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Copyright © 2021 Christa Mulack

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Umschlagfoto: Martin Luther Bibel 1679, Eigentum Dr. C. Giese

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7534-9429-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Am Beginn dieses Buches stand eine lange zurückliegende Reise mit einer Studiengruppe in einen Kibbuz nahe Jerusalem. Bevor unsere Arbeit im Kibbuz anfing, unternahmen eine Kommilitonin und ich einen ersten Ausflug in die Stadt. Da es unerträglich heiß war, besuchten wir die nächste Eisdiele und bestellten uns einen Eisbecher mit Früchten und Sahne. Wir saßen am Tresen, während uns die einzige Kraft im Laden – möglicherweise die Inhaberin – bediente, die sich immer in unserem Blickfeld bewegte.

Als wir die Eisbecher in Empfang nahmen, mussten wir enttäuscht feststellen, dass die Sahne aus dem Siphon sauer war. Peinlich berührt schauten wir uns an – unsicher, ob wir uns als Deutsche beschweren durften, was in Deutschland gar keine Frage gewesen wäre. Hier aber wurden wir zurückgehalten von undefinierbaren Schuld- und Schamgefühlen.

Die Frau stand uns unmittelbar gegenüber hinter dem Tresen und beobachtete uns. Wir tuschelten nur leise, ob wir etwas sagen sollten. Sie kam unseren Überlegungen jedoch zuvor und fragte auf Deutsch: „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“

Daraufhin erklärte ich ihr, dass die Sahne sauer sei. Sie ging sofort an den Kühlschrank und bestätigte unsere Feststellung.

Interessiert fragte meine Kommilitonin: „Wo haben Sie denn so gut Deutsch sprechen gelernt? Und wo waren Sie in Deutschland?“

Die Frau zeigte uns ihren Unterarm und deutete auf die eintätowierte Nummer: „Ich weiß nicht, wo ich in Deutschland war. Wir fuhren immer nur mit dem Zug vom Lager zur Munitionsfabrik und abends wieder zurück.“

Meine Kommilitonin und ich schauten uns erschrocken an. Doch sie schüttelte den Kopf und erklärte: „Sie haben keine Schuld. – Es gibt keine Kollektivschuld.“

Dieser Satz begleitete mich durch die nächsten Jahrzehnte. Er hatte seinen besonderen Wert für mich, dadurch, dass er von einer ehemaligen KZ-Insassin ausgesprochen worden war. Seitdem war ich immun gegen implizite Vorwürfe von jüdischer Seite, die in vielen anderen Menschen die Bereitschaft erweckte, sich schuldig zu fühlen, wo sie nicht schuldig waren.

Später kam noch ein zweiter Grund für dieses Buch hinzu: Es war mein Ärger über die zahlreichen, verleumderischen Antisemitismusvorwürfe, die seit Jahren unwidersprochen den Blätterwald durchwehen. Sie gründeten zumeist auf unklaren, nicht nachvollziehbaren Anspielungen, die in der Lage sind, den Ruf der Beschuldigten in eine Schieflage zu bringen – wenn nicht gar ihn ganz zu ruinieren.

Der Gipfel waren seinerzeit Vorwürfe gegen Jakob Augstein, den das Simon Wiesenthal Center 2012 auf seine Jahresliste der zehn schlimmsten antisemitischen Verunglimpfungen setzte – was zum Glück nicht gegen Augstein, sondern gegen diese Liste sprach.

Dazu gesellten sich zahllose zweifelhafte Umfragen jüdischer Organisationen, die einen ständigen Anstieg des Antisemitismus in Deutschland nach ihren eigenen Statistiken signalisierten, denen jedoch das Empfinden weiter Kreise in Deutschland widersprach – unter ihnen auch jüdische MitbürgerInnen.

