Irwin MacOsborn
J.H. Praßl
Chroniken von Chaos und Ordnung 6
Irwin MacOsborn
Legende
Praßl, J.H. : Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende, Hamburg, Lindwurm Verlag 2021
Originalausgabe
PDF-ISBN: 978-3-948695-72-9
ePub-ISBN: 978-3-948695-71-2
Lektorat: Daniela Sechtig, Lindwurm Verlag
Umschlaggestaltung: Annelie Lamers, Lindwurm Verlag
Umschlagmotiv, Illustrationen und Karten: © J.H. Praßl
Einige der hier verwendeten Elemente wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Fantasy- und Science-Fiction-Spiele aus dem Fantasy-Rollenspiel MIDGARD übernommen.
Folgende Textstellen wurden mit freundlicher Genehmigung der Verfasser veröffentlicht:
Vorwort und Idee/Ablauf des elfischen Hochzeitsrituals: Thomas Strauß, überarbeitet von J.H. Praßl
Siralens Tagebücher: Mirjam Hierzegger, überarbeitet von J.H. Praßl
Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
Print-ISBN: 978-3-948695-70-5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Lindwurm Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,
Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
______________________________
© Lindwurm Verlag, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.lindwurm-verlag.de
Widmung
Wie üblich widmen wir den neuen Band unseren Spielern und Mitspielern, die dafür gesorgt haben, dass die Geschichte über Chaos und Ordnung so einmalig wurde. Den Figuren den richtigen Schliff zu verpassen und zugleich die Seele zu bewahren, die der Spieler diesen irgendwann eingehaucht hat, ist manchmal ganz schön herausfordernd. Aber genau das macht die Sache ja so spannend – für uns und vielleicht auch für unsere Leser, die den echten Menschen hinter unseren „Helden“ hoffentlich immer mal wieder zu spüren bekommen.
Mit diesem Band wollen wir im Besonderen folgenden Spielern danken
Katharina Prexl alias Kathi für Corpus Dippeas Prima Kambe
Manche können nicht oft genug sterben, andere kehren immer wieder, egal, wie oft man sie auch ins Jenseits befördert. Auf dich, liebe Kathi, trifft beides zu. Dass du und deine Figuren eine Bereicherung für diese Geschichte sind, müssen wir nicht erst betonen. An dieser Stelle wollen wir dir einfach noch einmal für deine Treue und stete Wiederkehr danken. Schön, dass du nicht von uns lassen kannst.
Irgendwann werden wir hier alle deine Figuren beim Namen nennen, damit auch unsere Leser wissen, mit wem sie es tatsächlich zu tun haben.
Markus Raith alias Max für Telos Malakin alias Gottesfeind, oder auch „Agramon hämmere sie alle!“
Du hast ihn zu früh gehen lassen und doch ist er noch immer hier. Kann sein, dass er zu echt ist, um einfach zu verblassen. Kann sein, dass wir ihn brauchen, damit wir eine Konstante haben – einen sich wiederholenden Lichtblick anstatt einer ewigen Dunkelheit. Und so lassen wir ihn auch nicht ziehen. Zumal sein Auftrag, oder treffender, seine Prophezeiung noch nicht erfüllt ist. Danke, dass du diesem Freund so viel Leben eingehaucht hast, Max. Andernfalls hätten wir ihn wohl schon irgendwo auf dem Weg verloren.
Mirjam Hierzegger alias Mio für Siralen alias Versprechen des Blitzes
Auch wenn dies nicht dein Band ist, so ist es dennoch das Kernstück deiner, oder anders, der Geschichte deiner geliebten Siralen. Es ist ihr Höhepunkt, ob licht oder dunkel, ihre Bühne, auch wenn vor jeder Bühne irgendwann der Vorhang fällt, ihre Sternstunde, auch wenn du lieber den Tag und die Sonne für sie gewählt hättest, hättest du nur wählen können. Danke für dieses Geschenk, das nur ein Spieler aus Leidenschaft geben kann!
Robin Hoffmann alias Robin für Grimnir Rotbart alias Der Scheißer:
"Dagegen hilft dir keine Weisheit der Welt, was?"
Ganz genau, gegen Grimnir und seine Macken ist kein Kraut gewachsen, schon gar kein elfisches. Man muss diesen Zwerg einfach über sich ergehen lassen. Dann ist einem aber auch der eine oder andere Lacher sicher. Und so geht er auch in die Geschichte ein – als ein Zwerg, ohne den es viel zu düster zuginge in unseren Chroniken. Danke dafür, Robin!
