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MARC THÖRNER, geboren 1964. Lebt in Hamburg. Seit 1994 freier Journalist, überwiegend für ARD-Rundfunkanstalten. Berichtet aus dem Maghreb, den Golfstaaten, Irak, Pakistan und Afghanistan. Bei Edition Nautilus erschienen u.a. Ein sanfter Putsch (2014) und Afghanistan-Code (2010). 2009 erhielt Marc Thörner den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus.

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Edition Nautilus GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung:

Satz: Corinna Theis-Hammad

Porträt des Autors auf Seite 2: © privat

Gemälde Anton von Werner,

Porträt Alexis Carrel:

Alle anderen Fotos © Marc Thörner

1. Auflage

INHALT

Zusammendenken, was zusammengehört?

Mit den Taliban mitsiegen

Mit westlichen Schriftstellern die Gottlosen vertreiben

Erster Teil: Wo ist die Front?

Orientalissimus

»Der Islam ist mit unserem Wertesystem nicht vereinbar«

»Es gibt keine kräftige Spiritualität mehr«

Damaskus

Rauch

Im IS-Gericht

»Sie hatten zuviel Freiheit«

Die Revolution als Kolonialismus

Freunde und Feinde

»Es ist wie Bach zu hören«

»Ich rufe keinen heiligen Krieg aus«

Zweiter Teil: Die westlichen Quellen des Dschihad

Gaulands wahrgewordener Albtraum

Das Gespenst von Paris

Inspirator des Front National

Positive Eugenik

Der Mensch, das unbekannte Wesen

Sündenfall 1789

Ein Ritter in Paris

»Die Nennung Allahs«

Der Wikinger mit der Lupe

Der Partygast

Im Textlabor

Die dissidenten Zellen

Qutbs Erben

Die dissidenten Zellen breiten sich aus …

… und werden international

Dritter Teil: Das verlorene Heil

Cool Jazz und Koran

Abzweigung nach Teheran?

Mullahtisierung

Die Ayatollahs fordern einen Füller

Nihilismus

»Er sprach. Ich schrieb auf«

›Verwestgiftung‹

Seinsvergessenheit

Gast der Hisbollah

Das Ende der Gerechtigkeit

»Jeder kann Hussein sein«

Nur ein Gott kann uns retten

Vierter Teil: Die Allianz

»Die Hisbollah hilft der Menschheit«

Die Baath- Connection

Hallabdscha-Stil

Duma

Der Oppositionelle

Kreuz ohne Raum

»Aus nationalistischen Gründen wohl in den Tod gestürzt«

Kamikaze

Bürokratisch organisierte Massenmorde

Opfer Assad

Dschihadisten und Faschisten

Noch eine Generation von Attentätern

Anmerkungen

ZUSAMMENDENKEN, WAS ZUSAMMENGEHÖRT?

Mit den Taliban mitsiegen

Spätsommer 2021.

Die Taliban sind obenauf. »Bauern, kaum ausgebildete Naturburschen, holen sich ihr Land zurück, befreien es von den westlichen Neoliberalen. Ihre Staatsreligion haben sie schon zum geltenden Gesetz erhoben und Andersdenkende hingerichtet.« Während westliche Politiker und Militärs das als Niederlage aufarbeiten, kommt aus dem ultrarechten Lager solche unverhohlene Zustimmung.

Für manche derer, die am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington D.C. stürmten, verschaffen die Taliban Trump nachträglich doch noch den Triumph. Setzen sich in ihren improvisierten Kampfmonturen an den Schreibtisch dessen, der für sie nichts weiter als eine illegitime Marionette ist, und fläzen sich dort vor den Augen der Welt. Ein Sieg ohne Wenn und Aber. »Es fällt schwer, das nicht zu respektieren.«1

In den USA gilt Nick Fuentes als einer der prominentesten Streiter der White-Supremacy-Bewegung. Den Erfolg der Taliban begrüßt auch er.

Sein Telegram-Beitrag, den die New York Times zitiert, preist die afghanischen Bergkrieger als »eine konservative religiöse Kraft, die USA sind gottlos und liberal.«2

Und bis auf die Startseite des deutschen Netzanbieters GMX schafft es ein Beitrag mit einem Zitat eines österreichischen Vertreters der Neuen Rechten, der erklärt: »Der Sieg der Taliban in Afghanistan bedeutet eine krachende Niederlage für den Globalismus. Dragqueens, Homoparaden und Menschenrechtsideologien haben dort Sendepause. Wird Zeit, dass auch Europa sich aus seinem Zustand als amerikanischer Kolonie befreit.«3

Mit westlichen Schriftstellern die Gottlosen vertreiben

Greeley, Colorado 1948.