Nach mehreren Jahren der inneren Vorbereitung zu diesem Buch entdeckte ich einige Werke hochkompetenter, jüdischer Autoren, wie Abraham Melzer und Moshe Zuckermann, die dieses Thema – durchaus in meinem Sinne – umfassend bearbeitet hatten. Wozu also ein weiteres Buch diesen Inhalts?

Stattdessen richtete ich meine Aufmerksamkeit nun auf den Ursprung des Antisemitismus, der mir bereits bei der Abfassung meines letzten Buches („Gewalt im Namen Gottes – Ursachen und Hintergründe im biblischen Monotheismus“) fast nebenher als der Bibel innewohnend aufgefallen war.

Diesen Nachweis zu erbringen, erschien mir nunmehr wesentlich interessanter, zumal sich damit ein hohes Maß an Aufklärungsarbeit verband, derer es gerade bei diesem Thema in der Tat bedarf. Insbesondere da weitgehende Einmütigkeit darüber besteht, dass der Ursprung des Antisemitismus im Christentum liegt, was eine der grundlegenden Unwahrheiten ist, die sowohl von jüdischer als auch von christlicher Seite unterstützt wird.

Obwohl ich mir der Frauenfeindlichkeit in der Bibel schon immer bewusst war – ebenso wie der Tatsache, dass sie bereits in vorbiblischer Zeit existierte, wie z.B. in der griechischen Mythologie – wurde mir dennoch die Bibel als ihre tragende Säule erst während der Studien zum Buch voll bewusst.

Immerhin hatte die christliche Kirche die hebräische Bibel gekapert und sich „ihren“ Überlieferungsschatz einverleibt, nur weil eine Reihe neutestamentlicher Texte auf das Alte Testament zurückverwiesen. Eine durch und durch unredliche „Übernahme“, die vielen der Lehren Jesu Abbruch tat, in der Gestalt einer gleichermaßen „Heiligen Schrift“ als christlichem Diebesgut. Denn nunmehr entstammte die durch und durch frauenfeindliche Evageschichte ebenso der „Heiligen Schrift“ wie die Gleichnisse Jesu – eine unerträgliche „Gleichstellung“.

Zwar hatte ich mich bereits jahrzehntelang mit dem Thema Frauenfeindlichkeit befasst, doch kam durch die Auseinandersetzung mit der Frauenfeindlichkeit in Bibel und Judentum noch eine neue Dimension hinzu. Immerhin bestanden weite Teile der mittelalterlichen Argumente von Inquisitoren aus frauenfeindlichen Bibelzitaten zur Begründung ihres „Frauen“-Holocaust auf dem Scheiterhaufen. („Ganzbrand-Opfer“ von griechisch holocaustos = vollständig verbrannt)

Viele Frauen fürchten sich zurecht tagtäglich vor Männergewalt. Dennoch besteht in Deutschland eine auffallende Kluft zwischen der medialen Anprangerung von männlichem Frauenhass im Vergleich zum Judenhass, die eindeutig zu Lasten von Frauen geht. Dasselbe Ungleichgewicht – und das ist wohl das Schlimmste – spiegelt sich auch in den Sicherheitsausgaben des Bundes und der Länder wider. Es ist ein Ungleichgewicht, das jedes Jahr unzähligen Frauen das Leben kostet.

Bei der Abfassung dieses Vorworts bin ich selbst verwundert über die erschreckenden Abgründe – einschließlich des Antisemitismus in der protestantischen Kirche und ihrer diesbezüglichen Luther-Verunglimpfung. Abgründe, die sich auf dieser Buch-Reise für mich aufgetan haben, und die für uns alle der Aufklärung bedürfen. Nun bleibt mir nur noch zu hoffen, dass diese Aufklärung zum besseren beiderseitigen Verständnis im Jubiläumsjahr 2021 „1700 Jahre Juden in Deutschland“ beitragen möge, da Lügengeschichten viel zu lange die Oberhand in beider Beziehung hatten.

