Ekkehard von Braunmühl
Unsere Zeit könnte, sollte, müßte die beste Zeit für Kinder sein, die es je gab. Schließlich leben wir im »Jahrhundert des Kindes«, und das Jahr 1979 wurde von den Vereinten Nationen zum »Jahr des Kindes« erklärt. Zu keiner Zeit wurden Kinder mehr beachtet, wußten die Erwachsenen mehr über das Wesen von Kindern, über die Bedürfnisse von Kindern, über die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen sich Kinder am besten entwickeln. Zu keiner Zeit waren sich die Erwachsenen ihrer Verantwortung für das Gedeihen der Kinder stärker bewußt. Zu keiner Zeit wurden Kinder ernster genommen. In den reichen Staaten des Westens waren auch zu keiner Zeit die wirtschaftlichen und politischen Zustände für eine glückliche Kindheit günstiger: Hunger und Krankheiten sind weitgehend gebannt, die Winter haben ihre Schrecken verloren, es gibt mehr und bessere Wohnungen denn je, die Eltern haben immer mehr Freizeit, mit der Familienplanung steigt die Zahl der Wunschkinder, der letzte Krieg ist fast vergessen, Kinderarbeit längst abgeschafft, Kinderzimmer, Kindergärten und Schulen strotzen von förderlichem Lernmaterial wie Verfassungen, Gesetze, Bildungspläne von kinderfreundlichen Vorsätzen: Das Wohl des Kindes erhält immer mehr Vorrang, die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird garantiert, die Würde des Menschen ist unantastbar, Selbstbestimmung und Mitbestimmung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und andere vielversprechende Begriffe haben Hochkonjunktur – es könnte, sollte, müßte eine reine Lust sein, als Kind in dieser Zeit zu leben.
Aber: Irgendwie und irgendwo ist der Wurm drin. Kinder- und Jugend-lichenkriminalität, Kinder- und Jugendlichenalkoholismus, Kinder- und Jugendlichenselbstmorde, Drogenprobleme, Gewalttätigkeiten, Verhaltensstörungen – allein, daß es ein solches Wort gibt, signalisiert ein übel: Unterdrückte, mißhandelte, in ihrer Würde geschändete Kinder und Jugendliche nennt man nicht leidende Kinder und Jugendliche, nicht unglückliche Kinder und Jugendliche, man nennt sie »verhaltensgestört«. Zwar ist diese Mißachtung der Gefühlsebene nicht auf Kinder und Jugendliche beschränkt, aber sie wirkt sich ihnen gegenüber besonders drastisch aus, weil sie dem Urteil ihrer Umwelt stärker ausgeliefert sind als Erwachsene.
»Zeit für Kinder« kann also diese Zeit nicht meinen. Kindheit heute ist – nicht nur als Schulzeit – eine Zeit gegen Kinder. »Zeit für Kinder« meint aber auch nicht den oft zu hörenden Appell, Erwachsene sollten sich mehr Zeit für Kinder nehmen. Für mehr Zeit könnte man sich nur aussprechen, wenn es eine schöne Zeit wäre, die vermehrt werden sollte. Würde aber zwischen den Generationen Freundschaft statt Feindschaft herrschen, wäre dieser Appell überflüssig, weil die Erwachsenen von sich aus viel mehr Zeit mit Kindern verbringen würden als heute. Wer mit Kindern umgehen kann, liebt es, mit Kindern umzugehen. Aber so, wie es heute aussieht, stünde es noch viel schlimmer um unsere Kinder und Jugendlichen, wenn sich ihre Feinde mehr Zeit für sie nehmen würden.
»Zeit für Kinder« will so nur sagen, daß unsere Zeit eine gute Zeit für Kinder werden kann. Es ist nicht einmal besonders schwierig, das zu erreichen, aber es genügt nicht, es nur zu wollen. Deshalb sagt Ihnen dieses Buch, wie unsere Zeit eine gute Zeit für Kinder werden kann. Es ist gewiß nicht das erste kinderfreundliche Buch, aber es ist das erste, aus dem Sie erfahren, was Kinderfreundlichkeit wirklich ist.