Die Mitglieder einer amerikanischen Kirchengemeinde in der Provinz treffen sich zum Tanztee. Lampions tauchen den Saal in buntes Licht. Aus einem Plattenspieler tönt ein Slowfox. Männliche und weibliche Körper schlingen sich im Engtanz umeinander. Es ist ein einziges Gewühle aus Füßen, Beinen, Lippen und entblößten Armen.

Einem ist nicht danach zumute, mitzumachen: Sayed Qutb, dem streng religiösen Schulbeamten aus Ägypten.

»Die gesamte Atmosphäre war auf Betörung angelegt«, schreibt er von seinem USA-Besuch nach Hause. »Und dem Pastor fiel nichts anderes ein, als dazu auch noch das Licht herunterzudimmen und die Platte ›Baby It’s Cold Outside‹ aufzulegen.«

In dieser für ihn schrecklichen Neuen Welt, in diesem Sodom und Gomorrha entdeckt der Reisende zum Glück auch eine Rettung: die Schriften eines Mannes, dem der Westen genauso abstoßend erscheint wie ihm, die des katholischen Mediziners und Nobelpreisträgers Alexis Carrel aus Lyon.

1962 wird Qutb ein Buch veröffentlichen mit dem Titel Der Islam und die Probleme der Zivilisation. Es ist mit Carrel-Zitaten geradezu gespickt.

Mit einem Koffer in der Hand trifft Ali Schariati im Mai 1959 in Paris ein. Der Sohn eines Religionsgelehrten aus dem persischen Meshhad hat es weit gebracht. Er wurde für die Führungselite des Schah von Persien ausgewählt und soll helfen, das Land der tausend Kuppeln und Moscheen zu einem westlichen umzuformen.

Aber die Gesellschaft, die er an der Seine studiert, schockiert ihn und stößt ihn ab. In Bibliotheken forscht er nach Erklärungen für die Dekadenz, den Materialismus, die ungebremste sexuelle Freiheit, all das, worin er den bevorstehenden Untergang des Westens ausmacht.

Auch Schariati stößt auf Alexis Carrel, der sich zu seinem geistigen Idol entwickelt.

1964 in den Iran zurückgekehrt, wird er zum unbarmherzigen Kritiker des Schah-Regimes und zu einem der Vordenker der Iranischen Revolution von 1978.

Wie viele muslimische Intellektuelle sucht Ali Schariatis Landsmann Dschalal Al-e-Ahmed in den 1960er Jahren nach neuen Ideen, Konzepten, um den Iran zu einem starken unabhängigen Land zu entwickeln. Sein Urteil steht bald fest: Der Kontakt zum Westen stärkt die Iraner nicht, sondern impft ihnen eine tödliche Krankheit ein.

Im Vorwort seines Buchs Verwestgiftung (1962) bekennt Al-e-Ahmed, wer ihm zu dieser Erkenntnis verholfen hat: Es ist der deutsche Frontkämpfer, Naturforscher, Essayist und Schriftsteller Ernst Jünger. Genauer, dessen Schrift Über die Linie, die 1950 erschienen war. Sein deutsch sprechender Freund Mahmud Human hatte ihn darauf aufmerksam gemacht.

Al-e-Ahmed kann zwar kein Deutsch, doch gemeinsam mit seinem Germanisten-Freund übersetzt er Jüngers Buch ins Farsi. Verwestgiftung wird zur Kampfschrift der Islamischen Revolution.

Drei Autoren der islamischen Welt also, die alle etwas gemeinsam haben: Sie entwickeln sich zu Vordenkern des Radikalislam: zu jenen Autoren, auf die sich heute Salafisten, Fundamentalisten und Dschihadisten der ganzen Welt berufen. Und noch etwas verbindet sie: Sie schöpfen ihre Kritik am Westen nicht aus der islamischen Tradition, sondern schreiben sie – manchmal wortwörtlich – bei westlichen Autoren ab. Und zwar bei jenen, die die Neue Rechte heute zu ihren Idolen und Wegbereitern zählt.

Rechtspopulisten und Dschihadisten scheinen einander zwar wie zwei gegensätzliche, zutiefst verfeindete Lager gegenüberzustehen, ja geradezu entgegengesetzte Prinzipien zu verkörpern. Und so will man es in beiden Lagern auch immer wieder glauben machen. Nur: Muss man ihnen das tatsächlich glauben?

Oder sollte man nicht eher zusammendenken, was zusammengehört?