Christa Mulack, im April 2021

Teil I:

Verleumderischer Antisemitismusvorwurf und die Hintergründe

Überblick

In diesem einleitenden ersten Teil des Buches wird der Vorwurf des Antisemitismus unter folgenden Aspekten thematisiert:

Zunächst geht es im ersten Kapitel um die Bewusstmachung jener Leichtfertigkeit, mit der dieser Vorwurf in verleumderischer Weise nur allzu häufig erhoben wird. In vielen Fällen ist daher nicht der Antisemitismus das Problem – was er in anderen Fällen durchaus ist, das soll nicht geleugnet werden –, sondern die deutsche Politik einerseits und der Umgang miteinander andererseits.

Da bereits die Kritik an der Politik Israels – nicht nur in Deutschland – zum Antisemitismusvorwurf berechtigt, versucht der zweite Teil des ersten Kapitels eine Antwort auf die Frage zu geben, welche Politik ein solches Kritikverbot letztendlich ermöglicht und schützt, und mit welchen Folgen.

Die Antwort darauf gibt im zweiten Kapitel die NGO „Breaking the Silence“, die Israels permanente Menschenrechtsverletzungen anprangert und dabei die Frage nach der Vergleichbarkeit mit dem NS-Regime aufwirft.

Daraus entsteht wiederum die Frage nach dem Männlichkeitsverständnis, das im Israel-Palästina-Krieg ebenso zutage tritt wie im Bereich des Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Zu diesem Thema kommt im dritten Kapitel der Psychologe Klaus Theweleit ins Spiel, dessen Buch „Männerphantasien“ nach vierzig Jahren in erweiterter Form neu aufgelegt wurde.

Da auch er auf die Vergleichbarkeit männlicher Gewalttaten eingeht, beschäftigt uns dieses Thema noch einmal im vierten Kapitel, und zwar im Hinblick auf den Antisemitismusvorwurf. Der wird auch jenseits von Holocaust und Nationalsozialismus im Land der Großen Freiheit von der US-amerikanischen Israel-Lobby gegen jene erhoben, die ihrer Forderung nach diversen Israel-Hilfen widersprechen.

1. Antisemitismusvorwurf statt Debattenkultur

Kein anderer Begriff wird in der Politik seit Jahren dermaßen schamlos missbraucht wie der des Antisemitismus, und das auf deutscher wie auf deutsch-jüdischer Seite, bei uns wie auch in anderen Ländern.

Die immer stärkere Fokussierung auf dieses Thema ist – verglichen mit weitaus schlimmeren Gewalthandlungen, die ignoriert werden – völlig unbegründet. Sie geschieht nur allzu häufig im Zusammenhang mit unberechtigten, leichtfertig erhobenen Antisemitismusvorwürfen, die auf konstruierten Vorstellungen und Assoziationen beruhen – häufig in einem Atemzug mit „Verschwörungstheorien“ und „Rassismus“.

Dazu äußert sich auch der israelische Soziologe Moshe Zuckermann: „Was genau lässt den letztlich überschaubaren Antisemitismus in Deutschland als derart bedrohlich erscheinen, dass ihm eine solche Aufmerksamkeit, eine solche die hohe Politik, die Medien, Judenvertretungen und sonstige 'Bedrohten' umfassende Reaktions-Emphase zuteilwird? Da für gewöhnlich nicht die Rede von physischem Schaden oder Lebensgefahr ist“ [wie bei dem wesentlich stärker grassierenden Frauenhass, der tagtäglich eine Frau das Leben kostet, C.M.], geht es im Fall der Antisemitismusklagen selten um mehr als verbale Verletzungen. Sie entstammen „ressentimentgeladene(n) Ideologien und andere(n) Unappetitlichkeiten in der Sphäre der symbolischen Ordnung“. (Moshe Zuckermann „Der allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ 2018, 163)

Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, „warum Hysterien bzw. orchestrierte Panik ausbricht, sobald von einem antisemitischen Ausfall moderaten Ausmaßes berichtet wird? Warum zeitigen andere Formen des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit [und ich füge hinzu: Frauenfeindlichkeit, C.M.] und der alltäglichen Durchbrechung zivilgesellschaftlicher Normen und Konventionen keine vergleichbaren Reaktionen?“ (Ebd.)

