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Fiona White

Excelsior

Erster Fall für Hauptkommissar Arnold





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorgeschichte

Düsseldorf, Samstag 18. Februar 2017
 
Ein knirschender Laut drang in sein Bewusstsein, ein Laut, der sich auf schwer zu bestimmende Weise gefährlich und feindselig anhörte.

Er blinzelte. Dunkelheit umgab ihn. Durch einen schmalen Spalt in den Samtvorhängen sickerte das graue Licht der nächtlichen Straßenbeleuchtung, aber es reichte kaum aus, um die Hand vor Augen zu sehen.

Er tastete nach dem Lichtschalter, konnte ihn nicht finden. Geisterhafte Schatten. Die Vorhänge bewegten sich. Ein kalter Luftzug streifte sein Gesicht. Jetzt konnte er flüsternde Stimmen hören.

Einbrecher, schoss es ihm durch den Kopf.

Gab es eine Alarmanlage in seiner Suite? Er wusste es nicht, hatte sich nie damit beschäftigt. Keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er war allein und vollkommen nackt. Zu spät, um Hilfe zu holen.

Sein Krummdolch, ein handgeschmiedeter Kandschar, ohne den er niemals verreiste, lag unter dem Kopfkissen. Er griff unter das Kissen, zog die zweischneidige Klinge aus der Schwertscheide und schwang die Beine aus dem Bett. Auf Zehenspitzen schlich er die wenigen Meter zum Schreibtisch, presste sich in den Schutz eines Schranks. Gerade noch rechtzeitig.

Sie kamen durch das Fenster und sprangen mit katzenhafter Geschmeidigkeit in sein sündhaft teures Domizil. Schwarz gekleidete Gestalten, die Gesichter hinter Skimasken verborgen, mit Schlitzen für Augen und Mund. Und sie fühlten sich vollkommen sicher. Die Lichtkegel ihrer Stabtaschenlampen zuckten über den halb geöffneten Baldachin, der sich über seinem Schlafgemach wölbte, weiter über die Bettdecke, unter der er soeben noch gelegen hatte und fixierten den Zimmersafe mit altmodischem Zahlenschloss über der Minibar.

Hastig verbarg er die Klinge hinter seinem Rücken, damit sich auf dem Metall kein verirrter Lichtstrahl brach, der ihn verriet. Sie wollten ihn berauben? Dann hatten sie sich den Falschen ausgesucht. Er würde sie gebührend empfangen, mit hartem Stahl in den Rücken. Die Gelegenheit dazu kam schneller, als er zu hoffen wagte.
Ein Maskierter, schlank und hochgewachsen, näherte sich seinem Versteck und blieb nur eine Handbreit neben ihm stehen. Als der Strolch weitergehen wollte, stieß er mit dem Kandschar zu.

Im letzten Moment bemerkte der Strolch die Bewegung, fuhr herum und lenkte die Stichwaffe von seinem Hals ab. Es reichte nicht ganz – die gesägte Klinge streifte die Schulter des Eindringlings, der mit einem schmerzhaften Aufschrei zurückprallte.
Wutschnaubend packte er den Räuber, griff Halt suchend nach dessen Ohren unter der Skimaske und versuchte ihm mit den Daumen die Augäpfel einzudrücken.

Instinktiv riss der Einbrecher die Arme hoch und wehrte den Fingergriff ab. Im flackernden Licht einer LED-Quelle blitzten für den Bruchteil einer Sekunde eisblaue Augen auf, die sich tief in sein Gedächtnis eingruben. Die Attacke sollte sich jedoch als Fehler erweisen.

Ein weiterer Halunke sprang von der Seite herbei und rammte ihm fluchend sein Knie in die Magengrube, ein anderer schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er verlor die Balance und stürzte der Länge nach über einen Glastisch, der unter seinem Gewicht zerbrach. Mühsam kam er wieder auf die Beine und stach noch in der gleichen Bewegung wild um sich.

