1. Auflage

© 2021 Christa Mulack

www.christa-mulack.de

Herausgeberin: Dr. Cornelia Giese-Mulack

E-Mail: drcgiese@gmail.com

Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7534-9375-6

Inhaltsverzeichnis

  1. Kindheit und Jugend
  2. Banklehre in Hamburg
  3. Von Hamburg in die Welt
  4. Meine Studienzeit
  5. Conny
  6. Alice Schwarzer
  7. Zweiundzwanzig Jahre Witten
  8. Neun Jahre Auszeit vom Schuldienst
  9. Rückkehr in den Schuldienst
  10. Entstehung meiner wichtigsten Bücher
  11. Botschaft an die Frauen
  12. Christa Mulack – frei nach Prediger 3,1-5

Das Geheimnis
der Großen Göttin ist Wandlung

Willst Du Wandlung erfahren,

so brich aus,

aus dem Gefängnis der Gewohnheiten.

Steig hinab in den Brunnen der Tiefe,

dort erfährst du Neugeburt.

Neugeborenwerden

ist Loslösung vom Alten

– ist Erlösung.

Neugeborenwerden

ist Rückkehr zum Ursprung

– ist Vertiefung.

Neugeborenwerden

ist Erhebung aus dem Gegenwärtigen

– ist Erhöhung.

Denn im Brunnen der Wandlung

vereinigt sich die Tiefe mit der Höhe

Auf dem Weg der Wandlung sind wir

nicht nur erschaffene Geschöpfe,

wir werden zu Schöpferinnen unseres Selbst.

Auf dem Weg der Wandlung

werden wir unserer Kraft gewahr,

indem wir sie mit anderen teilen.

Auf dem Weg der Wandlung

lernen wir uns und andere neu kennen und lieben.

Wer auf dem Weg der Wandlung

Lehrerinnen sucht,

wird sie finden.

Wer sie nicht findet,

ging achtlos an ihnen vorüber.

Auf dem Weg der Wandlung vergiss die Eile,

wandle und weile.

Auf dem Weg der Wandlung gibt es nichts Böses –

nur die noch nicht erkannte Aufgabe.

Auf dem wahren Weg

gibt es kein Hindernis –

nur auf dem falschen.

Auf dem Weg der Wandlung

vergiss das Wissen,

doch erinnere dich des Gewussten.

Wisse nicht, sondern diene

am alten Baum

mit den reifen Früchten der Erkenntnis,

dann erkennst du, statt zu wissen.

Erkennen aber heißt:

Aufgaben wahrnehmen,

Gewissheit haben,

wozu wir berufen sind,

den Willen der Göttin erkennen.

Gelingt Dir das,

so vergisst Du den Deinen.

Ihr Wille aber ist Ganzsein.

Auf dem Weg der Wandlung

erwartet Dich eine wichtige Erfahrung:

Nur den Bereiten wird gegeben,

hier hilft die Bitte nicht.

Denen, die nichts bedürfen,

wird gegeben –

auf dass sie weitergeben.

Christa Mulack

Vorwort von Conny
zu Christas Autobiographie

Anfang Oktober 1982 lernte ich Christa an der Uni in Dortmund kennen. Ich war damals 23 und Christa 38 Jahre alt. Sie kam in ein Seminar meines Soziologieprofessors, wo ich gerade einen Vortrag über Frauenforschung hielt, das Thema meiner Diplomarbeit. Beim Hinausgehen sprach ich Christa an und sie erzählte mir von ihrer Dissertation „Der Schatten Gottes“ und von der weiblichen Seite Gottes. Ich war wie elektrisiert, denn ich hatte noch nie zuvor davon gehört.

Das war der Beginn einer 39-jährigen Partnerschaft. Ich war nicht nur Christas erste „Anhängerin“ und Verehrerin, sondern erkannte sofort ihre geniale Fähigkeit, die Dinge auf den Punkt zu bringen und zu Ende zu denken. Mich faszinierten von Anfang an ihr scharfer Verstand und ihr revolutionäres Denken im Hinblick auf ihre Patriarchatskritik und ihre These, dass Frauen nicht nur „anders“, sondern „besser“ sind.

Hinzu kam ihre einmalige Ausstrahlung, die mich sofort in ihren Bann schlug und bis heute nicht mehr loslassen sollte. Ich begleitete sie deshalb jahrzehntelang auf viele ihrer Frauenseminare und Veranstaltungen.

Als Christa im April 2020, zu Beginn der Corona Pandemie, schwer erkrankte, beschlossen wir, ihre Autobiografie zu schreiben. Das heißt, sie sprach mir auf Band und ich transkribierte dann anschließend ihre Audiodateien.

Ebenfalls auf Christas Wunsch hin, schrieb ich im August 2020 auf Sylt ihren Nachruf, den sie selbst noch modifiziert hat. Er ist am Ende des Buches abgedruckt, sowie der Hinweis auf ihre Bücher.

Christas Vermächtnis sind ihre 17 Bücher, die Autobiografie, etliche Aufsätze und Vorträge, und vor allem auch ihre Idee von einer mütterlichen Transzendenz. Vorstellen kann ich mir für die Zukunft eine „Christa Mulack Stiftung“, ähnlich der „Gerda Weiler Stiftung“. Doch im Gegensatz zur letzteren sollten nur Projekte gefördert werden, die einen matriarchalen bzw. „Mulackschen“ Ansatz haben, und nicht den Gleichheitsansatz unterstützen, der letztlich nicht revolutionär ist, sondern systemimmanent bleibt und nur ein weiteres Verharren im Patriarchat zur Folge hat.

Nicht nur war Christa die bedeutendste feministische Theologin, die in unserer Zeit gelebt hat, sondern sie war gleichzeitig Philosophin, Religions- und Gesellschaftskritikerin. Ihr Wissen war sehr umfangreich und nicht nur auf die Theologie beschränkt, sondern sie erwarb sich auch Kenntnisse in Psychologie, Soziologie, Philosophie und Pädagogik.