ERSTER TEIL:

WO IST DIE FRONT?

Orientalissimus

»Die Araber wollen keine Freiheit wie die Europäer und könnten auch nichts damit anfangen. Was sie brauchen und sich wünschen, das ist Stärke. Schon in der Frühzeit der islamischen Geschichte erwiesen sich diejenigen Gouverneure als die erfolgreichsten, die – wie etwa im Irak – Aufrührer und Gegner konsequent abgeschlachtet haben. So war der Irak ein ruhiges Land und so funktionierte es bis zu Saddam Hussein.«

Seit einer halben Stunde sitze ich am Bistrotisch in Marrakesch, umbrummt von Motorrädern, umknallt von den Peitschen der Taxi-Kutscher, umdröhnt von arabischer Popmusik und umsessen von französischen Mittsechzigern in Hawaii-Hemden, und lausche einer Wiedergabe dessen, was der palästinensisch-US-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said als »Orientalismus« charakterisierte: den Homo Arabicus, von westlichen Kolonialisten als Karikatur entworfen, als der ganz Andere: irrational, despotisch veranlagt, durch Gewalt allein zu bändigen.

Nur spricht hier eben nicht ein Kolonialist des 19. oder 20. Jahrhunderts, sondern M.M., jemand aus der Region.

Der Deutschsyrer ist bestens vernetzt, in seiner alten wie in seiner neuen Heimat. Wenn er in Damaskus ankommt, betont er, wird er dort wie ein VIP behandelt. Dort wie hier gehört er zum Establishment, lobt ebenso Deutschland für seinen Rechtsstaat als auch Assad als ein Bollwerk gegen den islamistischen Terror, und bietet sich gern als ein Mittelsmann an (daher hier das Pseudonym M.M.).

Während er seine Thesen entfaltet, ohne Lücken zu lassen, denke ich darüber nach, mit welchem Begriff man das zusammenfassen könnte, diesen Orientalismus spiegelverkehrt vom Orient in Richtung Westen reflektiert: Orientalissimus? Re-Orientalismus? Rorientalismus … Desorientalismus?

Dass wir uns im Frühjahr 2018 hier, im Café Elite befinden, am äußersten Rand der französisch geprägten Ville Nouvelle und am Beginn der langen Straße, die geradewegs zum Platz der Gaukler und Gehenkten, Dschamma el Fna, führt, hat einen Grund. Marrakesch ist M.M.s Lieblingsstadt. Gelegen in dem Reich, das von »dieser verfluchten Arabellion« verschont blieb, weil hier die starke Hand des Mächtigen, des Königs von Marokko, herrscht. Auch ich bin oft hier, und so hat M.M. kurzerhand ein Treffen vorgeschlagen. Es geht darum, ein Pressevisum für Syrien und meine Reise dorthin einzufädeln.

Nachdem er seinen »Freund den Kellner« mit Handschlag und Schulterklopfen begrüßt und einen Minztee geordert hat, erklärt er mir die Araber. An seinem Exkurs führt im Augenblick kein Weg vorbei.

Seit Deutschland zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs seine diplomatischen Beziehungen zum Assad-Staat auf Eis gelegt hat, fungiert M.M. als dessen inoffizieller Ansprechpartner und kann auch Journalisten Visa für Syrien beschaffen. Ein Anruf im Büro von Präsident Assad, sagt er, und der Weg ist für mich offen. Was umso interessanter wird, seit das Regime dank russischem und iranischem Eingreifen die Landesgrenzen wieder kontrolliert und Schleichwege so gut wie ausgeschlossen sind.

Und Syrien ist die Front, an die ich will, an der die große Auseinandersetzung stattfindet: Zwischen dem religiösen Fanatismus und der Vernunft. Der entfesselten radikalislamischen Gewalt und dem ordnenden Prinzip der Zivilisation. Hier versucht ein säkular orientierter Machthaber, sich dem bisher unaufhaltsam scheinenden Ansturm entgegenzustemmen. So jedenfalls stellen es er und seine Verbündeten dar.

Doch stehen sich hier wirklich zwei einander entgegengesetzte Prinzipien gegenüber?

Islam gegen Säkularismus, Diktatur gegen Religion? Wer kämpft hier wogegen und wer verbündet sich mit wem?

Um dem in Syrien nachzuspüren, brauche ich den Anschub von M.M., dem Mittelsmann, dem Wanderer zwischen den Ländern.