Völlig überrascht von der Gegenwehr duckten sich die Ganoven hinter umgekippten Sesseln und benutzten heruntergerissene Bilder und Kissen als Schutzschilder, wobei das Gestänge des Baldachins zusammenkrachte. Keuchend vor Anstrengung ließ er den Krummdolch fallen und versuchte stolpernd nach einer Stange zu packen, doch seine Hände griffen ins Leere.

Sie stürzten sich auf ihn und brachten ihn zu Fall. Schläge und Tritte prasselten auf ihn ein. Mit aller Kraft bäumte er sich auf, schrie und trat um sich, aber gegen die Übermacht seiner Peiniger hatte er keine Chance. Eine Stiefelspitze krachte in seine Rippen und drückte ihm die Luft aus den Lungen. Er lag auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten und rang nach Atem.

Jemand presste ein Knie in seinen Rücken. Seine Hände und Füße wurden zusammengezwungen und mit Klebeband umwickelt. Warmes Blut glitscht unter seinen nackten Körper, als sie ihn an den Haaren über den Teppich schleiften und an einen Metallpfosten des Bettgestells fesselten. Gemurmelte Flüche in einer Sprache, die ihm vertraut vorkam. Sie hatten geglaubt, niemand wäre in der Suite. Sie hatten sich geirrt.

Der Mann mit den Eisaugen, bei dem es sich offenbar um den Anführer der Gangster handelte, drückte ihm die kalte Mündung einer Pistole an die Schläfe, forderte den Zugangscode für den Safe.

Er wollte nicht sterben, nicht jetzt und hier, fern der Heimat. Er wollte ihm die Kombination verraten, doch in seiner Todesangst fiel ihm die Zahlenkombination nicht ein.

Eisauge verstärkte den Druck der Pistole und wiederholte seine Forderung.

Er brachte kein Wort hervor, presste die Lippen zusammen. Auf den Gedanken, falsche Zahlen zu nennen, kam er nicht. Es hätte auch nichts genutzt.

Ein scharrendes Geräusch. Eisauge zog den Pistolenlauf durch.

Er hielt den Atem an, sein Puls raste.

Klick. Doch die Explosion in seinem Schädel blieb aus.

Eisauge lachte, den Finger am Abzug.

KLICK. KLICK. KLICK.

Plötzlich ein dumpfer Schlag gegen die Schläfe – dann Schwärze.

Als er wieder zu sich kam, war die Räuberbande verschwunden, sein Rücken ein einziger Schmerz. Vergeblich versuchte er das Blut wegzublinzeln, das aus einer Wunde an der Stirn in seine Augen tropfte. Bei dem Versuch, sich von den Fesseln zu befreien, scheuerte er sich die Handgelenke auf. Ein Knebel verhinderte, dass er um Hilfe rufen konnte. Und so lag er da, ein Auge von Schlägen und Tritten fast zugeschwollen und starrte auf den leeren Safe. Entehrt und seiner Würde beraubt.             





 

1. Kapitel

Eine Straßenbahn rollte heran und kam an dem langen Bahnsteig zum Stehen. Dort wartete Oberkommissar Paul Mehring, bis die Hydrauliktüren zischend aufschwangen und ließ eine Gruppe von Schülern aussteigen, bevor er einem Herrn mit altersfleckiger Glatze in den hinteren Bereich der Bahn folgte.

Mit einer Flinkheit, die dem Alten Hohn sprach, schnappte er ihm den letzten Sitzplatz vor der Nase weg und zog aus seiner Jacke eine Tageszeitung hervor.

 

„Grippewelle rollt auf Düsseldorf zu“, titelte das Boulevardblatt.

„Artpraxen und Ambulanzen erwarten Ansturm von Grippekranken.“

 

Der Glatzkopf schlug umständlich die zweite Seite auf, und Mehring las kostenlos mit, eine Unart, wie er sehr wohl wusste.

