man „badete“ in der Küche, ging ins Tröpferlbad in die Wiesengasse und nützte auch die Waschküche, die man einmal im Monat zugesichert bekam, als Bad - den Waschtrog. In die Waschküche musste man quer über den Hof gehen. Bei kaltem Wetter sicher kein Vergnügen.

Jede Woche ging ich mit Mama ins Tröpferlbad in der Wiesengasse. Schon beim Eingang war es warm und man „roch“ das Bad. Im ersten Stock - eigentlich Zwischenstock, war die CASSA - auch ein Friseur und ein PEDIKEUR. Ich hatte allerdings keine Ahnung; wer das war und was er tat. Und was war MANICURE? Mama nahm es nie in Anspruch; dafür nahm sie eine CABINE zum allgemeinen Bad, die zwar teurer war, dafür war sie weiß gekachelt und hatte einen winzigen Vorraum für die Kleider. Nachdem ich noch nicht sechs Jahre alt war, konnte ich gratis mitgenommen werden. Die Badefrau stellte draußen eine Uhr, damit man nicht zu lange blieb. Mama zog sich nie ganz aus (nur bis aufs Hemd) und wusch mich. Ob sie mir auch die Haare gewaschen hat, weiß ich nicht - denn das war daheim eine Plärrangelegenheit - lange Haare! Wenn ich fertig war und wieder angezogen, schubste sie mich hinaus, um sich selbst dem Badevergnügen hinzugeben. Inzwischen saß ich am Bankerl. Manches Mal kaufte sie auch einen aus Holzwolle gewickelten „WASCHEL“ oder ein kleines Stück feine Seife. Als Kind habe ich Mama nie nackt gesehen - ich hätte auch sicher gar nichts anderes gesehen als nur die Mama.

Wie wir dann umquartiert waren, da war meine „gscha- mige“ Zeit (12-13 Jahre). Zum Waschen gab's in der Küche neben dem warmen Ofen nur das Lavoir. Und da habe ich beim Waschen halt besonders gschamig getan. Mama sagte: „Glaubst du, ich hab‘ dich noch nie nackert gesehen? Oder meinst du, du bist mit Jacke und Hauberl fertig gewickelt auf die Welt gekommen?“ - da lachten wir beide und der Bann war gebrochen. Früher war man ja prüde, aber je älter Mama wurde, umso moderner wurden ihre Ansichten. Was würde sie zur heutigen „Freiheit“ sagen?

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9. Bezirk, Wiesengasse: ganz links ist noch das Geschäftszeichen des „Tröpferlbades“ zu sehen

Da fällt mir noch ein, dass ich mich im gleichen Alter auf ein Stockerl stellte, die Arme hob, damit mir Papa nach ganz genauer Kontrolle meiner Achseln sagen konnte, ob schon Haare sprießen; ich wollte ja schon „erwachsen“ sein.

Im ersten und zweiten Stock waren die Wohnungen über so genannte Pawlatschen zu erreichen. Dieser Gang aus Holz wurde jede Woche mit Lauge und Reibbürste behandelt und jede Partei hatte eine bestimmte Länge zu reinigen. Vor unserer Küchentür, die auch die Eingangstüre war, stand das Mistkistl: ein idealer Sitzplatz für ein Kind. An schönen Tagen und Abenden saßen die Bewohner (meistens Frauen) am Gang - ich glaube, es war eine gute Hausgemeinschaft. Natürlich wurden andere „ausgerichtet“, aber das ist ja das Schöne am Tratsch.

In dieses Haus hielt ich am 7. Oktober 1932 meinen Einzug. Mama hat mir immer erzählt, dass die Parteien schon gewartet haben, als sie mit mir von der Klinik kam. Geboren bin ich ja in der Brigittenau - im zwanzigsten Bezirk, in der Stromstraße. Dort war eine kleine Frauenklinik, hauptsächlich für Geburten. Von dort brachte mich der Storch in einem weißen, gehäkelten Wolltuch ins „1er“ Haus. Es war ein großes Tuch mit grauem Rand und langen Fransen. Es gehörte Frau Popperl, unserer Nachbarin. Auf Verlangen hat man es mir immer wieder gezeigt und ich habe Frau Popperl oft dressiert, mir zu erzählen, wie das war. Sie konnte so ausführlich erzählen, dass ich fast sah, wie ich - eingewickelt in das Tuch - vom Storch ins Haus „eingeflogen“ wurde. (Vielleicht fliege ich heute deswegen so gerne?)

