Ursachen, Auswirkungen und Bewältigungsstrategien
Bildnachweis:
S. 172/173: STT studio, Sophia Tzioutzias, München
Originalausgabe
1. Auflage 2021
Verlag Komplett-Media GmbH
2021, München
www komplett-media de
ISBN: 978-3-8312-0590-5
eISBN: 978-3-8312-7093-4
Auch als E-Book erhältlich
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in diesem Buch die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.
Lektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Korrektorat: Katharina Theml, Wiesbaden
Umschlaggestaltung: Favorit Büro, München
Layout und Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.
Für Yadi
»Wenn eine Erkrankung jeden Bereich des Lebens betrifft, muss auch
die Heilung über jeden Bereich des Lebens gehen.«
Dr. Iris K. Orbuch
Vorwort
Prolog: der Denkanstoß
Endometriose – das Unbegreifliche
Endometrio-Zen
Die Endometriose-Gerüchteküche
Im Hier und Jetzt
Endo an – Licht aus
Der Endometriose-Schmerz – jenseits aller Worte
Der Endometriose-Blues
Das Depressions-Schmerz-Kontinuum
Die Endometriose-Persönlichkeit – Frauen, die auf Tampons starren?
Bittere Pillen
Eine stressige Angelegenheit
Ist das ein Symptom, oder kann das weg?
Das hat man schon mal
My Body is a freaking Wonderland
Reine Nervensache
Außer Betrieb – psychosoziale Aspekte der Endometriose
Nicht gesellschaftsfähig
»Warum bist du immer so müde, Mama?«
Arbeit und Alltag
Damenqual
Unter der Gaslaterne
Die Frau – das rätselhafte Wesen
Heute nicht, Schatz! – Endometriose, Sex und Beziehung
Zwischen Tabu und Menschenrecht
Vom Lover zum Mitbewohner
Sexualtherapie ist oft unbefriedigend
Konkretes, bitte!
Vaginale Osteopathie
Die Psyche mitbehandeln
Endometriose ist nicht psychosomatisch, sie ist somatopsychisch
Alexithymie – wenn man nicht fühlt, was man fühlt
Der Eisbär im Auto
Zeit des Erwachens – Endometriose und Trauma
Wenn man nicht sein kann, wer man ist
Wach auf, Schatz!
And I’ll take the low road …
Endometriose und Kindheitstrauma
Weil es nicht psychologisch ist
Traumatherapie bei Endometriose
Kämpfen, weglaufen, versteinern, nett sein?
Medizinisches Trauma
Wir müssen über Trauma sprechen!
Vom Überleben ins Leben
Was uns heilt, sind wir selbst!
Achtsam verbunden
Somatics – den Körper an sich selbst erinnern
Yoga – Verbinden und Empfinden
Kinesiologie – der Körper weiß Bescheid
Den Vagusnerv aktivieren
Hypnotherapie – lass dein Unterbewusstsein für dich arbeiten
Nachwort: Wohin führt deine »low road«?
Quellen
»Wollen Sie es wissen, oder wollen Sie sich zurückfallen lassen?« – »Ich will es wissen! Ich habe ein Recht darauf zu wissen, was mit mir los ist!«
Als ich damals diese Worte zu meinem Psychologen gesagt hatte, ahnte ich noch nicht, dass ich dabei war, nach Jahrzehnten in Dunkelheit an die Oberfläche zu steigen und endlich zu atmen. Ich wurde in den letzten Jahren so oft gefragt, was ich getan habe, dass es mir wieder gut geht und ich kaum noch Endometriose-Schmerzen habe. Da die Antwort nicht in einen Satz zu packen ist, schreibe ich dieses Buch.
Ich kann gar nicht genug betonen, dass Endometriose keine psychische oder gar eine eingebildete Erkrankung ist. Der Schmerz ist real, ihm liegen wenig entzückende körperliche Prozesse zugrunde. Und doch werden die Stimmen lauter, die Psyche in der Endometriose-Versorgung nicht zu vernachlässigen – und das aus gutem Grund. In »Endometriose und Psyche« möchte ich die Beziehung zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit bei Endometriose-Betroffenen beleuchten. Zudem möchte ich zeigen, was man zum oftmals unterschätzten Zusammenhang zwischen Trauma und Endometriose bisher sagen kann und warum manche Mediziner der Meinung sind, dass Traumatherapie immer in die Endometriose-Behandlung aufgenommen werden sollte – unabhängig davon, ob ein Kindheitstrauma vorliegt oder nicht.
