MORNŠTAJNOVÁ • HANA
Zur Aussprache tschechischer Buchstaben mit diakritischen Zeichen:
á |
langes a |
Č, č |
stimmloses tsch wie in Tschechische Republik |
é |
langes e |
ě |
je |
í |
langes i |
ň |
nj |
ř |
gerolltes r gleichzeitig mit stimmhaftem sch |
Š, š |
stimmloses Sch, sch wie in Schule |
t’ |
tj |
ú, ů |
langes u |
ý |
langes i |
Z, z |
stimmhaftes S, s wie in Rose |
Ž, ž |
stimmhaftes sch wie in Journal |
ALENA MORNŠTAJNOVÁ
Hana
Roman
Die Herausgabe dieses Buches wurde vom Kulturministerium der Tschechischen Republik unterstützt.
Originaltitel: Hana
© HOST, Brno 2017
Umschlaggestaltung nach einem Werk von Veronika Kopečková
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99047-109-8
Ich, Mira
1954–1963
Februar 1954
Ich habe noch nie verstanden, warum die Erwachsenen den Kindern einreden, es lohne sich, artig und gehorsam zu sein. Wäre ich eine gehorsame Tochter gewesen, stünde heute mein Name in den Grabstein gemeißelt – so wie die Namen von Mamas Eltern, Oma Elsa und Opa Ervin, die lange vor meiner Geburt verstorben waren, oder Oma Ludmila und Opa Mojmír, an deren Grab Mama und ich jedes Mal kleine braune Grablichter anzündeten, obwohl wir dafür bis ans Ende des Friedhofs gehen mussten.
Während meine Freundinnen an Sonntagnachmittagen bei schönem Wetter mit den Familien in den Park oder durch die Stadt spazieren gingen, steckte Mama Dagmara, Ota und mich in Sonntagskleider und schickte uns vor die Tür der Uhrmacherei, die früher uns gehörte. Zu dieser Zeit durfte Papa hier aber nur noch für miese Bezahlung arbeiten und Mama hatte die Erlaubnis, umsonst in dem dunklen Lädchen im Erdgeschoss den ausgetretenen Fußboden zu wischen.
Jeden Sonntag nach dem Mittagessen wusch Mama das Geschirr ab, setzte sich das schwarze Hütchen auf, setzte Otík in den Kinderwagen, oder nahm ihn, als er schon größer war, bei der Hand und führte uns in Richtung Friedhof. Der Weg schien mir endlos. Wir mussten an der Kirche vorbei zum Fluss, über die Brücke, durch die ganze Unterstadt, die aus einem mir unbekannten Grunde Krásno – Schönheit – hieß, uns am langen Schloss-park entlangschleppen, bis hinter die letzten Häuschen, durch das Friedhofstor treten und warten, bis Mama die Grabsteine abgefegt, die Blumen ordentlich in Vasen gestellt und Kerzen angezündet hatte. Während der Arbeit sprach sie mit den Toten und erzählte ihnen, was es in Meziříčí Neues gab, wer geboren worden war, wer gestorben, was man sich in der Stadt so erzählte, wie es den Nachbarn ging und was wir Kinder wieder angestellt hatten.
Ich traute mich nie, etwas zu sagen, seufzte nur schwer, damit Mama verstünde, wie sehr mir das Warten zuwider war, aber auch so sagte sie jedes Mal vorwurfsvoll zu mir: »Mach nicht so ein Gesicht, wären sie nicht gewesen, gäbe es dich nicht.«
Als auf den Grabsteinen neue Namen hinzukamen und der von Mama dabei war, dachte ich daran, wie sie jeden Sonntag an den Gräbern gestanden und mit ihren Nächsten gesprochen hatte. Es tröstete mich, dass sie jetzt mit denen zusammen war, die sie so sehr vermisst hatte.
Mein Name ist nur deshalb nicht unter den in Gold ausgeführten Inschriften auf den Grabsteinen, weil es sich manchmal lohnt, ungehorsam und frech zu sein. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, lesen Sie nicht weiter. Und geben zur Sicherheit dieses Buch nie Ihren Kindern in die Hand.
Der Winter dieses Jahres, als ich neun Jahre alt war und sich mein ganzes Leben komplett änderte, war herrlich weiß und frostig, aber im Februar schien er gar kein Ende mehr nehmen zu wollen. Erst in den letzten Februartagen wurde es wärmer, der Schnee begann zu tauen und das Eis zu brechen.
Der Fluss, der Meziříčí und Krásno teilte, zog sich stellenweise nur träge dahin, statt in Richtung der größeren Flüsse zu eilen, und weil der Schnee in den nahen Bergen nur langsam taute und der Fluss davon bis jetzt nur geringfügig schneller geworden und angestiegen war, schien er uns wie geschaffen dafür, ein Stück auf den losen Eisschollen zu schwimmen.
In diesem Februar des Jahres 1954, als das Böse schon in der Tiefe unter der Stadt lauerte, liefen wir jeden Tag nach der Schule geradewegs zum Fluss und warteten ungeduldig, ob das Eis schon nachgab und brach, und ob das Wasser so stark floss, dass wir auf die Schollen springen, ein paar Meter mitgleiten und das Abenteuer genießen könnten, das die Zwillinge Eda und Mirek Zedníček aus der Sechsten in den Pausen beschrieben. Die hatten vor ein paar Jahren schon einen strengen Winter erlebt und die Schollenfahrt selbst ausprobiert.
Nach ein paar Tagen riss das Eis endlich, die Mitte des Flusses wurde frei und die Schollen wanderten langsam stromabwärts. Unsere Zeit war gekommen, lang ersehnt und sorgfältig geplant.
Ich stand in der Küchentür, in der einen Hand die rote Bommelmütze, in der anderen die Handschuhe.
»Was fällt euch da bloß ein?«, wunderte sich Mama, als ich sie fragte, ob ich mit Jarmila rodeln gehen dürfe. In der Küche war es gemütlich warm und es roch gut, weil Mama Kuchen für ihre Geburtstagsfeier buk. »Der Schnee taut, der ist feucht, du wirst durch und durch nass werden.«
Ich streckte mich nach einem Stück Kuchen vom Blech, zuckte aber gleich zurück, weil es noch heiß war. »Ja eben. Was, wenn das die letzte Möglichkeit ist, ein bisschen zu rodeln?«
Mama sah mich misstrauisch an. »Mira, lass dir nicht einfallen, zum Fluss zu gehen.«
Daraus, dass Mama ahnte, was Jarmilka Stejskalová, die Zedníček-Jungen und ich planten, und mir streng verbot, zum Fluss zu gehen, schloss ich, dass auch sie zu Zeiten, in denen sie noch nicht erwachsen und übertrieben vorsichtig war, selbst Eisschollenfahrten unternommen hatte. Aber Dinge, die ich nicht tun durfte, um mich nicht zu verletzen, gab es so viele!
Ich durfte nicht auf den Dachboden gehen, um nicht über irgendwelchen Kram zu stolpern oder aus dem Fenster zu fallen. Ich durfte nicht in den Keller gehen, um nicht auf den Stufen abzurutschen. Ich durfte nicht hinaus in die Loggia, weil ich wegen ihrer baufälligen Konstruktion auf den gepflasterten Hof stürzen könnte. Kein Wunder, dass der Mensch das »Du darfst nicht« nicht ernst nimmt, wenn er das in jedem Satz hört.