 

„Was Sie jetzt über Grippe wissen sollten. Unsere Expertin vom Robert Koch Institut beantwortet die wichtigsten Fragen.“

Große Menschenansammlungen meiden ... häufig die Hände waschen ...“

 

Aha. Wohl dem, der nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren muss, dachte Mehring verdrießlich. Die Heizradiatoren unter den Sitzen verströmten eine warme stickige Luft, die sich mit der feuchten Kleidung und den Ausdünstungen zu vieler Menschen auf zu engem Raum mischte.
Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, öffnete seinen Mantel und lockerte seinen Wollschal. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Oberkiefer. Sein Eckzahn oben rechts machte seit Wochen Ärger. Der Besuch beim Zahnarzt war wie eine Folter im finstersten Mittelalter gewesen und hatte ihm gründlich den Samstagmorgen vermiest.

Neben ihm stand ein Typ mit langer Matte und nieste vehement in seine Richtung. Zu spät drehte Mehring den Kopf zur Seite. Speicheltröpfchen trafen seine Wange und sprühten auf die Zeitung. Sehr gesund.
Der Greis ließ das Boulevardblatt sinken, wandte ruckartig den Kopf und starrte die lange Matte über die dicken Gläser seines Kassenbrillengestells böse an. „Schon mal was davon gehört, die Hand vor den Mund zu halten?“
„T´schuldigung“, murmelte der Gescholtene.
„Haltestelle Jan-Wellem-Platz“, säuselte eine elektronische Frauenstimme in eintönigem Singsang. Endlich. Hier musste Mehring aussteigen. Bloß raus aus der mit Grippeviren verseuchten Bahn. Musste ja nicht sein, dass jeder die Grippe bekam, nur weil einige Zeitgenossen keine Rücksicht kannten.

Draußen fegte ihm ein eisiger Wind dicke Regentropfen ins Gesicht. Fluchend schob er seine Schiebermütze aus braunem Tweed tiefer in die Stirn und hievte seinen massigen Körper von über hundert Kilo über die schlüpfrigen Gleise zum nächsten Bürgersteig. Ärgerlich, dass sein Audi A3 ausgerechnet heute zur Inspektion in der Werkstatt stand, sonst wäre er ganz gewiss nicht mit der Bahn in die Stadt gefahren. Helene Fischers Atemlos-Klingelton schmetterte in seiner Manteltasche.

Er zog sein Handy hervor und wischte über das Display. Kollege Ralf Petzold. Ralf arbeitete mit ihm zusammen beim KK 11, dem Kriminalkommissariat für Todesermittlungen, Sitten- und Branddelikte. Außerdem war Ralf sein Freund. Sie trommelten zusammen in der Blaskapelle Hövelhof. „Was gibt’s, Ralf?“ Seine Frage wurde von Polizeisirenen verschluckt. Ralf sagte etwas, doch er konnte ihn nicht verstehen. „Warte mal einen Moment!“ Mehring öffnete die Tür eines nahen Schreibwarenladens und schlüpfte hinein. „So, jetzt ist es besser. Was hast du gesagt?“

„Morgen“, krächzte Ralf. „Wie war´s beim Zahnarzt?“

„Schrecklich.“ Mehring seufzte abgrundtief. „Entzündeter Eckzahn oben rechts. Doktor Hoger meinte, da würde nur noch eine Wurzelbehandlung helfen, wenn ich den Zahn behalten möchte. Betäubung bräuchte ich nicht, der Nerv sei schon lange tot. Aber das stimmte nicht. Ich habe Höllenqualen gelitten.“

„Tja, so ist das, wenn man Angst vorm Zahnarzt hat. Was ich sagen wollte ...“ Ralf unterbrach sich und hustete vernehmlich. „Du wirst die nächsten Tage leider ohne mich auskommen müssen.“

„Wieso?“

„Bin krank.“

„Ach, was hast du denn?“

„Na, was wohl? Die Grippe natürlich. Krankmeldung kommt per Post, nur, damit du schon mal Bescheid weißt.“ Ein weiterer Hustenanfall folgte, so trocken, als hätte Ralf Kreide gegessen.