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Das Tuch habe ich nach dem Krieg 1946 zum letzten Mal gesehen, wahrscheinlich wurde es dann bei einem Bauern gegen Lebensmittel eingetauscht.

Unsere, das heißt die Wohnung (Tür 29) meiner Großmutter, war im 2. Stock; erreichbar über gerade Stiegen, die Absätze dazwischen belegt mit Sollnhofer Platten. In jedem Stockwerk war eine Nische mit Heiligenfiguren, ich glaube bei uns stand eine Marienfigur.

Ganz unten „zu ebener Erd“ war ein orthodoxer jüdischer Greißler - an den Geruch der Tonne mit Salzheringen erinnere ich mich. Für den eigenen Gebrauch hielt er sich Hendln in einem Verschlag unter der Stiege - zum Schächten. Dort vorbeizugehen hat mir immer gegraust. An die Leute persönlich kann ich mich nicht mehr erinnern. Im Jahr 1938 kam ein anderer Greißler, aber die Gerüche hielten sich noch lange.

Nochmals zu unserer Wohnung: Küche, Zimmer, Kabinett. Im schmalen Kabinett schliefen meine Eltern. Das heißt, meine Mutter hatte ein richtiges Bett, Papa schlief auf einem „Inrusa“-Bett (heute sagt man Campingbett), das täglich aufgestellt wurde. Sonst war da nur ein Kasten. Mein Gitterbett wurde am Abend ins Zimmer geschoben, damit Platz für Papa war. Daher ist es verständlich, dass sich meine Eltern, als sie die Wohnung in der Liechtensteinstraße bekamen, als erstes ein Schlafzimmer kauften. Sie haben 1931 geheiratet und 1938 das erste Mal in einem Ehebett geschlafen!

Im Zimmer waren Ehebetten, hier schlief meine Großmutter - von mir zärtlich „O“ genannt - und mein geliebter Karl-Onkel, der Bruder meines Vaters.

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Vor meiner Geburt stand noch ein Diwan vor den Betten. Hier schlief die Mi-Tante (die Schwägerin O's). Sie bekam erst eine Wohnung als ich zur Welt kam. (Ihre Geschichte folgt an anderer Stelle ... Anmerk. d. Verf.)

Meine Großmutter war verwitwet, den Großvater habe ich nicht gekannt, er ist schon zeitig verstorben. Er war Straßenbahnkondukteur, daher bekam meine Großmutter eine Pension. Von vielen beneidet, was sich so anhörte: „I hob ja nur a Pfründn, aber Se san jo a Pensionistin!“

Von dieser Pension und dem Gehalt von Karl-Onkel lebten wir also, denn kaum erschien ich auf dieser Welt, wurde Papa arbeitslos.

Es war die Zeit der großen Arbeitslosigkeit. Papa war sieben Jahre (1932 bis 1939) arbeitslos. Aber er hatte immer wieder Gelegenheitsarbeiten. Er war sehr geschickt, konnte vieles und machte in der Zeit Elektrotechnik-Kurse. Er baute auch unser erstes Radio. Es war so groß wie unser Ladlkastl in der Küche und von Zeit zu Zeit ging ich mit Papa in die Nordbergstraße zur Tankstelle (Prean, Prejan oder Beran?), um den Akku aufladen zu lassen. Immerhin: wir hatten schon ein Radio mit Lautsprecher!

Trotz der Umstände wie: arbeitslos und Enge des Wohnraums - habe ich eine sehr schöne und behütete Kindheit gehabt, die Ehe meiner Eltern war gut und man musste eigentlich miteinander auskommen. Sicher war es nicht immer ideal, Alt und

Mit diesem Geburts- und Taufschein fing in doppeldeutigem Sinn alles an. Das Kuriosum war, dass man zwar den Namen „Elfriede“ korrekt angab aber offenbar nicht weiter darauf achtete, wie er geschrieben wurde - wichtig schien nur, das Dokument in Händen zu halten.

Erst viel später kam man darauf, dass der Schreiber aus der „Elfriede“ eine „Elfrieda“ machte. Ein Irrtum, der aus der Scheu Behörden gegenüber und Kostengründen niemals behoben wurde - aber meine Mutter zeitlebens ärgerte.

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... und wieder einmal Arbeitsmangel.