Das Besondere ist, dass ihre Denkrichtung das Potential in sich birgt, eine eigene „Religion“ oder eigenständige Philosophie zu begründen, zumindest aber das Christentum zu revolutionieren, ähnlich wie Luther das damals tat. Wir hatten mal den Versuch einer „Frauenkirche“ gestartet, wie hier in diesem Buch beschrieben, vielleicht können andere Frauen aus unseren Fehlern lernen.

Christa hat das Christentum in seinen Grundfesten erschüttert. Sie hat den Umgang mit dem Kreuz auf den patriarchalen Müllhaufen der Geschichte geworfen, die antijesuanische Nicht-Ethik bei Paulus herausgearbeitet, den Faschismus und Antisemitismus im Alten Testament und dem Talmud nachgewiesen. Sie hat sich in Luther eingefühlt, ihn gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigt und die jetzige Evangelische Kirche angeklagt und aufgefordert, erst einmal die eigene antisemitische Vergangenheit aufzuarbeiten.

Doch noch mehr als das hat sie Frauen von ihren Schuldgefühlen befreit, ihnen ihre vom Mann verletzte Seele durch ihre Bücher „Natürlich weiblich“ und „Die Wurzeln weiblicher Macht“ geheilt und immer wieder auf das matriarchale Bewusstsein verwiesen, auf den Urgrund des Weiblichen schlechthin. „Alles Weibliche basiert auf unseren Müttern, auf ihrer Fähigkeit der Nachsichtigkeit, des Verständnisses, der tiefen Liebe zu ihrem Kind, ihrer Fürsorge des Gutseins.“

Das alles sind Fähigkeiten, die Christa selbst bei ihrer eigene Mutter so gut wie gar nicht erfahren hat. Und wenn ein Kind dies nicht bei der eigenen Mutter bekommt, erwächst in ihm eine Sehnsucht, ein unstillbarer Hunger, diesen gerade auf diesem Gebiet befriedigen zu können. Vielleicht war das der Grund für ihren unbändigen Durst nach einer mütterlich, weiblichen Seelennahrung und der Sehnsucht nach dem „Matriarchalen“, also dem „Urgrund des weiblichen Seins“.

Christas Beschäftigung mit dem Matriarchat, der Bedeutung des weiblichen Urgrundes und dem Mütterlichen und Weiblichen an sich, war auch ein unbewusster Heilungsprozess ihrer eigenen Psyche. Es war die Seelennahrung, die ihr als Kind verweigert wurde, durch eine unsensible, patriarchale Mutter, die Christas Ideal des matriarchalen Bewusstseinsmodells so ganz und gar nicht entsprach.

Ihre unermüdliche Suche, die Ausbildung eines messerscharfen, präzisen Denkens und eines sensiblen Empfindens für das Weibliche schlechthin, sowie einer besonderen Wertschätzung desselben, gipfelten in ihren wissenschaftlichen Arbeiten.

Wir Frauen verdanken Christa ihre und unsere Erkenntnisse. Wir verdanken ihr unsere Befreiung aus Institutionen wie der Kirche und der Ehe, aus unerträglichen Arbeitsverhältnissen, patriarchalen, einengenden Gedankenkonstruktionen und Schuldgefühlen und vieles mehr.

Ich möchte mit Christas Worten schließen, die in den letzten Wochen aus einem Gespräch erwachsen sind. Es sind Erkenntnisse, oder mehr noch, für sie eine lebenswichtige Seelennahrung, die sie als Kind von ihrer Mutter nie hatte, und die ihr deshalb besonders am Herzen liegt. Erkenntnisse, die sich letztlich durch all ihre Bücher ziehen wie ein roter Faden.

Dr. Cornelia Giese-Mulack

6.11.2020

Christa am 21.10.2020:

„Matriarchal ist der Urgrund des menschlichen Seelengrundes, über dem eine patriarchale Patina liegt. Mit der patriarchalen Sprache kommt man hier nicht weiter, denn wenn ich das Wort „weiblich“ benutze, dann hören die anderen „minderwertig“. Mit Höher- oder besser Mehrwertigkeit ist jedoch der Urgrund des Weiblichen, das Matriarchale gemeint. Der Urgrund ist weiblich, auch im Mann.

Aber das patriarchale System hat das höherwertige Weibliche zum Minderwertigen erklärt und eine Verkehrung vorgenommen. Diese Art von patriarchaler Wertigkeit ist nicht gemeint, sondern eine völlig andere Art von Wertigkeit, in der die weiblichen Werte je nach Zusammenhang als die wertvolleren anerkannt sind. Es sind die Grundlagenwerte des Lebens.

Die männlichen Religionen basieren alle auf Sprache, während die weiblichen Religionen auf dem, was ist, basieren, auf dem materiellen Sein, Naturgegebenheiten, in dem die Transzendenz enthalten ist.“

Christa am 04.05.2021:

„Meine letzten Gedanken sind ein Dank, dass ich so vielen Frauen, die Liebe und den Drang zur Freiheit vermitteln durfte – die wichtigsten Standbeine im Leben von Frauen.“

1. Kindheit und Jugend

1.1. Im Krieg geboren

Flucht vor dem Bombenhagel

Es war im Sommer 1943, als eine Serie von Luftangriffen der Engländer über Hamburg niederging und einen verheerenden Feuersturm verursachte. Meine Mutter war im sechsten Monat mit mir schwanger und mein Bruder war knapp ein Jahr alt. Der Bombenhagel prasselte seit Tagen auf Hamburg nieder, er machte ganze Wohngebiete platt. Da meine Mutter in einem gefährdeten Wohngebiet lebte, hatte sie immer schon die nötigsten Sachen im Kinderwagen gepackt, falls sie in den Bunker musste. Oft gingen die Bewohner in den Keller, doch manchmal musste meine Mutter mitsamt Kinderwagen und kleinem Kind zum nächsten Luftschutzbunker rennen, und dann musste sie noch jemanden finden, der ihr half, mit dem Kinderwagen die Treppen hoch und runter zu kommen. Der nächstgelegene Bunker war für 600 Personen ausgelegt, doch natürlich zählte keiner, wie viele Menschen dort hineinstürmten, wodurch er oft überbelegt war.