Hinter den vielen verleumderischen Anklagen sieht der jüdische Verleger Abraham Melzer „Die Antisemitenmacher“, wie er sein Buch 2017 nennt. Er wendet sich darin auch gegen den insbesondere vom Zentralrat der Juden in Deutschland seit Jahren regelmäßig erhobenen Vorwurf des ständig wachsenden Antisemitismus in Deutschland.

Dieser Vorwurf wird ja nicht erst seit dem Anschlag von Halle erhoben. Dass in diesem Fall ausschließlich zwei Deutsche nicht-jüdischer Abstammung die Opfer waren, weil der jüdische Selbstschutz ausgezeichnet funktionierte, wurde bei den Meldungen häufig unterschlagen, bzw. als Nebensache behandelt. Es handelte sich hier um misslungene Mordversuche, die ihresgleichen in der deutschen Nachkriegsgeschichte suchen.

Ihnen stehen jedoch in Deutschland andere Massenerschießungen gegenüber, die keinen antisemitischen – sprich: ideologischen – Hintergrund hatten.

Es geht hier keineswegs um die Vertuschung von Antisemitismus, der fast überall auf der Welt existiert, was natürlich später die Frage des Warum aufwerfen wird. Es geht vielmehr darum, dass dieser Vorwurf längst zur Masche geworden ist und in den meisten Fällen unbegründet erhoben wird – und auch gar nicht begründet zu werden braucht. Darin liegt der Skandal, der kaum thematisiert wird.

Melzer spricht daher vielen Menschen aus der Seele, wenn er sich in seinem Buch darüber wundert, dass es „keinen Aufschrei gegen den Vorwurf des Antisemitismus gibt, der so oft gegen honorige deutsche Bürger, Intellektuelle, Künstler, Politiker […] erhoben wurde“. (Abraham Melzer „Die Antisemitenmacher“ 2017, 86)

Auch verwahrt sich Melzer dagegen, dass durchaus berechtigte Kritik an der Palästina-Politik Israels, die ausschließlich den eigenen Vorteil im Blick hat, mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Dabei wirft er insbesondere seine eigene Erfahrungen aus sechs Jahrzehnten Leben in Deutschland in die Waagschale.

Statt die Kritik an Israels Palästina-Politik offen zu diskutieren, werden jene, die in dieser Hinsicht ihre Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen, immer wieder als „Antisemiten“ gebrandmarkt. Auch dann, wenn sie in keiner Weise das Existenzrecht Israels in Frage stellen, wie es ihnen fälschlicherweise unterstellt wird.

So entscheiden sich viele Karrieristen für den feigen Weg des „Kritiker-Bashings“, anstatt sich mutig hinter die Kritiker der brutalen Politik der israelischen Regierung zu stellen. Dabei verknüpfen sie ihren Antisemitismusvorwurf auffallend häufig mit den Begriffen „Rassismus“ und „Verschwörungstheorien“. Auf diese Weise schaffen sie ein infames Unmenschlichkeits-Konstrukt, das die Adressaten mit den „schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte“ belastet, die dabei zugleich banalisiert werden.

Die Heuchelei dieser Praxis besteht darin, dass sie auf der einen Seite die rechtsreaktionäre Politik Israels unterstützt, andererseits aber jene, die sie kritisieren, in genau diese Ecke stellt.