Thomas Strauß alias Thomas für Darcean Dahoccu alias Zweiauge: Seine Reden ufern aus und seine überbordende Umsicht mag manch Eine zur Weißglut bringen. Aber er ist auch so authentisch, wie eine erfundene Figur nur sein kann und so unverrückbar in seinen Anschauungen, dass er uns immer wieder vor unerwartete Herausforderungen stellt. Und klar, er ist weise, und die Weisheit ist eben nichts, das schnell schießt oder immer ein klares Wort parat hat. Sie ist, im Gegenteil, von der langsamen Sohle. Nichts desto trotz trifft sie meistens ins Schwarze. So wie dein Darcean, der immer mehr war als "nur ein Elf". Herzlichen Dank für dein Ilf Epren, Thomas!
Veit Kramer alias Veit für Irwin MacOsborn alias Meistersinger, oder auch “Rettet den Barden!":
Dieser, dein Band ist im Grunde ein recht tragischer, Veit. Aber weil du uns Irwin geschenkt hast, liest er sich nicht ganz so schwer, wie man meinen möchte. Im Gegenteil, Irwins Perspektive auf das, was passiert, macht alles erträglich, ja fast leicht und beschwingt. Wir danken dir für den adeligen Barden aus Alba, der weiß, wann es Zeit ist aufzufallen, der aber auch gelernt hat, dass es ganz selten auch mal nötig ist, die Arschbacken zusammenzukneifen. Irwin ist ein kleines Highlight der Chroniken geworden und uns allen ans Herz gewachsen.
Wie immer danken wir auch allen Voraus- und Teilzeitspielern. Wir werden euch nie vergessen! Und einige von euch sind, wie Telos, noch immer da – ganz nah …
An dieser Stelle erwähnen wir nur diejenigen, die auch im vorliegenden Band erwähnt werden:
Chris (Bargh Barrowsøn), Dominik (Thorn Gandir), Hoink (Fusulos Konfusius und Mahoon), Moritz (Kauri Akureysan), Peter (Gaan), Roland (Freon Eisfaust und Jagan Kerme), Stefan (Langeladeon), Tom (Herkul Polonius Schroeder)
Musikempfehlung
Musik zu einzelnen Szenen, im fortlaufenden Roman an den betreffenden Stellen mit ♫ markiert:
1) Traum in der Wüste (Kapitel „Die Wüste“): Das Auge Gottes – Das Ding das durch den Wind geht
2) Schlacht gegen die Scorpios
- Aufmarsch der Scorpios (Kapitel „Trommeln in der Ferne“): Tambourx Du Bronx – Live 2006, T 09
- Aufstellung der Scorpios (Kapitel „Trommeln in der Ferne“): Tambourx Du Bronx – Live 2006, T12
- Vorrücken der Scorpios (Kapitel „Trommeln in der Ferne“): Tambourx Du Bronx – Live 2006, T15
- Angriff der KEZS (Kapitel „Trommeln in der Ferne“): Eisbrecher – Die durch die Hölle gehen
- Angriff der MacDragul (Kapitel „Trommeln in der Ferne“): Eisbrecher – Komm süßer Tod
3) Erinnerung an Lomonds Traum in Valland (Kapitel „Der Morgen danach …“): Deine Lakaien – Lass mich
4) Stimme des Slarpons in Darceans Kopf (Kapitel: „Herzenswunsch“): Oomph – Ich bin du
5) Gesang Irwins und der Elfe auf Siralens und Taurons Hochzeit (Kapitel „Geliebter Mensch“)
Asp – Mein Herz erkennt dich immer
7) Der Traum von der Schwarzen Frau (Kapitel „Schwitzen“): Schweißer – Verwählt
8) Koljas Traumbotschaft 1 (Kapitel „Alle gegen alle“): Die Verlorenen Söhne – Wenn Brüder sterben
9) Koljas Traumbotschaft 2 (Nicht explizit im Buch erwähnt): Die Verlorenen Söhne – Verlorene Söhne
10) Koljas Traumbotschaft 3 (Kapitel „Alle gegen alle“): Die Verlorenen Söhne – Im Namen des Vaters
11) Im Dschungel der Blaks
- Erste Warnung der Blaks (Kapitel „Im Dschungel der Blaks“): Yello – Takla Makan
- Zweite Warnung der Blaks (Kapitel „Lautloser Tod“): Hybrids – Sjamanistic Dream (Ravemix)
- Angriff auf den Allianzstützpunkt (Kapitel „Lauffeuer“): Hybrids – Sjamanistic Dream (Rave-mix)
12) In der unterirdischen Anlage Kuirs (Kapitel „Das verbotene Wissen“): Sigur Rós – Svefn-G-Englar
13) In Nunahr (Kapitel „Fanju“): Yello – Liquid Mountain
14) Botschaft von den Dragatisten (Kapitel „Am Rand der Welt“): Die Krupps – Für einen Au-genblick
15) Tyreans Warnung (Kapitel „Kumal“): Stahlhammer – Grabesnacht
16) Totschas Botschaft (Kapitel „Denn diese Liebe wird nicht untergehen“): Stahlhammer – Für immer
Die Welt
Detailkarte El’Chan
Detailkarte „Kuir“ und „Nunahr“
Reiseroute
Detailkarte „Wafnin“
Allianzflotte
Durchschreitet man die Nebel, die aufziehen,
wenn man an den Rand von alledem kommt,
was im Weltenkreis liegt, so begegnet man dem Edh-Rashu.