Es geht mir darum, den Blick auf die Endometriose zu erweitern. Die Erkrankung erfasst nicht nur unseren Körper, sondern trifft uns in unserer Ganzheit. Ich möchte zeigen, wie sehr die Vernachlässigung unserer psychischen und emotionalen Bedürfnisse zur Krankheit beitragen, und was wir selbst in diesem Bereich für uns tun können, um unsere Gesundheit positiv zu beeinflussen. Dabei erhebe ich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Seht es als Inspiration!
Ich bin mir darüber bewusst, dass ich mich mit der Darstellung meines eigenen Seelenleidens angreifbar mache. Wenn ich damit den Leidensweg einer Endoschwester verkürzen kann, wird es sich gelohnt haben. Manche Dinge erlebt man, um ihnen einen Sinn zu geben. Ich selbst konnte erst mit dem Aufdecken meines eigenen Traumas anfangen, Konsequenzen zu ziehen und zu heilen. Es hat mir geholfen, mich von toxischen Beziehungen zu trennen, meinen Lebenstraum zu verwirklichen und nach Schottland auszuwandern. An dieser Stelle möchte ich eine Triggerwarnung aussprechen, denn es werden emotional schwierige Themen angesprochen.
2017 erschien mein Buch »Nicht ohne meine Wärmflasche – Leben mit Endometriose«. Hier gebe ich aus Sicht der Betroffenen eine erste Orientierung für die Zeit nach der Diagnose und einen Überblick über Krankheit, Diagnostik, schulmedizinische und alternativmedizinische Methoden sowie Themen der Selbsthilfe. Ich bin froh und dankbar für die vielen, positiven Rückmeldungen auf mein erstes Buch. Vor allem bin ich dankbar für die Anregungen, in welchen Bereichen noch Aufklärungsbedarf gesehen wird. In »Endometriose und Psyche« mache ich dies ebenfalls und gehe auf die gewünschten Themen ein.
Die Endometriose ist eine unter Experten umstrittene Erkrankung. Ich möchte betonen, dass die jeweiligen Personen, die ich interviewt habe, nicht zwingend mit allen von mir angebrachten Zitaten und Darstellungen der Endometriose konform gehen müssen. Experten-Interviews sollten immer als unabhängig betrachtet werden.
Für ihre wertvolle Unterstützung danke ich sehr (in alphabetischer Reihenfolge): Herrn Dr. Balint Balogh, Frau Dr. Stephanie Dittmar, meiner Schwester Melanie Hartmann, Tobias Hopfner, Tonia Kanitz, Rabea Kieß, Frau Dr. Alexandra Kohl-Schwartz, Nina Svenja Lehmann, Kamila Lichtenhagen, Katja Materne, Shirley Reynolds, Gayatri Schriefer, Jahanavi Schriefer, Johanna Netzl, Eva Sturm.
Mein Buch ersetzt nicht den Rat von Medizinern oder Psychologen. Ich bin nur eine Patientin mit schrecklich vielen Fragen. Sollten Fragestellungen oder Probleme auftreten, wende dich bitte an Ärzte oder Psychologen.
Zur Endometriose fehlen groß angelegte Studien. Prozentangaben sind also eher mit Vorsicht zu genießen und geben lediglich Tendenzen wieder. Ich habe mich um Richtigkeit und Aktualität der Aussagen bemüht, bin dabei aber von den jeweiligen Quellen abhängig und kann keine Gewähr dafür übernehmen, vor allem weil sich bei den Erkenntnissen um die Endometriose ständig etwas ändert.
Bücher und Menschen, die entgeltliche Dienstleistungen anbieten, erwähne ich in diesem Buch völlig freiwillig, ich glaube, man nennt es »unbezahlte Werbung«.
Alles in allem hoffe ich, einen Denkanstoß geben zu können. So wie meine eigene Reise mit einem Denkanstoß begonnen hat …
»Rezidiv?!« – Ich saß vor der Chefärztin einer Frauenklinik, ebenso zerwühlt wie das Taschentuch, an dem ich zupfte. Die Endometriose war also wieder zurück. Grundsätzlich bin ich kein unhöflicher Mensch, aber auf meiner Seite war wenig Wiedersehensfreude.
»Sie sollten sich in einem Endometriose-Zentrum beraten lassen.« Ja, das sollte ich. Nach 25 Jahren mit heftigsten Schmerzen, Not-OPs, subaufmerksamen Ärzten und ständigem Rechtfertigen vor Familie, Partner, Ämtern, Freunden und Kollegen, gekrönt von Nebenwirkungen der Hormonpräparate sowie Rumdümpeln in unfreiwilliger geringfügiger Beschäftigung war ich leider nur eins: Völlig resigniert!