Auch an diesem Tag waren viel zu viele Menschen in dem Bunker. Meine Mutter war Krankenschwester und merkte, dass der Bunker völlig überladen war, denn mein Bruder lief blau an, weil zu wenig Sauerstoff im Bunker war. Deshalb drängte sie wieder Richtung Ausgang und rief: „Ich will hier raus, ich will hier raus, mein Kind erstickt. Hier ist zu wenig Sauerstoff.“

Aber die Leute wollten sie nicht rauslassen, und der Blockwart sagte zu ihr: „Nein, da draußen ist ein Flammenmeer, da verbrennen Sie, was glauben Sie denn?!“

Daraufhin meinte meine Mutter: „Ist mir egal, lieber verbrennen als ersticken!“

Sie setzte sich durch und irrte draußen durch die Straßen, wo Lastwagen und Jeeps die Leute aufsammelten und zum Bahnhof brachten. Auch meine Mutter wurde eingesammelt, zum Bahnhof gebracht und angewiesen, mit dem nächsten Zug nach Süden zu fahren. Nur weg, weg, weg, ab nach Süden, wo es ruhiger war.

Zwischenstation in der Fremde

So landete meine Mutter in der Oberpfalz. Eigentlich sollte sie wohl von dort aus weiter nach Schlesien fliehen, doch sie kam stattdessen in der Oberpfalz auf einen Bauernhof. Die Leute auf dem Hof waren nicht glücklich, dass sie dazu verpflichtet wurden, Flüchtlinge aufzunehmen, aber sie hatten keine Wahl. Meine Mutter erhielt Bezugsscheine für Windeln, Babykleidung und einmal Bettwäsche. Darauf waren die Leute dort so neidisch, dass sie fragten: „Wieso bekommen Sie das denn, und wir kriegen das nicht?“

Worauf meine Mutter antwortete: „Sie sind ja auch nicht ausgebombt.“ „Was ist das denn?“, wollten die Leute wissen und meine Mutter sagte: „Ach ja, Sie wissen das ja nicht, doch ganz Hamburg ist platt.“

Daraufhin meinten die Bauernhofleute: „Ach, Sie lügen ja, das stimmt doch gar nicht.“ Denn die Nachrichten, dass im Norden die Bomben fielen, waren nicht bis zu dem Bauernhof vorgedrungen.

Noch ein weiteres Erlebnis blieb meiner Mutter in bleibender Erinnerung. Die Bauersfrau sagte einmal zu ihr: „Gucken Sie mal nach ihrem Sohn, der läuft da auf der Straße davon.“

Und sie antwortete entsetzt: „Und Sie lassen ihn einfach so gehen, da müssen Sie ihn doch abhalten?“

Da erwiderte man ihr: „Wieso, das ist doch Ihr Kind!“ Über diese Haltung war meine Mutter so empört, dass sie dachte: „Nee, ich kann hier nicht bleiben.“

Sie fand es so unerträglich, dass sie beschloss, wieder zurück nach Hamburg zu gehen. Also schrieb sie nach Hamburg an ihren Lieblingsbruder – der war damals zwölf Jahre alt – und er schrieb zurück: „Pack deine Sachen und komm nach Hause!“

Da dachte sie sich: „Ich will lieber mit dem Kind im Bauch zurück, als dass ich bis nach der Geburt warte. Wenn ich erst mein Kind hier zur Welt bringe, komme ich gar nicht mehr nach Hamburg zurück. Dann muss ich womöglich hierbleiben.“ Deshalb kehrte sie per Anhalter und Zug wieder zurück.

Und so kam es, dass ich am 30. Oktober 1943 in Hamburg in der Frauenklinik Finkenau geboren wurde. Doch gleich nach der Geburt musste ich nach Anordnung der Nazis in einen Bunker, in den alle Neugeborenen zu ihrem Schutz hinkamen. Von dort aus hat mich meine Mutter dann direkt weggegeben, aber das war lange ein gehütetes Familiengeheimnis, von dem ich erst viele Jahre später erfuhr.

Familiengeheimnisse und die Männer meiner Mutter

Der Grund, weshalb meine Mutter mich nach meiner Geburt weggegeben hat, war ziemlich kompliziert und hing mit ihren Männergeschichten zusammen. Als junge Krankenschwester hatte sie einen Patienten, der sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Er hat sie ständig umworben, wollte unbedingt mit ihr liiert sein und sie heiraten. Sie hatte aber damals einen anderen Mann, einen Offizier aus Hannover, den sie heiß und innig liebte. Er hatte ihr auch die Ehe versprochen, so hat sie mit ihm geschlafen und wurde schwanger. Sie ist ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass er sie heiraten würde, denn sie waren ja schon verlobt.

Doch als der Offizier hörte, dass sie schwanger war, sagte er, seine Familie wolle das nicht. Sie hätten ihm schon eine entfernte Verwandte als Ehefrau ausgesucht, und er könne das seiner Familie nicht antun. Für meine Mutter ist eine Welt zusammengebrochen: Sie hat ihn ein Leben lang geliebt. Und nun stand sie da, war Krankenschwester in einem christlichen Krankenhaus und konnte sich nicht als schwanger ausgeben. Ins Wasser gehen wollte sie auch nicht, also hat sie dem Drängen ihres Patienten, der sie ja immerzu umworben hatte, nachgegeben, und ihn geheiratet. Nicht weil sie ihn liebte, sondern um ihm das Kind unterzujubeln. Er hat tatsächlich nicht gemerkt, dass er ein Acht-Monatskind hatte, und war mächtig stolz auf „seinen“ Sohn Heinz.

Dann 1942 war der Ehemann meiner Mutter im Krieg. Zu dieser Zeit machte die Freundin meiner Mutter eine kaufmännische Lehre bei einem Drogeriegroßhändler. Der war vorher Lehrer in Danzig gewesen und jetzt Kaufmann mit einem Lager in der Zippelhaus-Straße in Hamburg. Die Freundin war wohl verliebt in den Kaufmann und hatte ein Verhältnis mit ihm. Immerzu hat sie meiner Mutter von ihrem Kaufmann vorgeschwärmt und ihm wiederum von meiner Mutter. Irgendwann lud er beide gemeinsam zum Essen ein und war von meiner Mutter recht beeindruckt, denn sie war eine bildschöne Frau.