»Natürlich nicht. Jarmilka und ich gehen nur auf den Hügel hinter Zedníčeks Garten«, sagte ich und stopfte mir ein heißes Stück Kuchen in die Tasche.
Mama war sehr schön, und wenn sie mich umarmte, wärmte sie wie ein Ofen und duftete wunderbar nach Vanillezucker. Aber in diesem Augenblick sahen mich ihre großen braunen Augen, die mir immer so traurig erschienen, dass ich mich fürchtete hineinzuschauen, so misstrauisch an, als könnten sie meine geheimsten Gedanken lesen.
Jarmilka wartet schon«, sagte ich, knöpfte den Mantel zu, schnürte die warmen Knöchelschuhe und zog mir die Mütze bis in die Stirn.
Mama gab mir noch ein Kuchenstück. »Hier, für Jarmilka.«
Ich lief hinaus, packte Jarmilkas Schlitten am Seil und ging los in Richtung Marktplatz. Im Rücken brannte mir Mamas Blick.
»Auf Wiedersehen, Frau Karásková«, rief Jarmilka, »und danke schön.« Sie warf ihren langen blonden Zopf herum, um den ich sie ganz unfreundschaftlich beneidete, weil alle Jungen aus der Klasse sie bewundernd daran zogen, lächelte Mama unschuldig an und biss in den Kuchen.
Am Ende der Straße bogen wir nach links ab.
»Wo gehst du hin?«, fragte Jarmilka und zog am Seil, um mich zu stoppen. »Wir wollen doch nicht um die ganze Stadt herumlaufen.«
»Ich möchte nicht, dass Mama sieht, dass ich zum Fluss gehe.«
»Sie kann doch nicht um die Ecke gucken.«
Ich sah mich auf der Straße um. Im ersten Stock eines Hauses mit abgeblätterter Farbe bewegte sich die Gardine. Vielleicht schien es mir nur so, aber vielleicht hielt die alte Beneška am Fenster Wacht, um alles mitzubekommen, was sich um den Platz herum tat. Ich ging schneller. »Man kann nie wissen. Wenn wir jemanden treffen, gibt es Ärger.«
»Und zum Abendbrot bekommst du Erbsen«, lachte Jarmilka und trippelte ergeben hinter mir her.
Erbsen konnte ich wirklich nicht ausstehen und Mama wusste das, also bekam ich sie zum Mittag oder zum Abendbrot, wenn ich Widerworte gab oder etwas getan hatte, was ich nach Meinung der Eltern nicht hätte tun sollen. Ich saß mit den anderen am Tisch, schaute zu, wie sie sich ihre Kartoffelpuffer mit selbstgemachter Marmelade oder etwas anderes Gutes schmecken ließen, und aß von dem grünen Püree. Im Stillen zog ich ein Gesicht, laut sagte ich: »Immer noch besser, als wenn Papa seinen Gürtel abschnallt.« Was ich manchmal, öfter als meine beiden kleineren Geschwister, nicht vermeiden konnte. Und heute würde es für den Gürtel reichen. Daran hatte ich keinen Zweifel.
Die braunen Schuhe waren durchnass, noch bevor wir am Fluss angekommen waren, und meine Finger froren trotz der Handschuhe. Die Zedníček-Jungen warteten schon am Ufer unterhalb der weiß geputzten Kapelle mit dem Holzschindeldach auf uns. Sie liefen in dem matschigen Schnee herum und versuchten mit langen Stangen die Schollen abzustoßen, die am Ufer aufgeschwemmt waren. Sowie sich eine Scholle löste, erfasste die Strömung sie und trieb sie erst langsam, dann immer schneller zum fünfzig Meter entfernten niedrigen Wehr, wo die Scholle in dem angehäuften gesplitterten Eis steckenblieb.
In diesem Moment verließ mich der Mut, und Jarmilka wohl auch, denn sie setzte sich auf den Schlitten und sagte: »Ich schau nur zu.«
»Feigling«, sagte Eda Zedníček verächtlich, und ich begriff, dass ich zwar nicht an Schönheit, so doch mit Mut Jarmilka übertreffen könnte. Die Jungen ziehen sie vielleicht am Zopf, aber auf mich werden sie noch nach Jahren zeigen und dabei den jüngeren Mitschülern erzählen: »Das ist die, die auf der Eisscholle den Fluss langgefahren ist.«
Ich schaute zu, wie Eda geschickt ein weiteres Eisstück ablöste, so groß wie der gewebte Läufer vor Mamas und Papas Bett, direkt in die Mitte trat, sich mit der Stange vom Grund abstieß und langsam mit der Strömung in Richtung Wehr glitt. Wir liefen am Ufer entlang, während Eda breitbeinig auf der Scholle stehend sein provisorisches Wasserfahrzeug mit einem Knüppel in ruhigen Wassern hielt, in den Boden stakte und in sicherer Entfernung vom Ufer zum Wehr steuerte. Mit dem Knüppel schwächte er den Aufprall ab und lief über das angehäufte Eis zum Ufer zurück.
Einfach, dachte ich mir. Bis auf das Klettern von Scholle zu Scholle.
Auf dem Rückweg zum Schlitten bekam ich eine Reihe wohlgemeinter Ratschläge, die mir wieder den Schneid abkauften. »Vor allem musst du dich in die Mitte der Scholle stellen, damit du nicht ins Wasser rutschst. Und halt dich ans Ufer, da ist es flach. In der Mitte ist die Strömung, die könnte dich wegreißen, das könnte nicht mal ich schaffen. Und mit der Stange musst du dich von der Seite aus abstoßen, nicht nach vorne stechen, da würdest du drüberfallen.«
Die Beine zitterten mir jetzt nicht mehr nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Eda und Mirek halfen mir, eine Scholle zu lösen. »Spring rauf!«, rief Eda und ich sprang, nur war das Eis in der Zwischenzeit ein Stück weitergeschwommen, den Strom hinab, sodass ich auf dem Rand aufkam, das Eis hochhüpfte, und ich ausrutschte.
Im Flug warf ich die Arme hoch und ich fühlte, wie ich auf dem Wasser aufkam und hineinsank und das Wasser mir zuerst gar nicht kalt vorkam. Aber dann packte es mich wie eine riesige Zange, floss mir in die Ohren, die Augen, die Nase, drückte mich hinunter und irgendwohin in die Dunkelheit. Bevor ich einen Schreck bekommen konnte, schnappte mich eine Hand am Mantelaufschlag und hob mich aus dem Wasser.
»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht auf den Rand treten!«, rief Eda, drehte sich dann zu Mirek um und fügte voller Verachtung hinzu: »Das war deine blöde Idee, die Mädchen hierher mitzuschleppen. Jetzt haben wir den Schlamassel.«
Jarmilka stand am Ufer und jammerte. Schnell schälte ich mich aus dem schweren Mantel, der sich mit Wasser vollgesogen hatte, und fing an ihn auszuwringen. So konnte ich nicht nach Hause, aber mir war schrecklich kalt. Mir fiel ein, wir könnten ein Feuer machen und ich könnte daran meine Sachen ein bisschen trocknen und mich wärmen, und ich wollte die Jungen um Streichhölzer bitte, aber meine Zähne klapperten so, dass ich nicht sprechen konnte.