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Jung in einer kleinen Wohnung, aber es ging. Übrigens haben sich meine Mutter und meine Großmutter nie geduzt. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1944 hat meine Großmutter „Sie, meine liebe Hedi“ gesagt, obwohl sich beide gern hatten und einander auch umarmten.

Karl-Onkel kam nie ohne Mitbringsel nach Hause. Ich lief „Onki“ schon am Gang entgegen und er hob mich dann hoch, so dass ich in seine Manteltasche greifen konnte. Er war für mich der Schönste, Beste, Größte. Groß ist er ja immer gewesen, blaue Augen und - wenn auch wenig - blonde Haare. Er war noch ledig und O murrte manchmal über seine „Dummheiten“, wenn er spät nach Hause kam.

Übrigens hat man mir immer prophezeit, ich werde auch so groß werden wie Onki, weil ich so lange Zehen habe. Die langen Zehen habe ich noch - aber sonst?

Also beginne ich einmal mit unserem Stockwerk. Nach dem Stiegenaufgang kommt man links zur Wohnung der Frau Neu. Er, ein pensionierter Eisenbahner - sie, eine fromme Frau. Herr Neu rauchte Virginier und ging hie und da zum Lamplwirt, Ecke Salzergasse, Lichtentalergasse (heute Schulzahnklinik) „auf ein Achterl“. Sie hatten Heiligenfiguren unterm „Sturz“ auf dem Trumeaukastl zwischen den Fenstern. Frau Neu war auch Mitglied vom „Josefi-Verein“ - eine kirchliche Angelegenheit - wie weit das geht weiß ich nicht, auf jeden Fall dürfen die Mitglieder schwarze umflorte brennenden Laternen neben dem Sarg tragen, wenn einer von ihnen vom Haus der Aufbahrung zur Kirche gebracht wurde. Auch bei den Fronleichnamsprozessionen begleiteten sie den Zug mit geschmückten Laternen. Beide hatten einen Spätling namens Franz, kurz „Neufranzl“ genannt.

Von ihm wurde erzählt, sein liebstes Spiel war „Kirche“. Er baute sich einen Altar auf, nahm irgendein Buch als Mess- buch, hat sich ein Leintuch umgehängt und hat „Messe“ gelesen.

Früher ging man Sonntags am Nachmittag spazieren und „kehrte“ dann bei einem Wirt oder Heurigen ein. Bei diesen Ausflügen ging der Neufranzl ganz brav mit bis zum Einkehren. Dort trank er ein rosa Kracherl, fraß in Windeseile ein Paar Würstel, um dann die Eltern zu sekkieren: „Gemma ham!“ Sie wären sicher noch gerne sitzen geblieben, aber sind dem Kind zuliebe wieder nach Hause gegangen.

Da fällt mir noch etwas ein. In der Badgasse 6 (oder 8?) sollen „gefällige Damen“ gewesen sein. Ich weiß es nicht genau, vielleicht vor meiner Zeit. (Eine spätere Bettnachbarin im Spital, hat es mir 2007 allerdings bestätigt.) Als nun der Neu- franzl aufklärungsbedürftig war, konnten sich die Eltern nicht entscheiden, wer es tun sollte. Da kam Frau Neu auf eine Idee: „Franz, gib dem Buam 5 Schilling, er soll ins 6er Haus geh'n!“ Ob's wahr ist?

Der Neufranzl lernte in der Eisenhandlung „Horak“, heute „Seemann & Menzel“. Seine Aufgaben und was er sonst noch zu schreiben hatte, schrieb er mit einer versenkbaren Füllfeder, d.h. durch drehen am unteren Ende konnte man die Goldfeder ins Innere des Halters ziehen - heute eine Rarität. Diese Feder hat mich immer sehr beeindruckt!

Noch eine Geschichte zum Neufranzl. Er war nun auch eingerückt und hatte Bahnhofswache am Franz Josefs Bahnhof. Ich, nichts wie hin - ich musste ihn einmal in Uniform sehen! Ich war ca. 7 Jahre alt. Er stand dort bei der Abfahrt der Züge, ganz starr, den Kettenhund (ein Schild, eigentlich eine große Plakette) umgehängt, sehr stolz. Ich schlich ein paar Mal um ihn herum, um ihn zu bewundern - er den Blick ganz geradeaus gerichtet. Schließlich geh ich hin: „Servus Franzl!“ Er zeigte keine Regung - also nochmals ein wenig lauter: „Servus Franzl!“. Daraufhin kam leise zwischen seinen Zähnen ein: „schleich di,

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Ledergestell tragen. Er verstarb im März 2003 und liegt im Familiengrab am Wiener Zentralfriedhof (3. Tor bei Halle 3, Gruppe 68a, Reihe 5, Grab 3).