In seinem Abriss der arabischen Geschichte ist er jetzt bei der Herrschaft der Osmanen angekommen. Die hätten ihre arabischen Provinzen mithilfe einer besonderen Strategie erworben: Frauen. »Oft bildhübsche Tscherkessinnen, viele blond. Und die Araber, nicht wahr – sie lieben blonde Frauen! Und weil die Frauen bei uns zu Hause alles bestimmen, haben sie die Männer gezwungen, ihre Brüder und Cousins in hohe Ämter einzusetzen. So konnten die Türken die arabische Welt langsam durchdringen. Aber sie haben uns dann in einen vielhundertjährigen Schlaf versetzt.«

Endlich erreicht er die Gegenwart mit dem, den man verstehen müsse, statt ihn zu dämonisieren: Staatschef Baschar al Assad.

»Er hat ja blaue Augen und ich glaube, er ist selber ein Nachfahre der Kreuzritter. Aber der Westen wollte ihn nie. Weil er kritisch gegenüber Israel eingestellt ist. Deshalb blieb ihm am Ende keine andere Wahl, als die Verbindung mit Russland zu suchen.« Eigentlich sei Assad der geborene Verbündete, während die Favoriten der Bundesregierung, die syrischen Rebellen, Deutschland mit Flüchtlingsströmen vollpumpen und destabilisieren würden. Nur eine Kraft gebe es, die das in Deutschland offen ausspreche: die AfD. Aber … Er neigt sich zu mir über den Bistrotisch. »Aber gerade die wird derart zum Schreckgespenst gemacht, dass keiner sie zu wählen wagt. Dabei nimmt die Mehrheit in der CDU die gleichen Standpunkte wie die AfD ein! Ich weiß das. Ich lese ja viel, spreche viel mit Leuten, beschäftige mich viel mit den Dingen.«

Als wir 2018 zusammensitzen, gibt es in Damaskus nur eine einzige durch das Assad-Regime durchgängig akkreditierte deutsche Journalistin, Karin Leukefeld, die u. a. Russia Today Deutsch und die deutsche Tageszeitung junge welt bedient. M.M. lässt durchschimmern, dass sich dies vielleicht ändern, dass unser Treffen unter Umständen der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein könnte. Wenn ich nur anfinge, ebenfalls so »objektiv zu berichten«. Die »objektiven« Informationen von RT Deutsch und junge welt erreichen zu seinem Bedauern bisher die große Masse nicht, anders als die öffentlich-rechtlichen Sender. Nun konnte er neulich in der ARD einige meiner Saudi-Arabien-kritischen Berichte hören … kurz: M.M. scheint entschlossen, in Vorleistung zu gehen.

Andere von Deutschlands Öffentlich-rechtlichen hat er für kurze Zeit nach Syrien geschickt. Zurückgekommen sind sie mit sorgfältig gefilterten Marktszenen von der beginnenden Normalisierung Syriens unter Assad. Diesmal, verspricht er, wird er sich dafür starkmachen, dass sein Schützling hochrangige Interviewpartner aus der Assad-Regierung bekommt.

»Buchen Sie schon mal Ihr Ticket nach Beirut.« Die geschäftsführende Berliner Botschaft habe er auf meinen Besuch schon vorbereitet, dort werde man mir umgehend ein Pressevisum ausstellen. Von Beirut fahren Taxis für 100 Dollar direkt nach Damaskus. »Zahlen Sie nicht mehr als 100!« Alle angefragten Gesprächspartner ständen bereit.

Beirut, einige Zeit später. Ein schweigsamer Chauffeur fährt mich morgens um drei durchs Zentrum, vorbei am Mausoleum Rafik Hariris, durch schummrige Straßenschluchten, dem Stadtrand entgegen bis zu einem weiteren Taxistand. Die Fahrer dort verhandeln untereinander, offensichtlich über den Preis für den Mann, der mich über die Grenze bringen soll, und über die Provision für den, der diesen Fahrgast anbringt. Ein weiterer kommt, fordert per Kopfbewegung auf, in seinen klapprigen Mercedes einzusteigen. Was, wann, wie, welche Route, und wie lange? Fragen ist zwecklos, er gibt keine Antwort. Nicht 100, sondern 120 Dollar. Das Gepäck hat schon den Kofferraum gewechselt. Also los. Straßenlampen werfen trübes Gelb. Sonst bleibt alles schwarz. Das erste Sonnenlicht zeigt Feldsteine in hellem Grau. Grüne Täler. Berghäuser, die sich an Felsen klammern. Serpentinen, kleine Orte. Hier eine Kirche, dort eine Moschee. Manchmal Schilder: Damascus – Damas.