„Dann fällt die Probe heute Abend in Hövelhof wohl flach für dich, hm?“

„So sieht´s aus. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten.“

Ausgerechnet jetzt, kurz vor Rosenmontag. Wie jedes Jahr hatte Mehring für den kilometerlangen Karnevalsumzug durch die Düsseldorfer Innenstadt Urlaub aus besonderem Grund eingereicht. Hochzeiten und Beerdigungen waren ein besonderer Grund, aber leider nicht die Blaskapelle Hövelhof, die beim Rosenmontagszug für Stimmung sorgte. Seinem Urlaubswunsch stand das polizeiliche Sicherheitskonzept für hunderttausende von Besuchern entgegen, wofür alle verfügbaren Kräfte gebraucht wurden. Das letzte Mal hatte er vor fünf Jahren freibekommen, aber noch wollte er die Hoffnung nicht aufgeben - vielleicht klappte es ja dieses Jahr.

„Bloß keine Panik“, erreichte ihn Ralfs arg lädierte Stimme vom anderen Ende der Leitung. „Bis Rosenmontag bin ich wieder fit.“

„Ja, dann ... gute Besserung.“

Mehring beendete das Gespräch und schaltete den Ton aus, bevor noch ein weiterer Kollege auf die Idee kam, ihn an seinem freien Wochenende anzurufen. Er verließ den Laden, beäugt vom finsteren Blick einer Verkäuferin, die es gar nicht schätzte, dass er in den Laden hinein- und wieder herausspazierte, ohne etwas gekauft zu haben.
Regen tropfte in seinen Nacken, kalt wie Eis. Er schlug den Mantelkragen hoch und marschierte über die Schadowstraße zur Königsallee, eine der führenden Luxuseinkaufsstraßen in Europa, die zahlungskräftige Kunden aus aller Welt anlockte.

Von hier aus waren es nur noch ein paar Schritte bis zur Galeria Kaufhof. Mit einer Rolltreppe gelangte er trockenen Fußes zur Lebensmittelabteilung im Untergeschoss, das in eine Unterführung führte.

TAATÜÜTAATAA. TAAATÜÜÜTAAATAAA.

Schon wieder Sirenen. Was war denn da los? Zusammen mit anderen Schaulustigen eilte Mehring die Stufen einer Treppe nach oben. Ein Streifenwagen mit Blaulicht raste an ihm vorbei und parkte hinter einem Krankenwagen ganz in der Nähe des Luxushotels Habakuk.

„Gehen sie wieder nach unten!“, rief Jasmin Krause, eine hübsche Streifenpolizistin in wind- und Regen abweisender Uniform den Neugierigen zu, die aus der Unterführung drängten. „Hier gibt´s nix zu sehen!“

Die Aufforderung ignorierend, stahl sich Mehring an Krause vorbei, den Blick auf das Hotel gerichtet, indem er den Grund des Übels für den Großeinsatz vermutete.
„He, Sie da! Sind Sie taub? Sie sollen zurückgehen!“ Er blieb stehen und wandte sich um.

„T ... tut mir leid, Herr Mehring“, stotterte Krause errötend. „Ich habe Sie nicht sofort erkannt.“ In der Kälte formte ihr Atem kleine Wölkchen, die vom regnerischen Wind sofort wieder fortgeblasen wurden. 

Mehring kannte Krause flüchtig. Sie arbeitete bei der Polizeiwache Bilk, die im Präsidium unweit des Eingangs untergebracht war. „Schon gut.“ Er wedelte ungeduldig mit der Hand. „Sagen Sie mir einfach, was hier vorgeht?“

„Juwelenraub im Habakuk. Ein Scheich wurde verletzt. Der Notarzt ist bei ihm.“

„Gibt es noch mehr Verletzte?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Tote.“

„Nein.“

Krause widmete sich wieder den Gaffern. „Zurück!“, rief sie mit antrainierter Strenge. „Haben sie nicht gehört? Sie sollen zurückgehen! Das Hotel ist weiträumig abgesperrt. Hier kommen sie nicht weiter.“

Unterdessen trugen zwei Sanitäter eine Bahre, auf dem ein regloser Mann lag, zum Rettungswagen der Feuerwehr. Die metallisch schimmernde Decke aus wasserdichtem Polyester schützte den Verletzten vor Unterkühlung und bildete einen scharfen Kontrast zu seinem schwarzen Kraushaar. Zunächst glaubte Mehring, der Mann sei bewusstlos, doch er rührte sich und legte stöhnend eine Hand über seine Augen. Vermutlich der Scheich. Im Weitergehen hörte Mehring, wie die Hecktüren des Krankenwagens zugeknallt wurden.
Streifenwagen mit blau kreisenden Lichtern blockierten alle Zufahrten zum Habakuk. Uniformierte und Sachverständige umlagerten das Hotel. Rufe überall. Funkgeräte rauschten und knisterten. Die Konzentration der Einsatzkräfte verhieß nichts Gutes. Hier ging es um mehr, als einen verletzten Scheich und gestohlene Juwelen.   

