Immer wieder
Julia
Roman
Eric Fisher
2. Auflage 2021
Texte: © 2021, Eric Fisher
Cover: © 2021, Frank W. Kolbe
Coverbilder: pixabay.com/geralt
Alle Rechte beim Autor:
Eric Fisher
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Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
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Julia ist Leanders große Liebe.
Es gibt nur ein Problem: Er hat sie seit neun Jahren nicht gesehen, weil sie nichts mehr von ihm wissen will. Geschrien hat sie, als sie ihn verlassen hat. Das weiß er noch. Aber warum hat sie sich von ihm getrennt? Und warum hat sie ihn ignoriert, keinen Kontakt zugelassen?
Es wäre besser, sie einfach zu vergessen, wenn nur diese verflixte Liebe nicht wäre ...
Inklusive folgender Rezepte
- Des Pastors süße Sünde
- Abendmahl für die Liebe
- Das erste Ma(h)l in der Küche
- Leckeres Dankeschön
- Allerlei Eierlei
Alter schützt vor Torheit nicht. Und dunkle Nächte nicht vor der Offenbarung stiller Geheimnisse. Na ja, so still war dieses Geheimnis gar nicht. Das von Lukas meine ich, meinem besten Freund und Mitbewohner. Diese flüsternden Unterhaltungen, wenn er heimlich seinen Freund empfing, nachts, wenn er mich schlafend dachte, und morgens, ehe ich aufstand, wenn er ihn verabschiedete. Dieses gezwungene Flüstern dringt wegen seiner monotonen Töne bis in die letzten Winkel vor. Still. Aber doch auf eine Weise lauter als normale Gespräche. Es erinnerte mich jedes Mal an meine Kindheit, als mein Vater am Sonntagmorgen in der Küche mit meiner Großmutter sprach. Es war ein altes Bauernhaus mit einem langen Flur. Ich schlief vorne, die Küche war hinten. Und der leise Klang ihrer Stimmen weckte Freude in mir. Freude darüber, dass Sonntag war, keine Schule und wir wahrscheinlich zusammen etwas unternehmen würden.
Aber was erzähle ich da? Es geht in dieser Geschichte eigentlich gar nicht um Lukas' Geheimnis, es geht um mich, Leander. Und doch mutiere ich langsam zu einer Mischung aus Miss Marple und Hercule Poirot. Ich entwickle Lauschmethoden und Stalker-Allüren, um Lukas auf die Schliche zu kommen. Wenn er etwas so sehr zu verstecken versuchte, war meine Neugier geweckt. Nein, meine Neugier benahm sich wie unter Einfluss von Aufputschmitteln. Was sein Geheimnis war? Wahrscheinlich, dass er schwul ist und das zu verbergen versuchte. Aber ganz ehrlich? Ich kann mir meinen Vater, ein respekteinflößender aber sehr humorvoller Pastor, eher mit Tutu, Lippenstift und Wimperntusche auf einer Kabarett-Bühne vorstellen, als Lukas nackt mit einem Mann. Aber alles sprach dafür und ich wollte der Wahrheit auf den Grund gehen. Besonders, weil es keinen Grund gab, dass er seine Homosexualität vor mir verbarg. Wo leben wir denn? Im achtzehnten Jahrhundert?
Aber genug von Lukas. Jetzt erst mal zu mir. Wäre ja noch schöner, wenn er mir meine Geschichte klauen würde.
Es war Sonntag, mein fünfundzwanzigster Geburtstag. Um sieben Uhr klingelte der Wecker. Ich hasste ihn. Ich hasste ihn dafür, dass er nicht so einfach auszustellen war. Er gab erst dann Ruhe, wenn ich ihn mit Wucht gegen die Wand warf. Das musste so sein, er war nicht defekt. Der Wecker hatte die Form eines Balls und war aus weichem Gummi. Ausschalten konnte man ihn nur mithilfe der Wand. Und diese ruckartige Bewegung, die ich brauchte, um die richtige Wucht zu bekommen, sorgte dafür, dass ich nicht mehr schlafen konnte, hellwach war. Nur an diesem Sonntag nicht. Ich war zu müde. Lukas, ein paar Freunde und ich hatten in meinen Geburtstag hinein gefeiert, mit Bier und Pizza. Sonntags kam kein Freund zu ihm, was mich wunderte.
Ich hatte den Wecker also gerade mit einem breiten Gewinner-Grinsen gegen die Wand geschleudert und mich umgedreht, um noch eine Runde zu schlafen, als mein Smartphone den Duschszenen-Sound aus Alfred Hitchcocks Psycho durch den Raum jagte, bis tief in meine eigene Psyche.
Vor meinem ersten Kaffee bin ich ein unerträglicher Zeitgenosse. Wer mich anspricht, muss mit allem rechnen, aber mit nichts Gutem. Und nun gaben die Duschszene und der erbitterte Kampf, noch ein bisschen zu schlafen, meiner Laune den Rest. Ich griff nach dem Handy und war kurz davor, aus dem Reflex heraus, es ebenfalls gegen die Wand zu schleudern, als das Bild meiner Großeltern auf dem Display auftauchte. Da erst registrierte ich was los war, die Halbschlaf-Verwirrung war verflogen und meine Laune stieg rasant an. Ich liebte meine Großeltern unermesslich. Sie waren für mich Heilige, Vorbilder, Freunde, Ratgeber, wirkten auf mich wie mein erster Kaffee und wie eine Gute-Laune-Droge. Ich sah sie nur zu selten. Okay, also war Aufstehen angesagt. Und noch ehe ich duschen und mich anziehen konnte, riefen auch noch meine Eltern an. Warum wusste ich allerdings nicht, genau wie bei meinen Großeltern, denn am Nachmittag sollten sie vorbeikommen zu Kaffee und Kuchen. Ich fand das altbacken, aber sie bestanden darauf und es war schön, sie alle mal wieder zusammen bei mir zu haben.