Während der Fahrt bleibt Zeit, das bisher gesammelte Material aufzurufen. Angefangen mit dem Alexander-Gauland-Interview, damals, am Wendepunkt des Syrienkriegs, als mit dem Eingreifen Russlands und des Irans die Konstellation entstand, die mich jetzt hierhergeführt hat.

»Der Islam ist mit unserem Wertesystem nicht vereinbar«

Potsdam, September 2016.

Ein Gespräch für eine WDR-Sendung. Alexander Gauland sitzt alleine an der Stirnseite eines langen Tisches. Den Kopf in die Hände gestützt, die Fäuste an den Schläfen, die Augen zusammengekniffen.

An seiner Stirn pellt sich die Haut, sein Gesicht trägt noch die Spuren eines Urlaubssonnenbrands.

Bei unserem Treffen hinter friderizianischer Fassade, im entkernten Potsdamer Stadtschloss, in dem der Landtag von Brandenburg untergebracht ist, fungiert Gauland zu der Zeit noch als Fraktionsvorsitzender der AfD. Weit über dieses Bundesland hinaus ist er allerdings die meistgehörte Stimme dieser Partei.

Die Legislaturperioden vor seinem Urlaub sind vom Syrienkrieg geprägt gewesen, von der »Flüchtlingskrise«, die sich durch Russlands Eingreifen stetig verschärfte. Syrer, die jetzt aus dem Bürgerkriegsland fliehen, bringen den Islam mit nach Deutschland, weshalb die AfD Alarm läutet. Seit ein paar Monaten erlebt sie einen ungeahnten Höhenflug, und es sieht aus, als häute Gauland sich nach seinem Sonnenbrand zugleich für eine neue, ungleich bedeutendere Position in Deutschlands Politik.

Während im Vorzimmer die Mitarbeiter den Optimismus einer aufstrebenden Partei verströmen – »Hi! Käffchen, Wässerchen?« –, wirkt ihr Chef weder locker noch zugewandt oder auch nur unverkrampft. Die Augen hält er weiter geschlossen. Liegt es am Stress, ist seine Gesundheit nicht die beste, deprimiert ihn gerade etwas? Zwingt er sich mit letzter Disziplin ein Interview mit einem ab, von dem nichts Gutes zu erwarten ist? Wenn er etwas wie Verbindlichkeit aufbringt, dann zeigt sich das allenfalls darin, dass er sich auf alle Fragen einlässt, spontan und ohne Vorbereitung.

Der Islam, so hält er gleich zu Anfang fest, gehört grundsätzlich nicht zu Deutschland.

Schon Ayatollah Khomeini, für ihn so etwas wie der Ur-Dschihadist, habe den Kurs vorgegeben mit dem Diktum: »Der Islam ist entweder politisch oder er ist nicht.«

Und von dort aus leitet Gauland weiter ab: Das Politische am Islam ist die Scharia. Ein Gesetzeswerk, das über Staatsaufbau, Frauenrechte, demokratische Gesellschaft bestimmt. »Und das ist rundheraus mit unserem Wertesystem nicht vereinbar.«

Sein zweiter Kronzeuge ist der türkische Staatspräsident. Der äußere sich völlig unzweideutig. »Ich kann das nie auswendig, er hat das viel farbiger ausgedrückt«, aber die Demokratie sei für Recep Tayyip Erdoğan etwas, auf das man zeitweise mal aufspringen könne, damit man hinterher auf die Toleranz der westlichen Gesellschaften nicht mehr angewiesen sei.

Nachhaltig beeindruckt hat Alexander Gauland Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung.

Darin nutzen Islamverbände, finanziert von Sponsoren am Golf, die französische Demokratie, formen sich zu politischen Parteien um. Sie kooperieren mit alteingesessenen Parteien, mutieren schließlich zum Zünglein an der Waage, um dann eine Bedingung nach der anderen aufzustellen, bis die Schlüsselpositionen in Politik und Bildung nur noch mit Konvertiten besetzt sind, entweder Überzeugten oder Opportunisten, die die von den Golfstaaten fürstlich dotierten Positionen locken. Am Ende tragen Studentinnen den Hijab und die Pariser Shopping Malls dürfen nicht mehr »unbedeckt« betreten werden. Dieses Szenario hält der AfD-Grande für durchaus realistisch.