Jedenfalls fing er ein Verhältnis mit ihr an und wurde mein Erzeuger. Meine Mutter wusste, dass ihr Ehemann bald auf Heimaturlaub kommen sollte, sonst hätte sie wohl mit dem Drogeriegroßhändler nicht geschlafen. Sie war jetzt von mir schwanger, aber sie dachte, dass sie ihrem Ehemann erneut ein Kind unterjubeln kann. Schließlich hatte das schon einmal geklappt.

Nun war es aber so, dass er doch keinen Heimaturlaub bekam. Der wurde um fünf Monate verschoben, und als ihr Ehemann dann zurückkam, sah er schon, dass sie schwanger war. Das Kind konnte ja schlecht von ihm sein, also sagte er zu ihr: „Pass mal auf Henni, ich bin ja auch kein Kind von Traurigkeit. Ich habe das auch gemacht, sogar schon Tripper gehabt. Wenn du das Kind weggibst, fangen wir neu an.“

Dennoch war er nach meiner Geburt weiterhin so erbost, dass er den Namen des Mannes wissen wollte, der während seiner Abwesenheit mit meiner Mutter geschlafen hatte. Den Zorn gegen seine Frau wollte er zwar begraben, aber nicht den Zorn gegen den Mann, der ihm das „angetan“ hatte. Er ließ nicht locker und meine Mutter sagte ihm schließlich den Namen meines Erzeugers. Irgendwie kannten die beiden sich auch, jedenfalls suchte er ihn irgendwann auf und sagte zu ihm: „Weißt du was, ich kann dich an den Galgen bringen.“

Unter Hitler war es nämlich so, dass ein Mann, der mit einer Frau schlief, deren Ehemann im Krieg war, die Todesstrafe bekommen konnte. Die Männer im Krieg sollten ja sicher sein, dass ihre Frauen „wohlbehütet“ waren, sonst wären sie vielleicht nicht so freudig in den Krieg gezogen.

Mein Erzeuger sagte daraufhin: „Ach, hör mal, du hast doch deinen Sohn auch schon akzeptiert, der nicht von dir ist. Dann kannst du doch das Kind jetzt auch noch annehmen.“ Meine Mutter hatte das mit dem ersten Kind wohl ihrer besten Freundin erzählt, die es an den Drogeriegroßhändler weitererzählt hatte. In dem Moment sah der Ehemann meiner Mutter rot, weil er jetzt erst erfuhr, dass das erste Kind auch nicht sein Sohn, und dass er zweimal gehörnt worden war. So wurde ich weggegeben, weil er damals vor meiner Geburt meinte: „Den ersten Sohn will ich annehmen, wenn du das kommende Kind weggibst.“

Die Ehe ging dennoch kaputt, und erst ein paar Jahre später hat meine Mutter wieder geheiratet. Natürlich hatte mir meine Mutter das all die Jahre ganz anders erzählt und ich habe die Wahrheit über die Familiengeheimnisse erst von meiner Großmutter erfahren, als ich aus Hamburg wegging. Sie hat mir dann auch gesagt, wie mein Vater hieß und später haben sich sogar meine Halbschwestern bei mir gemeldet. Auch den Namen der Pflegefamilie, bei der ich ein Jahr lang gewesen war, hat mir meine Großmutter verraten.

Geburt in Hamburg und erstes Lebensjahr

Meine Mutter hatte damals vor der Geburt Stress, weil ihr Ehemann sie bedrängte, mich gleich nach der Geburt wegzugeben. Aber meine Mutter wollte sowieso kein Mädchen, und deshalb hat sie mich auch nach der Geburt in Hamburg weggegeben. So kam ich zu einem älteren Ehepaar mit Gärtnerei, der Familie Faust. Die waren leider kinderlos geblieben, hatten sich jedoch immer ein Kind gewünscht. Sie waren überglücklich, holten mich in dem Bunker für die Säuglinge ab, und meine Mutter hat mich dann gar nicht mehr gesehen.

Wie kam ich nun zurück zu meiner Mutter? Meine Großmutter wollte immer gerne Mädchen haben. Sie hatte als erstes Kind auch eine Tochter, meine Mutter, bekommen. Aber für ihren Mann war das sozusagen ein Minus, denn die Väter wollten fast alle erst einen Sohn haben.

Sie bekam zwar einen Sohn, aber erst neun Jahre später. Und dann kamen noch drei hinterher, also vier Söhne, während sie immer hoffte, noch ein Mädchen zu kriegen. Den jüngsten Sohn Wilfried hat sie dann wie ein Mädchen erzogen mit Mädchenkleidung und langen Locken. Später in der Schule hat er bei Theateraufführungen immer Frauenrollen gespielt und wurde dann zuerst schwul, danach bisexuell.

Meine Großmutter litt darunter, dass meine Mutter mich weggegeben hatte, denn sie hatte sich immer noch mehr Mädchen gewünscht. Sie sagte zu ihrer Tochter: „Wir haben endlich wieder ein Mädchen in unserer Familie und nun gibst du es weg.“

Sie konnte das nicht verkraften und ist mit einem ihrer Söhne zu meinen Pflegeeltern gefahren. Die wollten mich adoptieren, doch die Adoption war noch nicht abgeschlossen. Meine Mutter hatte sich noch nicht entscheiden können, ob sie das wirklich wollte. Es war also alles noch nicht rechtskräftig, obwohl eigentlich vorher festgelegt worden war, dass es eine Adoption werden sollte.

Nach einem Jahr also ist meine Großmutter einfach mit einem ihrer Söhne zu der Pflegefamilie gefahren und hat mich weggeholt. Sie meinte: „Das Kind gehört zu uns“ und so hat mich zu meiner Mutter gebracht. Ich nahm meine Mutter aber gar nicht an, und meine Mutter mich auch nicht. Sie kam mit mir überhaupt nicht klar, weil ich jeden Abend Punkt 18 Uhr zu weinen anfing, und sie mich nicht beruhigen konnte. Meine Mutter bekam Wutanfälle, sie erklärte: „Sie ist trocken, sie hat was zu essen bekommen, was will sie eigentlich noch?“

Sie fühlte sich immer von mir schikaniert, auch später noch, egal wie alt ich war. Es war ihre Unfähigkeit als Mutter, die sie spürte, weil sie mich nicht gewinnen konnte.