Dieses Buch ist ein Lernbuch. Es will Ihnen nicht, wie die Erziehungsratge-ber, beibringen (»lehren«), wie Sie mit Kindern leichter fertig werden. Es will auch nicht Ihre Unsicherheit im Umgang mit Kindern abbauen. Es ist ein Lernbuch, ein Lerngegenstand, ein Gebrauchsgegenstand, der es Ihnen ermöglicht, Ihre Unsicherheit im Umgang mit Kindern zu beseitigen. Ich habe zu diesem Zweck – nach den nötigen Informationen und Erörterungen – viele bewährte Rezepte aufgeschrieben, mit denen Sie die Schlußfolgerungen ziehen können, die Ihnen selbst gefallen und entsprechen. So ähnelt dieses Buch einem Kochbuch, dessen Rezepte allein ja auch niemanden sättigen. Die Arbeit des Kochens bleibt Ihnen überlassen, ebenso die Auswahl der Gerichte.
Mir ist sehr klar, daß meine »Speisen« nicht allen Leuten schmecken werden. Für Kinderfeinde und Machtmenschen habe ich dieses Buch nicht geschrieben. Aber wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, im Prinzip mit Kindern gerne gut auskommen möchten, werden Sie in diesem Buch die Antworten auf viele Fragen finden, die bisher einfach falsch gestellt worden sind. Und es ist kein Wunder, hängen doch die meisten Fachleute, die uns Ausbildung und Rat in bezug auf Kinder geben, einer Ideologie an, die von Anfang bis Ende kinderfeindlich ist.
Sie werden jetzt, wenn Sie meine bisherigen Arbeiten nicht kennen, wahrscheinlich stutzen. Aber ich kann Ihnen das nicht ersparen. Sie werden vermutlich noch mehrere Überraschungen erleben, wenn Sie sich den Inhalt dieses Buches erarbeiten, erobern. Manche scheinbaren Selbstverständlichkeiten muß man in Frage stellen, manche falschen Sicherheiten muß man aufgeben, um sich von all den Lügen zu befreien, die über Kinder verbreitet werden.
Aber nicht nur Kinder, auch Erwachsene, insofern sie pädagogische Laien sind, möchte dieses Buch in Schutz nehmen vor jenen kinderfeindlichen Fachleuten, denen Sie wahrscheinlich bisher vertraut haben. Diese Fachleute scheinen es darauf anzulegen, ihr Publikum immer mehr zu entmutigen, ratloser und unsicherer zu machen, damit es nicht auf die Idee kommt, sie seien vielleicht überflüssig oder sogar schädlich. Dagegen will ich zeigen, daß Sie Ihre Probleme selbst lösen können, wenn Sie sich aus dem Bann, aus der Vormundschaft jener Ratschläger befreien.
Um diesen Prozeß nicht unnötig zu erschweren, verzichte ich in diesem Buch fast völlig auf Zitate, auf Zurschaustellung meines Leseeifers und auf komplizierte Streitereien, die nur unter Wissenschaftlern interessant sind. Insbesondere von Lesern der »Antipädagogik« hörte ich manchmal, das Buch sei zu schwer verständlich. Ich mußte zwar zunächst eine Arbeit vorlegen, die auch formal wissenschaftlichen Ansprüchen genügte und von einem pädagogischen Fachverlag veröffentlicht wurde, damit mir niemand mangelnde Kenntnisse vorwerfen konnte, aber inzwischen ist diese Arbeit so anerkannt, daß ich mich jetzt ohne Ängstlichkeit und in der mir gemäßen, sehr persönlichen Weise an ein, wie man so sagt, breites Publikum wende – also an alle Menschen, die an Kinderfreundlichkeit interessiert und bereit sind, ein Buch mit Aufmerksamkeit zu lesen. Andere Voraussetzungen – etwa bezüglich einer »Vorbildung« – sind nicht erforderlich. Ein wenig Mut, vielleicht, für manche. Und die Abneigung, belogen und betrogen zu werden. (Die ist jedenfalls das Hauptmotiv für meine Arbeit, falls Sie das interessiert. Es geht mich ja recht wenig an, was Sie mit irgendwelchen Kindern anstellen. Es tut mir aber weh, macht mich oft verzweifelt, wütend und krank, wenn ich sehe, welche Opfer bestimmte Lügen fordern – ganz gleichgültig, ob sie aus gutem oder bösem Willen oder aus Dummheit verbreitet werden.)