Da brach es aus mir heraus: Unter lang zurückgehaltenen Tränen erzählte ich, wie die Schmerzen im Alter von 15 mit Einnahme der Pille angefangen hatten. Wie ich von Ärzteseite nie ernst genommen worden war. Wie man 13 Jahre später fast vier Kilo aus meinem Bauch herausgeholt hatte – Endometriose-Zysten am Bauchfell, Teile der Eierstöcke, einen Eileiter, 30 Zentimeter Enddarm, Endometriose am Harnleiter, daneben ein Myom und jede Menge freier Flüssigkeit. Ja, es sei ein Wunder, dass von mir überhaupt noch etwas übrig sei. Ich erzählte von Not-OPs wegen Darmverschlüssen, Fatigue, Schwindelgefühl, Brain Fog, Migräne, übermäßigem Harndrang, Verstopfung, schmerzhaften Darmbewegungen, Neurodermitis, Allergien, Histaminunverträglichkeit und Unterzuckerungserscheinungen.
Eher beiläufig erwähnte ich, nur einmal in der ganzen Zeit Ruhe gehabt zu haben: Im Alter von 25 hatte ich zwei Semester in Schottland studiert. Dort stellte ich zu meinem Erstaunen fest, monatlich einfach nur zu menstruieren. Mit einer Packung Binden in der Hand stand ich im Badezimmer der Studenten-WG und dachte: »Moment mal: Wieso stehe ich aufrecht? Wo sind die Schmerzen?« Das ganze Jahr über ging es mir so gut wie noch nie. Ich hätte schottische Pinien ausreißen können – ohne Medikamente und trotz frittierter Mars-Riegel, Zigaretten sowie Dauerstress durch Uni und zwei Nebenjobs (nicht zum Nachahmen geeignet!). Ein halbes Jahr, nachdem ich nach Deutschland zurückgekehrt war, kauerte ich wieder in Embryohaltung auf der Couch. Die Endo explodierte förmlich, und mit der ersten Not-OP erhielt ich dann die Diagnose.
Die Ärztin hörte mir aufmerksam zu. Schließlich beugte Sie sich zu mir vor und sagte eindringlich: »Hören Sie, ich bin jederzeit für Sie da. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, können Sie mir gern eine E-Mail schreiben. Aber tun Sie mir einen Gefallen: Gehen Sie zu einem Psychologen, und finden Sie heraus, warum Sie sich nur weit weg von Familie und Heimat gut fühlen konnten!«
Okay. Was meinte sie denn jetzt? Was hatten Familie und Heimat damit zu tun? Wieso sollte ich einen Psychologen aufsuchen? Wollte sie mir etwa unterstellen, dass ich mir trotz der Diagnose die Schmerzen eingebildet hatte? Wenn so ein Geschwür auf den Ischias drückt, dann hat das doch nichts mit einem empfindsamen Gemüt zu tun! Nachdenklich fuhr ich nach Hause. Das war im Juni 2013. Seitdem hat sich alles verändert.
Man muss es mal aussprechen: Niemand weiß genau, was Endometriose ist. Auch nicht die Experten. Sie versuchen, die Erkrankung so gut wie möglich zu umschreiben. Es gibt einen Haufen Theorien und Vermutungen, aufgrund derer wir bis heute behandelt werden. Noch sind die Ursachen unbekannt, und die Definition der Endometriose ändert sich wie die Wettervorhersage. Unter den Ärzten haben sich mittlerweile verschiedene Lager herausgebildet, manch einer spricht sogar von verschiedenen »Glaubensrichtungen«.
Über Endometriose nachzudenken und sie begreifen zu wollen, ist wie ein buddhistisches Rätsel lösen zu müssen. Koan werden diese Denkspiele genannt. Dabei handelt es sich um unlösbare Fragen, die buddhistische Zen-Meister ihren Schülern stellen. Diese Fragen sind nicht durch Denken zu beantworten. Trotzdem lohnt es sich, ihnen auf den Grund zu gehen. Wenn Denken nicht hilft, erschließt sich einem die Wirklichkeit über das Erfahren. So findet man dann die Antwort.
Koans können beispielsweise sein: »Was ist das Andere?«, »Was ist das Bewusstsein?« oder »Wer bin ICH?«. Die Antwort kommt plötzlich, sie kommt aus dem Hier und Jetzt und aus dem Selbst heraus. So macht sie meist auch nur für einen selbst Sinn. Doch es ist der Zen-Meister, der am Ende bestimmt, ob die Antwort richtig ist.