»Heul hier nicht rum, leih ihr deinen Mantel und bring sie nach Hause!«, schrie Eda Jarmilka an. Lustlos knöpfte sie den Wintermantel auf und warf ihn mir über die Schultern. Das half nicht sehr. Vielmehr zitterten wir jetzt beide.
»Wenn ihr jemandem petzt, dass wir zusammen hier waren, verklopp ich euch, obwohl ihr Mädchen seid«, fuhr Eda fort. »Und jetzt ab nach Hause mit euch«, er nickte Mirek zu und beide liefen los, den Abhang hinauf.
Ich warf den nassen Mantel auf den Schlitten und wir machten uns auf kürzestem Wege auf nach Hause. Die Kälte biss sich in meine Haut und trieb mich zu größerer Eile an. Zwei Straßen vor unserem Haus gab ich Jarmilka den feucht gewordenen Mantel zurück, die zog ihn mit sichtlicher Freude wieder an, schenkte mir einen mitleidsvollen Blick und überließ mich meinem Schicksal. Ich hoffte immer noch, dass ich es mit ein bisschen Glück die Treppe hoch schaffte, ohne bemerkt zu werden, schaffte, an der Küche vorbeizuschleichen, in die zweite Etage hochzulaufen, wo ich mit meinen Geschwistern schlief, und mir heimlich etwas Trockenes anzuziehen.
Vorher hatte ich nie bemerkt, dass die schwere Eingangstür geschmiert werden musste, die Treppe knarrte, und wenn kein Licht war, das ich natürlich nicht anmachen konnte, die nächste Treppenstufe nicht zu sehen war.
»Ist das Licht kaputt?«, erklang von oben eine Stimme, dann flackerte die Glühbirne auf und ich blieb mitten auf der Treppe stehen. Als ich mich umschaute, wurde mir klar, dass ich sowieso nicht unentdeckt geblieben wäre. Ich hatte auf jeder Treppenstufe eine kleine Pfütze hinterlassen.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Mama, schnappte mich, zog mich die Treppe hinauf, und fing dort an, mir die nassen Sachen herunterzureißen. »Was hast du denn jetzt wieder angestellt? Ich habe doch gesagt, dass du nicht an den Fluss darfst.«
Mit einer Hand zog sie mir die nasse Strumpfhose herunter, mit der anderen schlug sie auf meinen eiskalten Po ein. Das überraschte mich. Das war das erste Mal, dass ich von Mama etwas abbekam. Die Schläge taten nicht weh, waren aber fürchterlich erniedrigend.
»Nein!«, schrie ich. »Das ist nicht wahr! Ich war nicht am Fluss. Ich war mit Jarmilka rodeln. Der Schnee ist nur noch Matsch. Deswegen bin ich auch ganz nass.«
Vor Scham und Kälte und diesem ganzen Schreck fing ich an zu heulen. In der Küchentür erschienen meine Geschwister, aber als sie die Prügel sahen, zogen sie sich lieber wieder zurück. Unten ging die Eingangstür auf, weil Papa unser Geschrei bis in die Uhrmacherei gehört hatte und nun angelaufen kam, um zu sehen, was los war.
»Du verflixte Lügnerin«, Mama war böse. Sie rubbelte mich mit dem Handtuch ab, dass die Haut schmerzte, und steckte mich ins Bett. »Mach schnell einen Tee«, rief sie Papa zu und warf mir das dicke Federbett über. »Willst du eine Lungenentzündung bekommen und sterben?«
Was war das für eine Frage? Warum sollte ich sterben wollen? »Ich war nicht am Fluss, ich bin in eine Pfütze gefallen. Ich kann wirklich nichts dafür«, schluchzte ich.
Mama stellte die Teetasse auf den Nachttisch, setzte mir eine Strickmütze auf den Kopf, steckte eine Wärmflasche zu den Füßen und schloss die Tür hinter sich. Ich kuschelte mich in das Federbett, versuchte die Wärmflasche zwischen die Fußsohlen zu pressen und weinte leise vor mich hin. Mir war kalt und es tat mir leid, dass Mama und Papa mit mir böse waren. Vielleicht hätte ich nicht lügen sollen, vielleicht hätte ich sagen sollen, dass mich jemand ins Wasser gestoßen hat, vielleicht …
Nach einer Weile floss angenehme Wärme durch meinen Körper und ich hörte im Halbschlaf, wie immer mal wieder die Tür aufging, ich fühlte eine Hand auf meiner Stirn und dachte, dass Mama vielleicht doch nicht ganz so böse war und ich dem Riemen vielleicht doch entgehe und sich alles durch Erbsenpüree zum Abendbrot einrenkt.
Papa hatte die seltsame Fähigkeit, völlig geräuschlos zu gehen, sodass es manchmal schien, als sei er nicht durch die Tür gekommen, sondern wie ein Geist durch die Wände und Fußböden. Die Tage verbrachte er im Erdgeschoss in der Uhrmacherwerkstatt, über seinen Arbeitstisch gebeugt reparierte er Uhrwerke. Vom unablässigen Sitzen hatte er einen krummen Rücken und ging leicht nach vorn gebeugt. Seine Haare waren dicht, aber fast grau, sodass er eher wie Mamas Vater statt Ehemann aussah.
Als ich klein war, so klein, dass ich noch nicht zur Schule ging und mein Bruder Otík sich unter Mamas Rock versteckte, ging mir die Frage im Kopf herum, wie meine schöne Mama so einen alten Mann heiraten konnte, also fragte ich.
»Sie musste mich nehmen«, sagte Papa, »schließlich sind meine Haare ihretwegen grau geworden.«
»Das stimmt«, sagte Mama und klopfte ihm auf die krumme Schulter. »Aber du bist froh darüber, stimmt’s? Wer würde dir sonst literweise Tee hinunter in die Werkstatt tragen? Weißt du, wie viele Stufen das sind?«
Achtzehn. Die enge Treppe hatte achtzehn Stufen, und seitdem der Laden nicht mehr unserer war, sondern staatlich, und die Maurer den Durchgang zwischen Treppenhaus und Laden zugemauert hatten, musste Mama mit jedem Becher Tee hinauslaufen auf die Straße und durch den Haupteingang hineingehen, was im Winter und im Regen besonders unangenehm war.
Im Laden zwischen den Uhren verbrachte Papa viel Zeit nicht nur an Arbeitstagen, wenn das Geschäft geöffnet war, sondern auch sonntags. Nach oben in unsere Wohnung im ersten Stock kam er nur zum Essen und Schlafen. Beim Mittagessen und beim Abendbrot erzählte er Mama von den Uhrwerken, die er gerade reparierte, und Mama hörte ihm zu, als ob er die wundersamsten Abenteuer berichtete. Mit uns Kindern redete er nicht viel, und wenn Mama weg musste und er auf uns aufpassen sollte, brachte ihn das ganz durcheinander. Sicher lag es nicht daran, dass er uns nicht gern gehabt hätte. Eher konnte er nicht mit Kindern umgehen und wartete, dass wir größer würden und seinen Erzählungen über die Uhrwerke mit dem gleichen Enthusiasmus lauschten wie Mama.