Dieses Buch ist ein Lernbuch, weil man Kinderfreundlichkeit und Sicherheit im Umgang mit Kindern nicht lehren, sondern nur lernen kann. Ich möchte es außerdem als eine Waffe verstanden wissen, als Waffe im antipädagogischen Freiheitskampf, den ich für den überfälligen und einzig sinnvollen Freiheitskampf unserer Zeit und Weltgegend halte. Mit diesem Gedanken spreche ich besonders diejenigen Leserinnen und Leser an, die meine bisherigen Arbeiten schon kennen. Sie werden bemerken, daß ich nur die notwendigen Wiederholungen bringe, um mich nicht immerzu hinter jene Bücher zurückziehen zu müssen, da es ja um einen Vormarsch geht. Und weil ich glaube, in wesentlichen Punkten entscheidend vorangekommen zu sein (ohne daß in jedem Problembereich schon das letzte Wort gefallen wäre, aber letzte Wörter gibt es in diesem geschichtlichen Felde ohnehin nicht zu ernten), bitte ich Sie, die Tauglichkeit dieses Buches als »Waffe« sorgfältig zu prüfen.
Betrachtet man den gegenwärtigen Stand der Dinge, kann einem der Verdacht kommen, die Menschheit habe mit ihren bisherigen Freiheitskämpfen wenig Glück gehabt. Vielleicht muß man gerade deshalb heute so oft betonen, wie »freiheitlich« unsere Gesellschaft ist…
Freiheit unterscheidet den Menschen vom instinktgebundenen Tier, Freiheit ist des Menschen höchstes Gut und tiefstes Verlangen. »Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Meinung, daß dieses Verlangen nach Freiheit ein Erzeugnis der Kultur und speziell durch Lernen konditioniert sei, legt ein umfangreiches Tatsachenmaterial nahe, daß es sich beim Verlangen nach Freiheit um eine biologische Reaktion des menschlichen Organismus handelt. Ein Phänomen, das diese Ansicht stützt, ist die Tatsache, daß im ganzen Verlauf der Geschichte Völker und Klassen gegen ihre Unterdrücker gekämpft haben, wenn nur irgendeine Aussicht auf Sieg bestand, und oft auch dann, wenn diese Aussicht nicht vorhanden war. Die Geschichte der Menschheit ist in der Tat eine Geschichte ihres Kampfes um Freiheit, eine Geschichte der Revolutionen«. So schreibt der berühmte Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Professor ERICH FROMM in seinem Hauptwerk »Anatomie der menschlichen Destruktivität« (rororo 7052, S. 223). Und er fügt eine Fußnote an, die ich vollständig zitieren will, weil sie so treffend die Gründe für den antipädagogischen Freiheitskampf benennt und aufzeigt, in welchem Sinne das vorliegende Buch als »Waffe« zu gebrauchen ist. ERICH FROMM schreibt:
»Die Revolutionen, die sich in der Geschichte ereignet haben, sollten nicht die Tatsache verdecken, daß Kleinkinder und Kinder auch Revolutionen machen, daß sie aber infolge ihrer Machtlosigkeit ihre eigenen Methoden, nämlich sozusagen die der Guerilla-Kriegführung, anwenden müssen. Sie kämpfen gegen die Unterdrückung ihrer Freiheit mit unterschiedlichen individuellen Methoden, die von einem eigensinnigen negativen Verhalten, der Weigerung, zu essen und sich zur Sauberkeit erziehen zu lassen, vom Bettnässen bis zu den drastischeren Methoden einer autistischen Abwendung von der Außenwelt und einer Pseudodebilität reichen. Die Erwachsenen benehmen sich dabei wie jede Elite, deren Macht man den Kampf ansagt. Sie wenden physische Gewalt an, oft in Verbindung mit Bestechungsversuchen, um ihre Stellung zu