Christa Prameshuber

DIE MEISTERIN

Erinnerungen an die
bemerkenswerte Künstlerin Mia Beyerl

Für Chiara, Teresa und Verena

PRÄLUDIUM

23. September 2014

Heute bin ich schon seit fünf Uhr morgens unterwegs. Die schwierigen Verhandlungen über die Preisgestaltung mit einem unserer Hauptkunden sollen endlich abgeschlossen werden. Gestern habe ich noch bis kurz vor Mitternacht alles minutiös vorbereitet. Nach der Landung in Luxemburg schaue ich auf meinen Blackberry: Der Termin ist um drei Stunden verschoben. Was mache ich jetzt? Soll ich am Flughafen warten? Die Sonne lacht vom Himmel. Nein, ich will an die Place d’Armes in das Herz des historischen Stadtkerns fahren.

Dort möchte ich die mir unverhofft geschenkten drei Stunden auskosten und in Ruhe zu Mittag essen. Dann soll, von mir aus, die Hektik wieder das Ruder übernehmen und ich werde für meinen Arbeitgeber das unangenehme Gespräch mit dem ungehaltenen Mandanten zu einem hoffentlich zufriedenstellenden Ende bringen.

Das viele Reisen, das frühe Aufstehen, die immer mühsamer werdenden Reisekontrollen, wie lange will ich das eigentlich noch durchhalten? Ein halbes Leben habe ich hinter mir, hoffentlich noch ein halbes vor mir. Will ich ewig so weiterschuften? Ich befinde mich in der Mitte des Lebens und stelle mir viele Fragen, aber die Geschäftigkeit des Alltags will deren Beantwortung nicht zulassen. Oder lasse ich es nicht zu? Jetzt aber koste ich die zusätzlichen Stunden aus und träume ein bisschen: Wie werde ich wohl aussehen, wie werde ich leben und wie werde ich wirken, wenn ich alt bin?

Ich fahre im Taxi an die Place d’Armes. Dort spricht mich ein altmodischtraditionelles Gasthaus an. Ich setze mich an einen Tisch vor dem Fenster, von dem aus ich die Terrasse überblicken kann.

Auf meinen Reisen verbringe ich oft Wartezeiten allein in Kaffeehäusern oder esse einsam in Restaurants zu Mittag und beobachtete die Menschen um mich herum, am liebsten ältere Personen. Ich bin von überwiegend betagten Verwandten großgezogen und aufs Leben vorbereitet worden. Damals hielt ich ihre oftmals unzeitgemäßen Prinzipien, kuriosen Weisheiten und überholten Ratschläge für altmodisch, heute glaube ich, dass ich ihnen meinen gesunden Menschenverstand und Ideenreichtum verdanke.

Es beruhigt mich, in Restaurants wie eine Zuschauerin dem abwechslungsreichen Schauspiel des Kommens und Gehens beizuwohnen, und wenigstens für drei Stunden lasse ich meinen Blackberry unbeantwortet in der Tasche brummen.

Da fällt mir eine circa siebzigjährige, stark geschminkte und im Vergleich zu allen anderen ungewöhnlich gekleidete Frau auf. Ihr samtener lilafarbener Rock ist lang und liegt eng an, darüber trägt sie ein dunkles Cape. Unzählige lange Ketten hängen um ihren Hals und wippen mit jedem ihrer Schritte mit. Am Kopf thront eine ebenfalls lila Kappe, seitlich mit einer ausgefransten Vogelfeder bestückt. Sie nähert sich verunsichert der Terrasse, blickt wiederholt in alle Richtungen und nimmt schließlich an einem kleinen runden Tischchen Platz. Sie erinnert mich augenblicklich an meine Großtante Mia. Ein wenig rastlos wirkt sie, sie scheint auf jemanden zu warten. Sie umklammert ein großformatiges Buch, und nach ein paar Minuten platziert sie dieses schließlich vor sich, während ihre Augen nervös rundherum blicken. Erwartet sie jemanden?

Ich winke den Kellner herbei und bitte ihn komplizenhaft: „Bringen Sie der Dame mit dem Hut doch ein Glas Champagner auf meine Kosten. Sagen Sie ihr aber bitte keinesfalls, von wem es kommt. Erwähnen sie nur, es sei ‚von einem Verehrer‘. Gespannt beobachte ich nun die Szene. Ohne weitere Fragen zu stellen, tut der Kellner wie ihm geheißen und serviert diskret die mit Schampus prickelnde Flöte ganz edel auf einem Silbertablett mit weißer Leinenserviette. Zuerst scheint die alte Dame zu glauben, er habe sich geirrt, ich kann ihre Worte nicht verstehen, sehr wohl aber ihrer Gestik folgen. Dann dreht sie sich um, blickt suchend durch das Verandafenster in den Saal hinein, der sich inzwischen bis auf wenige Leute geleert hat. Schließlich lehnt sie sich zurück, entspannter als vorher. Sie rückt sich im Sessel zurecht, ein Lächeln erscheint auf ihren Lippen und genüsslich nippt sie am Champagner. Vor meinen Augen erblüht sie zu einer Diva, die beglückt feststellt, dass ihre in die Jahre gekommene Faszination immer noch wirkt.