Ein Mann trat aus dem Haupteingang des Hotels und klappte das Visier seines Helms auf. In seinem 25 Kilo schweren Schutzanzug bewegte er sich schwerfällig wie Bib, das Michelinmännchen in seinen Reifen. Ihm folgten grimmig dreinschauende Männer der Hundestaffel mit Sprengstoffspürhunden.

„Bombenalarm“, raunte eine sonore Männerstimme neben Mehring. „Vor einer guten halben Stunde gab´s Entwarnung. Die Kollegen vom KDD brauchten Verstärkung und haben mich aus dem Bett geklingelt. Hab versucht, dich zu erreichen, aber du bist nicht dran gegangen.“

Mehring drehte sich um und blickte in das regennasse Gesicht seines Partners Peter Arnold, einen drahtigen Mann Anfang vierzig mit dichten Brauen, blitzenden Augen und kurz geschorenen Haaren, um die kahlen Stellen zu kaschieren. Wegen seiner antrainierten Sixpacks wurde er von Freunden und Kollegen „Arnie“ genannt.

„Schöner Schlamassel“, brummte Mehring. „Unser freies Wochenende können wir wohl abschreiben, was?“ Manche Ganoven hatten immer noch nicht mitbekommen, dass der Kriminaldauerdienst auch am Wochenende rund um die Uhr ermittelte. Bei schweren Straftaten, wozu ein bewaffneter Raubüberfall zweifellos gehörte, mussten die Fachkommissariate rauskommen. Im Stillen fragte er sich, warum Krause ihm den Bombenalarm verschwiegen hatte? Vielleicht hatte die eifrige Polizistin es nicht mitbekommen oder in der Hektik vergessen.

„Die verdammten Gauner haben uns in der Scheich-Suite einen tickenden Rucksack hinterlassen“, erboste sich Arnie. „Der Überfall passt zu der georgischen Bande, die in den letzten Wochen zwei Juwelierläden in der Innenstadt ausgeräumt hat. Die gleiche Masche, nur dass es kein tickender Rucksack war, sondern Bombenattrappen.“

„Was war in dem Rucksack?“, erkundigte Mehring, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte.

„Ein mechanischer Glockenwecker, auf alt getrimmt. Das blöde Ding hat uns zwei Stunden auf Trab gehalten. Während du beim Zahnarzt deine Beißleisten schön weit aufgesperrt hast, mussten wir alles, was Beine hat, aus dem Habakuk evakuieren. Mit den Hotelangestellten gab´s keine Probleme - die waren wie der geölte Blitz im Freien. Aber eine feine Dame ...“, Arnie spie die letzten beiden Worte wie einen schlechten Nachgeschmack aus, „mit Turbo-Titten und High Heels, dass mir beim Hinsehen schon ganz schwindelig wurde, hat vielleicht ein Theater veranstaltet. Wollte unbedingt noch ihre Reichtümer in Sicherheit bringen, als hätte sie alle Zeit der Welt. Rausscheuchen mussten wir sie, fast mit Gewalt.“ Er zeigte auf den hoteleigenen Parkplatz, gesäumt von mächtigen Eichen und Strauchwerk. „Da hat sie gestanden, die Ziege und geflucht wie ein Kesselflicker, weil ihre Füße nass wurden. Ich sage dir, diese Reichen sind eine Plage.“

„Fängst du schon wieder damit an?“

„Ist doch wahr.“

Arnies war ein Sozi, seine Einstellung zum Blutsaugerkapitalismus hinreichend bekannt. Sinnlos darüber mit ihm zu diskutieren. „Wo sind die Hotelgäste jetzt?“, fragte Mehring.