In der Küche der Frau Neu war ein großer gemauerter Herd, der nur im Winter geheizt wurde. Rechts davon ein modernes Wunderwerk, ein Gasherd - ich glaube der einzige im Haus. Alle anderen hatten Rechauds. Links davon stand eine riesige Kohlenkiste. Dort oben durfte ich sitzen. So konnte ich alles überblicken.

Vom Küchenfenster aus sah ich auch meine erste Leiche. Das Haus war eine Molkerei mit eigenen Kühen (Milch, frisch gemolken!). Ecke Fechtergasse, Simon Denk Gasse - heute der Anbau vom Hotel Bellevue. Die Besitzerin dieser Molkerei war gestorben und es kamen Frauen, um sie zu waschen und anzuziehen für die Aufbahrung, die im eigenen Hause war. Sie haben aber vergessen die Vorhänge vorzuziehen und so habe ich im Alter von ca. 5 Jahren zugesehen. Aber ohne Angst oder sonst einen bleibenden Schaden davon zu haben. Es war eben so! (Die Molkerei gehörte dann einem Ritter von Elsner, der nächste Besitzer hieß Hirschmann.)

Anschließend an die Molkerei in der Fechtergasse war eine Garage und dann eine kleine Greißlerei „Saglmeister“ mit einer kugelrunden Greißlerin. Wir kauften dort nur selten, wir kauften beim Lutz, Ecke Fechtergasse, Simon Denk Gasse. Nach der Greißlerei war der beliebte Pferdefleischhacker, der „Staber“ - später dann der Fleischhauer Popperl. Viele der in der Umgebung Wohnenden waren dort Stammkundschaft. Danach kam der Schuster Kadesabek und daneben wohnte Familie Barak - auch schon reifere Jahrgänge und schon weißhaarig. Zu mir waren sie immer recht freundlich, in der Wohnung war ich nur einmal, um mir die Hasen anzuschauen, die sie in der Küche in einem Stall hielten. Der Geruch war dementsprechend. Auch hier war ein Sohn, der Rudi, der - obwohl ca. 18 Jahre älter als ich - mit mir immer nett war und mir auch auf der Straße zuwinkte. Er ist als Fallschirmjäger auf Kreta gefallen.

Die Nächsten am Gang waren ein österreichisch-italienisches Ehepaar, die miteinander gebrochen Deutsch sprachen („was machen Sie du da?“). Er hatte einen wunderbaren Beruf - er war fahrender Eismann. Von ihm habe ich im Sommer am Abend oft krügelweise herrliches italienisches Eis bekommen. Natürlich hat dann die ganze Familie davon gegessen. Was er im Winter gemacht hat, weiß ich nicht.

Und jetzt kommt Letti, eigentlich Johanna Lastowicka. Sie legte großen Wert auf die Anrede „Fräulein“. Immerhin zum Zeitpunkt meiner Geburt ca. 50-55 Jahre alt, nein - sie muss noch älter gewesen sein, denn der Ringtheaterbrand war 1881 und da war sie 20 Jahre alt, also 1861 geboren. Sie war Dienstmädchen bei einer Familie, die bei diesem Brand umkam. Sie erzählte mir oft, dass man den Feuerschein in der Badgasse gesehen hat. Die Familie muss also ganz in der Nähe gewohnt haben. „Fräulein Jeanette“ wie sie von allen genannt wurde, von mir zärtlich „Letti“ getauft, konnte sehr gut mit Kindern umgehen, hatte sie ja den Sohn ihrer Dienstgeber betreut. Ich allerdings konnte ihn nicht leiden, obwohl ich ihn nicht kannte! Mein Alter: 4-5 Jahre! Letti erzählte immer, wie fromm (!!) und folgsam dieser Bub war und wie artig, für mich ein abschreckendes Beispiel. Noch dazu hieß er Alfons! Da hab' ich mir geschworen, wenn ich groß bin und heirate - nie einen Alfons!