Sein sengendes Auge blickt einem mitten in die bebende Seele.
Und seine donnernde Stimme fragt:
Amiainun,
was bist du, wenn du alles, was deiner Seele äußerlich ist, ablegst?
Vor den ascheübersäten Feldern stehst du dann
und siehst die Gescheiterten, die vor dir waren,
verbrannt im Staub.
Was bist du?
Ein Kind.
Das zitternde Kind blickt dann ins Innerste seines Selbst
und sieht das hohle Nichts, das dort, hinter der pompösen Fassade,
sich versteckt.
„Einheit“,
sagt das Kind.
„Geh hindurch!“,
spricht der Edh-Rashu
und das Kind durchschreitet das Tor der Ewigkeit,
und verschwindet in den Nebeln.
Amalea im Jahre 349 nach Gründung Fiorinde
Tausend und dreihundertfünfzig Jahre
nach Beginn der Chaoszeit.
Fünfhundert und siebzig Jahre
nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft.
Zweihundert Jahre nach der Vertreibung der Chaosmächte
aus den Gebieten des Nordens, des Ostens,
des Südens und des Westens.
Das Dritte dunkle Zeitalter nimmt seinen Lauf. Während die Chaos-Armeen durch die Lande ziehen und Amalea Stück für Stück unterwerfen, zerfällt die Bevölkerung in zwei Parteien. Allianz und Chaosbündnis ziehen in einen letzten großen Krieg.
In Alba passieren Horden von Orks immer wieder aus dem Norden kommend die Grenzen und beginnen, das Land Stück für Stück zu besiedeln. König Adrian MacGythrun kämpft indes mit einem Problem anderer Art. Trotz seiner allumfassenden Herrschaft bleibt ein kleines Fleckchen Erde von seinen Truppen uneingenommen. Als er mit seinen besten Kriegern und einer Reibarmee aus Orks in besagtes Gebiet, auch als Wald der Dunkelheit bekannt, vordringt, gerät er in einen blutigen Kampf gegen eine kleine Streitmacht von adeligen Rittern, die von einer Armee aus Wölfen und lebenden Skeletten begleitet wird. Adrian MacGythrun stirbt in jener Schlacht. Nach seinem Tod übernimmt seine Schwester und Ehefrau Sirion den Thron für ihren gemeinsamen fünfjährigen Sohn, und öffnet auf Anraten ihres engsten Beraters Jarog Mordo die Grenzen aller Gebiete für eine Besiedelung durch Orks. Den Wald der Dunkelheit lässt sie vollständig abriegeln.
In Erainn löste der Fall Caeir Isaharas den Untergang der Herrschaft der Menschen aus. Nach dem Verrat durch die Töchter der Schlange wurde das Heer der Vereinigten Erainnischen Fürstentümer in einer alles entscheidenden Schlacht restlos vernichtet. Nun werden die letzten Städte und Festungen von Orks erobert und alle Menschen, denen die Flucht aus ihrer Heimat misslingt, versklavt.
An den Grenzen Dragatistans herrscht Krieg. Das Land wird immer wieder von den Tulurrim angegriffen, doch die Dragatisten schlagen jeden Eroberungsversuch erfolgreich zurück. Das Land nördlich des Jenisvoi bleibt in den Händen der Anhängerschaft des neuen Gottes Dragati.