Meine Großmutter hat sich das zuerst tagelang angeguckt und angehört und dann ist sie wieder hingefahren zu den Pflegeeltern, was immerhin eine Tagesreise war, und hat sie gefragt: „Was ist abends um 18 Uhr bei euch immer gewesen?“

Da erzählte meine Pflegemutter: „Um 18 Uhr ist mein Mann immer aus der Gärtnerei gekommen, hat sich umgezogen und die Kleine auf den Tisch gelegt und mit ihr gespielt. Da hat sie gelacht und gejubelt.“ Es ist also klar gewesen, wenn das jetzt ausgefallen ist, dann war der Höhepunkt des Tages für mich gar nicht mehr da.

Doch für meine Mutter war das ein rotes Tuch. Sie merkte, dass ich bei den Pflegeeltern beheimatet war, weil die mich liebten, und bei ihr war ich eben nicht beheimatet. Wenn man etwas von Kinderpsychologie versteht, weiß man das, doch davon hatte sie offenbar keine Ahnung. Ihre ganzen Projektionen standen völlig davor. Auf jeden Fall war das der Hintergrund, warum ich zu meiner Mutter ein ganzes Leben lang nicht das Gefühl haben konnte, dass sie meine Mutter war.

1.2. Kindheitserinnerungen und Kinderphilosophie

Was ist Freiheit?

Meine erste Erfahrung von Freiheit hatte ich, als ich im Alter von ungefähr acht Jahren mit einem Märchenbuch auf einem Stuhl im Wohnzimmer saß und mir plötzlich dessen bewusstwurde, dass ich selbst lesen kann. Davor hatte ich immer die Erwachsenen bitten müssen, mir meine Lieblingsmärchen vorzulesen, denn ich konnte dieselben Märchen nicht oft genug hören. Und dann hatte ich dieses Buch vor mir, guckte hinein und stellte fest: Ich kann ja lesen! Es war mir jetzt möglich, jede Geschichte selbst auszusuchen und so zu lesen, wie ich wollte und vor allen Dingen, wann ich wollte. Das war für mich eine unglaublich erhebende Erfahrung.

Sonntagsschule

Meine Mutter war Mitglied in einer evangelisch-freikirchlichen Gemeinde (Baptisten). In Hamburg war die Gemeinde zwar sehr offen, trotzdem ist meine Mutter damals ausgeschlossen worden, weil sie nicht-eheliche Beziehungen geführt hat. Nach dem Krieg war sie zwei oder drei Mal verlobt, aber nicht verheiratet. Als meine Mutter in den 50er Jahren dann verheiratet war und in „geordneten Verhältnissen“ lebte, kam irgendwann die Gemeindeschwester zu uns nach Hause, denn da war die Gemeinde wieder daran interessiert, sie aufzunehmen. Erst zu diesem Zeitpunkt erfuhr ich, dass es so etwas wie die Baptisten überhaupt gab, und dass meine Mutter dort Mitglied war.

Meine allererste Beeinflussung durch Geschichten waren viele Jahre lang Märchen gewesen und nun kamen die Jesusgeschichten dazu, weil ich jetzt in die Sonntagsschule ging.

Da die Sonntagsschul-LehrerInnen mit den Kleinen nichts anfangen konnten, mussten die immer hinten sitzen. Die Großen saßen vorne, denn die stellten eben Fragen und bekamen Antworten. Anfangs musste ich auch hinten sitzen, doch dann holte mich ein junges Mädchen – für mich war sie schon eine Erwachsene – wiederholt auf ihren Schoß und hätschelte mich. So kam es, dass ich nunmehr bei ihr in der ersten Reihe sitzen konnte. Ich war begeistert, weil ich nun alles mitbekam, was die Großen mit den LehrerInnen redeten. Saß man hinten, so, bekam man davon nichts mit und schaltete irgendwann auch ab. Ich war stolz, dass mich das Mädchen immer zu sich holte, es war einfach spannend, da vorne zu sitzen.

Seitdem wuchs ich in der Gemeinde auf, erst Sonntagsschule, dann Bibelklasse. Natürlich war alles freiwillig, aber ich ging sehr gerne in die Bibelklasse und habe unheimlich viel gelernt. Es war ein richtig aufklärerischer Unterricht, schon halbwegs für Erwachsene, wir waren ja Jugendliche. Ich lernte sogar die ganzen Inhaltsverzeichnisse der Bibel auswendig. Dazu wurden wir zwar angeregt, doch es war kein Muss. Aber ich habe gerne gelernt, so war das für mich kein Problem.

Wenn ich das nicht später als Grundlage für mein Theologiestudium gehabt hätte, wäre ich arm dran gewesen. Ich wusste gar nicht, wie die anderen Theologie studieren konnten, weil man all dies im Studium nicht lernte. Dort geht es um Theologen, über verschiedene Theologieschulen, unterschiedliche Perspektiven zur Bibelinterpretation und so weiter, aber nicht explizit, was in der Bibel steht.

Weil ich glücklicherweise meine eigene als Grundlage hatte, konnte ich meinem Theologiestudium eine ganz andere Richtung geben. Darum hatte ich auch hinterher den Mut, theologische Bücher zu schreiben. Ich bin ja nicht in dem Sinne biblizistisch, dass ich an das glaube, was in der Bibel steht. Darum geht es nicht. Aber ich weiß über Bibeltexte Bescheid und ich weiß genau, wie ich was verwenden kann, um Dinge zu belegen oder aufzuzeigen.

Manche Theologen sind sich gar nicht richtig darüber im Klaren, was in der Bibel alles steht. Und das ist ziemlich blöd, denn wenn man mit der Bibel argumentiert, muss man auch wissen, was darin steht und aus welcher Zeit das kommt und was für eine Geisteshaltung der jeweilige Prophet hatte.

Wie kommt der Kopf ins Radio?