Als ich dann schon etwas größer war, hat Letti einmal gesagt: „Heute kannst du nicht zu mir kommen, ich bekomme Besuch, mein lieber Alfons kommt“. Natürlich musste ich beim Fenster vorbeigehen - da habe ich ihn gesehen: ein Mann mit roten Haaren! Ich glaube, er hat sich um seine Erzieherin gekümmert und sie vielleicht auch finanziell unterstützt.

Letti war sicher nicht reich. In ihrer Wohnung gabs nur Petroleumlicht oder Kerze. Im Winter kochte sie im Zimmer am Kanonenofen, im Sommer in der fensterlosen Küche auf einem Petroleumkocher. Sie lebte sehr bescheiden und war auch sehr fromm. Jeden Tag ging sie abends in den „Segen“ - ob Sommer oder Winter.

Dennoch war sie die Güte in Person. Ein immer freundliches Altfrauengesicht mit vielen kleinen Falten, das weiße Haar - daheim unter einem weißen Häubchen (nur im Sommer ohne), beim Kirchgang unter einem Hut. Die Kleidung immer dunkel und auch im Sommer ein schwarzes Umhängetuch und die Röcke knöchellang, dazu schwarze hohe Schuhe. Handschuhe und Muff im Winter, selbstverständlich. Sie war glaube ich, ein mit Gott und sich selbst zufriedener Mensch.

Ihre Wohnung war eben diese fensterlose Küche und ein Zimmer mit einem Fenster in den Hof.

Ein Bett mit Nachtkastel (darauf ein Öllicht für die Nacht), ein Schubladenkastel (darauf ein Heiliger unterm „Quargelsturz“) und zwei Kästen, sowie ein Tisch mit drei Sesseln und eine Nähmaschine waren die Einrichtung. Heute weiß ich, dass auch ihr Porzellan wunderschönes Biedermeier war.

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Im Bett gab‘s einen Strohsack, der immer gewendet wurde, und natürlich auch Wanzen, die sie ein paar Mal im Jahr ausrottete. Man hat sich dafür gar nicht geniert und man roch es auch auf den Gang heraus, denn sie hielt jeder Wanze eine brennende Kerze unter den Hintern, bis die Wanze platzte. Ich schaute ihr fasziniert zu.

Von ihr lernte ich viele Gedichte und Lieder und sie erzählte selbsterfundene - natürlich fromme - Geschichten. Auch die vielen Gedichte zu Geburtstagen und Weihnachten trainierte sie mit uns. Alle Gesten machte sie mir vor, auch die Knickse!

Mit Letti ging ich auch einmal zum Segen. Sie hielt mich krampfhaft fest, damit mir ja nichts passiert bei „dem“ Verkehr: ein paar Fuhrwerke und vielleicht ein Auto auf der Strecke Badgasse, Lichtentaler Kirche! Wie alt ich da war, weiß ich nicht. Auf jeden Fall war der Segen mit Orgelspiel und Gesang, danach schwieg die Gemeinde - nur ich sang laut: „es klappert die Mühle am rauschenden Bach, klipp, klapp“. (Nachdem das Haus abgerissen wurde, kam sie nach Lainz, wo sie, glaube ich, mit 90 Jahren starb.)

Anschließend an ihre Wohnung war das Kabinett der nächsten Wohnung. Der, der Familie Popperl. Sie hatten zwei Wohnungen im Stock, diese gehörten Karl, der ledig war. Er war gelernter Fleischhauer, wie sein Bruder Franz, der verheiratet war. Dessen Frau hieß Käthe und war einmal Dienstmädchen bei den Eltern der Brüder. Sie war sehr tüchtig, eine sehr gute Köchin und sehr musikalisch - sie hat meine Mama oft ins Theater mitgenommen. Sie besaß eine gerade Haltung, trug immer ein Korsett und die typische Frisur der Jahrhundertwende. Eben eine gutbürgerliche Familie (ohne Kinder).

Also zurück zur Wohnung, die Karl, den ich in Agi umtaufte gehörte. Agi bewohnte das Kabinett. Es war Arbeitsraum, Schlafzimmer, Frisierstube, alles in einem. Obwohl es in der Wohnung elektrisches Licht gab, bevorzugte er zwei Petroleumlampen. Am Vormittag war er im Geschäft (in der Fleischhauerei in der Fechtergasse). Die „blutige“ Arbeit machten Franz und Käthe, er saß in der „Bank“, kassierte und trug alle Beträge gewissenhaft in lange schmale Bücher mit „Tintenblei“ in einer sehr schönen Schrift ein. Ich konnte ja noch nicht lesen, aber ich sehe die Schrift noch vor mir. Niemand durfte in den Kassabüchern blättern, ja sie nicht einmal anrühren. Er trug sie persönlich täglich hin und her und nur ich, ich saß auf seinem Schoß und blätterte in den Büchern, das Papier hatte einen eigenen Klang beim Umblättern.