Hinter dieser Heuchelei sehen aufgeklärte jüdische Menschen den sogenannten „Philosemitismus“ am Werk - eine übertriebene „Liebe“ zu allem Jüdischen, bei der es sich in Wirklichkeit um einen „seitenverkehrten Antisemitismus“ handelt. (Vgl. Melzer 2017)

Ist es dann aber rechtens, aufgrund einer solchen „Liebe“ die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit außer Kraft zu setzten und Kritik an Israel als „Antisemitismus“ abzukanzeln? Als „Antisemitenmacher“ jedoch stellen sie sich nicht nur über die Verfassung, sondern sorgen auch noch für aufgeblähte „Antisemitismus“-Statistiken, die diesen Namen nicht verdienen.

Aufgebläht, weil für die Statistik die bereits erwähnten Praktiken für Antisemitismus-Vorwürfe gelten. Es dürften jedoch nur die als hieb- und stichfest ermittelten antisemitischen Straftaten zählen. Außerdem gibt es nach wie vor keinen empirisch gesicherten Antisemitismus-Begriff, wie die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Antisemitismus-Seite mitteilt.

Wer also einen dermaßen gravierenden Vorwurf erhebt, sollte auch verpflichtet werden, ihn mit Fakten belegen zu müssen. Solange dies nicht geschieht, leidet nicht nur die Debattenkultur, sondern auch die Würde der Menschen und mit ihr ein humaner Umgang miteinander. Derjenige, der sich mit Hilfe verleumderischer Vorwürfe einer ernsthaften Auseinandersetzung mit „unpassenden“ und daher abgewehrten Meinungen entzieht, setzt Reflexe an die Stelle von Reflexionen und Vorurteile an die Stelle begründeter Urteile. Gerechterweise sollten im Zuge der Ahndung antisemitischer Straftaten auch verleumderische Vorwürfe in gleicher Weise geahndet werden. Dazu aber wäre dringend eine faire öffentliche Debatte wichtig, die viele Menschen hierzulande vermissen.

Mit diesem Problem bin ich, wie in der Einleitung erwähnt, schon seit 36 Jahren konfrontiert. Darauf werde ich gegen Ende dieses Buches auch noch einmal zurückkommen. Wie bereits deutlich wurde, lassen sich im Hinblick auf verleumderische Antisemitismus-Vorwürfe außerordentlich kritische Stimmen und Proteste insbesondere von jüdischer Seite vernehmen, die ich hier ausschließlich berücksichtige. Nachfolgend sollen sie als PublizistInnen, PolitikerInnen, Intellektuelle und Diplomaten zu Wort kommen:

Im Jahr 2002 wurde die 2014 verstorbene Shulamit Aloni als ehemalige Friedensaktivistin, Rechtsanwältin, Erziehungs- und spätere Kommunikations- und Kulturministerin, die über dreißig Jahre in der Knesset (dem israelischen Parlament) saß, von Amy Goodman in einem Interview gefragt: „Häufig werden die USA bei Meinungsverschiedenheiten mit der israelischen Regierung 'Antisemiten' genannt. Wie würden Sie das erklären?“

Die Antwort Alonis kam prompt: „Nun, das ist ein Trick, den wir häufig anwenden: Kritisiert uns jemand aus Europa, spielen wir auf den Holocaust an. Kritisieren uns Amerikaner, so nennen wir sie Antisemiten […] Die Regierung Israels kann nicht mit Kritik umgehen.“ (Amy Goodman „Israel’s First Lady of Human Rights: A Conversation with Shulamit Aloni“ Democracy Now!, 14. August 2002)

Seite an Seite mit Aloni kämpfte der bekannte israelische Friedensaktivist Uri Avnery, der fast zeitgleich mit ihr das heutige Antisemitismusproblem folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Die Regierung Sharon ist wie ein riesiges Labor, in dem der Virus Antisemitismus gezüchtet und in die ganze Welt exportiert wird […] Viele anständige Leute, die keinerlei Hass gegen Juden empfinden, aber die Drangsalierung der Palästinenser verabscheuen, werden jetzt als Antisemiten bezeichnet […] Die eigentliche Folge ist, dass Israel nicht nur die Juden nicht vor Antisemitismus schützt, sondern im Gegenteil: Israel fabriziert und exportiert Antisemitismus, der Juden rund um die Welt gefährdet.“ (Uri Avnery „Fabrikation von Antisemiten“ neuerispverlag.de, 28.9.2002)

