SCHWEIGT NICHT!

Alexei Nawalny

SCHWEIGT NICHT!

Reden vor Gericht

Transkribiert, aus dem Russischen übersetzt
und kommentiert von Dr. Alexandra Berlina

Mit einem Vorwort von Gerhart Baum

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Alexei Nawalny

Alexei Nawalny ist die unbeugsame Stimme der Opposition gegen den russischen Machtapparat unter Wladimir Putin. 2020 überlebte er nur knapp einen Giftanschlag durch den russischen Geheimdienst und wurde in Deutschland behandelt. Obwohl ihm in seiner Heimat die Verhaftung drohte, kehrte er im Januar 2021 nach Moskau zurück, wurde noch am Flughafen festgenommen und im Anschluss vor Gericht gestellt. Dieses Buch versammelt jene vier Reden, die er vor seiner Verurteilung zu mehreren Jahren Straflager hielt. Sie sind ein flammender Appell für Gerechtigkeit, Menschenwürde und ein anderes, freies und glückliches Russland.

Impressum

Die Reden von Alexei Nawalny im russischen Original

sind von öffentlich zugänglichen Videoaufnahmen transkribiert worden.

Diese sind (Stand 15.06.2021) unter diesen Links abrufbar:

www.youtube.com/watch?v=oRRnj835SdI

www.navalny.com/p/6462/

www.navalny.com/p/6469/

 

Droemer eBook

Deutsche Erstausgabe August 2021

© der Reden: Alexei Nawalny

Aus dem Russischen von Dr. Alexandra Berlina

© Kommentierung: Dr. Alexandra Berlina

Redaktion (deutsche Texte): Claudia Schlottmann

© der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Isabella Materne

Foto in Innenteil: Peter Rigaud/laif

ISBN 978-3-426-46428-1

Endnoten

Gespräch mit dem Geheimdienstagenten: www.youtube.com/watch? v=ibqiet6Bg38. Film über die Palastanlage: www.youtube.com/watch? v=ipAnwilMncI.

Russland verfügt über die größten Erdgasreserven der Welt und exportiert mit Abstand das meiste Gas. Die russische Erdölindustrie gehört international zu den Top 3. Laut Nawalnys Team fließt ein großer Teil der Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas in die Hände von Putin und seiner Umgebung. Dem größten russischen Mineralölkonzern Rosneft steht Igor Setschin vor, ein langjähriger Freund und enger Vertrauter Putins; Vorstandsvorsitzender ist Altbundeskanzler Gerhard Schröder. Alexei Miller, Vorstandsvorsitzender des staatlichen Gas- und Ölriesen Gazprom, ist ebenfalls ein langjähriger Weggefährte Putins.

Zahlreichen Recherchen und Berichten zufolge besitzt Putin mehrere persönliche Geheimbunker. So berichteten Arbeiter, die am Bau des Palastes in Gelendschik beteiligt waren, in einem Interview mit der kritischen Online-Zeitung Meduza, es gebe einen mehrstöckigen Bunker auf dem Gelände der Residenz. Putin soll auch einen privaten Bunker in der Nähe eines Skizentrums im südlichen Uralgebirge besitzen.

Fünf Tage nach dieser Rede gingen tatsächlich Menschen auf die Straße. Am 23. Januar 2021 versammelten sich nach Schätzungen der Nachrichtenagentur Reuters in Moskau ca. 40000 Demonstrant*innen (die staatlichen Behörden sprachen von 4000). Einige hielten Klobürsten in der Hand – in Anspielung auf »Putins Palast«, über den berichtet wird, dass dort jede Klobürste, selbst die in Nebengebäuden, ca. 700 Euro kostet. Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich, von jungen Rappern bis hin zu gefeierten Dichtern, nahmen an der Demonstration teil. Alexei Nawalnys Frau, Julia Nawalnaja, wurde mehrere Stunden lang von der Polizei festgehalten. In anderen Städten versammelten sich ebenfalls Tausende von Menschen, so unter anderem in St. Petersburg, Ufa, Tscheljabinsk, Samara, Kasan, Kaliningrad, Krasnodar, Jekaterinburg. In Jakutsk, wo die Außentemperaturen –50 °C erreichten, demonstrierten mehrere Hundert Personen auf dem zentralen Platz der Stadt. Nach Angaben des russischen Menschenrechtsprojekts OVD-Info wurden an diesem Tag landesweit über 4000 Menschen festgenommen, davon über 1500 in Moskau.