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»Es gibt keine kräftige Spiritualität mehr in diesem Lande.«
Alexander Gauland im Interview

Die Islamisten wollten Europa für den Islam übernehmen, Gauland erkennt da eine klare Strategie. »Nicht heute, nicht morgen, aber eben langfristig.« Die Front verlaufe zwischen uns, der demokratischen Gesellschaft, auf der einen Seite. Die Muslime und mit ihr der Scharia-Islam seien auf der anderen Seite, verkörperten Denkweisen, »die uns existenziell herausfordern«. Und gerade Deutschland scheint ihm für diesen Anwurf des Islam besonders schlecht gerüstet. Hilflos im Bann seiner Vergangenheit. Gelähmt, eingeschüchtert, handlungsunfähig, unfähig, selbst die einfachsten, für seine Interessen notwendigen Entscheidungen zu treffen. Ein Land, auf das sich der Geist von 1968 gesenkt habe. Alles Fremde werde da erst mal grundsätzlich für gut befunden, selbst die Vollverschleierung von Frauen. Der Ausländer, der Ansprüche stellt, sehe sich von unseren politischen Eliten reflexartig hofiert. Weil die Devise laute: »Seid gegenüber dem Islam, dem Fremden, wie auch immer, aufgeschlossen. Denn wenn ihr das nicht seid, erinnert ihr wieder an Auschwitz …«

»Es gibt keine kräftige Spiritualität mehr«

Aber warum, Herr Gauland, ist der Islam so dynamisch? Weil er über etwas verfügt, das wir schon lange nicht mehr haben, urteilt Gauland: »Es gibt keine kräftige Spiritualität mehr in diesem Lande.« Nicht bei uns und auch im übrigen Westeuropa nicht. Und, merkt er nach einer kleinen Pause bitter an: »Natürlich ist der Islam spirituell sehr kräftig, auch Haltungen im Islam, die wir zutiefst ablehnen, haben in dieser Religion eine breite und fest verwurzelte Basis. Und das Christentum ist bei uns« – ja, wie solle man das ausdrücken, ohne evangelische und katholische Kirche zu beleidigen – »ziemlich ausgewaschen durch bestimmte Verhaltensweisen …«

Die Klage über den Verlust von Spiritualität bildet nicht nur bei Alexander Gauland, sondern bei den Neuen Rechten insgesamt ein Leitmotiv und eine intellektuelle Grundtendenz, darauf gab es bei der Vorbereitung auf das Interview einige Fingerzeige. Neurechte Zeitschriften und Plattformen greifen dabei immer wieder auf die drei großen Vordenker der konservativen Revolution zurück und erheben sie auch heute wieder zu ihren Leitgestirnen: Martin Heidegger, Carl Schmitt, vor allem aber Ernst Jünger. Bei dem schriftstellernden Frontoffizier ziehen sich die Warnungen vor einem säkularisierten, amerikanisierten, traditionsvergessenen Westen durch das ganze Werk.

In seinem Buch Strahlungen sagt Jünger sinngemäß: Eine Gesellschaft, die den Verlust von Bindungen zu beklagen hat, darf sich nicht wundern, wenn zerstörerische Kräfte nach oben kommen.

Würde das auch der AfD-Politiker unterschreiben? Als Jüngers Name fällt, blickt Gauland zum ersten Mal auf und seinem Gesprächspartner groß und forschend in die Augen.

Strahlungen hat er gelesen. An die konkrete Textstelle erinnert er sich nicht. »Aber natürlich ist es völlig richtig, dass, wenn die geistigen Kräfte in einem Land stark nachlassen, dann sich andere Kräfte von einer stärkeren Geistigkeit an die Stelle bringen. Das erleben wir ja mit den Einwanderern, deren Moscheegemeinden sehr viel mehr gefüllt sind als die christlichen Kirchen. Das ist nicht nur eine Sichtweise von Ernst Jünger …«

Der Zeitzeuge des Ersten Weltkriegs, der Autor der Stahlgewitter – seit der Vorbereitung auf das Gauland-Gespräch, auf Reisen, im Zug, im Flugzeug und wieder hier, im Taxi auf der Fahrt an die syrische Grenze, stöbere ich mich durch das Werk, so weit ich es bisher aufgetrieben habe. In Stahlgewittern, die Berichte aus dem Ersten Weltkrieg. Der Kampf als inneres Erlebnis. Strahlungen, die Tagebücher aus dem Paris der deutschen Besatzung und der, wie es Jünger nennt, anschließenden »Zeit der Okkupation« durch alliierte Sieger … Einiges davon erschließt sich direkt, ist blanke Action, wie die Kampfberichte von der Westfront 1917/18. Bei anderem muss man sich auf die penibel gedrechselten Gedankengänge und umständlichen Beschreibungen einlassen. Käfer, Meerestiere und Insekten als Inbegriff des Ewigen, angestammte Ordnungen, an die zu tasten an Urgründe der Elemente rührt …