Wie es aussieht, sind die Zen-Meister der Endometriose auf ihrem Weg zur Erleuchtung an einem Karma-Knoten hängen geblieben … 2018 eröffnet ein schottischer Experte seine Präsentation in Edinburgh mit der Anmerkung: »Seit 30 Jahren forschen wir an der Endometriose. In der Zeit hat sich nicht wirklich viel getan. Man probiert immer noch mit den gleichen Wirkstoffgruppen herum.«
Als Patientin hat man diese Geduld nicht und möchte zu gern sagen: »Geh mal zur Seite, ich guck mal eben drauf!« Schon watet man an einem Sonntagmorgen in Puschen und völliger Selbstüberschätzung knietief durch ausgedruckte Forschungsartikel. Nach dem Lesen ist man zwar schlauer, aber nicht gesünder. Fünf Operationen und zehn Hormonpräparate später verzichtet man auf alles, was schmeckt, lutscht an Heilkräutern aus Geschäften, in denen man einen Gremlin käuflich erwerben könnte, und lässt sich Nadeln in Körperstellen stechen, von denen man nicht mal wusste, dass sie existieren. Wenn’s auch nicht schadet und seine Berechtigung hat – die Resultate sind im Individualfall ebenso wenig vorauszusagen wie die Lottozahlen. Denn wie der US-amerikanische Endometriose-Experte Dr. Andrew Cook (Instagram: @vitalhealthendometriosis) es formuliert, nützen diese Dinge wenig, solange man noch die »Handbremse angezogen hat«. Was diese Handbremse ist, werden wir hier gemeinsam herausfinden.
In Anbetracht dessen, was ich mit der Endo alles durchgemacht habe, geht es mir heute richtig prima. Schmerzen habe ich kaum noch, über die letzten sechs Jahre kann ich es an einer Hand abzählen. In diesen Fällen waren sie nur leicht, oder heftig aber ganz kurz, und dann vor dem Hintergrund eines Phänomens, zu dem ich später noch kommen werde. Mir geht es gut, obwohl die Rezidive, die man 2013 bei mir diagnostiziert hatte, nie entfernt wurden. Nach einem langen Leidensweg kann ich heute so extravagante Dinge tun wie einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen oder Staubsaugen, ohne danach eine Verabredung absagen zu müssen. In dem Sinne würde ich mich als »trockene« Endometriose-Patientin bezeichnen.
Jetzt, wo das alles durch das Ausbleiben von Schmerzen und Depressionen wieder fluppt, ist mir noch mal bewusst geworden, wie sehr die Endo mich über die Jahre eingeschränkt hatte. Ich kann eigentlich jetzt erst – mit Mitte 40! – so etwas wie ein »normales« Leben beginnen. Ich bin jetzt »jünger« als mit 28. Herrje, ich bin Benjamin Button!
Nach 20 Jahren habe ich mein persönliches Koan für mich beantwortet. Es lautet:
»Warum war ich in dem Jahr in Schottland symptomfrei?«
Daraus entwickelte sich zwangsläufig ein weiteres Koan. Ironischerweise hatte ich mir dies rein zufällig beantwortet, ohne mir all dieser Dinge zu diesem Zeitpunkt bewusst zu sein:
»Was auch immer zur Symptomfreiheit geführt hatte – kann ich es anwenden, damit es mir weiterhin besser geht?«
So viel kann ich schon mal verraten: Vieles deutet darauf hin, dass meine Symptomfreiheit in Schottland alles andere als Zufall war. Dies untermauern keine Zen-Meister, sondern Ärzte und Forscher, die sich seit Jahrzehnten mit chronischen Krankheiten beschäftigen und für einen Wandel in der Wissenschaftswelt stehen, Körper und Psyche nicht mehr als getrennt voneinander zu betrachten. Wichtige Vertreter der sogenannten Body-Mind-Connection sind etwa Mediziner wie Bessel van der Kolk mit seinem Buch »Verkörperter Schrecken«, Gabor Maté, Autor des Buches »Wenn der Körper Nein sagt« oder der Pharmakologe Dr. David Hamilton, der unter anderem »Achte auf deine Gefühle: Wie der Geist den Körper heilt« geschrieben hat. Bei den Erkenntnissen handelt es sich übrigens nicht um esoterische Hippie-Hypothesen, sondern um Hardcore-Wissenschaft im Crossover von Quantenphysik, Neurologie und Medizin.