Auf den Kabugna-Inseln endet die Zeit des Friedens. Mehrere Flottenverbände aus Nahualeanca landen und erobern nach und nach einzelne Inseln an der Grenze zu Huatla. Widerstand gegen die Besetzung wird mit dem Tod bestraft. Die mit Huatla verbündeten Stämme der Kabugna-Inseln eilen ihren Bündnispartnern zu Hilfe, doch sie werden von der nahuatlanischen Flotte vernichtend geschlagen. Andere Stämme der Kabugna-Inseln nutzen deren durch die Niederlage verursachte Schwäche und greifen an. Auf den Inseln kommt es zu einem blutigen Krieg der Stämme.
Im Valianischen Imperium schickt Cäsara Rosmerta dem Bund von Kroisos zehn Legionen zur Unterstützung, wodurch der Bürgerkrieg zwischen diesem und dem Chryseischen Städtebund zugunsten des Bundes von Kroisos ausfällt. Die Kriegsbeute geht größtenteils an die Cäsara. Des Weiteren schickt sie Truppen in einige andere vorwiegend mit ihr verbündeten Teile Amaleas, sodass selbige die Kontrolle über die mit ihnen verfeindeten Gebiete übernehmen können. Ebenso wie das Wermland unterstellen sich die drei Fürstentümer der Küstenstaaten in einer gemeinsamen Erklärung der Oberherrschaft der Cäsara Rosmerta. Als Dank lässt diese den Großen Gryphos, dessen Religion ursprünglich aus den Küstenstaaten stammt, zum einzigen Gott und seine Religion als Staatsreligion im Valianischen Imperium ausrufen. Das Wermland und die Küstenstaaten werden in mehrere Provinzen unterteilt und in das Valianische Imperium eingegliedert.
Nachdem 348 nGF die reichen Händlerfamilien des nördlichen Aschrans in einem blutigen Überfall auf Billus ihre gesamte militärische Streitmacht verloren haben, lässt Rosmerta sieben an der Grenze zum Wermland stationierte Legionen in den Norden Aschrans einmarschieren, der sich weitestgehend kampflos besetzen lässt. Im Laufe des Jahres wird der Norden Aschrans in zwei valianische Provinzen unterteilt und in das Imperium eingegliedert. Die reichen Händlerfamilien, Adelshäuser und Großgrundbesitzer werden enteignet und versklavt. Jeglicher Widerstand wird brutal niedergeschlagen.
Bereits 348 nGF griff in Aschran ein riesiges Heer aus valianischen Söldnern, Stadtwachen und Leibgardisten, ausgesandt von den reichen Händlerfamilien des Nordens, die Küstenstadt Billus an und besetzte diese widerstandslos. Gerüchten zufolge hatten Verräter vom Inneren der Stadt aus die Tore geöffnet. Bei der darauffolgenden Eroberung der Festung zu Billus soll Al’Jebal schwer verletzt worden sein. Die Streitmacht der aschranischen Händlerfamilien wurde kurz darauf von einem orkischen Entsatzheer und Al’Jebals Piratenflotte unter Admiral Herkul Polonius Schroeder aus Billus wieder vertrieben und bei ihrem Rückzug von den Targar unter der Führung der Sonnenkönigin vollständig vernichtet.
Nach seiner Zerstörung im Jahre 348 nGF wird Billus nun wiederaufgebaut. Unterdessen bereitet sich die Allianz unter ihrem Sprecher Al’Jebal auf das Eintreffen der valianischen Legionen unter Cäsara Rosmerta vor und rüstet sich für die Schlachten, die im Gebiet rund um den Hauptstützpunkt Tamang erwartet werden.
El’Chan
Im Schatten der Helden
Orsen Talbot aus der sechsten Kompanie des zweiten Bataillons war ein mustergültiger Soldat. Er befolgte seine Befehle ohne Widerrede. Seine Waffen waren stets sauber und einsatzbereit. Seine Berichte waren exakt so, wie der Hauptmann sie haben wollte: knapp, präzise und vollständig. Er kam pünktlich zum Rapport, zur Wachablöse und er fiel bei Laufübungen nie zurück. Er hatte nur ein einziges Mal aufbegehrt. Das hatte wiederum gereicht, um seinen Dienst in der Sechsten zum täglichen Überlebenskampf zu machen.
Heute war nichtsdestotrotz ein guter Tag. Orsen befand sich auf dem Weg zur Wachablöse bei Tor Eins, wobei er penibel darauf achtete, einen großen Bogen um das Quartier zu machen. Denn dort widmeten sich die freigestellten Soldaten seiner Einheit gerade einem ihrer fragwürdigen Würfelspiele, die vielmehr darauf abzielten, ihren ohnehin nur rudimentär vorhandenen Verstand im Schnaps zu ertränken, als sich ein goldenes Ohr zu verdienen. Das war nicht seine Welt. Und wenn er es sich genau überlegte, waren Spieler auch nicht seine Art von Leuten.