»Mister: border Syria!« Nach etwa zwei Stunden die Grenze. Ein verstaubter Autobahn-Übergang. Wartehalle mit abgewetzten, an Stangen montierten Holzsitzen. Nur wartet keiner. Der Libanese mit der Tellermütze gähnt, stempelt, winkt weiter. Bei den Syrern am Schalter wird ein schläfriger Uniformierter jäh wach, als er den deutschen Pass sieht. Hm. Er nimmt ein rotes Plastiktelefon, spricht länger mit einem Vorgesetzten. Dann dreht und wendet er das Dokument umständlich, drückt schließlich den Stempel drauf und versinkt danach wieder in Apathie. Die Route führt durch Niemandsland, bis das erste Monumentalporträt Assads auftaucht. Von diesem Punkt an dauert es eine knappe Stunde, bis wir im Herzen von Damaskus sind, an der Mazze Street, an der sich auch das Business-Center und in dessen Innern das feudale Hotel befindet, das mir der Deutschsyrer in Marrakesch als die übliche Unterkunft seiner Schutzbefohlenen nahegelegt hat. Fahrstuhl. Getäfelte Rezeption. Flure, in denen Firmen ihre Damaskus-Büros unterhalten. An einem prangt der Name SIEMENS. Es öffnet sich eine Riesenhalle, mit mehreren Galerien. Im Erdgeschoss Palmen und Gummibäume, aus einem Brunnen rieselt Wasser. Von den Galerien gehen die Zimmer ab, auch meines. Weitläufig mit eigener Pantry, Schreibtisch, gepolsterter Sitzecke. Gegen 16 Uhr meldet sich auf meinem Zimmer Mr. Nihad vom offiziösen Tishreen Newspaper und stellt sich als mein Journalistenbegleiter im Auftrag des Ministeriums vor. Ein etwas aus der Zeit gefallener 55-Jähriger mit Bundfaltenhose, korrekt eingestecktem Oberhemd, Schnurrbart und schütterem graumelierten Haar, der ein überaus korrektes Englisch spricht und auf Umgangsformen achtet. Andererseits raucht er Kette, ohne vorher zu fragen. Das Fenster zu öffnen oder auf den Gang zu treten gehört nicht zu seiner Etikette. Über seine Position lässt er von Anfang an keinen Zweifel, stellt sich als Alawit vor, »aus derselben religiösen Gemeinschaft wie der Präsident«, und beginnt sogleich über die »falsche Opposition« zu sprechen. Terroristen, die unter diversen islamischen Logos firmieren und ihn vor einiger Zeit noch in seiner eigenen Nachbarschaft mit AK-47 in den Händen bedrohten. »Ich aber beschämte sie, als ich, die Waffe auf mich gerichtet, das islamische Glaubensbekenntnis sprach.« Es folgen ein paar Andeutungen. Im Informationsministerium, so schließe ich daraus, führt am Ende seine Expertise zur Entscheidung darüber, ob meine Terminwünsche auch umgesetzt werden und ob man mein Visum vom üblichen Vier-Tage-Visum auf Probe zu einem längeren Pressevisum machen wird.

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Nihad, in Syrien der ständige Begleiter

Damaskus

Abgeschabte Fassaden, aufgerissenes Straßenpflaster, Autos mit Löchern und Rissen im Blech und unlackierten Beulen. Assad-Fotos an jeder Ecke und in zahlreichen Variationen. Damaskus, im siebten Jahr des Bürgerkriegs, überzogen mit einer Patina der 1970er oder 1980er Jahre, die schwer dingfest zu machen ist. Etwas hängt in der Luft von vordigitalem Zeitalter, obwohl das Handy im Stadtbild gang und gäbe ist, etwas von Kabeln, Blech, von zäh und mühsam ächzenden Wählscheiben, von Teer und Holz.

Oder sind es die Menschen, die diesen Eindruck verströmen? Du springst auf einen Bus, der eher ein Gehäuse ist und längst schon keine Türen mehr hat. Zwängst dich vorbei an einem abgespannten Fahrer, dem, während er am Steuerrad kurbelt, eine Zigarettenkippe zwischen den Fingern klemmt, hältst dich fest an einem rutschenden Ledergriff, zwischen schweigenden, die Augen senkenden Menschen. Die meisten Frauen tragen ihre Röcke bodenlang, Kopftüchern und einige dazu dick aufgetragenes Make-up. Herren mit großen Schnurrbärten, ausgeblichenen Bügelfaltenhosen zu zerknautschten schwarzen Schuhen, die Hemden spannen sich korrekt und knapp über dem eng sitzenden Gürtel. Auch von ihnen führen viele immer wieder Zigaretten an den Mund, pusten den Qualm wie einander überschneidende Kondensstreifen in den Muff des dicht besetzten Busses. Es hupt, wackelt, ruckt und knallt ohne Federung in die Asphaltlöcher.