Ein Stichwort ist hier besonders wichtig und wird leider oft sehr einseitig verstanden: Trauma. Diesen Bereich werden wir uns später ein bisschen genauer anschauen müssen, denn erstens ist ein Trauma nichts rein Psychologisches, zweitens sind Dinge, die ein Trauma auslösen können, vielfältiger und zuweilen subtiler, als man vielleicht annehmen mag. Und drittens vertreten manche Experten die Meinung, dass Maßnahmen gegen Trauma bei Endometriose immer eine Rolle spielen sollten − unabhängig davon, ob Kindheitstraumata oder andere von der Endometriose unabhängige Traumatisierungen vorliegen. Am Ende geht es darum zu zeigen, dass es mehr Dinge gibt als Ernährungsumstellung und Akupunktur, die wir für uns tun können, um selbstwirksam und heilungsfördernd einzugreifen.
Bevor es hier zu Missverständnissen kommt: Endometriose ist keine »psychische Erkrankung«! Die Schmerzen sind nicht eingebildet! Es handelt sich um eine ernst zu nehmende körperliche Erkrankung mit teilweise verheerenden Folgen.
Doch Nervensystem, Immunsystem, Hormonsystem, Verdauungssystem – alles ist miteinander verbunden. Körperliche Prozesse beeinflussen Emotionen und umgekehrt. Wir sind ein einziges Supersystem! Neue Disziplinen wie die Psychoneuroimmunologie spiegeln diese Erkenntnisse wider. Wahrscheinlich werdet Ihr darüber erstaunt sein, wie körperlich es in einem Buch zu Endometriose und Psyche zugehen wird, wenn ich der Frage auf den Grund gehe:
»Wie beeinflussen sich Endometriose und Psyche wechselseitig?«
Wenn ich über Endometriose und Psyche schreibe, möchte ich ganz bestimmt nicht dazu aufrufen, alle Arztpraxen hinter sich zu lassen und »einfach nur mal drüber zu reden«. Endometriose sollte immer schulmedizinisch abgeklärt und begleitet werden. Ohne OPs wäre ich heute nicht mehr hier. Doch mein eigentlicher »Heilungsweg« begann mit ganz anderen Maßnahmen und Konsequenzen.
Mein kleiner, bescheidener Beitrag ist es nun, dir all die Informationen zur Verfügung zu stellen, die mir auf meinem Weg seit dem Denkanstoß geholfen haben. Vielleicht helfen sie dir ja, deine eigenen Antworten zu finden. Denn ob Schulmedizin, Alternativmedizin, Schamanen, Selbsthilfebücher-Autoren oder Bill Gates – niemand wird dir DEIN persönliches Koan beantworten können (und dafür gibt es sogar eine wissenschaftliche Erklärung – sei gespannt!).
Bevor wir ins Thema einsteigen, sollten wir erst einmal klären, womit wir es zu tun haben, wenn wir über Endometriose sprechen. Denn dies ist alles andere als eindeutig.
Endometriose ist eine geradezu »unter-forschte« Erkrankung. Prof. Dr. Jörg Keckstein schreibt in seinem Buch »Endometriose – die verkannte Frauenkrankheit«, dass Daten über die biochemischen und physiologischen Abläufe der Endometriose eher »dürftig« seien. Repräsentative Studien fehlten an allen medizinischen Ecken und Enden.
Die mangelnde Aufmerksamkeit ist nicht mit Seltenheit zu rechtfertigen. Eine Zahl, die immer wieder genannt wird: 176 Millionen. So viele Frauen sollen weltweit an Endometriose leiden. Mittlerweile wurde die Schätzung auf 200 Millionen hochkorrigiert. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich wesentlich höher. Laut einer Hochrechnung von Dr. Camran Nezhat und Dr. Farr Nezhat, die davon ausgehen, dass Endometriose gemeinsam mit 85 Prozent der Myom-Diagnosen auftritt, seien es wahrscheinlich sogar mindestens 900 Millionen Frauen, die in ihrem Leben zumindest einmal eine Endometriose entwickelten.
Endometriose ist und bleibt also ein Mysterium. Bevor wir eine genaue Definition haben werden, werden wir wahrscheinlich erst Atlantis in Google Maps finden. Im Folgenden habe ich zusammengetragen, was ich bisher zu den absoluten Basics finden konnte, und werde in einem gleich mal ein paar Vorurteile aus der Gerüchteküche fegen. Es erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder gar offene Fragen beantworten zu können, sondern soll zeigen, wie umstritten die ganze Angelegenheit doch ist:
Das Global Forum for Endometriosis (endometriosis.org) ist eine internationale Plattform, auf der News und Erkenntnisse aus der Endometriose-Forschung kommuniziert werden. Experten aus der ganzen Welt begutachten die Artikel, bevor sie veröffentlicht werden. Hier wird einer der häufigsten Fehler in der Endometriose-Aufklärung bemängelt: Zu viele Zeitungen und Online-Quellen beziehen sich auf Endometriose als »Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutter«. Dies ist nicht korrekt. Die Endometriose-Forschung ist sich einig, dass es »gebärmutterschleimhaut-ÄHNLICHES Gewebe außerhalb der Gebärmutter« ist.