Wenn man nimmt, ein schon damals sehr appetitliches Geschäft. Der Verkäufer kam mit Geld nicht in Berührung!

Frau Popperl ging am späten Vormittag nach Hause, um zu kochen. Die Herren kamen um 12 Uhr zum Essen, auch die Lehrbuben, die in Kost und Quartier waren. Dann war Mittagspause, während der die Brüder schliefen.

Einmal in der Woche kam der Fleischmann. Karl ging an diesem Tag sehr zeitig nach St. Marx einkaufen, Nachmittag wurde geliefert. Mit dem Ruf: „da Fleischmau is do!“ kam der Lieferant in den Hof und Franz ging hinunter, um das Fleisch zu übernehmen und mit den Lehrbuben „aushacken“. Der Kalbskopf wurde mit in die Wohnung genommen, dort im Kessel überbrüht und dann am Gang vom Lehrbuben mit einem alten Löffel von den Haaren befreit. Natürlich schaute ich zu, habe mich aber vor dem Kopf mit heraushängender Zunge nicht geschreckt. Vielleicht habe ich einmal ängstlich geschaut und habe den Malon Pepi (so hieß der Lehrbub) gefragt, was er macht. Er sagte: „Miezikatzi putzen!“. So habe ich das gar nicht makaber gefunden, sondern habe immer wieder gefragt, wann er wieder Miezikatzi putzt. Die Lehrbuben mussten auch die Schuhe der Familie putzen, es ist dem Pepi oft die Bürste in den Hof gefallen und ich habe sie ihm geholt - dafür dürfte ich beim Miezi- katzi putzen dabei sein. Als er bereits ausgelernt und ausgezogen war und er mich auf der Straße getroffen hat, hat er dann immer „Miezikatzi putzen“ gerufen.

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Geschlafen haben die Lehrbuben im großen, finsteren Teil des Zimmers, hinter einem Paravent. In dem Zimmer stand auch der Tresor, streng gehütet, niemand durfte im Raum sein, wenn Agi ihn öffnete. Ich schon, er zeigte mir, wie dick die Tür war und wie schwer sie auf und zugeht.

Auch die Wäscherolle war in dem Zimmer, ein großer Tisch, ein Diwan und - eigenartig - ein riesiger Spiegel und davor ein großer Samowar.

Am schönsten war, wenn das Bettzeug für die Rolle hergerichtet wurde. Gerader Fadenlauf - zwischen zwei Personen schräg hinunter gezogen - das ergab ein Geräusch. Meine größte Freude war unter dem Wäschestück zu stehen und „dawa - dawa“ zu rufen. Noch bis zu Mamas Tod (1979) sagten wir, wir machen „dawa - dawa“.

Es war eigentlich ein Arbeitsraum. An einer Wand ein großes Bild mit Zunftwappen. Wie gesagt, die Familie war gutbürgerlich. Frau Popperl hatte ihren Jour und die Brüder spielten sehr gut vierhändig Klavier und es gab Musikabende. Allerdings in der zweiten Wohnung, die rechts vom Stiegenaufgang war und eine Eckwohnung war.

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Karl war sehr gepflegt - es erzählten sich die Leute, er sei ein „Warmer“ (ein alter Wiener Ausdruck abfälliger Art für einen Homosexuellen, Anmerk. d. Verf.) Er hatte einen Schnauzbart und trug auch in der Nacht eine Bartbinde. Er hatte lackierte Fingernägel und sein Gesicht wurde nicht mit dem Handtuch abgetrocknet - nur mit dem Wind vom wachelndem Handtuch! Zwei Petroleumlampen leuchteten dazu. Dann zog er sich immer elegant an, Zugstiefeletten, Melone, Stock, Handschuhe und ging weg. Ich glaube aber, er war ein Spieler. Nachts kam er zurück und dann ging er nochmals mit hängenden Hosenträgern und alten, auf Schlapfen abgeschnittenen, Stiefeletten über den Holzgang aufs „Häusl“. Oft hörte man dann den Ruf in der Finsternis „Da Koarl schlapft scho wieda aufs Häusl!“