Über 2000 Anhänger*innen und Pressevertreter*innen erwarteten Nawalny auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo, wo er eigentlich ankommen sollte. Angeblich aus »technischen Gründen« wurde das Flugzeug kurzfristig zu einem anderen Moskauer Flughafen umgeleitet.

Nawalny benutzt für Putin nahezu verniedlichende Bezeichnungen – also etwa »diebischer Opa«, und nicht »verbrecherischer Greis«. Das ist offenbar eine bewusste Strategie: Putin nicht als einen großen diabolischen Bösewicht darzustellen, sondern als einen kleinen, alten Beamtentypen, der zufällig Macht hat und diese zum Stehlen benutzt. Die in Russland sehr bekannte Beschreibung »Partei der Gauner und Diebe« für Einiges Russland hat Nawalny wenn nicht erfunden, so jedenfalls popularisiert.

Igor Setschin, Vorstandsvorsitzender von Rosneft, dem größten russischen Mineralölkonzern, ist einer der konservativsten unter Putins informellen Beratern und eine Schlüsselfigur unter den Silowiki – einer starken politischen Lobby, die hauptsächlich aus ehemaligen Mitarbeitern der Sicherheitsdienste besteht. Nach Angaben des Kreml-Kritikers Chodorkowski war es Setschin, der seine Verhaftung organisierte – dieser jedoch bestreitet das. Setschin wird oft als zweitmächtigste Person in Russland bezeichnet.

Den Brüdern Arkadi und Boris Rotenberg gehört die Stroygazmontazh-Gruppe (kurz SGM-Group), der größte Hersteller von Gaspipelines und Stromleitungen in Russland. Arkadi Rotenberg ist ein Jugend- und Judofreund Putins. Sein Vermögen wird derzeit auf drei Milliarden US-Dollar geschätzt. Kurz nach der Veröffentlichung von Nawalnys Video über »Putins Palast« gab Arkadi Rotenberg an, das Gebäude gehöre ihm, er legte jedoch keine Dokumente vor, die das beweisen könnten. Er wolle die Anlage als Hotel nutzen.

Putin lenkt die Geschicke Russlands de facto seit 1999. Die russische Verfassung erlaubte ihren Präsidenten ursprünglich nicht mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten. Um diese Beschränkung zu umgehen, wurde die sogenannte »Putin-Medwedew-Tandemokratie« geschaffen: Nach zwei Amtszeiten (von 1999 bis 2008) ließ Putin sich unter dem neu gewählten Präsidenten Dmitri Medwedew für eine Amtszeit zum Ministerpräsidenten küren und führte die Regierungsgeschäfte indirekt weiter. 2012 konnte Putin sich dann wieder zum Präsidenten wählen lassen, und Medwedew trat ab. 2020 unterzeichnete Putin eine Verfassungsänderung, die ihm zwei weitere Amtszeiten von je sechs Jahren (d.h. bis 2032) erlaubt. Außerdem verabschiedete die Duma ein Gesetz, das russischen Ex-Präsidenten und ihren Familienangehörigen lebenslange strafrechtliche Immunität gewährt. Heute ist Putin nach Alexander Lukaschenko (Belarus) der europäische Präsident, der am zweitlängsten im Amt ist.

Seit dem 1. Januar 2021 beträgt der monatliche Mindestlohn in Russland 12792 Rubel, was etwa 120 Euro entspricht. Die Realeinkommen gehen seit 2013 wieder zurück. (Hier und im Folgenden: Der Rubelkurs schwankt stark; die angegebenen Werte sind vom Mai 2021.) Umfragen zufolge sind zwei Drittel der Bevölkerung mit der Gesundheitsversorgung »unzufrieden« bis »sehr unzufrieden«.

Der Vertreter der Bundesstrafvollzugsbehörde trug in der Verhandlung vor, Nawalny hätte sich als Auflage regelmäßig bei den Behörden an zwei Montagen im Monat melden müssen. Staatsanwältin Frolowa argumentierte in ihrem Antrag u.a., dass Nawalny sich bei der Bundesstrafvollzugsbehörde nicht gemeldet habe, nachdem er aus dem Koma erwacht sei.

Es ist bei Strafverfahren in Russland üblich, Angeklagte in einem durch Metallgitter oder Glas abgegrenzten Bereich, umgangssprachlich »Käfig« oder »Aquarium« genannt, Platz nehmen zu lassen. Offiziell dient dieser Bereich der Verhinderung von Ausbrüchen bzw. Gewalttaten; Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass er vielmehr einer Vorverurteilung gleichkommt.