»Bonjour mon ami. Isch abe une Überraschung für disch.« Lukas war bestens gelaunt. Wie immer. Er umarmte mich und gab mir einen schnellen Kuss auf den Mund.
Ich drückte ihn erschrocken von mir. »Alter! Hast du mich gerade geküsst?«
»Na, so machen wir Franzosen das nun mal.«
»Ja, schwule Franzosen vielleicht. Was soll der Mist? Du warst ja noch nicht mal in Frankreich.«
Lukas reagierte auf das Wort schwule genauso neutral wie auf den Rest dessen, was ich sagte. Ich hatte genau darauf geachtet. Entweder war er ein enorm guter Schauspieler oder er hatte Angst vor meiner Reaktion oder aber ich lag komplett daneben mit meiner Vermutung. Klar, ich hätte ihn direkt darauf ansprechen können, aber das wäre zu einfach gewesen. Es hatte sich zu einem Spiel entwickelt, von dem er nichts wusste. Ich stellte mir aber vor, dass er genauso mit mir spielen würde wie ich mit ihm. Dass er versuchte, meinem Genie als Special-Agent Poirot, zu entkommen.
»Also, was für eine Überraschung ist das? Und jetzt brauche ich doch einen Kaffee.« Irgendwie hatte mich der Kuss voll aus der Bahn geworfen.
»Ich habe sie gefunden.« Sein Grinsen, die aufgerissenen Augen, das konnte nichts Gutes bedeuten.
»Was hast du gefunden? Die Autoschlüssel?« Ich setzte mich an den Küchentisch und wusste nicht, ob ich seine Antwort hören wollte.
»Deine große Liebe, mein Lieber. Die Eine, der du bis heute nachtrauerst, an die keine andere Frau herankommt. Dein erster Sex.«
Ich verschluckte mich an meinem Kaffee. So heftig, dass er mir bis in die Nase schoss, was nicht nur eklig war, sondern auch brannte und schmerzte. Das zog sich bis in die Stirn und ich konnte nicht anders, ich spuckte. Nein, ich spuckte nicht, ich sprühte die Plörre aus Mund und Nase über den Fußboden und Lukas' Schuhe wie Regan MacNeil im Film Der Exorzist. Nicht so viel, aber mindestens genauso spektakulär.
»Alles okay? Leo?«
»Nein, nichts ist okay! Redest du von Julia? Was meinst du mit ›gefunden‹? Warum hast du sie überhaupt gesucht?« Noch immer brannte der Kaffee in meiner Nase und ich schnaubte immer wieder ins Taschentuch. Dabei wischte ich die Sauerei auf dem Boden auf und war irritiert von Lukas' Überraschung. Zusammengefasst prasselte in diesem Moment zu viel auf mich ein, um meinem Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Was für ein Start in den Tag.
Aber Lukas hatte recht. Julia war meine erste große Liebe. Und ja, wir waren erst vierzehn. Fast zwei Jahre waren wir zusammen. Mit unserem ersten Mal hatten wir aber gewartet, da waren wir fast sechzehn. Doch Julia bedeutete mir mehr als das. Mehr als naives erstes Verliebtsein, mehr als erste Erfahrungen. Sie hatte mich berührt, liebevoll umarmt, angelächelt mit Augen, die tief in mir etwas zum Leben erweckten. Nun bin ich fünfundzwanzig und noch immer spüre ich ihre Arme, die mich halten, und ihre Hände, die sanft meinen Rücken streicheln. Jede Freundin, die ich seitdem hatte, verglich ich mit ihr und keine konnte es mit ihr aufnehmen. Dabei hatte ich gute Gründe, sie einfach zu vergessen. Denn als wir uns trennten, war es nicht, weil wir uns nicht mehr verstanden, es war, weil … Ja, warum wir uns trennten weiß ich gar nicht. Von jetzt auf gleich hat sie mich einfach ignoriert. Nachdem sie mich angeschrien hatte. Ich weiß nur nicht mehr warum. Egal wie sehr ich versuchte, mich daran zu erinnern, ich schaffte es nicht.
»Weil ich dich überraschen wollte? Leo, sie ist endlich bei Facebook angemeldet. Du bist doch derjenige, der dauernd nach ihr sucht.«
»Ja, aber doch nur in der Hoffnung, sie nicht zu finden.«
»Was ist denn das für eine doofe Aussage?«
»Mann, ich will sie nicht finden, ich will sie nur …«
»Finden. Du willst sie finden, sonst würdest du nicht nach ihr suchen. Erzähl mir doch keinen Scheiß.«
»Lukas, vergiss sie einfach, okay?«
»Zu spät. Ich habe ihr eine Freundschaftsanfrage geschickt und sie im Messenger angeschrieben. Du redest doch andauernd von ihr. Immer die gleiche Leier. Am Geburtstag, zu Weihnachten, ach, jede Woche fängst du damit an. Mann, die ist bestimmt eh verheiratet und hat ein paar Kinder. Konnte ich bisher nicht sehen. Aber dein ewiges Gelaber nervt wirklich, Leo. Du musst da endlich mal was machen. Sorry, aber ich dachte echt, dass du dich freust.«
Na toll. Und ich saß nun da wie der letzte Depp, weil Lukas mich überraschen wollte und ich mich verhielt wie ein Idiot. Ich wollte sie ja finden, wollte sie sehen.