Mit dieser Aussage wandte er sich gegen die Politik der damaligen Regierung unter Ariel Sharon, die sich seither jedoch in keiner Weise geändert hat. Wie der israelische Historiker Moshe Zuckermann noch erklären wird, war sie von Anfang genau so intendiert. Eine Politik, die notwendigerweise auf Widerspruch stoßen musste – nicht nur bei Palästinensern, sondern auch bei der UN (United Nations) und verschiedenen Menschenrechtsorganisationen.

Vier Jahre nach Uri Avnery erläuterte der damalige Vorsitzende der britischen Sektion von Amnesty International (AI), Paul Oestreicher das Antisemitismusproblem im Hinblick auf die Situation in Deutschland. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk dazu befragt, lautete seine Antwort: „Heute ist es so, dass die Deutschen Angst haben, Antisemiten genannt zu werden, und deswegen fühlen sie sich verpflichtet, als Deutsche zu den Verbrechen Israels zu schweigen […] Um Israels Willen muss die Wahrheit angesprochen werden […] Kritik an Israel hat mit Antisemitismus, mit Antijudaismus überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil! […] Meine Kritik an Israel ist ein Ausdruck meiner Solidarität mit der Minderheit der Israelis, die wirklich Patrioten sind.“

Weiter befragt, ob man denn von Israel erwarten könne, dass es die andere Backe hinhalten solle, wenn es durch „selbstmörderische Terroristen oder von Leuten wie dem iranischen Staatspräsidenten bedroht wird“, antwortete Oestreicher: „Dann muss die Frage gestellt werden, warum die selbstmörderischen Terroristen das tun. Warum sind sie in diesen Fanatismus getrieben worden? […] Das verteidige ich nicht, in keiner Weise. Es ist falsch. Es ist unmoralisch. Aber warum? Weil die Politik Israels so ist, wie sie ist. Wenn es keine besetzten Gebiete gäbe, fielen auch Selbstmörder weg“ und die abscheuliche Politik Irans wäre gegenstandslos. Vor allem würde die Welt – und sogar die arabische – anders von Israel sprechen, das mit seiner Politik weite Teile des Antisemitismus heute erzeugt. (Paul Oestreicher „Viele Juden schämen sich Israels“ DLF-Interview, 23.10.2006)

Wiederum drei Jahre später veröffentlichte der prominente Linke und Deutsch-Franzose jüdischer Abstammung, Alfred Grosser, sein Buch: „Von Auschwitz nach Jerusalem“ (2009). Mit diesem vielsagenden Titel kritisierte er nicht nur die Palästina-Politik der israelischen Regierung, sondern ebenso die Bezeichnung dieser Kritik als „Antisemitismus“. Grosser vertritt die These, „dass jeder Mensch den Anderen respektieren muss“, dass aber niemand die Regel so sehr verletzt wie die Regierung Israels im Umgang mit den Palästinensern. Doch: „Sobald einer die Stimme gegen Israel erhebt, heißt es sofort 'Antisemitismus'.“

Die Kritik von Grosser lautet, durch das „reflexhafte Schwingen der Antisemitismus-Keule“ werde „Antisemitismus ja geradezu erzeugt“. Und er konzedierte: „Natürlich gibt es den alten Antisemitismus […] Es kommt leider ein neuer hinzu, der durch die israelische Politik provoziert wird. Und eben durch die Tatsache, dass sich der Zentralrat der Juden diese Politik zu eigen macht.“ (Alfred Grosser „Es ist schlimmer denn je“ FAZ Interview, 30.11.2009) Ein Vorwurf, der acht Jahre später von dem jüdischen Verleger Abraham Melzer wiederholt wurde.