Tatsächlich wurde Nawalny sowohl vor dem Yves-Rocher-Verfahren als auch danach mehrfach angeklagt. 2013 verurteilte man ihn wegen ähnlicher Vorwürfe (Betrug im Rahmen von unternehmerischer Tätigkeit) bereits zu einer längeren Gefängnisstrafe, die in der Berufungsinstanz in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde. Im Sommer 2020 wurde im staatlichen Fernsehen ein Werbeclip ausgestrahlt, in dem Prominente und »einfache Bürger« für die von Präsident Putin vorgeschlagene Verfassungsänderung warben. Nawalny kommentierte das auf Twitter u.a. mit den Worten: »Menschen ohne Gewissen. Verräter.« Daraufhin wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Verleumdung eines der Teilnehmer eröffnet, eines Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg; laut Medienberichten waren fünfzehn Ermittler auf den Fall angesetzt. Am 29. Dezember 2020, demselben Tag, an dem er sich kurzfristig bei der Vollzugsbehörde melden sollte, wurde ein weiteres Verfahren eröffnet: Alexei Nawalny soll fast vier Millionen Rubel seiner Anti-Korruptions-Stiftung veruntreut und mit dem Geld u.a. Auslandsurlaube finanziert haben. Darüber hinaus gab es zahlreiche Zivilklagen, insbesondere von Personen und Unternehmen, die er in seinen Anti-Korruptions-Videos zum Thema gemacht hatte. In vielen Fällen verurteilte man ihn zu Schadenersatzzahlungen. Im Juli 2020 wurden Nawalny, seine Mitstreiterin Ljubow Sobol und die Anti-Korruptions-Stiftung verurteilt, jeweils über 300 000 Rubel an eine Firma des Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoschin zu zahlen: Nawalnys Stiftung hatte in einem Video erklärt, das Unternehmen habe verdorbenes Essen an Schulen geliefert. Laut eigener Aussage rechnet Nawalny damit, »bis zum Ende von Putins Regime« Geld an Prigoschin zahlen zu müssen.

Eine Recherche das Investigationsteams Bellingcat zeigte, dass der Anschlag auf Nawalny von Mitgliedern des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) verübt wurde. Im russischen Inlandsgeheimdienst gibt es unter anderem eine Abteilung, die sich mit chemischen Kampfstoffen beschäftigt; deren Angehörige beobachteten Nawalny bereits vor dem Anschlag über Jahre hinweg auf seinen Reisen und waren zur Anschlagszeit vor Ort.

Während der andere bekannte Vergiftungsfall der letzten Jahre, der Nowitschok-Anschlag auf Sergei und Julia Skripal, meist dem Militärgeheimdienst GRU zugerechnet wird, wähnten die britischen Behörden den Inlandsgeheimdienst FSB hinter der Polonium-Vergiftung von Alexander Litwinenko in London 2006. Die Bellingcat-Recherchen legen nahe, dass auch Nawalnys Ehefrau Julia (wahrscheinlich aus Versehen) und der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa von Agenten derselben FSB-Abteilung vergiftet wurden; beide überlebten.

Alexei Nawalny gehört tatsächlich keiner politischen Partei an, wenn auch nicht ganz freiwillig. Seit 2000 war er Mitglied der liberalen Partei Jabloko, wurde allerdings 2007 wegen nationalistischer Ansichten ausgeschlossen; Nawalny selbst sagt, der wahre Grund sei ein Konflikt mit der Parteispitze gewesen. 2013 trat er bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau als Kandidat der liberalkonservativen PARNAS-Partei an (und holte 27% der Stimmen gegen Sergei Sobjanin, den amtierenden Bürgermeister von der Regierungspartei Einiges Russland). Nach den Wahlen erklärte Nawalny, die Leitung der Volksallianz übernehmen zu wollen. Diese hatte bereits mehrmals versucht, sich offiziell als Partei registrieren zu lassen; die Anträge wurden jedoch vom Justizministerium aus »formalen Gründen« abgelehnt. Am 17. November 2013 wurde Nawalny zum Parteivorsitzenden gewählt; am 18. November beschloss die regimenahe Kleinstpartei Heimatland die Änderung ihres Namens in Volksallianz. Die Namensänderung wurde prompt vom Justizministerium bestätigt, sodass die ursprüngliche Volksallianz nicht mehr als Partei registriert werden konnte. Daraufhin wurde sie in Fortschrittspartei umbenannt und im Februar 2014 vorläufig registriert. Sie konnte in ersten Regionalwahlen Sitze gewinnen; allerdings wurden viele regionale Sektionen von den Justizbehörden nicht registriert und der Status als Partei im Frühjahr 2015 wieder aberkannt. Es folgten weitere Namensänderungen (von Arbeitstitel bis Russland der Zukunft), weitere Absagen von Parteitagen, unter anderem, weil Veranstaltungsorte im letzten Moment absprangen, sowie die Ablehnung weiterer Registrierungsanträge.