In meiner Fantasie sah alles ganz toll aus. Da fand ich sie und schrieb ihr eine E-Mail. Wir verabredeten uns und trafen uns dann in einem Café, wo wir über alte Zeiten sprachen und uns versöhnten. Wir spürten beide, dass wir noch etwas für den Anderen empfanden und trafen uns noch einige Male, ehe es zum ersten Kuss kam. Der Rest war nicht jugendfrei, aber schön war es. Aber eben nur in meiner Vorstellung. Ich hatte nie daran gedacht, dass das so greifbar werden könnte, so gefährlich nahe an die Grenze zur Realität vordringen.
»Tut mir leid. Du hast ja recht. Ich freue mich, echt, aber ich habe Schiss davor. Sie will bestimmt nichts mehr von mir wissen, so, wie sie damals abgehauen ist und mich ignoriert hat.«
»Alter, mach mal halblang. Erst Kontakt aufnehmen, dann schöne Augen machen und dann flachlegen.«
»Spinnst du? Sie ist nicht eins der Mädels, die wir sonst abschleppen. Sie ist anders.«
»Na, egal. Sie hat eh noch nicht reagiert. Mal abwarten, was passiert.«
»Sie hat auch heute Geburtstag und bestimmt feiert sie. Nee, komm, das kann ich gerade gar nicht gebrauchen. Ich will da jetzt nicht drüber nachdenken. Sie ist nicht hier. Aber ich bin hier und ich habe heute Gäste. Lass uns mal den Tisch im Esszimmer vorbereiten. Kommen deine Eltern auch?«
Unsere Eltern waren eng befreundet, darum kannten wir beide uns theoretisch schon seit unserer Geburt. Seit dem Kindergarten waren wir dann unzertrennlich, wie Brüder, Buddies, und sind zusammen groß geworden, erwachsen. Als Lukas von seiner Großmutter deren Altbauwohnung erbte, renovierten wir einige Monate lang wie die Irren und dann entschieden wir uns, eine Wohngemeinschaft zu gründen. Seit fast sechs Jahren lief das auch super mit uns.
Es war gerade Mittagszeit, als wir alles so weit vorbereitet hatten. Lukas lud mich dann zum Italiener ein, also in die Pizzeria, und Julia war erst mal kein Thema mehr. Doch jedes Mal, wenn sein Handy piepte, vibrierte, zwitscherte oder irgendein anderes Geräusch machte, dann zuckte ich zusammen und Lukas amüsierte sich. Ich war irgendwann ein nervliches Wrack, erkannte aber, wie groß meine Sehnsucht nach Julia tatsächlich war. Nämlich noch größer, als ich es mir eingestehen wollte.
»Ohne Mandelhörnchen werde ich wieder gehen.«
»Ja, Paps, das will ich auch stark hoffen.«
»Was? Wie meinst du das?«
»Na, wenn du nachher gehst, lässt du die restlichen Mandelhörnchen hier.« Ich grinste. »Keine Angst, ich habe dir ein paar weggelegt, die kannst du dann mitnehmen.«
Ich konnte ein Leuchten in den Augen meines Vaters erkennen, denn er liebte die Dinger genauso wie ich. Und da ich gerne kochte und buk, hatte ich sie natürlich selbst gemacht.
»Das ist mein Junge.« Lachend klopfte er mir auf die Schulter.
Meine Eltern hatten auch meine Großeltern mitgebracht und zeitgleich kamen auch Lukas' Eltern. Sie gratulierten mir alle, überreichten Umschläge, Süßkram und sogar eine Topfpflanze und dann hatten wir einen kurzweiligen, unterhaltsamen und lustigen Nachmittag bei Kuchen, Mandelhörnchen und Kaffee.
Lukas saß mir gegenüber. Andauernd starrte er auf sein Handy und jedes Mal, wenn es ein Geräusch von sich gab, zuckte ich, aus Angst, es könnte Julia sein, die ihm antwortete oder seine Freundschaftsanfrage annahm. Ich mochte den Gedanken nicht. So sehr ich mich danach sehnte, sie noch einmal zu sehen, mit ihr zu sprechen, sie zu umarmen, so sehr hatte ich Angst davor. Angst, dass sie nicht mehr die ist, die sie einmal war. Vielleicht aber auch Angst davor, dass ich nicht mehr der alte Leo war und für sie nicht mehr das empfinden könnte, was ich hoffte. Naiv, oder? Ich meine, es ist nun fast zehn Jahre her, eine Jugendliebe, überhaupt die erste Liebe, und ich tue so, als gäbe es kein anderes Mädchen auf der Welt. Ich musste über mich selbst lachen. Es machte mich aber auch traurig. Was, wenn ich sie nur noch einmal sehen wollte, um eine Antwort darauf zu bekommen, warum und wie es mit uns auseinanderging? Was, wenn ich mir etwas vormachte und diese belastenden Gefühle und Gedanken und die Hoffnung auf Antworten einfach mit der Illusion der Liebe überblendete? Julia machte mich fertig. Lukas machte mich fertig. Ich machte mich selbst fertig.
»Hey, Leo! Hörst du uns überhaupt zu? Bist du noch bei uns?« Meine Mutter lächelte mich an.
»Ja, ich … Ich bin da. Entschuldigt bitte, ich war etwas in Gedanken gerade.«
»In Gedanken, ja? Wie heißt das Mädchen?«
»Ach, Mutti. Muss es denn immer ein Mädchen sein?«
»Oh, es wird spannend«, meldete sich nun plötzlich mein Vater zu Wort, »Kein Mädchen? Dann also ein Junge? Oder doch eher Geld? Also ich habe auch schon ein paar Trauungen für gleichgeschlechtliche Paare durchgeführt. War immer ganz toll und die Gemeinde geht richtig mit. Und die Kollekte, ich sag's euch, da klimpert der Klingelbeutel aber gewaltig.« Mein Vater hatte das unbeschreiblich tolle Talent, jeden in seinen Bann zu ziehen, wenn er anfing zu sprechen. Auf der Kanzel ebenso wie im privaten Rahmen. Ich wollte das gar nicht hören, was er da gerade gesprochen hatte, und dennoch hörte ich ihm gebannt zu, gefangen von seiner Stimme. Und ich sah noch immer schweigend zu ihm, selbst als er bereits fertig war.