Ich muss fünf oder sechs Jahre gewesen sein, da schaffte sich meine Mutter ein Radio an. Es war ein kleiner Volksempfänger, den schaltete sie immer ein für Nachrichten und Kommentare. Völlig perplex fragte ich mich wochenlang: „Wie kommt der Kopf ins Radio?“ Denn wenn jemand sprach, musste da schließlich auch eine Stimme sein und ein Mund und ein Kopf. Andererseits sagte ich mir selbst: Ein Kopf kann nicht ohne Körper sprechen. Aber zumindest musste da etwas Ähnliches drin sein wie ein Kopf. Es war ein unlösbares Problem für mich als Kind.

Bis irgendwann einmal ein Kinderchor sang und ich mich ergeben habe. Ich kam einfach nicht weiter. Dass ein Kinderchor nicht in ein Radio passt, das war mir klar. Ein Kopf passte vielleicht gerade noch rein, aber ein Kinderchor, nein. Also habe ich mir gesagt: „So, jetzt muss ich aufgeben. Jetzt kann ich darüber nicht mehr weiter nachdenken.“

Ein Erwachsenenkörper in Kinderkleidung

In ungefähr demselben Alter habe ich lange überlegt, wie es wäre, wenn ich erwachsen bin. Auf jeden Fall freute ich mich darauf, denn dann würde ich selber Geld haben, und bei bei jedem Einkauf würde ich mir Pralinen kaufen. Das war für mich der Inbegriff des Himmels.

Eines Tages kam mir aber das Problem in den Sinn, dass ich ja Kinderkleidung trug und meine Mutter Erwachsenenkleidung. Irgendwann würde ich also auch Erwachsenenkleidung tragen müssen. Mir war aber nicht klar, dass dies ein gradueller Prozess ist und man zwischendurch immer die Kleidung wechselte.

Ich dachte also, dann würde mir meine Kinderkleidung immer kleiner werden und ich müsste irgendwann krumm gehen, weil ja alles zu eng wäre und die Träger zu kurz. Wie sollte ich dann ins Kleidungsgeschäft gehen, um mir Erwachsenenkleidung zu kaufen, wenn ich überhaupt nicht mehr in meine Kinderkleidung reinpasste? Es schien ein unlösbares Problem, wie ich mit der Kinderkleidung in einem Erwachsenenkörper in das Geschäft für Erwachsenenkleidung kommen sollte. Wirklich, das war mir als Kind über einen langen Zeitraum ein Problem.

Umweltbewusstsein

Bereits im Vorschulalter musste ich ein Umweltbewusstsein besessen haben, obwohl mir der Begriff natürlich nicht geläufig war. Bei meiner Großmutter im Haus war eine Kneipe, die ein paar Stufen nach unten ging. Dort wurde regelmäßig zweimal die Woche großes Blockeis mit Pferd und Wagen angeliefert. Der Kutscher trug eine große Lederschürze und einen Schulterschutz, auf dem er das Blockeis transportierte.

Ich hatte immer Freude daran, die Pferde zu beobachten, weil ich ja mitten in der Stadt wohnte und nirgends eine Pferdekoppel sah. So beobachtete ich also die Pferde, sah zu wie sie ihre Pferdeäpfel fallen ließen, dabei den Schwanz so hochhoben, und fand das entzückend, wie sie so unbedarft mitten auf die Straße ihren Haufen machten. Das habe ich regelmäßig beobachtet, doch eines Tages hatte ich eine große Enttäuschung: Da kam nicht mehr der Pferdewagen, sondern stattdessen ein großer LKW.

Der Fahrer ließ den Motor laufen und als ich den Dieselgestank roch, war ich entsetzt und überlegte: „Vielleicht ist ja nur seine Kutsche kaputt. Wenn das jetzt immer so bliebe, können die doch nicht die Luft so verpesten.“ Mir war klar, dass der Gestank der Pferdeäpfel nichts war im Vergleich zu dem Dieselgestank, der ja auch eine richtige Fahne ausstieß, die man sah. Ich habe also gespannt gewartet, aber es kam immer wieder nur der große LKW. Es packte mich wirklich das große Entsetzen, denn ich dachte, wenn das so weitergeht mit den Abgasen, dann gehen wir daran kaputt.

Es gab noch eine andere Sache, die sich ebenfalls im Vorschulalter abspielte: Meine Großmutter wurde in der Verwandtschaft belächelt, weil sie ihre Seifenlauge vom Waschen in große Eimer schüttete, um dann damit den Treppenflur sauber zu machen. Sogar ihre Söhne lachten über sie und spotteten, ob sie das Wasser nicht noch filtern und daraus noch Kaffee kochen möchte. Ich empfand das ungerecht, denn ich fand es sehr gescheit, dass sie Seifenpulver und Wasser sparte und noch einer zusätzlichen Verwendung zuführte.

Später habe ich mal ein Buch gelesen über ein indisches Mädchen, das irgendwo in die Badewanne gesetzt werden sollte. Aber sie wollte da nicht reinsteigen, weil man in Indien nicht in stehende Gewässer, sondern nur in fließende hineinsteigen durfte. Denn stehendes Wasser war bei ihnen nur zum Trinken da. Zum Waschen verwendete man nur fließendes Wasser. Von ihr habe ich gelernt, dass Wasser so kostbar ist, dass es nicht verschwendet werden sollte.

Seitdem habe ich mich geärgert, dass wir Trinkwasser für die Klospülung benutzt haben. So dachte ich, man müsste doch ein zweites System erfinden, damit man das eine Wasser für die Klospülung und das andere Wasser zum Trinken nimmt und nicht das teure, gute Trinkwasser für die Klospülung verschwendet. Das denke ich im Übrigen auch heute noch.