Im August 1999 ernannte Russlands Präsident Boris Jelzin den damaligen Chef des Föderalen Sicherheitsdienstes Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten. Wenige Monate später, an Silvester 1999, trat Jelzin zurück; Putin wurde zum Präsidenten, ohne jemals in ein Amt gewählt worden zu sein. Sein erster Erlass garantierte dem Ex-Präsidenten und seiner Familie weitreichende Immunität. Viele Oppositionspolitiker vermuteten, dass Jelzin, der gesundheitlich angeschlagen und Korruptionsvorwürfen ausgesetzt war, nach jemandem gesucht hatte, der ihm zum sicheren Abgang aus der Politik verhelfen würde.

Im Telefongespräch mit einem seiner mutmaßlichen Vergifter fragte Nawalny, welche Gegenstände denn genau vergiftet wurden: Es war die Unterhose.

Die Nationalgarde wurde 2016 aus dem Innenministerium ausgegliedert und untersteht direkt dem Präsidenten. Sie besteht aus Spezialtruppen, die etwa bei öffentlichen Protesten eingesetzt werden.

Das Durchschnittsgehalt in Moskau war 2020 fast doppelt so hoch wie in Russland insgesamt.

20000 Rubel entsprechen etwa 220 Euro. Das Medianeinkommen 2020 betrug in Russland 27036 Rubel monatlich, also etwa 300 Euro.

Während fast 20% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, ist Russland weltweit in den Top 10, was die Anzahl der Multimillionäre betrifft, die über 30 Millionen US-Dollar besitzen, was über zwei Milliarden Rubel entspricht.

Die Richterin benutzt den Ausdruck »predstawlenije«,, einen juristischen Terminus, der etwa »Anhörung« bedeutet. Im Alltagsrussisch heißt »predstawlenije« aber »Vorstellung«, »Schau«, »Performance«, und auf diese Zweideutigkeit geht Nawalny hier mehrmals ein.

Die Anti-Korruptions-Stiftung ist das bekannteste Projekt von Alexei Nawalny. Ihre Enthüllungsvideos haben regelmäßig Millionen von Zuschauern.

Im Zusammenhang mit Nawalnys Verhaftung fanden zahlreiche Demonstrationen statt; in Moskau und St. Petersburg gingen Zehntausende auf die Straße, in Russland insgesamt Hunderttausende.

Nawalny benutzt das generische Maskulinum, Gendern ist im Russischen aber auch unüblich. Da Nawalny durchaus feministische Positionen vertritt und gerade unter den Verhafteten und Mitstreiter*innen, die er erwähnt, viele Frauen sind, spricht die Übersetzung an dieser Stelle von Bürgern und Bürgerinnen.

Beim Yves-Rocher-Prozess 2014 sprach Nawalny darüber, wie die Richter*innen und Staatsanwält*innen ihm nicht in die Augen schauen konnten, sondern nach unten, auf die Tische, starrten. Diese Beobachtung und die Wendung »auf den Tisch starren« wurden damals von vielen aufgegriffen.

Weinberge und eine Aqua-Disco wurden zusammen mit anderen luxuriösen Einrichtungen in dem Enthüllungsvideo »Ein Palast für Putin« gezeigt, das Nawalny und die Anti-Korruptions-Stiftung nach Nawalnys Rückkehr nach Russland im Januar 2021 veröffentlichten.

Die Verhandlung wurde im Gebäude des Bezirksgerichts Babuschkinski abgehalten, die verantwortliche Instanz war aber das Moskauer Stadtgericht.

Alexei Nawalny hatte tatsächlich einen weiteren Gerichtstermin am selben Tag – es ging um das Strafverfahren wegen der angeblichen Verleumdung eines Kriegsveteranen.

Matthäus 5,6.

Der Satz lautet im Original »sila w prawde«, und selten sind drei Wörter so schwer zu übersetzen. Silaprawda Brat(Bruder) prawda