Lukas war es, der das Schweigen dann durchbrach. Und ich hätte ihn schlagen können, erwürgen oder einfach den Kuchen quer durchs Gesicht ziehen.
»Es ist Julia. Immer die alte Leier.« Er sagte das so trocken, so emotionslos, als wäre es eine tägliche Angelegenheit.
Zehn Minuten lang musste ich mir von allen eine Predigt anhören. Nur mein Vater, der, der sie hätte halten können, schwieg. Und sie endete in einem unverständlichen Stimmengewirr. Jeder hatte einen anderen Vorschlag, wie ich Julia aus dem Kopf bekommen sollte, und jeder hatte auch eine andere potenzielle Braut anzubieten. Die Braut-Vorschläge waren auch ganz nett, ich kannte die Kandidatinnen, aber als meine Oma mit ihrer Nachbarin und Canasta-Partnerin anfing, stieg ich gedanklich aus und spürte das plötzliche Absterben meiner bis dato enorm aktiven Libido.
Dann räusperte er sich, also mein Vater. Und alle schwiegen. Es war eine plötzliche Ruhe, die sich anfühlte, als habe mir jemand die viel zu laut eingestellten Kopfhörer vom Kopf gezogen. Die, auf denen Heavy Metal lief. Wirklich sehr laut. Mit Songs über nackte fünfundachtzigjährige Nachbarinnen.
»Ihr kennt das Hohelied der Liebe?« Er legte eine kleine Pause ein und starrte in unsere fragenden Gesichter. »Ach kommt. Glaube, Hoffnung, Liebe? Die größte unter ihnen aber ist die Liebe? Die Bibel? Dieses dicke Buch? Jetzt kommt schon, mir zuliebe.« Seine Augen sprachen lauter, als seine Worte waren. Seine Mimik war die eines Comedians. Und wir verfielen in schallendes Gelächter. Bis er sich erneut räusperte. Es erinnerte mich an den Konfirmations-Unterricht.
»Die größte unter ihnen ist die Liebe. So steht es geschrieben. Und das Leben lehrt uns, dass es tatsächlich nichts Größeres als eben diese Liebe gibt. Sie ist alles, sie ist Gott. Ihr solltet vielleicht öfter mal in den Gottesdienst kommen. Und wenn ihr weiterhin so seltsam schaut, mit diesen riesigen Fragezeichen über euren Köpfen, dann lasse ich gleich den Klingelbeutel herumgehen. Aber mal im Ernst. Ich finde, wir sollten Leander die Sehnsucht nach Julia gönnen. Ja, Sehnsucht ist die schmerzhafte Version der Hoffnung. Aber was passiert denn, wenn wir nicht mehr hoffen? Was wird sein, wenn wir unsere Hoffnungen verlieren, uns nach nichts mehr sehnen? Dann wird es dunkel in unserem Geist, Traurigkeit kehrt ein. Und nur die Liebe leuchtet. Und es spielt keine Rolle, wie stark diese Liebe ist, denn auch ein kleiner Funken kann einen ganzen Raum erhellen, er kann euch den Weg weisen. Und wenn dieser Funken der Liebe da ist, dann ist auch die Chance da, dass ein Feuer entfacht. Und ich wünsche es dir von ganzem Herzen, mein Junge, dass dieses Feuer entfacht wird. Denn wir werden uns daran wärmen.«
»Amen.« Lukas' Mutter sagte das, schluchzend, durch ein ins Gesicht gedrücktes Taschentuch.
Meine Mutter sah meinen Vater an, als hätte sie sich gerade erst in ihn verliebt, und meine Oma heult eh, sobald auch nur der Anschein erweckt wird, es könnte sentimental werden. Mein Opa sah meinen Vater, also seinen Sohn, an und seine Augen glänzen voller Stolz. Lukas' Vater schaute eher neutral in Richtung seiner Füße. Es war dieser Blick, den Männer aufsetzten, wenn sie nicht zugeben wollten, dass sie am liebsten auch mal ein Gefühl zeigen oder sogar eine Träne vergießen würden. Meistens dauerte es dann auch nicht lange bis sie aufstanden, um auf Klo zu gehen. Ich denke da immer, dass diese unterdrückten Gefühle das Wasser treiben. Gesammelte Tränen oder so was. Und just in dem Moment, als ich ihn beobachtete, stand er auch schon auf und verschwand ins Bad. Hach, war ich gut.
Aber ich war scheinbar der einzige am Tisch, der nicht wusste, was er fühlen sollte. Seine Worte wirkten, ich war glücklich und dankbar für das, was er gesagt hatte. Auf der anderen Seite brannte sich dadurch die Idee, Julia zu finden, noch stärker in mir ein. Und ich wurde nervös. Also diese seltsame Nervosität, wenn man etwas unbedingt noch machen wollte, worauf man sich freute, man aber noch damit warten musste. Oder die, wenn man ein Blind Date hat mit einem echt heißen Mädel und du nicht weißt, ob sie erstens wirklich das heiße Mädel vom Bild ist oder doch ein hundertfünfzig Kilo schwerer Trucker und ob sie zweitens dich noch immer heiß findet, wenn ihr euch trefft – also wenn es nicht dieser Trucker ist. Mein Herz raste und noch immer zuckte ich zusammen, wenn Lukas' Handy sich meldete.