An dem Sonntag, als meine Welt sich in die falsche Richtung zu drehen begann, war Papa ganz mürrisch, trotzdem bemühte er sich, das nicht zu zeigen. Zuerst dachte ich, er sei böse wegen meines Eisbades, aber diesmal war ich daran unschuldig. Mama feierte ihren dreißigsten Geburtstag und Papa war nicht er selbst, weil die Feier seinen gewohnten Tagesablauf störte. Er konnte nicht in seine Werkstatt gehen, und in Ordnung bringen, was in Ordnung zu bringen ging. Er musste sich im Wohnzimmer an den festlich gedeckten Tisch setzen, mit seiner Frau, seinen drei Kindern und seiner Schwägerin Hana, zu der er die Beziehung einfach nicht in Ordnung bringen konnte, selbst wenn er gewollt hätte.
Der Grund war einfach – die Schwägerin war der personifizierte Vorwurf. Jedes Wort von ihr, jede Bewegung, jeder Blick zeigten ihm, wie sehr sie ihn verabscheute. Mit ihr an einem Tisch Zeit zu verbringen, war für Papa genauso eine Qual wie für mich.
Ich hatte Angst vor Tante Hana. Sie saß auf dem Stuhl wie ein schwarzer Nachtfalter und starrte nur. Nie zog sie etwas Farbiges an. Über dem schwarzen langärmligen Kleid trug sie winters wie sommers einen schwarzen Pullover mit Taschen, an den Beinen schwarze Strümpfe und knöchelhohe Schnürstiefel. Nie sah ich sie ohne Tuch, was ich eigentlich verstand, denn unter dem Tuch schauten weiße Haare hervor, auch wenn sie noch gar nicht alt sein konnte.
»Warum zieht sie nicht manchmal den Pullover aus?«, fragte ich Mama.
»Du hast gesehen, wie dünn sie ist«, sagte Mama. »Dünne Menschen frieren sehr leicht.«
»Wenn sie essen würde, wie es sich gehört, wäre sie nicht so dünn. Sie isst nur ein bisschen von dem Brot, das sie in ihren Taschen rumträgt, warum isst sie nichts Ordentliches?« Oder dürfen Erwachsene vielleicht überall krümeln, wo sie gehen und stehen, und Kinder nicht?
»Immer nur warum warum. Was geht dich das an? Sagt Tante Hana dir vielleicht, was du tun und lassen sollst?«
Und das war die reine Wahrheit. Tante Hana war die einzige Erwachsene, von der ich nie »Du darfst nicht« hörte. Eigentlich hörte ich auch nichts anderes von ihr, denn Tante Hana sprach fast nie, sie starrte nur. So seltsam. Als ob sie schauen würde, ohne zu sehen. Als ob sie weggegangen wäre und ihren Körper auf dem Stuhl vergessen hätte. Manchmal hatte ich Angst, dass sie zu Boden rutscht und nur noch ein Haufen schwarzer Sachen von ihr übrigbleibt.
Das hätte ich mir denken können, dass Mama Tante Hana verteidigt. Tante Hana war ihre ältere Schwester und eigentlich die einzige Verwandte, die wir hatten. Mama hatte sie schrecklich gern, was mich ziemlich verwunderte, denn Tante Hana zeigte nie, dass ihr an irgendjemandem von uns etwas liegen würde. Einmal sah ich, wie die Tante zu uns kam und Mama sie umarmen wollte, aber die Tante zuckte zurück, als ob sie sich an ihr verbrannt hätte. Mama lächelte sie immer an, sprach beruhigend mit ihr, wie mit einem kleinen Mädchen, und wenn die Tante darum gebeten hätte, hätte Mama ihr wohl auch das Blaue vom Himmel geholt. Aber die Tante bat weder sie noch sonst jemanden je um irgendwas. Sie saß einfach nur im Wohnzimmer, starrte vor sich ins Leere und gab manchmal eine kurze Antwort von sich, mit einer Stimme, die ganz und gar wie Mamas klang.
Wir setzten uns zum festlichen Mittagessen an den Tisch und ich erwartete so halb, dass auf meinem Teller anstelle des Lendenbratens das Erbsenpüree landete. Ich hatte zwar während der vormittäglichen Expeditionen in die Küche nicht entdecken können, dass die Mama Erbsen für mich kochte, aber aus ihrem reservierten Benehmen schloss ich, dass die Angelegenheit mit dem gestrigen Bad noch nicht ganz abgeschlossen war.
Ich bekam das gleiche Essen wie die anderen. Hatte Mama mich etwa aus Anlass ihres dreißigsten Geburtstags begnadigt?
Ich begann schon zu hoffen, aber dann kam die Zeit für das Dessert. Großartige, wundervolle Spritzkringel mit Eiercreme und glänzendem Zuckerguss, zu diesem besonderen und außergewöhnlichen Ereignis direkt in der Konditorei am Platz gekauft.
Mama nahm sie mit einer kleinen silbernen Zange vom Tablett und legte sie einen nach dem anderen auf die Goldrandtellerchen, die sie nur zu feierlichen Anlässen aus dem Schränkchen nahm. Den ersten stellte sie der Tante hin, dann je einen vor Papa, Dagmarka und Ota. Dann sah sie sich um und sagte: »So, und jetzt noch einer für mich.«
»Und was ist mit mir?«, fragte ich etwas voreilig, weil ich wusste, wie die Antwort lauten würde.
»Du hast kein Törtchen verdient. Du bist zum Fluss gegangen, obwohl du wusstest, dass es dir verboten war, und dann hast du mich auch noch angelogen.«
Ich begann zu flennen. Alle sahen mich an. Die Geschwister mitfühlend, die Tante verständnislos. Und Papa nickte nur mit dem Kopf und sagte: »Heul nicht, oder ich nehme den Gürtel. Auch so bist du billig davongekommen.«
»Na dann guten Appetit«, sagte ich, stieß den Stuhl zurück, dass er fast umkippte, und floh aus dem Zimmer.
»Und frech ist sie auch noch«, hörte ich Papas Stimme. »Ich hätte sie verhauen sollen.«
»Aber ich habe doch Geburtstag«, besänftigte ihn Mama, und was dann kam, hörte ich nicht mehr, weil ich die Holztreppe in den zweiten Stock ins Kinderzimmer hinaufgelaufen war. Dort warf ich mich aufs Bett und heulte laut vor Wut.
So laut, dass ich das Böse nicht hörte, das unter der Stadt auf die Welt gekommen und an diesem Tag in unser Haus gedrungen war. Mit verweinten Augen sah ich nicht, wie es seine gierigen Finger nach uns ausstreckte, Hoffnungen erstickte und Tod säte. Ich ahnte nicht, dass es ungesehen und ungehört unten am Tisch lauerte und sich seine Opfer aussuchte.
Februar 1954
Gleich am nächsten Morgen schaute ich heimlich in die Speisekammer, ob nicht wenigstens ein gefüllter Spritzkuchen für mich übriggeblieben war, fand aber nicht mal ein Krümelchen. Eine Weile überlegte ich, bockig zu sein, aber dann sagte ich mir, dass ich mir auch die von Papa versprochenen Schläge ertrotzen könnte, und beschloss, den Eltern großzügig zu verzeihen und zu tun, als wäre überhaupt nichts geschehen. Vom obersten Regal nahm ich mir wenigstens ein paar harte Pfefferkuchen, aus denen Brösel gemacht wurden, die Mama über Pflaumenknödel, Brei oder Nudeln gab. Sie versteckte sie hinter den Kompottgläsern und dachte, ich wüsste das nicht. Dann fand ich die Tüte mit den Erbsen und stopfte sie vorsorglich ganz nach hinten.