Desillusionierung des Männerbildes

Als ich vier oder fünf Jahre alt war, erzählten sich die Erwachsenen Schauergeschichten, die gerade in der Zeitung standen. Zum Beispiel, dass ein Kind umgebracht und aufgegessen wurde, weil die Leute Hunger hatten. Oder dass ein Kind mitten im Winter in einem Treppenhaus ausgezogen und nackt zurückgelassen wurde, weil die Leute Kinderkleidung brauchten. Lauter schrecklichen Sachen und vor allem immer wieder Mord am Kind. Es waren aber nur Männer, die das taten. In meiner kindlichen Philosophie habe ich mir dann gesagt: „Männer, die selber mal Kinder waren, die können das ja nicht machen. Weil die ja wissen, wie hilflos Kinder sind, und wie nett und niedlich. Die würden doch nie ein Kind umbringen.“

Das stand für mich außer Diskussion. Also musste es wohl zwei Kategorien von Männern geben. Einmal die Männer, die hier auf der Erde geboren sind. Und dann die anderen, die irgendwie anders auf die Erde gekommen sein mussten, und das ging ja nur, wenn die schon als fertige Wesen vom Himmel gefallen waren.

Nachdem ich diese Philosophie nun in mir etabliert hatte, war der nächste Schritt, dass ich mir dachte, wenn es so ist, dann muss ich auch den Beweis dafür finden. Irgendwann muss ich ja mal sehen, dass ein solcher Mann vom Himmel fällt. Für mich waren das immer Männer mit schwarzen Hosen und schwarzem Mantel, eben ganz schwarz angezogen. Darum guckte ich jetzt immer an den Himmel nach den schwarzen Männern.

Ich weiß noch, einmal ging ich auf eine Weihnachtsfeier in meinem Kindergarten, und das war ein ziemlich langer Weg. Da dachte ich mir: So, nun guck ich den ganzen Weg in den Himmel. Irgendwann muss schließlich einer runterfallen.

Also ging ich mit dem Blick nach oben, habe dauernd Leute angerempelt, die mich ermahnten: „Du musst aber schon nach vorne auf deine Beine gucken, pass doch auf, wo du hintrittst.“

Nun ja, ich habe immer weiter in den Himmel geguckt und war so enttäuscht, weil ich keinen schwarz angezogenen Mann habe fallen sehen. Schließlich dachte ich, vielleicht fallen die auch nachts vom Himmel, wenn wir das nicht sehen können. Deshalb habe ich davon abgelassen, danach zu schauen. Das war dann meine neue Philosophie, dass sie nur nachts vom Himmel fallen, und wir sie nicht sehen können, weil wir ja nachts nicht auf der Straße sind.

Tatsächlich habe ich lange nicht glauben können, dass Männer, die hier geboren sind, die selbst kleine Kinder gewesen sind, eine Mutter hatten, Geschwister vielleicht, dass diese Männer zu Mördern wurden. Das wollte lange Zeit nicht in meinen Kinderkopf hinein.

Aufklärung

Im Alter von acht Jahren kommt man ja langsam dahinter, dass man als erwachsene Frau heiratet und Kinder kriegt. Man macht sich auch Gedanken, was das wohl für ein Mann sein wird, den man heiratet, und wie man sich mit dem verstehen wird. Zugleich das Problem des Kinderkriegens, wie das wohl geht. Das war im selben Jahr, als meine Mutter wieder schwanger war. Sie hatte ja nochmal geheiratet und wollte, dass ihr zweiter Mann auch ein Kind bekommt, weil er uns schließlich angenommen hatte und durchfütterte.

Zu der Zeit war ich kurz davor in ein Internat zu kommen, und irgendwie wollte meine Mutter, dass ich nicht so unaufgeklärt wegging. Daher sagte sie zu mir: „Weißt du, wo die Kinder herkommen?“

Ich antwortete: „Ja schon, ich weiß, wie sie da rauskommen, aber ich weiß nicht, wie sie da reinkommen.“ Weil das tatsächlich mein Problem war.

Die ganze aufklärerische Antwort meiner Mutter war: „Soll ich es dir etwa vormachen?“

So blieb diese Frage also weiterhin ungeklärt. Die anderen Kinder im Internat erzählten immer abends im Bett, dass man Sex haben musste, um Kinder zu kriegen. Aber das wollte ich nicht glauben. Das konnte gar nicht sein, weil meine Mutter immer gestöhnt hatte: „Ach, nun kriegen wir auch noch Nachwuchs, und die Wohnung ist doch zu klein.“

Also habe ich mir gedacht, sie würde doch nicht darüber jammern, wenn sie weiß, dass sie selbst dafür selbst verantwortlich ist, dass sie Sex hatte. Das passte in meinem Kopf nicht zusammen.

Nur in Bezug auf die Ehefrage war ich sehr dankbar. Denn mein Lieblingsonkel Wilfried, der hatte einen Narren an mir gefressen und liebte mich wirklich heiß und innig. Er war der jüngste Bruder meiner Mutter, nur fünf Jahre älter als ich. Später wurde er schwul, doch das nur nebenbei.

Jedenfalls ging er einmal mit mir spazieren, was er öfter machte, wenn er bei mir zu Besuch war, und da sagte er zur mir: „Christa, wenn du eines Tages mal alt und abgetakelt bist, und kein Mann dich mehr heiraten will, dann heirate ich dich.“

Das war für mich eine solche Erleichterung, dass ich mir ab sofort keine Gedanken mehr machen musste, was ich mal für einen Mann kriege, und ob ich überhaupt einen abbekomme. Ich wusste, ich hatte einen sicher, und ich wusste auch schon, dass ich ihn liebte. Damit war alles in Ordnung, was das Problem anbelangte.

1.3. Schulerfahrungen

Wie wichtig ist Schule?

Zu Anfang des ersten Schuljahres waren alle Kinder aufgeregt. Doch für mich war es komischerweise gar nichts Eindrückliches oder Besonderes, und ich habe die Schule nicht als etwas Wichtiges wahrgenommen.

Eines Morgens – ich war sechs Jahre alt – hatte meine Mutter mir gesagt, ich solle einen Topf voll Brechbohnen fertig machen, also die Enden abschneiden und in den Topf tun. Das war für mich eine riesig große Menge und ich weiß nicht, wie lange ich daran saß. Als ich fast fertig war, klingelte es und ich rannte zur Tür. Es war die 13-jährige Tochter unserer Vermieterin. Und die guckte mich groß an und sagte: „Aber Christa, was machst du denn hier?“

„Ich mach die Bohnen“, antwortete ich.