Ich ging zu meinem Vater, umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe. Und ich versprach ihm, noch eine extra Ladung Mandelhörnchen zu backen. Und wieder öfter den Gottesdienst zu besuchen. Und, dass ich diesen Funken beobachten würde. Ja, das wollte ich. Ich liebte diesen Kerl, mit seinen Ansprachen traf er immer die richtigen Worte. Also genau die, die dich trafen, aufweckten, zum Nachdenken anregten.
Erst gegen zwanzig Uhr war die Wohnung leer. Auch Lukas war weg, er war noch mit zu seinen Eltern gegangen. Ich räumte auf, langsam, in Gedanken versunken, und genoss die Ruhe. Klar, es war ein toller Tag mit tollen Menschen, die ich über alles liebte, aber ich war auch froh, als es wieder ruhiger war. Nein, eigentlich nicht, denn inzwischen wünschte ich mir alle wieder zurück, weil meine Gedanken viel zu laut wurden. Alles drehte sich um Julia und ich wusste nicht, was lauter war, die Angst, dass sie nichts mehr von mir wissen wollte oder die Hoffnung darauf, sie noch einmal zu sehen, mit ihr zu sprechen und dass wir vielleicht wieder Freunde werden könnten.
Erst als ich im Bett lag und mir noch einen Film auf meinem Notebook ansah, beruhigte sich mein Kopf. Die Ablenkung tat gut. Und obwohl es noch vergleichsweise früh war, schlief ich schnell ein. Das Klacken der Tür, als Lukas nach Hause kam, war das Letzte, was ich hörte.
Es war gegen dreiundzwanzig Uhr, als ich durch Geräusche in der Wohnung wach wurde. Nun, wach war vielleicht nicht der richtige Ausdruck dafür. Das Quietschen von Türen, Schritte, dieses seltsame blubbernde Dampfen der Kaffeemaschine, wenn man die Kapsel herausnahm, Räuspern. Das alles klang für mich wie im Büro, in dem ich arbeitete. Nur, dass ich dort nie so tief schlafen konnte. Blitzschnell stand ich auf, noch immer mit dem wirren Gedanken, meine Chefin könnte jeden Moment um die Ecke kommen. Als ich aber dann merkte, dass ich nur Boxershorts trug, wurde mir schnell klar, wo ich war und auch, was diese Geräusche zu bedeuten hatten: Lukas empfing wieder seinen Lover!
Als alles still war, nutzte ich die Gelegenheit, um meine Zimmertür einen Spaltbreit zu öffnen, gerade genug, um einen freien Blick auf die Wohnungstür zu haben. Ich hockte mich auf den Boden und wartete. Es dauerte nicht lange, da kam Lukas auf seinem Handy tippend aus der Küche, ging zur Tür und öffnete sie. Davor stand ein junger Mann in unserem Alter. Zumindest erschien er so, das Licht war nun nicht das Beste. Lukas wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, dass ich wach wurde. Ha, da hatte er sich aber getäuscht. Seine Vorsichtsmaßnahmen waren zwar gut, aber ich war bei weitem besser.
Er ließ den jungen Mann in die Wohnung. Sie redeten kurz, ehe sie in die Küche gingen. Es war seltsam, es gab keine Umarmung, keinen Kuss, kein ›Hallo, Schatz‹ oder ›Ich liebe dich‹, keinen Griff in den Schritt und auch keine anders gearteten Berührungen. Auf jeden Fall nicht im Flur. Aber die würden doch nicht in der Küche …? Oh Mann, meine Gedanken waren schwuler als Lukas' Verhalten. Und mein Herz raste, als hätte ich gerade einen Mord beobachtet.
Ich hörte Stimmen, leises Kichern. Ich kann gar nicht beschreiben wie süß sich das anhörte. Alleine die Vorstellung, wie die beiden da am Tisch saßen, Händchen hielten, Kaffee schlürften und sich verliebt in die Augen schauten und dabei kicherten ob ihres Wissens, dass ich nebenan tief und fest schlief und von all dem nichts mitbekam, brachte mich zum Grinsen. Ein schelmisches Grinsen. Nein, eigentlich ein freches Sieger-Grinsen, weil ich eben nicht tief und fest schlief, fast alles mitbekam und ihr kleines Geheimnis sehr wohl kannte. Lukas hatte also wirklich einen Freund. Noch immer war das eine fremde Vorstellung für mich, aber ich fand das auch irgendwie toll. Keine Ahnung warum. Am besten fand ich dieses Spielchen und dass ich den Joker hatte. Caught in the Act … na ja, fast. Ein bisschen. Eigentlich gar nicht, aber es klang gut.
Ich legte mich dann wieder ins Bett und fand schnell den Schlaf. Klar hätte ich noch gerne weiter spioniert, aber hinter der Tür hockend brachte mir das nicht viel. Öffnen konnte ich sie nicht, da sie eine Verräterin war, sie quietschte ohne Unterlass, bei jeder Bewegung. Und ich war auch nicht scharf darauf zu warten, bis die beiden in Lukas' Zimmer verschwanden. Also war es sinnvoller, dass ich mich schlafen legte.
Am nächsten Morgen begann das Spiel von vorn. Nur eben rückwärts. Es war ungefähr sieben Uhr, als ich Stimmen aus der Küche hörte und kurz darauf sah, wie Lukas seinen Freund verabschiedete und dieser die Wohnung verließ.
Wie sollte ich ihm nun am Frühstückstisch begegnen? Oder sollte ich einfach weiterschlafen? Lukas war einer dieser schrecklichen Frühaufsteher, die sofort gute Laune hatten. Ich hingegen war ein anständiger Langschläfer mit schlechter Laune vor meinem ersten Kaffee, egal wie spät es war. Begegnen würde ich ihm sowieso, denn wir hatten beide Urlaub. Aber das war nur Zufall.