Einige seiner Kollegen waren ganz in Ordnung. Ein Großteil der sechsten Kompanie bestand aus Vallandern. Die waren zwar ungebildet und häufig etwas einsilbig, aber man konnte mit ihnen auskommen. Was sie sagten, meinten sie auch. Es gab da allerdings auch ein paar andere Landsmänner, zum Beispiel aus Urruti. Mehr war dazu eigentlich nicht zu sagen. Die Hurruti waren rückständig, sowohl was ihre politischen als auch ihre sozialen Systeme anbelangte. Sie waren für ihre tyrannischen Regierungsformen bekannt und, so zumindest in Orsens Heimat Leeum, als religiöse Fanatiker verrufen.
Orsen prüfte den Sitz seines Einhandschwertes und lockerte den Gürtel um seine Hüften. Es war kurz vor Sonnenuntergang und seine Schicht begann in einem viertel Glas. Was bedeutete, er war wieder mal zu früh dran. Mit einem verstohlenen Blick auf die Kommandozentrale setzte er seinen Weg zum ersten Tor des Hauptstützpunktes fort.
Gestern hatte ihm der Große Gryphos einen Blick auf die liebreizende Gestalt der Kommandantin der Landstreitkräfte gewährt. Das hatte ihm den Tag gerettet. Wäre er kein Freigeist aus den Küstenstaaten, sondern ein unkultivierter Rohgeist aus Urruti, hätte er nichts als Verachtung für eine Elfe in Kommandoposition übrig. Aber da er aus Leeum kam und nicht nur ein Faible für Gesetz und Ordnung hatte, sondern auch eine besondere Liebe zur Artenvielfalt, hatte er schon in jüngsten Jahren davon geträumt, einmal einer Frau aus dem Volk der Elfen zu begegnen. Der Große Gryphos hatte ihm diesen Wunsch nie erfüllt, bis er nach seinem Einsatz während der Evakuierung der vallandischen Bevölkerung und seiner anschließenden Ausbildung in Tamang zu dieser Expedition abkommandiert worden war. Zum ersten Mal sah er sich Auge in Auge der Anmut und Schönheit des Elfenvolks gegenüber. Und so geheimnisvoll ihr Antlitz auch in seinen Träumen gewesen sein mochte, die Wirklichkeit machte kein Geheimnis daraus, dass eine menschliche Frau der Schönheit der weiblichen Elfen nicht das Wasser reichen konnte. Nicht eine.
Siralen Befendiku Issirimen Desin Suren Illju Kogena Senambra – ja, er konnte ihren Namen auswendig, wenn diese Gabe ihm auch kaum die Bewunderung seiner Kameraden einbrachte … Sie war möglicherweise nicht ganz so makellos wie ihre Artgenossen. Aber gerade die kleinen Anomalien in ihrem Gesicht hatten es ihm angetan. Die Narbe auf ihrer Wange, die nicht ganz so reinen Züge, die fast kristalline Oberfläche ihrer Haut …
Mit einem versteckten Lächeln bog Orsen zwischen zwei Zelten nach Süden ab, wo er an den patrouillierenden Wachen vorbei die Palisade entlang Richtung Strand stiefelte. Die Sonne stand bereits tief. Das während des Tages grelle Licht fiel nun in einem satten Rot wie ein feuerspeiender Drache über ein palmenähnliches Gewächs her, das einige Schritte vor ihm aus dem Boden wuchs. Schwarz zeichneten sich seine gerippeartigen Blattwedel von ihrem blutigen Hintergrund ab und schienen die Umarmung der kühlen Nacht herbeizusehnen. Die Nacht war allerdings nur für die spärlich wachsenden Pflanzen hier in dieser götterverlassenen Gegend ein gern gesehener Gast. Sämtliche Insassen des Stützpunktes fürchteten sie. Denn in der Nacht hatten die Kreaturen aus der Wüste zugeschlagen. Und das konnte jederzeit wieder passieren.
„Na, wen haben wir denn da?“, vernahm Orsen eine ihm wohlbekannte Stimme von hinten. Verdammt! Der Tag war bisher so gut gelaufen. Jetzt nahm er eine unglückliche Wendung.
Ohne sich umzudrehen, beschleunigte Orsen seinen Schritt und griff nach dem Dolch an seinem Waffengurt. Leichtsinn ist aller Tode Vorspiel.