Die Atmosphäre eines arabischen Landes, ja einer Welt, die dreißig, vierzig Jahre zurück ist, auch im Vergleich mit anderen arabischen Ländern.

Auf dem Nebensitz erörtert Nihad das spezifisch syrische, das Pressevisum auf Widerruf. Immer endet es nach vier Tagen, und heute ist der letzte Arbeitstag vor dem Wochenende, mit dem auch der Aufenthalt de iure schon wieder vorbei wäre. Höchste Eile ist geboten, um zunächst die Verlängerung zu erreichen, ohne die der Aufenthalt hier sinnlos wäre. Also zum Informationsministerium, ohne eine Minute zu verschenken.

Im Informationsministerium fliegt Mr. Alaa Ibrahim ins Büro hinein, ein noch junger Hipster im blauen Anzug mit modischem Dreitagebart.

Noch einmal nimmt er alles auf, die ganze Liste: Gespräch mit Seiner Exzellenz dem Großmufti; dem stellvertretenden Außenminister; dem Minister für die nationale Versöhnung. Das wird einige Tage dauern. Baath-Partei? Er wirft den Arm über den Kopf, macht eine wegwerfende Gebärde, als handele es sich um ein antiquiertes Thema … Na gut, fragen kann man. Für drei weitere Tage unterschreibt er erst mal provisorisch die Erlaubnis, sich in Damaskus zu bewegen, in Begleitung von Mr. Nihad, mit dem er einen raschen Blick wechselt. »Sie dürfen mit ihm zusammen Leute interviewen und Aufnahmen machen. Ich vertraue Ihnen.« Der Subtext ist klar: »Fremder, spuckst du in die Hand, die dir Hilfe anbietet?«

Rauch

»Mit dem fatalen Gefühl eines Mannes, der sich auf ein ungewisses Abenteuer eingelassen hat, hörte ich neben mir das trockene Knistern der herausgerissenen Zündschnur und sah, wie Wohlgemut, um sich möglichst wenig zu zeigen, die Handgranate ganz flach über den Boden rollen ließ. Sie blieb im Gestrüpp, beinahe zwischen den Engländern liegen, die nichts bemerkt zu haben schienen. Es vergingen einige Augenblicke höchster Spannung.

›Krrrach!‹ Ein Blitz beleuchtete taumelnde Gestalten. Mit dem Angriffsschrei ›You are prisoners!‹ stürzten wir uns wie Tiger in die weiße Wolke.«4

Ernst Jüngers Stahlgewitter erzeugen nach mehreren Tagen Lektüre einen latenten Unterton von rollendem Kanonendonner. Erst beim Lesen, dann beim Einschlafen, wenn ich die Augen schließe, und schließlich auch beim Aufwachen, wenn ich das Buch nur von weitem betrachte, das, versehen mit meinem Flugticket als Lesezeichen, auf der Kommode am Fußende des Bettes liegt. Pünktlich zum Sonnenaufgang vermischt sich dieser innere Donner mit dem hiesigen, der dann heranrollt und sich über den ganzen Tag erstreckt.

Kaum scheint er direkt über einem, geht er in Schwirren über. Kurz darauf schlägt etwas dumpf ein, entfernt und nicht sehr laut. Auf dem kleinen Kühlschrank neben dem Bett klirrt das Kaffeeglas. Schwarzer Rauch kräuselt sich am Horizont. Und jeden Morgen gegen zehn füllt Rauch und Dampf das Zimmer.

Die weißen Schwaden auf dem Nachttischchen stammen vom Wasserkocher. Die grauen an der Tür von Zigaretten. Auch heute schiebt sich wieder augenbeißender Rauch unter der Schwelle durch.

Eigentlich war die Pension »Brazil« in Damaskus in den 1930er oder 1940er Jahren als Wohnung konzipiert worden.

Im Korridor sitzt Georges, der Rezeptionist, tagein, tagaus zwischen dem WELCOME- und dem DO-NOT-SMOKE-Schild und qualmt, bis sein Aschenbecher an Kippen erstickt. Ich sitze auf dem kombinierten Schlaf-, Ess- und Arbeitsbett, den Laptop auf dem Schoß und ein paar Kekse frühstückend.