Ich arbeitete in einem Verlagsbüro für christliche Literatur und war dort zuständig für Recherche bei Bibelzitaten und die Gestaltung von Covern. Also eigentlich war ich nur in der Marketingabteilung, aber ich hatte wohl dank meines Vaters ein Talent dafür zu wissen, wo welches Bibelzitat steht. Also natürlich nicht alle, aber die meisten wusste ich auf Anhieb. Und ich hatte ein Gespür für die richtigen Gefühle, die ein Cover vermitteln musste. Bei christlichen Büchern waren das nicht sonderlich viele Gefühle. Also war ich kein Wunderkind, sondern der, der nicht Nein sagen konnte, als man in die Runde fragte. Ursprünglich wollte ich Lektor werden, aber meine jetzigen Aufgaben machen mir enorm viel Spaß, sodass ich dieses Vorhaben vorerst auf Eis gelegt hatte.
Lukas hingegen arbeitete bei seinem Vater. Dieser war Gründer, Inhaber und Geschäftsführer eines Unternehmens, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Arzneimittel auf natürlicher Basis herzustellen. Sehr erfolgreich sogar und das weltweit. Lukas ist aber nun nicht so ein Millionärssöhnchen. Er ist völlig normal. Okay, bis auf das frühe Aufstehen, das ist nicht normal. Seine Eltern sind auch keine, denen man das Vermögen ansieht. Mein Vater sieht im Talar wohlhabender aus als die beiden.
Als ich hörte, dass Lukas in seinem Zimmer verschwunden war, wagte ich es, meine Klamotten zusammenzusuchen und ins Bad zu verschwinden, um zu duschen. Aber egal wie ausgiebig ich duschte, wie exakt ich auch die Konturen meines Barts rasierte, ich musste auch mal wieder aus dem Bad raus und Lukas begegnen. Es ging ja gar nicht darum, dass ich ihm nicht begegnen wollte, es ging einfach darum, dass sich ein selten dämliches Grinsen in meinem Gesicht breit machte, wenn ich an die beiden dachte. Und wenn er mir plötzlich gegenüberstehen würde … Ich hatte echt Angst vor einem Lachkrampf und die darauf folgende Erklärungsnot. Ich wollte ihm einfach noch nicht sagen, dass ich Bescheid wusste. Das Wissen, dass er dachte, ein Geheimnis zu haben, von dem ich nichts wusste, war viel spannender, und das wollte ich noch eine Weile aufrechterhalten.
»Warum grinst du so?«
Es ging nicht, ich konnte es nicht verbergen. »Nur so, nichts weiter.«
»Leo, wenn du morgens so grinst, dann stimmt was nicht. Jetzt sag schon. Und warum bist du überhaupt schon wach?«
»Ich konnte nicht mehr schlafen. Und ich musste einfach an gestern denken, darum grinse ich so. Ist der Herr jetzt zufrieden?« Ich machte mir einen Becher Kaffee und setzte mich an den Tisch, gegenüber von Lukas, der in der Zeitung blätterte. »Und du? Warum bist du schon auf?« Was für eine blöde Frage. »Warst du gestern noch unterwegs?«
»Bei meinen Eltern, weißt du doch. Und da werde ich jetzt auch wieder hingehen. Ich muss noch was mit meinem Alten besprechen.« So schnell, wie er verschwunden war, konnte ich meinen Becher gar nicht abstellen. Da wollte wohl jemand unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen.
Ich nahm die Zeitung und blätterte sie gelangweilt und desinteressiert durch. Die Nachrichten las ich gar nicht erst, denn da ging es nur um Mord und Totschlag, Dramen und anderes negatives. Mein Vater predigte einmal, dass er sich frage, wie die Menschen sich wohl verändern würden, wenn in den Nachrichten nur noch von den positiven Dingen berichtet werden würde. Seitdem versuchte ich nur noch eben jene Berichte zu lesen. Und davon gab es leider nicht sehr viele. Grob betrachtet war es verschwendete Zeit, die Zeitung zu lesen. Lukas war da anders. Zwar interessierten ihn die Nachrichten auch nicht sonderlich, aber die ganzen Kleinanzeigen inhalierte er buchstäblich. Keine Ahnung, warum.
Ich saß gerade an meinem Notebook, um ein bisschen zu spielen, als mein Handy klingelte. Meine vier Jahre ältere Schwester Lara rief an.
Mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter wohnte sie in Amerika, in Kalifornien. Wir redeten eine gute halbe Stunde miteinander und einmal mehr hätte ich sie am liebsten fest in den Arm genommen. Ich liebte sie einfach, sie war die Beste, aber viel zu weit weg. Nach dem Abitur und einer Ausbildung verschwand sie in die Vereinigten Staaten, das war schon immer ihr großer Traum. Da hatte sie dann ihren Mann kennengelernt und war glücklich. Wir telefonierten oft miteinander.
Lara arbeitete bei Universal Studios Hollywood als Maskenbildnerin und wohnte direkt nebenan in einem schönen Haus in Studio City. Wenn wir telefonierten, dann erzählte sie oft von ihren Begegnungen mit Stars und Sternchen. Es war nun nicht so, dass sie sich kannten und ein Schwätzchen hielten, aber die liefen da nun mal so herum, da konnte sie auch nichts für. Auch Schauspieler waren Angestellte, die in die Firma mussten oder in diesem Fall ans Set.
Vor einigen Monaten rief sie mich an und kreischte so laut ins Telefon, dass die Vermutung nahe lag, dass Roland Emmerich einen neuen Katastrophenfilm einem Praxistest unterziehen wollte. Es stellte sich aber heraus, dass sie einfach nur ihrem großen Vorbild Angela Lansbury begegnet war und sich sogar mit ihr unterhalten hatte. Wir waren beide große Fans von ihr und ich war echt neidisch.