„Aber, aber … wer wird denn gleich die Hosen voll haben?“, kam es jetzt direkt von vorne. Also waren sie zu zweit, wie meistens. Bevor er erkennen konnte, wer ihm da entgegenkam, packte jemand von hinten seine Waffenhand und bog sie ihm auf den Rücken. Er stöhnte vor Schmerz auf. Dann traf sein Blick auf den Kompaniekameraden, dem er am allerwenigsten über den Weg laufen wollte.
„Istar.“ Seine Stimme bebte, und er betete still, dass das sanfte Timbre weder Istar noch seinem Kumpel Jandras auffiel, der sich hinter ihm aufgebaut hatte und seinen Arm fixierte. „Ich dachte, deine Wache beginnt erst nach Mitternacht.“
„Gehofft, wolltest du wohl sagen.“ Ein dreckiges Grinsen legte Istars Pferdegebiss frei. „Aber nein, ich habe meine Schicht getauscht, süßer, kleiner Orsen. Wie lange hatten wir beide schon nicht mehr das Vergnügen, uns Seite an Seite die Füße plattzustehen? Du weißt ja, wie gerne ich deinen Geschichten über die Spitzohren aus Albion lausche. Und dass ich gar nicht genug von deinen Lobliedern auf die Weisheit, Güte und geistige Überlegenheit unserer viel geschätzten Kommandantin der Landstreitkräfte bekommen kann.“
Nur einmal! Er hatte nur einmal widersprochen, als ein paar aus seiner Truppe, darunter selbstverständlich auch das urrutische Großmaul Istar und die hirn- und fleischlose Wurst von seinem Kumpel Jandras über Siralen hergefallen waren. Leider war Istar nicht nur wortführend innerhalb der sechsten Kompanie, er war auch die Krönung der Schöpfung, sobald es darum ging, ihm, Orsen, die Hölle heiß zu machen.
„Sag mal, Issi“, mischte sich jetzt Würstchen Jandras ein, und Orsen war kurz versucht, sich umzudrehen. Das allerdings wäre sein Todesurteil gewesen. Wie zur Bestätigung ließ Jandras sein Handgelenk los, und einen Lidschlag später spürte er, wie sich von vorne die Spitze eines Dolchs in seine Achselhöhle bohrte.
„Oh nein, süßer Orsen. Schön stillgestanden jetzt. Und du, Jandras, nennst mich gefälligst nicht Issi! Hast du vergessen, was der Name bei mir auslöst?“
Orsen konnte es nicht sehen, aber er verwettete seine Rüstung darauf, dass sich Jandras gerade die Kauleiste rieb.
Jetzt trat Istar so nahe an ihn heran, dass Orsen seinen schnapsschweren Atem riechen konnte. „Weißt du eigentlich, dass deine geliebte Elfenkommandantin demnächst ziemlich den Arsch offen haben wird?“
Orsen zog das Gesicht zurück – gerade soweit, dass Istar sich nicht provoziert fühlte. „Nein. Und ich kann mir auch keinen Grund dafür vorstellen. Aber ich bin sicher, du wirst mir die Sachlage gleich erörtern.“
„Hast recht. Ich will unserem Musterknaben doch keine relevanten Informationen vorenthalten. Wo er doch so scharf darauf ist, alles, was er weiß, brühwarm unserem Brigadier zu verklickern. Zum Beispiel, dass die Jungs und ich gelegentlich gerne ein bisschen dem Glücksspiel frönen. Das hast du nicht für dich behalten können, was, Orsen?“ Er nickte Jandras zu, der umgehend seinen Hintern in Bewegung setzte. „Und als Strafe hab ich diesen bescheuerten Wachdienst ausgefasst, obwohl ich so viel Besseres zu tun gehabt hätte.“ Jetzt packten ihn beide an den Schultern, und er wurde zwischen zwei Zelte gezerrt. Kein gutes Zeichen. Sollten sie vorhaben, ihm eine Lektion zu erteilen, würde es wahrscheinlich niemand mitbekommen. In diesem Teil des Lagers war gerade nicht viel los. Um Hilfe zu schreien, war unter den Soldaten wiederum verpönt. Und Orsen dachte nicht daran, als feige Memme dazustehen.