Am Freitag stand Dagmarka nicht aus dem Bett auf. Ich trieb sie an, puffte sie, zog an ihrer Bettdecke, aber alles umsonst. Als sie sich an den Kopf griff und leise zu weinen anfing, begriff auch ich, dass sie wohl krank war und nicht zur Schule ging. Ich lief die Treppe hinunter in die Küche und teilte Mama mit, dass es Dagmarka schlecht ging und mein Kopf auch zu schmerzen begann.
Mama fasste mir an die Stirn. »Iss und ab in die Schule«, sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf den Platz am Küchentisch neben Papa. Verdrossen setzte ich mich und probierte zu husten, aber Papa sah mich drohend an und so ließ ich das lieber.
Um eins kam ich ordentlich ausgehungert aus der Schule heim, denn ich hatte in dem morgendlichen Durcheinander meine Schulbrote vergessen. Keiner beachtete mich, denn Dagmarka hatte hohes Fieber und erkannte niemanden. Sie schrie immerzu etwas von Glöckchen über der Tür und Mama machte ihr mit Hilfe des alten Herrn Doktor Janotka Umschläge.
»Das wird Ziegenpeter sein«, sagte der Doktor. »Stellen Sie sich darauf ein, dass diese zwei das auch bekommen.« Er zeigte auf Otík und mich. Ehrlich gesagt, als ich sah, wie schlecht es Dagmarka ging, wäre ich lieber in die Schule gegangen.
Der Herr Doktor hatte recht. Otík wurde am nächsten Tag auch krank und es ging ihm vielleicht noch schlechter als Dagmarka. Dann kam der Doktor jeden Tag zu uns und sah sehr beunruhigt aus, weil das Fieber nicht nachließ, und obwohl die beiden ständig Kopfschmerzen hatten und vor Schwäche nicht aus dem Bett hochkamen, bekamen sie die bei Ziegenpeter typischen Beulen hinter den Ohren nicht. Der Doktor versuchte ihnen den Kopf zum Brustkorb zu beugen, ob sie nicht Hirnhautentzündung hätten, Mama weinte vor Angst und Erschöpfung, Papa versuchte so gut es ging zu helfen, stand aber in der Küche eher im Weg herum, und ich wartete noch, wann ich auch krank werde.
Schließlich erkrankte nicht ich, sondern Mama und Papa, aber da wussten wir schon, dass wir nicht die Einzigen waren, die diese seltsame Krankheit ereilt hatte, denn in der Stadt wurden es immer mehr Kranke. Es war klar, dass es sich um etwas Ansteckendes handelte und man die Kranken von den Gesunden trennen musste, und weil es in Meziříčí kein Krankenhaus gab, brachten sie meine ganze Familie in die Infektionsabteilung in der Kreisstadt.
»Lauf zu Tante Hana«, sagte Mama zu mir. Ihre Wangen brannten, sie sprach schwerfällig und ihre Zunge war ungewöhnlich braun. »Vergiss nicht abzuschließen. Und nicht, dass du wieder was anstellst.« Sie streichelte meine Wange und ließ sich in den Krankenwagen bringen. Ihr Kopf war gebeugt und der Blick so gleichgültig, wie ich es oft bei Tante Hana sah. Sie setzte sich neben Papa und legte ihm den Kopf auf die Schulter. Er öffnete die Augen, fragte: »Hast du die Uhren aufgezogen?« Und schloss die Augen wieder. Mama antwortete nicht, auch ihre Lider klappten zu.
Ein Mann im weißen Kittel schlug die Krankenwagentür zu und ich blieb allein auf dem Bürgersteig vor der Uhrmacherei zurück. Niemand war da, der mir verboten hätte, auf den Dachboden zu gehen, in den Keller oder auch an den Fluss. Niemand, der mich lieb gehabt hätte.
Ich ging die Treppe hoch, setzte mich auf das Sofa in der leeren Küche, die auf einmal schrecklich groß war, und hörte dem lauten Ticken der Uhr zu. Zu Tante Hana zu gehen, hatte ich überhaupt keine Lust, aber was blieb mir übrig. Entschlossen holte ich Luft und auf einmal schien es mir, als hörte ich aus dem oberen Stockwerk ein schlurfendes Geräusch. Ich erstarrte, drückte mich ganz in die Sofaecke und zog mir ein Kissen auf den Schoß. Nein, das war mir nur so vorgekommen. Mir wurde klar, dass ich noch nie ganz allein im Haus gewesen war. Ich griff nach der Tasche, die mir noch Mama geholfen hatte zu packen, und hörte wieder dieses Geräusch. Als ob jemand auf dem Dachboden herumginge. Ich schoss aus der Küche, riss unten vor der Tür nur den Mantel vom Haken, nahm die Schuhe in die Hand und lief los. Erst auf dem Platz fiel mir ein, dass ich nicht abgeschlossen hatte.
Tante Hana wohnte in dem Haus, in dem Oma Else und Opa Ervin sie und meine Mama zur Welt gebracht hatten. Vier große Fenster zeigten auf den Platz und ich beneidete Tante Hana, dass sie auf dem breiten Fensterbrett sitzen und das menschliche Gewimmel unter sich beobachten konnte. Unser Haus war zwar zweigeschossig, aber wenn ich weiter als bis in das enge Sträßchen sehen wollte, müsste ich bis auf den Dachboden klettern, von wo aus man die ganze Stadt überblicken konnte. Aber da durfte ich natürlich nicht hin. Gleichzeitig war mir völlig klar, dass Tante Hana nie aus dem Fenster schaute, da sie keine Menschen mochte und sich überhaupt nicht für sie interessierte.
Stufe für Stufe stieg ich die Treppe zu Tante Hanas Wohnung hinauf und versuchte mir vorzustellen, wie sie es aufnimmt, wenn ich ihr sage, dass ich ein paar Tage bei ihr blieben soll. Freuen wird sie sich nicht, da war ich mir sicher. Sie war so an ihre Einsamkeit gewöhnt, dass sie zu sprechen vergaß. Sie ging nur für dringende Einkäufe oder die seltenen Besuche bei meiner Mama aus dem Haus. Eigentlich war ich nicht einmal sicher, ob sie wusste, wie ich heiße. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich je angeredet hätte. Bestimmt nicht – sie hatte noch nie mit mir gesprochen.
Ich klingelte an der Wohnungstür, aber nichts war zu hören. Ich klingelte noch einmal, diesmal ordentlich. Drinnen war es noch immer still. Ich drückte mein Ohr an die Tür. Das müsste schon großes Pech sein, wenn die Tante gerade nicht zu Hause wäre. Ich drückte die Klinke, es war nicht abgeschlossen.
»Tante?«, rief ich in die halboffene Tür, aber es war nichts zu hören. »Tante. Ich bin das, Mira. Mama hat mich zu dir geschickt.« Ich überlegte, dass sie am Tisch sitzen könnte, wieder mit diesem seltsamen Ausdruck in den Augen, und nichts mitbekam. Ich ging also in den Flur, schaute in die Küche und schließlich ins Schlafzimmer.