behaupten. Die Folge ist, daß die meisten Kinder nachgeben und lieber kapitulieren, als sich ständig quälen zu lassen. In diesem Krieg kennt man kein Erbarmen, bis der Sieg errungen ist, und unsere Hospitäler sind voll von den Opfern dieser Methoden. Trotzdem ist es eine bemerkenswerte Tatsache, daß alle menschlichen Wesen – die Kinder der Mächtigen wie die der Machtlosen – die Erfahrung gemeinsam haben, daß sie einmal machtlos waren und um ihre Freiheit gekämpft haben. Es ist daher anzunehmen, daß jedes menschliche Wesen – von seiner biologischen Mitgift ganz abgesehen – sich in seiner Kindheit ein revolutionäres Potential erworben hat, das zwar lange schlummern, aber unter bestimmten Umständen auch wieder mobilisiert werden kann.«
Das »revolutionäre Potential«, die Sehnsucht nach Freiheit und die Fähigkeit zur Freiheit, die in jedem Menschen schlummern, können nach meinen langjährigen Erfahrungen als Antipädagoge außerordentlich erfolgreich gerade in Erwachsenen mobilisiert werden, die mit Kindern zu tun haben. Zumal Kinder und Jugendliche heutzutage seltener »kapitulieren«, sondern immer aggressiver und auffälliger gegen ihre Unterdrückung kämpfen – nicht zuletzt deshalb, weil sie mehr von »Freiheit« und »Mündigkeit« erzählen hören als irgendeine Jugend zuvor. Es ist höchste Zeit geworden, sich zu entscheiden, ob man Ernst machen will mit der Freiheit – und dann muß man die »bestimmten Umstände«, von denen FROMM sprach, herstellen – , oder ob man auf GEORGE ORWELLS Vision von »1984« – die totale Manipulation und Kontrolle durch den »Großen Bruder« – zusteuern will. Wenn Sie mich fragen: Ich würde im Zweifelsfalle lieber auf die kleine Schwester hören…
Auch wenn Sie schon wieder stutzen sollten, ist diese Idee nicht abwegig, sondern zeitgemäß. Bereits im Jahre 1961 hat die international anerkannte Kulturanthropologin MARGARET MEAD die sogenannte »präfigurative« Kulturstufe als die kommende erkannt, als den notwendigen »neuen Stil«, durch den »Der Konflikt der Generationen« (so der deutsche Titel ihres Buches, das 1974 als dtv-Band 1042 erschien) einzig gelöst werden kann: »Ich nenne diesen neuen Stil den präfigurativen, weil das Kommende in dieser neuen Kultur vom Kind und nicht mehr von Eltern und Großeltern repräsentiert werden wird.« (S. 104)
So wie MARGARET MEAD die Geschichte in drei verschiedene Kulturepochen teilt, beschreibt der ebenfalls überall anerkannte Psychohistoriker LLOYD DE MAUSE (in dem 1974 von ihm herausgegebenen Buch »Hört ihr die Kinder weinen – Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit«, 1977 bei Suhrkamp erschienen) sechs verschiedene Formen der Eltern-Kind-Beziehungen, wie sie sich von der Antike bis heute entwickelt haben. Die 5. Form (19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts, also etwa 1950) nennt er »Sozialisation«, bei der Eltern versuchen, das Kind »auf den rechten Weg zu bringen, es anzupassen, es zu sozialisieren«. Dazu bemerkt DE MAUSE: »Die meisten halten die Beziehungsform Sozialisation noch immer für das einzige Modell, in dessen Rahmen die Diskussion über die Fürsorge für Kinder weitergeführt werden kann.« (S. 84) Dagegen stellt DE MAUSE als zeitgemäße Beziehungsform heraus:
»6. Form: Unterstützung (ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts): Die Beziehungsform Unterstützung beruht auf der Auffassung, daß das Kind besser als seine Eltern weiß, was es in jedem Stadium seines Lebens braucht. Sie bezieht beide Eltern in das Leben des Kindes ein; die Eltern versuchen, sich in die sich erweiternden und besonderen Bedürfnisse des Kindes einzufühlen und sie zu erfüllen. Bei dieser Beziehungsform fehlt jeglicher Versuch der Disziplinierung oder der Formung von »Gewohnheiten«. Die Kinder werden weder geschlagen noch gescholten, und man entschuldigt sich bei ihnen, wenn sie einmal unter großem Streß angeschrien werden. Diese Form verlangt von beiden Eltern außerordentlich viel Zeit, Energie und Diskussionsbereitschaft, insbesondere während der ersten sechs Jahre, denn einem kleinen Kind dabei zu helfen, seine täglichen Ziele zu erreichen, bedeutet, ständig auf es einzugehen, mit ihm zu spielen, seine Regressionen zu tolerieren, ihm zu dienen, statt sich von ihm bedienen zu lassen, seine emotionalen Konflikte zu interpretieren und ihm die für seine sich entwickelnden Interessen erforderlichen Gegenstände zur Verfügung zu stellen. Bisher haben nur wenige Eltern konsequent versucht, in dieser Form für ihre Kinder zu sorgen. Doch aus den vier Büchern, die Kinder beschreiben, die im Rahmen der Beziehungsform Unterstützung aufgewachsen sind, geht klar hervor, daß sich in diesem Rahmen Kinder entwickeln, die freundlich und aufrichtig und nicht depressiv sind, die einen starken Willen haben und sich durch keine Autorität einschüchtern lassen.« (S. 84 f)
Von den Büchern, die LLOYD DE MAUSE anführt, ist bei uns erst der Band »Freie Kindererziehung in der Familie« von PAUL und JEAN RITTER erschienen (Rowohlt 1972). Meine eigenen Erfahrungen mit meiner und einer Reihe anderer Familien sowie die Berichte meiner Leser und Gesprächspartner bestätigen aber die vorstehende Beschreibung der Kinder vollständig. (Freie Kinder erkennen übrigens echte Autoritäten durchaus an, sie lassen sich bloß von falschen nicht einschüchtern – was echte überhaupt nicht probieren.) Trotzdem muß ich DE MAUSE in einem Punkt widersprechen. Es ist nicht wahr, daß die Beziehungsform Unterstützung von den Eltern mehr Zeit oder Energie fordern würde. Eher ist das Gegenteil der Fall. Zwar macht der Umgang mit freien Kindern allen Eltern so viel Freude, daß sie möglichst viel Zeit für ihn aufbringen (statt sie z.B. mit dem Fernseher totzuschlagen oder für unnötige Geldrafferei einzusetzen), aber ich kenne auch Familien und einzelne Elternteile, die hart arbeiten müssen und wenig Zeit für ihre Kinder haben. Dies stört aber keineswegs die Qualität der Beziehungen und die Freiheit der Kinder. Freie Kinder gleichen die manchmal fehlende Unterstützung schon im Alter von etwa drei Jahren in bewundernswerter Weise aus. Das »Argument« (ich kenne es zur Genüge), man habe nicht genug Zeit, so kinderfreundlich zu sein, ist eine höchstfaule Ausrede. Es ist allemal schöner für das Kind, einen Freund seltener zu sehen, als einen Feind öfter. Im Gegenteil: Je weniger Zeit man hat, desto wichtiger ist es, wie man sie gestaltet – sozialisierend (erzieherisch) oder unterstützend. Und wer wirklich mit seiner Zeit und Energie sparsam umgehen will oder muß, der braucht nur daran zu denken, wieviel davon die Erzieherei üblicherweise verschlingt.