Eine italienische Forschungsarbeit von 2018 mit dem Titel: »Es ist an der Zeit, die Endometriose neu zu definieren, einschließlich ihrer pro-fibrotischen Natur« nimmt der Endometriose in manchen Fällen sogar allbekannte Minimal-Merkmale wie die gebärmutterschleimhautähnlichen Zellen. Einheitliches Merkmal aller Formen seien eher glatte Muskelkomponenten und Fibrose (eine Art narbige Veränderung aufgrund chronischer Entzündung oder überschießender Wundheilung). Ups, was ist denn da los? Formen der Endometriose ohne Endometriosezellen?
Manche Wissenschaftler glauben, dass wir Endometriosezellen schon von Geburt an in uns tragen und diese im Laufe des Lebens von etwas getriggert werden. Im Zuge seiner Forschung untersuchte Dr. David Redwine Neugeborene, die kurz nach der Geburt verstorben waren. Er entdeckte Endometriose in jedem neunten weiblichen Baby. Zudem entdeckte er typische Wachstumsbahnen. Seine Theorie: Wenn man Endometriose von all diesen Wachstumsbahnen entferne, wäre man sie los.
Die Theorie der retrograden Menstruation, die besagt, dass Gebärmutterschleimhautzellen mit dem Menstruationsblut, das rückwärts über die Eileiter zurückläuft, im Bauchraum zur Endometriose würden, nennt Redwine die »gefährlichste Theorie in der Medizingeschichte überhaupt« und stellt die Frage, ob diese Theorie nicht vielmehr eine Entschuldigung für »die ineffektive Behandlung von Generationen von Frauen« sei. Andere Wissenschaftler halten sehr wohl an der retrograden Menstruation als einer der verursachenden Faktoren fest. Vor allem in Europa ist diese Theorie noch weit verbreitet.
Philippa Bridge Cook, Vorsitzende der kanadischen Endometriose-Vereinigung und Wissenschaftlerin im Bereich medizinische Genetik und Mikrobiologie, schreibt in einem Artikel, dass die Akzeptanz der Theorie von der retrograden Menstruation lediglich den pharmazeutischen Unternehmen ein exzellentes Werkzeug an die Hand gäbe, Medikamente zu verschreiben, welche die Menstruation unterdrückten.
Man ist sich darüber einig, dass bei der Entstehung einer Endometriose eine erbliche Komponente vorliege: Wenn eine Verwandte ersten Grades eine Endo hat, hätte man selbst ein 7-mal höheres Risiko. Der schottische Pharmakologe Dr. David Hamilton oder der Mediziner Gabor Maté betonen allerdings, dass Gene in der Vorstellung der Menschen zu viel Einfluss hätten. Auch wenn man gewisse Gene in sich trägt, müssen diese erst durch äußere Einflüsse »eingeschaltet« werden. Krankheiten, die rein genetisch bedingt sind, sind äußerst selten.
Nun, nicht unbedingt. Es gibt Frauen mit ausgeprägten Endometriose-Herden (auch Endometriose-Läsionen genannt), die symptomfrei sind. Bei ihnen hat die Endometriose keinen Krankheitswert. Selbst eine ausgeprägte tief-infiltrierende Endometriose bereitet zuweilen keine Beschwerden. Zur Krankheit wird sie erst mit den Symptomen. Diese können vereinzelt oder im Gesamtpaket auftreten: Schmerzen, Unfruchtbarkeit, Funktionseinbußen befallener Organe.
Befunde können über Jahre konstant sein. Prof. Dr. Huber schreibt auf seiner Website, dass es in 17–29 Prozent sogar zu einer Art Spontanheilung zu kommen scheint. Eine Vergleichsstudie von 2016 unter Beteiligung von Prof. Dr. Keckstein konnte eine generelle Progressivität ebenso nicht bestätigen. Es kommt wohl immer auf den Einzelfall an.
Im Allgemeinen scheint man das so nicht sagen zu können. Die oben erwähnte Vergleichsstudie gibt an: Endometriose am Bauchfell rezidiviert nach der OP in 20 Prozent, Endometriose an den Eierstöcken in 7–20 Prozent und tief-infiltrierende Darm-Endometriose in 5 Prozent der Fälle. Manche Experten, wie etwa Dr. Seckin (Instagram: @seckinmd) oder Dr. Harry Reich aus den USA, sind sich darüber einig, dass es sich im seltensten Fall um »wahre« Rezidive handelt. Sie gehen davon aus, dass Reste der Endometriose bei vorherigen OPs im Körper zurückgelassen wurden.