Ein Jahr nach Grosser schrieb Moshe Zuckermann: „Israels Politik-Rhetorik über Shoah und Antisemitismus dient sehr oft als Blitzableiter zur Relativierung eigener Defizite, Vergehen und Verbrechen […], instrumentalisiert die Verwendung des Begriffs Antisemitismus. […] Israel schafft Realitäten (reale Wirklichkeit in Gesellschaft und Politik, was dann oft mit Selbst-Viktimisierung gerechtfertigt wird – Israel als Opfer der Palästinenser) […] rhetorische Gemetzel über inflationäre Verwendung von Shoah und Antisemitismus-Begriff.“ (Moshe Zuckermann „'Antisemit!' Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“ 2010, 71) [Aufgrund der extrem langen Sätze und der oftmals nicht ganz einfachen Sprache, wurde das Zitat nur mit Auslassungen wiedergegeben. C.M.] (Shoah = anderer Begriff für den Holocaust, von hebr. „Katastrophe“)

Zuckermann sieht darin eine „perfide Ideologisierung der Shoah als Begriff; eine Unvereinbarkeit von moralischem Anspruch und der in seinem Namen verursachten Realität. – Realitäten werden oft von der Warte des Eindrucks, den sie hervorrufen, beurteilt.“ (Ebd.71) Offenbar auf der Grundlage eigener Erfahrung heißt es weiter: „Man wird gleich zum Verräter des jüdischen Volkes, wenn man Israel kritisiert […] und man wird zum besseren Juden, wenn man eine Kritik an Israel unterlässt.“ (Ebd.71) Gleichzeitig aber erhebt Israel einen „Anspruch auf moralischen Beistand der Welt“. (Ebd.73) Nicht wenigen Menschen spricht Zuckermann hier aus der Seele…

Den Abschluss dieser Bestandsaufnahme des Widerstands gegen falsche Antisemitismus-Vorwürfe bildet der ehemalige Botschafter Israels in der Bundesrepublik, Avi Primor. Ähnlich wie Grosser, Melzer und Zuckermann war auch er mit der Situation in Deutschland bestens vertraut, als er im Sommer 2016 erklärte:

„Ja, es gibt in Deutschland wie anderswo Antisemitismus, und zwar aus religiösen, rassistischen und nationalistischen Gründen. Aber insgesamt geht der Antisemitismus sehr langsam zurück. Ich halte Antisemitismus nicht für einen politischen Faktor, der die israelische Politik kümmern muss. Die meisten, die die Israelis kritisieren, kritisieren uns sachlich, sie kritisieren die israelische Politik und Besatzung, aber nicht Israel als Staat und nicht das israelische Volk.“ […] Er jedenfalls könne keine „Zunahme des Antisemitismus feststellen, sondern nur eine Abnahme der Sympathie für Israel“. (General-Anzeiger Bonn vom 27.7.2016, zit. in Jürgen Jung „Zur selektiven Antisemitismus-Debatte“, Februar 2019, palaestina-portal.eu)

Doch solche klaren Unterscheidungen gehen den „Antisemitenmachern“ (zit. Melzer) in Israel und Deutschland völlig ab. Viel einfacher ist es, Menschen, deren Meinung einem nicht passt, als „Antisemiten“ abzustempeln, insbesondere wenn man ihren Argumenten und Meinungen nichts entgegenzusetzen hat, oder einfach zu bequem dazu ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Schweigen wäre in solchen Fällen wohl die bessere Wahl, aber nicht, wenn Menschen fürs Reden bezahlt werden. Sind die Kritiker jedoch auch noch jüdischer Herkunft, werden sie als „selbsthassende Juden“ tituliert, was ich allerdings von den hier zitierten Personen nicht behaupten kann. Sie sind vielmehr Menschen, die über den Tellerrand ihres Jüdin- / Jude-Seins hinausblicken und dabei gewahr werden, dass andere Menschen und Völker die gleichen Rechte haben wie sie und ihr Volk.