Dieses Mal allerdings erzählte sie nichts dergleichen, sondern war ganz außer Atem, weil sie mal wieder die Zeitverschiebung falsch berechnet hatte. Wir hatten es kurz vor neun Uhr, Montag. Bei ihr war es fünf Minuten vor Mitternacht, also gerade noch Sonntag, mein Geburtstag. Seltsam, oder? Sie gratulierte mir natürlich.
»Hey, Leo, warum bist du nicht längst mal zu mir gekommen?«
Meinen Spitznamen ›Leo‹ hatte ich übrigens von ihr bekommen. Von klein auf nannte sie mich so, weil ich ›stark wie ein Löwe‹ sei.
»Lara, du weißt, warum. Ich habe eine scheiß Angst vorm Fliegen.«
»Aber next Year, da kommst du, okay?«
»Ich verspreche es dir. Ich lasse mich ins künstliche Koma legen und dann komm ich vorbei.«
»Ja, komm rüber, du wohnst bei uns. I miss you!«
»Ich vermisse dich auch. Und Stella, die süße Maus.«
»Ich stehe gerade in der Küche und mache ein dickes Eier-Nudel-Omelett. Liebst du das immer noch so?«
»Ja, immer noch. Ich wäre jetzt gerne bei dir.«
»Okay, komm kurz rüber.« Sie lachte. »Oh, wait, Leo. Komm zu Weihnachten, nicht erst im nächsten Jahr.«
»Lieber heute als morgen, das weißt du, Schwesterherz. Ich schaue mal. Weißt du eigentlich, dass dieser amerikanische Akzent richtig gut zu dir passt?«
»Oh, Jack sagt immer, dass er meinen deutschen Akzent so liebt und er ist traurig, dass er mehr und mehr verschwindet. Ich schaue gerade an die Kühlschranktür. Da hängt ein Foto von uns beiden. A few years ago, wann war das? Egal, wir lachen und kleben voller Cotton Candy. Was ist das noch? Wie heißt das auf Deutsch?«
»Zuckerwatte.«
»Yeah, richtig. Ich liebe das Bild. Oh, ich fange an zu weinen. Schnell, erzähl etwas Anderes. Hast du ein Mädchen?«
»Du meinst eine Freundin? Nein, dazu habe ich gerade keinen Nerv.«
»Ah, I know, Julia, right? Deine immerwährende große Liebe. Hey, Jack kommt gerade die Einfahrt rein. Telefonieren wir später?«
Mir war es sehr recht, dass wir unser Telefonat später fortsetzen wollten. Nun fing sie auch davon an, von Julia. Warum wusste sie noch ihren Namen? War ich wirklich so besessen von ihr, dass ich sogar meiner Schwester damit auf die Nerven gegangen war? Scheinbar merkte ich das alles selbst nicht mehr. Und scheinbar war ich, wenn dem denn so war, auf dem besten Weg, zu einem Stalker zu werden – wenn ich Julia denn irgendwann finden, bzw. erfahren würde, wo sie wohnt.
Zum Mittagessen war ich bei meinen Eltern eingeladen. Es war sehr warm draußen und so schlenderte ich gemütlich zu Fuß die zwei Kilometer. In jedem jungen Mädel mit schulterlangen, blonden Haaren dachte ich Julia zu erkennen. Es war schrecklich. Es war so, wie wenn man sich ein neues Auto kauft, sogar wenn es giftgrün lackiert war. Plötzlich sah man dieses Auto in genau dieser Lackierung überall, obwohl es vorher ein Unikat zu sein schien. Vor einiger Zeit hatte ich mir eine neue Brille gekauft, vom Style her ein bisschen Nerd, ein bisschen stilvoll, anthrazit, matt, richtig cool und bis dahin einzigartig. Als ich sie endlich auf der Nase hatte, lief jeder Zweite damit durch die Gegend. Okay, das war etwas übertrieben, aber es fällt einfach auf, dass es doch mehr davon gibt, als man bisher annahm. Und vom Aussehen gab es eben auch viele Julias, die von vor zehn Jahren. Ich fragte mich, wie sie wohl heute aussehen mochte.
Meine Eltern gingen auf das Thema gar nicht mehr ein. Das war für mich sehr angenehm. Wir redeten die ganze Zeit über meine Schwester und wie toll es wäre, wenn wir alle sie mal zusammen besuchen würden. Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich die Idee nicht gut fand. Klar, es wäre schön, aber noch schöner wäre es, wenn ich alleine mit ihr und ihrer Familie mal hätte Zeit verbringen können. Einfach lange und ausgiebig miteinander quatschen, ohne dass die Eltern dabei waren. Den ganzen Tag die Studios besuchen, vielleicht ein paar Promis sehen, das wäre cool. Aber das wäre eben nichts, was meinen Eltern gefallen würde. Wir würden also nach einer oder zwei Wochen wieder abreisen und ich hätte nichts gesehen von Hollywood. Klingt ein bisschen egoistisch, ich weiß, aber ich war derjenige, der nicht mal eben hinfliegen konnte, im Gegensatz zu meinen Eltern. Ich konnte mir nicht so einfach ein Ticket leisten, musste Urlaub beantragen und hatte enorme Flugangst. Alles Dinge, mit denen meine Eltern nicht zu kämpfen hatten.
Erst als ich mich verabschieden wollte, kamen wir noch einmal auf den Vortag zu sprechen und natürlich durfte Julia da nicht fehlen. Und ich wusste plötzlich, dass es noch dauern würde, ehe ich mich auf den Weg machen konnte.