„In der Lobby. Sie müssen noch als Zeugen vernommen werden. Bin nur kurz raus, um eine zu qualmen.“ Arnie fischte aus seiner verschlissenen Lederjacke eine zerbeulte Packung West und versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, aber sein Plastikfeuerzeug, von dem bereits die rote Farbe abblätterte, funktionierte nicht. „Mist. Hast du mal Feuer, Paul?“

„Nein. Ich habe vor einem Jahr mit dem Laster aufgehört. Schon vergessen?“ Mehring drehte sein Gesicht aus dem Regen und spähte zu einem Team der Spurensicherung in weißen Plastikoveralls, die ein morastiges Dickicht durchstöberten und jeden Zweig umdrehten.

Eine karge Wiese trennte die Experten von den Schaulustigen, die wohlig schaudernd Anteil an menschlichen Tragödien und Sensationen vorheuchelten. Dicht gedrängt harrten sie hinter einem rot-weißen Flatterband unter ihren Regenschirmen aus, dazwischen einige Asiaten, die Fotos fürs Familienalbum schossen, Schüler, die vermutlich den Unterricht schwänzten und Mütter mit quengelnden Kleinkindern an den Händen. Selbst die Wildgänse im nahen Weiher reckten die langen Hälse und schnatterten empört, weil sie sich in ihrer Ruhe gestört fühlten.
Hinzu kamen Kameraleute einer lokalen Fernsehstation, und Journalisten der hiesigen Klatschblätter riefen Mehring lauthals Fragen zu, die er weder beantworten wollte, noch konnte. Sie kannten das Prozedere, wussten, sie würden sich bis zur Presseerklärung gedulden müssen. Da sie keine verlässlichen Informationen bekamen, widmeten sie sich den Gaffern und gaben ihnen das Gefühl wichtige Zeugen zu sein, obwohl die meisten vermutlich gar nichts wussten.

„Da fällt mir ein, ich habe doch heute Morgen ...“ Arnie durchwühlte seine Hosentaschen. „Ah, da ist es doch.“ Er zog ein Sturmfeuerzeug hervor, zündete den Glimmstängel an und nahm einen tiefen Zug auf Lunge. „Scheißwetter“, schimpfte er. „Bin noch keine fünf Minuten draußen und schon wieder klatschnass.“

„Kaffee?“ Ein Kollege hielt eine Thermoskanne in die Höhe.

„Hier!“, ächzte Arnie. „Am besten einen doppelten Espresso.“

Gute Idee, dachte Mehring, der ebenfalls reichlich durchnässt war. Aber erst wollte er sich den Tatort ansehen. „Wo finde ich die Suite des Scheichs?“, fragte er Arnie.

„Dritter Stock, Zimmer 307.“

Ein besonders nerviger Pressefritze hatte es geschafft, durch die Absperrung zu kommen, und stürmte auf sie zu.

„An deiner Stelle würde ich den Hintereingang nehmen.“ Arnie bleckte die Zähne, bereit, die Nervensäge zu empfangen. Ein Kollege reichte ihm einen Becher mit dampfendem Kaffee, den er dankend entgegennahm.     

Mehring verschwand durch die Hintertür und stieg die Treppe zum dritten Stock des Habakuk hoch. Den Namen verdankte das Hotel einer Skulptur von Max Ernst, die vor der Kunsthalle in der Altstadt stand. Nach einigem Suchen – zunächst folgte er einem Gang in die falsche Richtung und landete vor einer Wand mit geblümter Tapete im Landhausstil –, fand er die Scheich-Suite. Die Tür stand offen. Obwohl das Fünfsternehotel schon häufig den Besitzer gewechselt hatte, erfreute es sich bei Gästen aus Politik, Wirtschaft und Kultur großer Beliebtheit. Heute zeigte es sich jedoch von seiner dunklen Seite.