Und dort fand ich sie. Sie lag angekleidet auf dem Bett, so, wie sie immer zu uns kam, auch das schwarze Kopftuch hatte sie umgebunden, obwohl es jetzt von ihren weißen Haaren auf die Schultern gerutscht war. Sie lag auf dem Rücken, seltsam durchgebogen, als ob ein schmerzhafter Krampf sie gepackt hätte, das Kinn war zurückgebeugt, die Augen offen und aus ihrem halboffenen Mund drang ein seltsames Röcheln.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich ging zwei Schritte vor. »Tante?« Aber da sah ich schon, dass sie dieselbe Gesichtsfarbe wie Dagmarka hatte. Ihre Augen waren trübe und sie zitterte – noch mehr als ich, als ich ins eiskalte Wasser gefallen war.
»Mama!«, schrie sie auf einmal. »Mama, ich … ich wusste, dass ihr zurückkommt.« Sie warf heftig den Kopf von einer Seite zur anderen. »Sie sind nicht hier, nicht hier.« Tränen flossen ihr aus den Augen. So viele Tränen hatte ich nicht einmal bei Otík gesehen, und der konnte wütend sein.
Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckte, die heftigen Fieberzuckungen, die schmerzhaften Krämpfe, die Schreie oder die Tränen. Ich lief durch die Wohnung, die Treppe hinunter und packte draußen den ersten Menschen, der mir begegnete, und hängte mich verzweifelt an seinen Ärmel. »Was soll ich machen? Was soll ich machen? Der Tante geht es furchtbar schlecht.« Und damit meine Bitte noch ernster klang, fügte ich hinzu: »Sie ist ohnmachtslos.«
Der Mann in dem langen Mantel stieß mich unsanft weg und trat ein Stück zurück. Zu der Zeit war schon klar, dass sich in der Stadt eine Seuche ausbreitete. In sicherer Entfernung blieb er stehen und fragte: »Wo ist sie?«
»Hier oben. Sie ist ganz allein da und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Komm mit«, sagte er und ging in die geöffnete Tür der Bäckerei. »Und fass nichts an.«
Drin war es warm und die Luft duftete nach Brot. Dieses Brot kaufte sich hier Tante Hana immer, schnitt dünne Scheibchen davon ab und trug sie in ihren Taschen herum.
Der Mann im langen Mantel beachtete die ärgerlichen Blicke der Käuferinnen in der Schlange nicht, ging geradewegs nach vorn und fragte die Verkäuferin: »Haben Sie hier ein Telefon?«
»Dienstlich«, entgegnete die Frau scharf. »Sie sind hier doch nicht auf der Post.«
»Rufen Sie den Rettungswagen«, sagte mein Helfer. »Die Kleine sagt Ihnen Namen und Adresse.«
Die Verkäuferin wollte etwas sagen, aber der Mann brüllte sie an: »Oder wollen Sie sich die Kranke zuerst selbst anschauen gehen?«
Die Leute in der Schlange gingen auf sicheren Abstand. Ich weiß nicht, ob sie sich mehr vor der Ansteckung oder vor dem verärgerten Mann fürchteten. Ich dachte, dass es vor allem großes Glück war, dass ich gerade seinen Ärmel gepackt hatte. Sicher rät er mir auch, wohin ich gehen soll, wo ich doch jetzt ganz allein war. Auf einmal fühlte ich mich sicherer.
Zwei Frauen verließen ihren Platz in der Schlange, gingen im Bogen um uns herum und eilten fort. Ich diktierte Tantes Namen und die Verkäuferin ging nach hinten ins Büro, um zu telefonieren. Mich schickten sie zum Warten vor Tantes Haus.
Der Rettungswagen kam schnell. Die vordere Tür ging auf und ein dicker Doktor krabbelte heraus. Er schaute zur Treppe, seufzte ergeben, ging schwankenden Schrittes zum Haus, blieb wieder stehen, atmete tief ein und verschwand leise fluchend im Haus. Die Tante wurde auf einer Trage herausgebracht. Ich wusste, dass sie noch lebte, denn das Betttuch, das sie ihr übergeworfen hatten, bebte. Die Trage luden sie ins Auto, der dicke Doktor kletterte schnaufend hinein, schlug die Tür hinter sich zu, der Rettungswagen heulte ein paar Mal leer auf und setzte sich holpernd in Bewegung.
Ich sah dem weißen Auto hinterher und wartete, dass der Mann in dem langen Mantel wieder auftauchte, damit ich ihn noch einmal um Rat bitten konnte. Aber er zeigte sich nicht mehr.
Gut zehn Minuten trampelte ich auf dem Bürgersteig von einem Fuß auf den anderen und langsam wurde mir ordentlich kalt. Ich begriff, dass mir niemand helfen würde, dass ich selbst jemanden finden musste, der sich meiner annimmt.
Die erste, die mir einfiel, war meine goldhaarige Freundin Jarmilka Stejskalová. Ihre genauso hellhaarige Mama war immer sehr nett zu mir. Bestimmt konnte ich ein paar Tage bei ihnen bleiben.
Wieder stand ich vor einer fremden Tür und griff hilfesuchend nach der Klinke. Diesmal wurde die Tür nach dem ersten Klingeln geöffnet, aber nur zu einem Spalt.
»Hallo Mira, Jarmilka kommt heute nicht raus.«
»Ich will nicht zu Jarmilka. Mama und Papa sind ins Krankenhaus gekommen und ich bin allein zurückgeblieben. Könnte ich nicht bei Ihnen bleiben, bis sie zurückkommen?«
Der Spalt in der Tür wurde noch enger. »Jetzt passt das gerade nicht. Wir sind alle irgendwie erkältet. Du könntest das auch bekommen.«
»Wohin soll ich gehen?«, fragte ich, aber die Tür war schon geschlossen.
Ich sah mich auf der Straße um. In den Fenstern gingen langsam die Lichter an und hinter Gardinen und Vorhängen tauchte manchmal eine Gestalt auf, aber weit und breit gab es niemanden, den ich kannte. Ich machte mich langsam nach Hause auf, aber bei der Erinnerung an die Geräusche vom Dachboden, die sich wie Schritte anhörten, wurde ich immer langsamer. Ich kam am Schaufenster der Uhrmacherei vorbei, finster wegen der fortgeschrittenen Stunde, hielt vor der Eingangstür an und wartete, ob etwas passierte. Es passierte gar nichts, nur auf der Straße war immer weniger zu sehen und ich spürte jetzt neben der Kälte auch noch Angst vor der Nacht.
Ich schließe wenigstens ab, sagte ich mir. Und dann bleibt mir nichts übrig, als bei den Nachbarn zu klopfen und um Rat zu fragen. Ich gehe von Haus zu Haus, irgendjemand wird mir bestimmt helfen.
Ich hatte einen Plan und das machte mir Mut. Ich war mir sicher, dass ich nicht hineingehen musste, denn wir ließen den Schlüssel gewöhnlich im Schloss stecken. Es müsste reichen, auf die andere Seite der Tür zu greifen, ihn schnell herauszuziehen, die Tür wieder zuzuschlagen und abzuschließen. Ich tastete die Türinnenseite ab, nur war der Schlüssel nicht da. Wie konnte das sein? Ich war überzeugt, dass ich ihn da gesehen hatte. Er musste also an der Garderobe ein paar Schritte von der Tür hängen.