Für meinen Vater war meine Mutter seine Julia. Sie vergötterten sich gegenseitig, auch wenn sie das aus rein blasphemischen Gründen nicht zugeben würden. Und selbst wenn, dann hätte mein Vater eine gute Antwort parat. Ich hatte das große Glück, dass ich mit ihm wie mit einem Vater reden konnte, aber auch wie mit einem Geistlichen und ich konnte auch mit einer Mischung aus beiden reden, was mir am liebsten war. Ja, wirklich. Von klein auf hatte er mich beeindruckt mit seiner Güte, seiner Liebe, mit den berührenden Worten, die er den Menschen mit auf den Weg gab. Ich erinnerte mich an eine Situation, ich war vielleicht zehn Jahre alt. Da waren wir einkaufen und zwischen zwei Regalen kam eine ältere Dame auf uns zu, die ich nicht kannte, die aber offensichtlich einen Gottesdienst meines Vaters besucht hatte. Sie begrüßte ihn mit Namen, achtete nicht auf mich, meine Schwester oder meine Mutter, die sie mit einem freundlichen Lächeln begrüßt hatte, und bedankte sich bei ihm. Dabei wischte sie sich ein paar Tränen von der Wange und erzählte, dass seine Predigt ihr neuen Lebensmut schenkte. Sie war gerührt und dankbar. Das sah man ihr an, sie hätte gar nichts sagen müssen. Und in diesem Moment, zwischen Schokolade und Kochtöpfen, begriff ich, welche Wirkung mein Vater auf die Menschen hatte. Plötzlich war das, was er sagte, mehr als nur ein Job, mehr als nur das Ablesen von Bibeltexten in einem schwarzen Kleid. Plötzlich hatte ich Respekt vor seinem Tun. Ich ließ keinen Gottesdienst mehr ausfallen, beobachtete die Besucher, lauschte heimlich einigen Gesprächen und half meinem Vater auch ab und zu beim Gottesdienst.
Mit fünfzehn Jahren hatte ich die Bibel gelesen. Und nichts kapiert. Also wirklich rein gar nichts. Ich habe mich zuerst durch das Alte Testament gekämpft, übersprang die Auflistungen der ganzen Nachkommen von X und Y und brach mittendrin ab. Es war mir zu düster und ich konnte mit diesem Gott nicht warm werden. Mein Vater lachte nur und empfahl mir, mich einfach auf das Neue Testament zu konzentrieren. Das war auch viel schöner und liebevoller und endlich las ich etwas, was ich längst kannte: die Weihnachtsgeschichte. Und ich fand Gott ziemlich cool und auch das, was Jesus alles erzählte und tat.
Bis ich achtzehn war, hatte ich die Bibel dann komplett gelesen und immer wieder mit meinem Vater darüber gesprochen. Oh, wir hatten viele tolle Gespräche, stundenlang, in denen wir diskutierten, rätselten und Erfahrungen sammelten. Und immer wieder baute er unsere Gespräche in seinen Predigten ein.
Aber noch einmal zurück zur Bibel-Verwirrung mit fünfzehn, fast sechzehn. In unserer Nachbarschaft wohnte ein Mann, der allgemein nur ›Menschenfresser‹ genannt wurde. Er wohnte in einer alten Villa, umgeben von einem sehr großen bewaldeten Grundstück, welches von einer hohen Mauer geschützt wurde. Der Menschenfresser galt als böse, man durfte sich dem Grundstück nicht nähern. Ihm auch nicht, aber ihn sah man auch nie. Ich glaube, er verließ nie das Grundstück. Auf jeden Fall war es so, dass das Alte Testament mich an allem hatte zweifeln lassen, was ich je über Gott gelernt hatte. Ich war noch jung, aber wirklich ziemlich durcheinander, und ich hatte eine Angst in mir, die ich vorher nicht kannte. Und dann, einen Tag bevor ich meinem Vater von meinen Problemen mit der Bibel berichtete, betete ich. Ich sagte Gott, dass ich ihn nicht mehr wollte in meinem Leben, wenn er wirklich so war, wie da geschrieben stand. Und ich sagte ihm, dass ich heimlich auf das Grundstück des Menschenfressers schleichen würde und dass er, also Gott, mich am Leben erhalten solle, wenn er so sei, wie mein Vater es immer erzählte.
Nun ja, ich lebe noch, sonst könnte ich diese Geschichte nicht erzählen, aber es kam dennoch zu einem Drama, das dafür verantwortlich war, dass ich diese Geschichte überhaupt erzähle. Ich war auf dem Grundstück, und zwar zusammen mit meiner damaligen Freundin Julia. Ich hatte lange gebraucht, um den Mut aufzubringen, es wirklich zu tun. Also auf das Grundstück zu gehen. Wir kletterten über die Mauer und schlichen durch den Garten. Es war aufregend, unsere Herzen rasten und wir hatten große Angst. Bis zur Villa drangen wir vor, bis wir ein Geräusch hörten. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so schnell gerannt. Julia war an einem Ast hängengeblieben und gestolpert und ich half ihr heldenhaft auf, anstatt weiter zu rennen. Und selbst, als wir wieder auf der Straße waren, rannten wir weiter bis zu mir nach Hause. Und dann geschah es. Julia weinte. Sie sagte irgendetwas, was ich nicht verstand. Sie warf mir etwas vor, gab mir die Schuld für etwas und meinte, sie wolle mich nie wieder sehen. Ausgerechnet das hatte sie verständlich ausgesprochen. Genau so kam es. Zwar sah ich sie noch, aber wir trafen uns nie wieder. Wenn sie mich irgendwo sah, dann machte sie kehrt oder wechselte die Straßenseite. Ich durfte nicht zu ihr nach Hause, Briefe, die ich schickte oder einwarf, kamen ungeöffnet zu mir zurück. Und ich hatte nie erfahren, was eigentlich geschehen war. Dennoch spürte ich noch immer diese Zuneigung, diese Liebe. Obwohl es echt wehtat, was sie damals mit mir gemacht hatte.