Manche US-amerikanischen Spezialisten auf dem Gebiet der Exzisions-Chirurgie, dem tiefen Herausschneiden der Endometriose, sind da anderer Meinung. Dr. Andrea Vidali (Instagram: @endometriosis_surgeon) und Dr. Patrick Yeung (Instagram: @ppyeujgjrmd) gehören beispielsweise dazu. Ihre Behauptung: Endometriose ist mit Exzision sehr wohl heilbar (im Sinne von: die Endometriose-Herde wachsen nicht wieder nach + Schmerzerleichterung bis Schmerzfreiheit).
Auf der anderen Seite des Globus vertreten die Ärzte des Indian Centre’s for Endometriosis (Instagram: @endometriosis_india) dieselbe Meinung. Dr. Abhishek Mangeshikar etwa erläutert, teilweise wende man heute noch die sogenannte Ablation als Operationstechnik an. Dabei wird die Endometriose nur oberflächlich abgetragen. Rezidivraten liegen dann bei über 50–80 Prozent. Dahingegen liegen die Rezidivraten durch Exzision unter 10 Prozent.
Als Pionier der Exzisions-Chirurgie bei Endometriose klärt Dr. David Redwine über seine Website endopaedia.info auf: Ärzte wüssten seit 50 Jahren, dass Endometriose durch eine »ordentlich durchgeführte OP« –ohne dabei Organe entfernen zu müssen (!) – heilbar sei. Wäre Endo unheilbar, müssten Rezidivraten immer bei 100 Prozent liegen. Bei Brustkrebs beispielsweise könne man auch nicht sagen, er sei generell unheilbar. Das müsse man von Fall zu Fall betrachten.
Dr. Redwine sieht das Problem eher in einer mangelnden Fortbildungsbereitschaft der Operateure. Es ist ein langer, beschwerlicher Ausbildungsweg. Endometriose-Operationen gehören zu den kompliziertesten überhaupt. Dagegen ist es laut Redwine »einfacher und lukrativer«, Medikamente zu verschreiben. Daher würden die meisten den »bequemeren« Weg wählen und den Frauen lieber »Halbwahrheiten« erzählen.
Prof. Dr. Keckstein geht in seinem Buch auf die Unterschiede zwischen Endometriose und Gebärmutterschleimhaut ein und schreibt, dass Wachstum und Rückbildung einer Endometriose nicht nur von Hormonen abhängt, sondern hauptsächlich von den Eigenschaften der Zelle selbst bestimmt werden.
Es ist wohl nicht jede Endometriose hormonabhängig. Wenn sie es ist, dann ist es das Östrogen, dem man die Schuld gibt. Nun hat die Endo ja ein ganz schönes Durchsetzungsvermögen und lässt sich teilweise trotz Gebärmutter- und Eierstockentfernung, ja selbst bei zusätzlicher Testosteronbehandlung, nicht in die Parade fahren. So ist es sogar möglich, dass Transgender-Männer an schmerzhafter Endometriose leiden.
Die Therapie mit Hormonen, wie Gestagenen (z. B. Minipille oder Hormonspirale) oder Kombinationspräparaten aus Gestagen und Östrogen (Antibabypille), sowie Therapien mit sogenannten GnRH-Analoga (künstliche Wechseljahre), haben bis heute einen wichtigen Stellenwert in der Behandlung der Endometriose. Zum einen dämmen sie bestimmte Entzündungsstoffe und helfen so gegen die Schmerzsymptomatik. Zum anderen erfahren manche Patientinnen durch die Unterdrückung der Menstruation eine enorme Erleichterung der Schmerzen, vor allem wenn eine Adenomyose vorliegt.
Die Wirkung dieser Therapien auf das Endometriose-Wachstum scheinen allerdings noch nicht ganz geklärt zu sein. Zum Thema Gestagen beispielsweise merkt Gynäkologe und Buchautor Dr. Ewald Becherer an, dass gar nicht klar ist, inwieweit die Endometriose trotz Beschwerdefreiheit am weiteren Wachstum gehindert werden kann. Klinische Studien existierten dazu nicht. Der Einfluss der Hormone wird von Prof. Dr. Keckstein als »untergeordnetes Phänomen« beschrieben und sei zudem individuell. Dr. Abishek Mangeshikar klärt in einem Interview auf, dass in den Wechseljahren – seien sie natürlich oder künstlich – eine Symptomverbesserung eintreten könne. Es sei jedoch ein Mythos, dass sich vorhandene Endometriose-Herde dadurch automatisch zurückbildeten.