Ich schaute in den dunklen Gang. Ich hatte Angst, Licht zu machen, um nicht die Aufmerksamkeit des Eindringlings zu wecken, dessen Anwesenheit ich nur ahnte. Von der dämmrigen Straße hinter mir drang schwaches Licht herein und mein Schatten war auf einmal so lang, dass er bis zum schmalen Treppenhaus reichte und mit jedem meiner Schritte die Treppe hochkletterte. Die Garderobe war im Dunkeln kaum zu sehen. Hätte ich nicht gewusst, dass da Papas Wintermantel hing, hätte ich gedacht, dass sich eine schwarze Gestalt an die Wand presst. Was, wenn da wirklich jemand ist?
Ich blieb stehen und versuchte, in der Dunkelheit den Schlüssel auszumachen. Auf einmal hörte ich Schritte, sie kamen näher und näher und zu meinem Schatten auf der Treppe gesellte sich ein weiterer. Ich versuchte gar nicht zu erkennen, woher er kam, ich drehte mich um und wollte aus der Tür laufen. Die Schritte kamen aber nicht von oben, wie ich dachte. Sie kamen von einer Gestalt, die mir den Weg nach draußen versperrte. Ich versuchte, an ihr vorbeizuhuschen, aber sie packte mich an der Schulter. »Mira! Hast du mir einen Schreck eingejagt.«
März 1954
Einmal fragte ich Mama, warum sie keine richtige Freundin habe. Sie wunderte sich, wie ich überhaupt darauf kommen konnte, und sagte dann, die Freundschaft von Erwachsenen sei ganz anders.
»Erwachsene Freundinnen gehen nicht jeden Nachmittag raus, wie du das mit Jarmilka machst«, erklärte sie mir. »Sie warten nicht aufeinander, wenn sie zur Arbeit gehen, und teilen nicht ihr zweites Frühstück. Sie sehen sich nicht jeden Tag, manchmal treffen sie sich sogar wochenlang nicht, aber sie wissen voneinander, und wenn es nötig ist, helfen sie sich.«
Und Ivana Horáčková war wohl so eine »richtige« Freundin, weil sie gleich kam, als sie erfuhr, dass meine Familie ins Krankenhaus gebracht wurde, um sich zu überzeugen, ob bei mir alles in Ordnung war.
Unsere Haustür stand weit offen und Ivana Horáčková erspähte im dunklen Flur eine Bewegung. Als ich aus dem Dunkel auf sie zustürzte, erschrak sie zuerst ordentlich, fasste sich aber schnell, machte Licht und half mir, die Schlüssel von unserem Haus zu finden, das wie durch Zauberhand wieder unser sicheres und gemütliches Heim war. Dann nahm sie meine Tasche und brachte mich, zittrig wie ich noch war, zu sich nach Hause.
Sie war eine »richtige« Freundin, weil sie, obwohl ihr Mann Jarda schimpfte und wollte, dass sie mich irgendeinem Ausschuss überbrachte, mir auf einem alten, eisernen Bettgestell in der ehemaligen Kammer für das Dienstmädchen ein Bett machte. Ich war so müde, dass ich nur etwas warme Milch trank und unter das Federbett kroch. Aber noch bevor ich einschlief, hörte ich Herrn Horáček sagen: »Warum hast du sie hierher gebracht? Willst du, dass wir alle sterben?«
Die Antwort verstand ich nicht, aber mir schien das wirklich sehr komisch, dass so ein großer Mann vor einem kleinen Mädchen Angst hatte.
Am nächsten Tag sagte mir Frau Ivana, dass ich sie Tante nennen sollte, obwohl sie gar nicht meine Tante war, und erklärte mir, in der Stadt sei eine Typhusepidemie ausgebrochen, und weil meine Familie erkrankt war, sei es gut möglich, dass ich auch so einen Bazillus in mir hätte und also zu einer Kontrolle gehen müsste und die Horáčeks auch, weil sie Kontakt mit mir hatten.
Herr Horáček war wohl immer noch böse auf mich. Er bot mir nicht an, ihn Onkel zu nennen, und zu Tante Ivana sagte er empört, dass er ihretwegen niemandem seinen nackten Hintern hinstrecken würde. Diese Bemerkung verstand ich erst im Arztsprechzimmer, als die Schwester uns Proben nahm, die sie dann, meinte sie, irgendwohin zur Kontrolle schickte.
Tante Ivana war sehr nett zu mir. Sie versprach, ich könne bei ihnen bleiben, bis die Eltern aus dem Krankenhaus zurück seien. Die Horáčeks hatten jetzt viel Platz, weil sie beim ersten Verdacht, in der Stadt wüte eine Epidemie, ihre beiden Kinder zu den Verwandten bis irgendwo bei Kroměříž gebracht hatten.
Daran hatten sie gut getan, denn Meziříčí wurde zur geschlossenen Stadt. Zwei Flüsse gleichen Namens, die sonst die Häuser wie zwei freundliche Arme umfassten, hielten die Stadt jetzt in festem Griff. Sie waren Grenze geworden, die niemand überschreiten sollte, damit die Seuche sich nicht in die umliegenden Gemeinden ausbreitete.
Aushänge und der örtliche Rundfunk forderten die Einwohner auf, nicht zu reisen, aber die Menschen waren verstört und wenn sie konnten, flüchteten sie zu Verwandten und Bekannten. Die weigerten sich aber bald, sie aufzunehmen, denn die Flüchtenden bedrohten sie und trugen den Typhus weiter über den Bezirk hinaus.
Alle Familien, in denen jemand erkrankt war, unterlagen strenger Quarantäne. Ich durfte nicht in die Schule und die Horáčeks nicht auf die Arbeit. Wir waren aufgefordert, unseren Aufenthalt an Orten, wo wir andere anstecken konnten, einzuschränken, und in Restaurants durften wir gar nicht. Dieser Regel widersetzte sich Herr Horáček, der abends gern auf ein frisch Gezapftes ging, genauso wie der ärztlichen Kontrolle.
Männer und Frauen in weißen Kitteln gingen von Haus zu Haus, untersuchten die Wasserversorgung und fahndeten nach der Ursache der unerwarteten Katastrophe. Die Stadt hatte keine Wasserleitung und deshalb holten die Bewohner das Wasser aus den Brunnen in ihren Höfen und Kellern. Und in einem der Brunnen, die sich die Menschen schon vor langer Zeit gegraben hatten und wo sie seit hundert Jahren Wasser holten, kam der Tod auf die Welt.
Vielleicht waren Verunreinigungen aus dem Abwasser hineingelangt oder eine tote Ratte verweste darin – man fand es nicht heraus. Sicher war aber, dass sich todbringende Bakterien im Wasser zu vermehren begannen. Und aus eben diesem Brunnen schöpfte die örtliche Konditorei ihr Wasser. Alle Kolatschen, Cremerollen, Baisers, Schnittchen und Kipferl trugen den tödlichen Keim in sich.
Und auch in den Spritzkringeln mit der Eiercreme und dem glänzenden Zuckerguss, die sich meine Familie bei Mamas Geburtstagsfeier schmecken ließ, verbargen sie sich.