„Also … ich musste Brigadier Ragna MacGythrun kürzlich zu einer Besprechung mit dem Brigadiersanwärter begleiten“, begann Istar leise. „Und weißt du, worüber die beiden geplaudert haben?“
„Ich nehme an, über die Kommandantin der Landstreitkräfte.“
„Volltreffer. Einen Handschlag für deine unsagbare Gerissenheit, Orsilein.“
Jandras stieß ein bescheuertes Lachen aus, und Istars Grinsen weitete sich. „Sie haben also über das Spitzohr geredet, auf das du so abfährst. Sie haben sich darüber unterhalten, dass das Elfenweib keine Kampfmoral hätte, dass sie lieber redet als kämpft und dass sie, wenn sie endlich doch zur Waffe greift, lieber erst dann zuschlägt, wenn der Feind keine Gefahr mehr darstellt. Hast du von dem Kampf auf der Blaurochen gehört, Orsen? Wahrscheinlich nicht. Ich will dir mal auf die Sprünge helfen. Dort haben die Expeditionskommandanten die Verräterin Lucretia L’Incarto gestellt und besiegt. Es heißt, dass die Flok den Löwenanteil im Kampf gegen die Magierin geleistet hat. Erst, als die Verräterin kurz davor war, in ihrem eigenen Blut zu ertrinken, kam dein Elfenschätzchen und hat ihr den Rest gegeben. Danach wollte sie sich als eine große Lebensretterin rühmen lassen. Hat aber nicht funktioniert, weil der Kapitän des Drachenboots, mit dem die Kommandanten zur Blaurochen gesegelt sind, geredet hat.“
„Das ist doch nur Gequatsche“, presste Orsen hervor. „Keiner weiß, was auf der Blaurochen wirklich passiert ist.“
„Der Brigadier behauptet, es war nicht das einzige Mal, dass die Elfenkommandantin während eines Kampfs im Abseits stand. Kurz, sie hat keinen Mumm.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das gesagt hat. Unser Brigadier ist kein Elfenhasser wie du und deine Kumpel.“
„Und wenn schon, er kann einen guten von einem schlechten Kommandanten unterscheiden. Und eins ist so offensichtlich wie die Macht Arinnas: Elfen sind Weicheier, die ein menschlicher Soldat, der halbwegs bei Verstand ist, niemals als Anführer respektieren wird.“ Istar schob seinen Mund ganz nahe an Orsens Ohr. „Dein Elfenherzchen ist ihren Posten als Kommandantin der Landstreitkräfte praktisch schon los, Orsilein. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass einer von den Spitzohren übernehmen wird. Auch wenn dir das wahrscheinlich gefallen würde, zumal du wahrscheinlich eine ungefähre Vorstellung davon hast, was einem Elfenanbeter wie dir blühen kann, wenn der richtige Albi das Kommando übernimmt.“
Orsen stieß den Atem aus. Und plötzlich hatte er vergessen, dass die Situation, in der er sich gerade befand, lebensbedrohlich war.
„Ja, meinst du, Issi? Da fällt mir ein, dass ich mich im Kindesalter sehr für ausländische Namen interessiert habe. Und stell dir vor, die urrutische Namensgebung hat mich besonders fasziniert, zumal eure Eltern dazu neigen, die Kinder nach ihren so verehrten Göttern zu benennen, was an und für sich schon peinlich ist. Aber, was erzähle ich dir? Du weißt es bestimmt besser. Immerhin haben deine Eltern nicht nur einen göttlichen Namen für dich ausgesucht, stimmt’s? Erzähl doch mal, Issi – haben sich deine Eltern etwa ein kleines Mädchen gewünscht? Und waren sie, als sie bei der Geburt deine hässliche Visage zu Gesicht bekamen, hernach so enttäuscht, dass sie dich ihre Enttäuschung tagaus tagein haben spüren lassen? Bist du deshalb ein so betont hartes Arschloch geworden? Damit keiner auf die Idee kommt, dass du aufgezogen worden bist wie eine kleine, schwarzgelockte Göttin?“
Zu Orsens unendlichem Glück hatte sich Istar noch so weit im Griff, dass er nicht mit dem Dolch zustieß. Stattdessen krachte eine Faust hart wie ein Felsbrocken in sein Gesicht, und Orsen taumelte nach hinten. Einen Fußtritt später änderte sich die Richtung, und er nahm den Weg nach vorne in Angriff, wo ihn ein erneuter Fausthieb in Empfang nahm und zu Boden schmetterte. Lichter explodierten in seinem Kopf, und eine Weile sah er gar nichts. Er spürte nur, dass ihn zwei paar Hände packten und irgendwohin schleiften.
„…hätte … eine Lektion … dieser Arschkriecher“, brachen die Worte wie weitere Fausthiebe in sein betäubtes Gehirn ein und hallten schmerzhaft hinter seinen Augen wider. Als die Bilder des abendlichen Lagers endlich wieder scharf und das Gerede vollständig wurden, hielt Orsen den Atem an. Nicht etwa, weil er gespannt war, was sie nun mit ihm vorhatten, sondern weil das Erste, das er sichtete … und roch … die örtliche Latrine war. Nicht schwer zu erraten, was als Nächstes kam.