Ich möchte betonen, daß weder MARGARET MEAD noch LLOYD DE MAUSE mit ihren Einteilungen irgendwelche Forderungen erheben; sie analysieren nur, sie stellen dar, was ohnehin passiert. Die Frage ist allerdings, ob das, was da passiert, in eine Katastrophe mündet, weil so viele Leute – und gerade auch Fachleute – sich weigern, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Zeit für Kinder heißt Freiheit für Kinder, sonst ist es mit der Freiheit überhaupt vorbei. Freiheit ist kein Luxus und auch keine Utopie. Sie ist die Notwendigkeit unserer Zeit.
Daß es viele Mißverständnisse gerade über die Beziehung zwischen Kindern und Freiheit zu bereinigen gibt, ist klar. Deshalb habe ich dieses Buch ja geschrieben. Es muß aber auch klar sein, daß Freiheit die Lösung des Rätsels um gute, schöne, erfreuliche, beglückende Beziehungen zwischen Menschen, vor allem auch zwischen Erwachsenen und Kindern ist. Es gibt da (mindestens) zwei Betrachtungsweisen und Blickrichtungen. Nach der einen, der politischen, ist Freiheit – und zumindest in den entwickelten Ländern der Erde besonders Freiheit für Kinder – die Gretchenfrage um Tod oder Leben. »Links und rechts, fortschrittlich und konservativ, kapitalistisch und sozialistisch bezeichnen keine wichtigen Gegensätze mehr. Nur noch eine Parteinahme zählt: für den Tod oder für das Leben.« So schreibt der Familienrichter HELMUT OSTERMEYER in seinem heftig umstrittenen Buch »Die Revolution der Vernunft« (Fischer Taschenbuch 6368, S. 2), wobei »Tod« ebenso für »Unfreiheit« stehen kann und »Leben« für »Freiheit«.
Diese Betrachtungsweise ist ungeheuer wichtig, aber sie bringt nicht viel ein, wenn unser Sohn gerade eine schlechte Note geschrieben hat. Für den alltäglichen Umgang mit Kindern ist eine persönliche Sichtweise angemessener, die jedoch genauso parteiisch ist wie die politische. Wem am Glück und Erfolg der Kinder, mit denen er umgeht, liegt, der kann (durch dieses Buch gesichert) Partei für seine Kinder ergreifen, Partei für Kinderfreundlichkeit ebenso wie für die Freiheit und das Leben.