Ich saß allein in der fremden Küche. Sie roch ganz anders als Mamas Küche. Der Fußboden war kühl an den Füßen, weil er ganz aus großen braunen Fliesen war. Am weißen Tisch standen vier Holzstühle mit geraden Lehnen und an die Wand gegenüber dem Fenster lehnte sich ein durchgesessenes Sofa mit einem runden Häkelkissen. Die große, cremefarben gestrichene Anrichte war mit wunderschönen Schnitzereien verziert und die Fächer waren aus Milchglas.
Ich rutschte vom Stuhl, schob mir einen Hocker an die Spüle, tauchte die Hände in das nach Essig riechende Wasser und spülte die Teller vom Mittagessen ab. Ich bemühte mich, leise zu arbeiten, und spitzte die Ohren, um so viel wie möglich von dem Gespräch zu hören, das Tante Ivana mit ihrem Mann im Nebenzimmer führte. Mir war klar, dass sie von etwas Wichtigem sprachen, etwas, was ich nicht hören sollte, obwohl es auch mich anging. Warum sonst sollte Tante Ivana die angefangene Arbeit unterbrechen, das Wasser kalt werden lassen, das sie lange in dem großen Topf erhitzt hatte, bis es siedete, und dann unter großer Anstrengung vorsichtig in das Spülbecken gegossen hatte?
Ich scheuerte den letzten Topf aus, stellte ihn zu dem restlichen Geschirr auf die Platte des Abwaschtisches und schlich mich zur Tür. Ich legte das Ohr aufs Holz, aber ich hörte trotzdem nichts. Dann öffnete sich die Tür und ich bekam einen Schlag mitten ins Gesicht.
»Mira! Was machst du hier?«
»Was soll sie machen. Spionieren.« Herr Horáček hatte sich mit meiner Gegenwart immer noch nicht ausgesöhnt.
»Ich habe das Geschirr abgewaschen«, meldete ich und rieb mir das verletzte Gesicht. Mir war zum Heulen, aber ich wusste, dass ich mir diesen Schmerz selbst zuzuschreiben hatte. Ich griff nach dem Geschirrtuch. »Und jetzt trockne ich es ab.«
Herr Horáček murmelte nur etwas, nahm die Zeitung vom Küchentisch und kehrte ins Zimmer zurück. Tante Ivana sagte nichts, streichelte nur über meine Schulter.
»Ich habe nicht spioniert«, sagte ich und begann abzutrocknen. Zu Hause riss ich mich nicht so ums Helfen, aber ich wusste aus Erfahrung, dass die Erwachsenen bei gemeinsamer Arbeit mitteilsamer sind. »Ich wüsste nur sehr gern etwas über die Familie und Tante Hana. Vielleicht wann sie aus dem Krankenhaus entlassen werden.«
Die Tante zuckte die Achseln. »So schnell wird das nichts.«
Das war seltsam. »Das können Sie nicht wissen, ich war nie länger als eine Woche krank.« Und da habe ich zum Schluss ein bisschen übertrieben, um noch nicht in die Schule zu müssen.
»Typhus ist kein Schnupfen. Aber du musst dir keine Sorgen machen, gestern Nachmittag haben sie gemeldet, dass der Zustand eurer Familie zufriedenstellend ist.«
Das war neu. »Wo haben sie das gemeldet?«
Tante Ivana wurde unsicher. »Auf dem Marktplatz.« Als sie meinen verständnislosen Blick sah, fuhr sie zögernd fort. »Es gibt viele Kranke, aber in die Krankenhäuser darf man nicht, also meldet der Stadtfunk beim Nationalausschuss, wie es wem geht.«
»Jeden Tag?«
»Ja.«
»Auch heute Nachmittag?«
»Bestimmt. Onkel Jarek geht wieder hin und erzählt uns dann alles.«
Also das war das Geheimnis, über das sie hinter verschlossener Tür geflüstert haben. Warum machten sie so ein Gewese darum? Hatten sie Angst, dass ich auch hingehen wollte?
»Darf ich mir heute die Durchsage anhören gehen?«
»Das ist nichts für Kinder. Und es ist kalt dort, du wirst dich noch erkälten.«
Tante Ivana sagte das so entschlossen, dass ich weitere Überredungsversuche von vornherein aufgab und mir sagte, dass ich mir etwas anderes ausdenken musste, wenn ich auf den Platz und mehr über meine Familie erfahren wollte.
In diesem Jahr lag anstelle des Frühlingsdufts der Gestank von Desinfektionsmittel in der Luft. Die Häuser schmiegten sich aneinander, als wollten sie sich in dieser Trostlosigkeit beistehen, die auch die Gestalten umgab, die durch die Straßen der Stadt gingen. Zwietracht und Nachbarschaftsstreitigkeiten, die noch vor ein paar Wochen so wichtig waren, wurden beiseitegeschoben und die Gespräche drehten sich nur um die Ohnmacht, die Angst und die Krankheit.
Desinfektionstrupps gingen durch die Stadt, blieben bei jedem Haus stehen, in dem jemand erkrankt war, und hinterließen auseinandergeworfene Betten ohne Bettzeug, einen starken Geruch, der Übelkeit hervorrief, und ein Zeichen, das mit weißer Kreide an die Eingangstür geschrieben wurde.
Auch unser Haus musste diese schmachvolle Prozedur über sich ergehen lassen und ich sollte Zeuge sein, weil ich die Einzige aus dem Haus war, die nicht in der Infektionsabteilung eingeschlossen war. Ich kam mit Tante Ivana zur verabredeten Zeit in unsere Straße, schloss die Tür zum dunklen Gang auf und ließ zwei Männer in weißen Kitteln und mit Mund- und Nasenschutz ein. Lange, unendlich lange – oder so kam es mir wenigstens vor – standen wir unten im Gang und warteten, bis sie mit ihrer Arbeit fertig waren.
»Fertig?«, fragte Tante Ivana, als sie die Treppe heruntergelaufen kamen.
»Noch die Uhrmacherei«, antwortete einer der Männer. »Hier sollen irgendwo die Schlüssel sein.«
Ich zeigte auf die Garderobe neben der Eingangstür, und als sie aufschlossen und hineingingen, schaute ich hinter ihnen hinein. Alles war auf seinem Platz und doch war etwas seltsam am Laden.
Die Stille. Das war die fremde, unheilverkündende Stille, die mich überraschte. Ich hörte nicht das Ticken der Uhrwerke. Die Pendel hingen unbeweglich herunter und die Zeiger zeigten auf den Zifferblättern die Uhrzeit, zu der sie stehengeblieben waren. Niemand war im Haus, der die zig Uhren, vielleicht sogar hundert Uhren aufzog, niemand war da, der sie brauchte. Es war, als seien sie gestorben.
Die Männer waren fertig und gaben Tante Ivana ein Papier zum Unterschreiben, das bezeugte, dass sie ihre Arbeit gründlich und ohne Komplikationen erledigt hatten, wovon schließlich auch der fürchterliche Gestank zeugte, den sie hinterließen.
Wir schlossen wieder ab, gingen durch unsere schmale Gasse und bogen auf den Platz ein. In den Straßen waren mehr Menschen als gewöhnlich und alle gingen in eine Richtung.