Die Suite bot ein Bild der Verwüstung. Alle Schubladen und Schränke waren durchwühlt, der Baldachin über dem Bett zusammengestürzt.
Auf dem Boden glitzerten die Scherben eines Spiegels, gekrönt von einem Ölgemälde mit aufgeschlitzter Leinwand. Überall flogen exotisch anmutende Kleidungsstücke in leuchtenden Farben herum und Paradekissen, aus denen Federn quollen. Zerrissene Vorhänge aus Samt und Seide zogen sich kreuz und quer durch den Raum und verdeckten teils das kostbare Teakholz-Mobiliar. Zweifellos hatte hier ein Kampf stattgefunden.

Experten der Spurensicherung bewegten sich vorsichtig zwischen Scherben und herumfliegenden Federn, steckten Haare und winzige Fasern in Asservatenbeutel und nahmen Blutproben vom Boden, dem Bett und der Wand dahinter. Ob es sich um Frauen und Männer handelte, wusste er nicht zu sagen, denn in ihren Schutzanzügen sahen sie alle gleich aus.     
Seine Augen hefteten sich auf Ines Wanke, eine schlanke Frau um die dreißig mit pflegeleichter Kurzhaarfrisur. Sie leitete das Team der Spurenermittler und war gerade dabei, eine Faser von einem Fußabdruck abzukratzen, der sich auf einem Teppich abzeichnete. Nun richtete sie sich auf, versenkte ihren Fund in einen transparenten Beweismittelbeutel und beschriftete ihn sorgfältig. Als sie fertig war, öffnete sie den Reißverschluss ihres Overalls, der ihre pastellblaue Bluse entblößte und eine Goldkette mit einem Glücksbringer in Form eines vierblättrigen Kleeblatts.

„Hallo, Paul“, grüßte sie. „Wo bist du gewesen? Ich habe dich schon vermisst.“

Heuchlerin. Mehring dachte an die Zeit zurück, als Ines ihn wirklich vermisst hatte, als sie es gar nicht erwarten konnte, bis er an ihren Ohrläppchen geknabbert und mit seinen Händen die Innenseite ihrer wohlgeformten Schenkel massiert hatte. Aber das war lange her. Liebe war nicht im Spiel gewesen, nur Sex und Begierde. Ines war nicht traurig gewesen, als seine Besuche ausgeblieben waren. Sie hatte sich durch das halbe Kommissariat gevögelt.

„Wie heißt der Scheich?“, fragte er sie.

„Kasun bin Achmed“, antwortete Ines wie aus der Pistole geschossen. „Steinreicher Geschäftsmann aus Kubai.“

„Konntest du mit ihm sprechen?“

„Ja, aber nur kurz. Der Bereitschaftsarzt hat ihm eine Beruhigungsspritze verpasst. Bin Achmed war gestern geschäftlich in Berlin. Er wollte erst heute nach Düsseldorf zurückkommen, dann änderte er seine Pläne und kam schon gestern Abend.“

„Offenbar verfügen die Halunken über Insiderwissen, sonst hätten sie nicht gewusst, dass er im Habakuk logiert.“

„Sieht ganz danach aus.“

„Was sagt die Videoüberwachung?“

„Nichts. Die Scheißkerle haben die Kabel gekappt. Danach hatten sie reichlich Zeit die Beute einzusacken und im Schutz der Dunkelheit zu verschwinden.“ Ines´ Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Aber sie rechneten nicht damit, den Scheich im Bett zu finden. Er hat sich gewehrt. Darum das viele Blut. Schade, dass er überwältigt wurde, sonst hätte er das Gaunerpack gleich bei der nächsten Polizeiwache abliefern können.“

„Wie viele waren es?“

„Drei, vielleicht auch mehr. Bin Achmed schlief bereits. Als sie durchs Fenster kletterten, wurde er wach. Im Dunkeln konnte er nicht viel erkennen.“

„Wann war das?“

„Nach Mitternacht, zwischen eins und zwei. Später haben sie den Zimmertresor aufgebrochen und seine Juwelen geraubt.“