Sie meinte: „Aber du musst doch schon lange in der Schule sein!“

Daraufhin erklärte ich: „Aber nein. Ich bin doch noch nicht fertig. Ich muss erst die Bohnen fertigmachen und dann geh ich in die Schule.“

„Aber die Schule hat doch schon angefangen!“

Das fand ich überhaupt nicht von Bedeutung, weil der Befehl meiner Mutter in dem Moment so viel wichtiger war, als dass ich zur Schule musste. Und ich habe auch nicht begriffen, weshalb man da nun jeden Tag und immer pünktlich hinkommen musste.

Das habe ich aber dann durch diese Erfahrung gelernt. Ich weiß nicht mehr, was an dem Tag passiert ist, als ich zur Schule kam und ob ich ausgeschimpft wurde. Das war schließlich alles nicht wichtig, nur die Bohnen, die zählten. Denn der Auftrag kam ja von meiner Mutter, und jemand anders hatte mir gar nichts zu befehlen.

Hausaufgaben

Wenn ich nach Hause kam, fragte meine Mutter immer nach den Hausaufgaben, und dann sagte ich meistens: „Wir haben nichts auf.“ Weil wir meiner Meinung nach wirklich keine Hausaufgaben auf hatten.

Nach einiger Zeit kam es zwischen meiner Mutter und der Lehrerin zu einem Streit. Es fing damit an, dass ich etwas aus einem Buch abschreiben sollte. Dann musste ich es meiner Mutter zeigen und sie fand es nicht in Ordnung, dass ich die Reihe nicht vollgeschrieben hatte. Aber ich musste es ja genauso abschreiben, wie es im Buch stand. Das „imimi imimi i“, so ein Babykram, immer untereinander mitsamt den Absätzen. (Imi war übrigens noch ein Seifenpulver zur damaligen Zeit) Doch meine Mutter gab mir den Auftrag und sagte: „Nein, du schreibst jede Zeile voll und lässt keine Zeile frei.“

Natürlich, ich kam zur Schule, da sagte die Lehrerin: „Was hast du denn da gemacht? Nochmal schreiben, genauso wie es im Buch steht, mit den Absätzen!“

Zuhause sagte ich meiner Mutter, dass ich alles nochmal machen muss, weil es doch falsch war. Sie antwortete: „Gut, dann schreibst du das in die Mitte, dass es mittig ist und an den Rändern frei.“ Also habe ich den ganzen Text in die Mitte geschrieben und die Ränder frei gelassen, obwohl ich wusste, ich sollte es an den Anfang setzen und es würde wieder falsch sein. Doch ich habe mich nicht getraut, meiner Mutter zu widersprechen.

In der Schule sagte die Lehrerin wieder: „Das ist falsch, du sollst am Anfang beginnen und nicht in der Mitte.“ Also musste ich es ein drittes Mal schreiben.

Da ging meine Mutter, die auch Elternsprecherin war, zur Schule und hat sich wahrscheinlich mit der Lehrerin angelegt.

Und als sie wieder nach Hause kam, sagte sie: „Du hast mich belogen!“ Ich fragte: „Wieso habe ich dich belogen?“

„Deine Lehrerin hat gesagt, du hast jeden Tag Hausaufgaben auf!“

„Nein“, meinte ich.

„Ja“, sagt sie, „und wenn es nur lesen ist.“

„Aber lesen ist ja keine Hausaufgabe. Was soll ich denn da machen, wenn ich es doch schon kann?“

Das muss meine Mutter wohl der Lehrerin gesagt haben. Die wunderte sich darüber, wie ich es konnte, ohne es geübt zu haben. Dabei hatten wir das ja schon in der Schule gelesen, und wenn ich es einmal durchgelesen hatte, dann konnte ich es.

So ging der Krach zwischen meiner Mutter und der Lehrerin immer weiter und ich musste es ausbaden. Einmal forderte die Lehrerin alle auf, nach vorne zu kommen, die eine Note „1“ oder „2“ hatten. Ich hatte eine „1-2“, also bin ich nach vorne gegangen. Sie fragte mich, was ich da wolle. Und ich antwortete, dass ich eine „1-2“ hätte. Da herrschte mich die Lehrerin in barschem Ton an, ihr mein Heft zu zeigen. Ich merkte, dass sie mir das gar nicht zugetraut hat, obwohl sie mir selbst die Note ja gegeben hatte. Sie hat mich schlechter gemacht als ich war, also mochte sie mich irgendwie nicht. Glücklicherweise kam ich irgendwann von ihr weg, und später zogen wir um und ich kam in eine andere Schule, wo es besser war.

Ärger mit der Klassenlehrerin

Im dritten Schuljahr hatten wir eine Lehrerin, die ein bisschen verkrampft war. Ich mochte sie nicht und ich habe sie immer geärgert. Sie sang immer so komisch, und einmal, als wir ein Lied singen sollten, habe ich zur Klasse hin meinen Finger auf den Mund gelegt, so dass alle MitschülerInnen still waren. Da hat sie ganz alleine gesungen und war furchtbar wütend, dass wir nicht mitsangen.

Ein anderes Mal hat sie mir ein Stück Kreide und einen Tafellappen an den Kopf geworfen und mir im Zeugnis in Freies Sprechen die Note 3 gegeben.

Meine Mutter sah mein Zeugnis und sagte: „Was? Freies Sprechen eine 3?! Ja, das kommt ja überhaupt nicht in Frage.“

Also ist meine Mutter wieder einmal in die Schule gegangen und hat der Lehrerin gesagt: „Wissen Sie, alles bringen Sie meiner Tochter bei: Lesen, Schreiben, Rechnen… Aber freies Sprechen lernt ein Kind nicht in der Schule, sondern zuhause im Elternhaus. Und wenn Sie meiner Tochter in Freies Sprechen eine 3 geben, dann fällt das auf mich zurück und nicht auf Sie. Aber Ihnen würde ich im Freien Sprechen eine 4 geben, so wie Sie am letzten Elternabend gestottert haben.“

Damit war ich auch bei dieser Lehrerin endgültig unten durch.

Als ich einmal bei derselben Klassenlehrerin (Frau Honig) frech war, sagte sie zu mir: „So, und du wirst heute nachsitzen.“