Ob Sie dann unbedingt vom »antipädagogischen Freiheitskampf« und diesem Buch als »Waffe« sprechen, ist nebensächlich. Wichtig ist allein, daß wir uns aufrappeln und an allen Fronten, also persönlich und politisch, für Leben, Freiheit, Kinderfreundlichkeit – sei es kämpfen, sei es werben. Lehrbares Wissen ist dafür nicht genug. Viele Leute wissen, daß Übergewicht und Rauchen und Saufen und Bewegungsarmut erhebliche Gesundheitsrisiken darstellen, aber sie richten sich eben nicht danach. Schon gar nicht könnte man sagen, es fehlte den Leuten am Wissen in bezug auf Kinder. Wissen kann auch belasten (es ist kein Geheimnis, daß gerade Fachleute die verkorkstesten Kinder haben), und es kann zum Nachteil der Kinder, gegen die Kinder, eingesetzt werden (Kinderfeinde können heute Kinder viel raffinierter quälen als früher). Außerdem gibt es wohl kaum Erwachsene, die unausgesetzt unfreundlich zu Kindern sind. Sie wissen also, wie man freundlich ist. Was sie nicht wissen und was man ihnen auch nicht lehren kann, was sie aber ausprobieren und selbständig lernen können, ist, aus welchen Gründen sie oft daran gehindert sind, so freundlich (unterstützend) zu sein, wie sie eigentlich sein wollen. Für diese Menschen ist mein Buch als Lernbuch gedacht, das ihnen zu neuen Erfahrungen verhelfen kann im Sinne von LLOYD DE MAUSE, der sagt: »Was den Eltern in der Vergangenheit fehlte, war nicht Liebe, sondern eher die emotionale Reife, die nötig ist, um das Kind als eine eigenständige Person anzuerkennen.« (S. 35)
Gegen jene anderen, die immer noch behaupten, man müsse Kinder erzieherisch bekämpfen bzw. sozialisieren, kann es notfalls als Waffe dienen, wenn sie weiterhin Lügen verbreiten, um ihre eigene emotionale Unreife zu übertünchen und andere in Unsicherheit zu halten. Irren ist menschlich, aber es ist unmenschlich, auf einem Irrtum zu beharren, der so viel Leiden unter die Menschen bringt und so viele Kinder unfreundlich macht.
Das internationale »Jahr des Kindes« sollte die Weltöffentlichkeit hauptsächlich auf die Not von Kindern in Entwicklungsländern aufmerksam machen. In unserer Gegend liegen die Probleme anders. Beispielsweise haben wir einen dramatischen Geburtenrückgang zu verzeichnen, während andernorts von »Bevölkerungsexplosion« berichtet wird. Hierzulande gilt ja die Zurückhaltung beim Kinderkriegen manchen Leuten als Zeichen von Kinderfeindlichkeit – ein Beweis schon, wie verwirrt die Begriffe in Sachen Kinder sind.
In den meisten Staaten der Dritten und Vierten Welt muß massiv für Empfängnisverhütung geworben werden, also für den Verzicht auf oder die Verminderung von körperlich-biologischer Fortpflanzung. In unserer Gegend ist die geistig-seelische Fortpflanzung das Problem: Sie funktioniert nicht mehr, aber sie wird noch nicht aufgeben, denn dazu gehört eben »emotionale Reife«. Die aber wird behindert durch jenen Irrtum (bzw. Betrug), der zwar historisch verständlich, aber in unserer Zeit nicht aufrecht zu erhalten ist. Er bildet den Kern des Hauptproblems unserer Kinder, den Kern der (oft künstlich erzeugten) Unsicherheit ihrer ausgewachsenen Mitmenschen. Wenn diese Unsicherheit beseitigt ist, werden auch wieder mehr Kinder geboren werden…
Obwohl also Kinderfreundlichkeit durch bloßes Wissen und Verstandestätigkeiten nicht zu sichern ist, können neue Erfahrungen gemacht werden, neue Reifungsprozesse einsetzen und neue Traditionen wachsen, wenn falsches Wissen und falsches Denken widerlegt und aufgeklärt wird. So wie falsche Informationen schädliche Auswirkungen haben, kann auch die Aufklärung überholter und gefährlicher Verwirrtheiten nicht wirkungslos bleiben. Manche Erwachsene haben bereits umgelernt und werden von ihren Kindern reich belohnt. Aber es bleibt, in unserer Gegend, eine Aufgabe ersten Ranges, den Irrtum, der Erziehung heißt, in großem Stile und in allen Kreisen aufzuklären. Diese Aufgabe muß von jedem Menschen, der Leben und Freiheit liebt, in Angriff genommen werden, sonst läuft die Zeit für Leben und Freiheit ab. Auch die Zeit für Liebe, für Vernunft, für Sinn, für Glück, für Mitmenschlichkeit, für Demokratie, auch die Zeit für ganz banale Elternfreuden – und auch die Zeit für Kinder.