„Konnte er die Täter beschreiben?“

„Sie waren maskiert und trugen Handschuhe.“

„Wie die Hälfte aller Räuber. Hört sich nach einer organisierten Bande aus Osteuropa an, die von den offenen Grenzen in der EU profitiert.“ Mehring rieb sich den buschigen Schnauzbart. „Habt ihr schon irgendwelche Werkzeuge oder Waffen gefunden?“

„Bis jetzt nur einen blutigen Krummdolch. Die Scheide, in der der Dolch steckte, ist mit Edelsteinen verziert. Sieht orientalisch aus. Könnte bin Achmed gehören.“

„Hat er die Kerle erwischt?“

„Gute Frage, das wüsste ich auch gern. Leider war er von dem Beruhigungsmittel schnell benebelt und ist weggedämmert. Vielleicht hat er sie erwischt, vielleicht auch nicht. Wir haben Blutspuren gefunden, die noch analysiert werden müssen.“

„Falls das Blut nicht von bin Achmed stammt, und wir die DNA in der Zentraldatei finden, schnappen wir die Halunken. Hat er sonst noch was gesagt, eine Besonderheit vielleicht?“

„Mann, Paul, du bist heute echt hartnäckig.“

„Denk nach! Wir müssen einen bewaffneten Raubüberfall aufklären.“

„Die Täter sollen englisch mit schottischem Akzent gesprochen haben.“

„Na, das macht die Sache doch interessant. Woher weiß bin Achmed das?“

Ines zuckte die Schultern. „Er wäre nicht der erste Scheich, der in Großbritannien studiert hat und mit der englischen Sprache und ihren Dialekten vertraut ist.“

„Das wäre möglich, ja.“

„Heiß hier.“ Sie nestelte an ihrem Schutzanzug herum. „Kann mal jemand die Heizung runterstellen?“

„Schon geschehen“, sagte Olaf, der diensthabende Fotograf vom Erkennungsdienst, ein kleiner Mann mit Nickelbrille, der mit seiner Digitalkamera Fotos vom Tatort schoss.

Mehrings Blick fiel auf einen schwarzen Rucksack, der als Beweismittel verpackt, neben der Tür stand. Das Teil musste schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, denn die roten Querstreifen waren kaum noch zu erkennen. „Hast du mal reingeschaut, Ines?“

„Noch nicht. Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger. Ich bin erst seit zwanzig Minuten hier. Die Kollegen von der Bombenentschärfung meinten, im Rucksack sei nur der Wecker mit die Bombenattrappe gewesen.“

„Wo ist das Ding jetzt?“

„Schon eingetütet. Muss hier irgendwo rumstehen.“

„In den meisten Rucksäcken gibt es Fächer, vielleicht haben die Kollegen etwas übersehen.“ Mehring streifte Einweghandschuhe über und untersuchte den Rucksack genauer.
Auf dem ersten Blick schien der Beutel tatsächlich leer zu sein, dann entdeckte er in einem Seitenfach ein Stück Papier von der Größe eines Tickets, wie man es im Theater oder Kino bekam. Es war in eine Falte eingeklemmt. Vorsichtig zog er seinen Fund heraus. Die blaue Farbe war verwaschen, die Schrift kaum noch erkennbar.

„Was steht da?“, fragte Ines neugierig.

„Weiß nicht. Kannst du das entziffern? Ich habe meine Lesebrille nicht dabei.“ Seine Augen waren nach fast vierzig Dienstjahren nicht mehr so gut.“

„Irgendwas mit der Endsilbe „d-e-e-n“ oder so ähnlich, mehr kann ich auch nicht erkennen. Entweder ist das Papier schon sehr alt oder in der Waschmaschine gelandet, vielleicht auch mehrmals.“

„Das könnte eine wichtige Spur sein.“ Er reichte Ines das Papier. „Die KTU soll sich darum kümmern.“

Für den Anfang hatte Mehring genug gesehen. Er nickte Ines zum Abschied kurz zu und fuhr mit einem Fahrstuhl in die Lobby. Ein schmerzhaftes Pochen erinnerte ihn an seine Zahnschmerzen. Er drückte aus einer Blisterfolie zwei Ibuprofen 400 und würgte sie trocken herunter.

Was für ein beschissenes Wochenende.