INFO
Adenomyose
Laut Endometriosis Network Canada zeigen neueste Erkenntnisse, dass sich Endometriose und Adenomyose pathologisch unterscheiden: Während Endometriose durch Gewebe gekennzeichnet ist, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, tritt Adenomyose auf, wenn das Gebärmutterschleimhautgewebe selbst in die Muskelwand der Gebärmutter einwächst. Viele Menschen haben beide Erkrankungen – man fand Adenomyose bei einer von fünf Personen, die eine chirurgische Diagnose von Endo erhielten –, aber sie existierten unabhängig voneinander. Die Ursachen zur Entstehung einer Adenomyose sind unbekannt, und es gibt nur Theorien. Die einen sagen, durch kleinste Verletzungen der Gebärmutterwand könne die Gebärmutterschleimhaut durchsickern. Andere halten eine Entstehung in der Embryonalentwicklung, bei der sich Stammzellen sozusagen falsch ausgebildet haben, für wahrscheinlicher.
Der britische Endometriose-Experte Dr. Matthew Rosser erzählt mir im Interview, dass dies noch nie beobachtet werden konnte und es nur eine Vermutung sei. Wenn überhaupt, dann könne man sich die Blutung nicht wie die der Gebärmutterschleimhaut vorstellen.
Dr. Andrea Vidali ist da anderer Ansicht. Endometriose am Zwerchfell sei gar nicht selten, Operateure würden nur selten dort nachschauen. Die britische Ärztin Dr. Wendy Bingham, die selbst seit über 30 Jahren an Endometriose leidet, hat gleich eine ganze Charity Organisation zu dem Thema gegründet: extrapelvicnotrare.org
Die australische Soziologie-Professorin Dr. Kate Seear hat ihre Doktorarbeit in ein Buch umgearbeitet, das ich jeder Betroffenen nur wärmstens ans Herz legen kann: »The Making of a Modern Epidemic – Endometriosis-Gender and Politics« (leider bisher nur auf Englisch). Ihrer Ansicht nach geschieht es mit Absicht, dass man die Fälle von Endometriose außerhalb des Bauchraumes in anderen Körperregionen (bei Frauen ohne Gebärmutter, bei Männern und Kleinkindern) in der Diskussion oft außen vor lässt. So stelle man eine Ordnung her, die es so gar nicht gäbe. Dies ermögliche lediglich, wissenschaftliche Entdeckungen als Fortschritt erklären zu können. In anderen Worten: Forscher können sich so schön ihre Preise in die Praxis-Vitrine stellen. Wir Patientinnen haben eher weniger davon.
Nicht jede Frau, bei der Endometriose diagnostiziert wird, ist automatisch unfruchtbar. Aber bei jeder zweiten Frau mit Unfruchtbarkeit findet man Endometriose. So sind diese beiden Befunde »assoziiert«. Das heißt nicht, dass sie zwingend in allen Fällen ursächlich zusammenhängen müssen. Gerade bei leichteren Formen der Endometriose sind die Ursachen der Unfruchtbarkeit noch nicht geklärt. Es gibt Studien, bei denen lediglich 12 Prozent von allen Sterilitätspatientinnen mit nachgewiesener Endometriose keine anderen Sterilitätsfaktoren zeigten. Das heißt, andere Ursachen/Mitverursacher sind nie auszuschließen.
Halt! Da fängt es ja schon an. Eventuell muss es die »EndometriosEN« heißen. Dr. Matthew Rosser erzählt mir im Interview:
»Die Vorstellung, dass es nur drei Arten von Endo gibt (oberflächlich am Bauchfell, Endometriose-Zysten an den Eierstöcken und tief-infiltrierende Endo), ist meiner Meinung nach zu einfach. Diese aktuellen Klassifikationen basieren hauptsächlich auf groben Beobachtungen der Läsionsstruktur und -lage. Durch die Analyse der Endometriose auf genetischer und molekularer Ebene glaube ich jedoch, dass es viele verschiedene Arten gibt, die auf verschiedene Behandlungsformen reagieren.«
Kate Seear beschreibt es treffend:
»DIE ENDOMETRIOSE IST EINE ERKRANKUNG
MIT EINEM HOHEN GRAD AN UNSICHERHEIT,
CHAOS UND ANFECHTUNGEN.«
Wir Betroffenen sind in diesem Chaos mittendrin. Nicht nur leiden wir an unseren Symptomen, wir müssen uns zudem hilfesuchend an ein System wenden, das in seiner Uneinigkeit manchmal nicht weniger verloren wirkt – ein System, das nicht unbedingt immer patientenzentriert ist und seine eigenen Interessen hat.