„Bitte nicht“, schnappte Orsen, wobei sein Kiefer auffällig knirschte. Wahrscheinlich war er gebrochen.
„Du steckst doch gerne bis über beide Ohren in der Scheiße, oder nicht?“, kläffte Istar und drehte ihm erneut den Arm auf den Rücken. Sofort nahm sich Jandras den anderen Arm vor. Orsen saß in der Klemme. Er konnte sich weder vor, noch zurückbewegen. Und irgendwie glaubte er nicht so recht daran, dass die beiden Gnade walten ließen, wenn er sie nur höflich darum bat.
„Ich wette, als du gerade im Delirium warst, hast du darüber nachgedacht, ob einer deiner Baumficker-Freunde nicht ein schönes Gespann mit dir abgeben würde …“
Seine Arme wurden schmerzhaft Richtung Nacken gebogen, und er hatte keine Wahl, als sich vorne über zu beugen. Dann drückte eine kräftige Hand seinen Kopf nach unten und kurz darauf wurde ihm erneut schwarz vor Augen. Als er wieder auftauchte, rang er verzweifelt nach Atem. Der Gestank, der ihm in die Nase stieß, ließ ihn augenblicklich würgen. Ganz zu schweigen von dem Geschmack des Zeugs, das ihm in den Mund gekommen war. Orsen spuckte und hustete. Tränen schossen ihm aus den Augenwinkeln und in seinem Magen rumorte es wie in einem überkochenden Kessel.
„Ich schätze, dann hast du sicher auch nichts dagegen, wenn es dir einer von uns beiden ordentlich besorgt, was, Süßer?“, vollendete Istar seine diffamierende Rede.
Wieder wurde Orsens Kopf nach unten gestoßen, und er versank in der warmen Brühe aus den Fäkalien des ganzen verdammten Bataillons. Von seinem verzweifelten Kampf gegen das Ertrinken abgelenkt, nahm er kaum wahr, wie ihm sein Gambeson nach oben geschoben und die Beinlinge nach unten gerissen wurden. Erst als er nach Luft japsend wieder auftauchte und sein Kopf mit einem Schraubstockgriff knapp über der Latrine festgehalten wurde, schwante ihm, was die beiden sonst noch mit ihm vorhatten.
„Nein!“
„Nicht?“, kläffte Istar.
„Bitte …“
„Ach komm, ich dachte, du würdest dich freuen.“
„Bitte nicht!“
Orsen konnte es nicht sehen, aber er hatte den Eindruck, dass Istar und Jandras Blicke austauschten. Dann lockerte sich der Griff um seinen Nacken.
„Hast noch mal Glück gehabt. Wir nageln keine Kerle. Und wenn du willst, dass wir davon absehen, jemanden für dich zu suchen, der doch darauf abfährt, würde ich mir an deiner Stelle sehr gut überlegen, ob du noch einmal einen Kameraden verrätst.“
Damit verpasste Jandras ihm einen Tritt in den Hintern, und Orson sackte neben der Latrine in die staubige Erde. Er bewegte sich nicht und hoffte, dass die beiden genug von ihrem Spielchen hatten. Erst als er sich sicher war, dass sie weg waren, richtete er sich ächzend auf. Er wischte sich mit dem Handrücken über das dreckverschmierte Gesicht und spuckte ein paar Mal aus. Seltsamerweise roch er nichts mehr, obwohl der Gestank heftig sein musste, der an ihm haftete. Offensichtlich hatte ihm der Schock über das, was noch mit ihm passieren hätte können, den Geruchssinn geraubt.
Seine Kniegelenke schmerzten, als er sich auf den Rücken drehte und in den langsam dunkler werdenden Himmel starrte. Seine Wache würde er diesmal nicht pünktlich antreten, zum ersten und hoffentlich letzten Mal. Wenn er sich bei seinem Hauptmann mit dieser Geschichte hier rechtfertigen würde, gälte er hingegen erst recht als Kameradenschwein. Also eine weitere Lektion ertragen …
Was machte er aber jetzt mit Istars Geschichte über den Brigadier MacGythrun und seinen Plänen Siralen Befendiku Issirimen betreffend? War sie wahr, oder wollte ihn Istar nur provozieren? Aber wenn sie wahr war, musste er sie dann nicht der Oberkommandierenden der Landstreitkräfte berichten?