Es sind Menschen, die sich nicht dem national-jüdischen Egoismus verschrieben haben, den Benjamin Netanyahu und vor ihm andere Staatschefs gepredigt und verwirklicht haben. Vielmehr haben sie begriffen, dass es nicht angeht, wenn ihr Land permanent gegen Resolutionen der UN verstößt. Jener Behörde, der Israel letztlich seine Staatenbildung verdankt und die es als Mitglied aufgenommen und unterstützt hat – und zwar an der Seite eines palästinensischen Staates, dem die israelische Regierung diese Gleichberechtigung abspricht und seinen selbst eingegangenen Verpflichtungen nicht nachkommt.

Die Hintergründe zu diesem Verhalten hat Moshe Zuckermann sehr einleuchtend dargelegt. Da sie vielen Kritikern als Argumentationshilfe dienen können, möchte ich sie in einem längeren Zitat wiedergeben. Zunächst stellt Zuckermann vier bedeutsame Fragen. (Zuckermann 2018, 57 f.)

  1. „Warum werden […] in Israel immer wieder Parteien gewählt, und (rechte) Regierungskoalitionen gebildet, welche die sich anbietende Teilung des Landes als Voraussetzung eines künftigen Friedensabkommens gar nicht erst erwägen beziehungsweise lediglich ein verlogenes Lippenbekenntnis zu einem solchen Abkommen leisten?“
  2. „Wie kommt es, dass sich seit den Siebzigerjahren eine staatlich geförderte Siedlerbewegung im Westjordanland gebildet hat, die nicht nur durch ihre schiere Expansion die materielle Grundlage für ein Friedensabkommen mit den Palästinensern vereitelt hat, sondern den religiös-messianischen Faktor in Israels politische Kultur in einer Weise eingebracht hat, dass man sich mittlerweile im hegemonialen Politdiskurs weigert, von Okkupation zu reden? – Gottverheißenes Land könne von Juden nicht okkupiert werden, heißt es inzwischen auch unter (pseudo-)säkularen Rechten.“
  3. „Wie kommt es, dass man die Voraussetzungen für einen palästinensischen Widerstand selbst generiert, um gerade in ihm dann eine 'Bedrohung der Existenz Israels' zu gewahren, wenn er mit Gewalt ausgetragen wird, oder sich darüber zu echauffieren, dass er 'antisemitisch' sei und Israel delegitimiere, wenn er (wie etwa bei der 'BDS'-Bewegung) mit gewaltlosen Mitteln praktiziert wird.“

    BDS = Boycott, Divestment and Sanctions. Es handelt sich dabei um eine Boykott-Bewegung gegen israelische Waren, die mit dem Stempel „Made in Israel“ gekennzeichnet sind, obwohl sie in den besetzten palästinensischen Gebieten hergestellt wurden. Darin sieht die BDS eine Legitimierung der Annexion Palästinas. Leider bewiesen unsere ParlamentarierInnen wenig Gerechtigkeitsgefühl, als sie mehrheitlich für das Antisemitismus-Verdikt der Bundesregierung über den BDS und seine SympathisantInnen stimmten, die nunmehr trotz ihrer strikten Gewaltfreiheit aufgrund deutscher Israelhörigkeit als „antisemitisch“ abgestempelt sind und dementsprechend behandelt werden.

  4. „Wie kommt es, dass man sich selbst als Opfer stilisiert (und auch larmoyant daran glaubt), wo man unübersehbar als Täter fungiert, sich gegen Menschenrechte vergeht, das Völkerrecht selbstherrlich übertritt und sich jahrzehntelang als Herr einer brutalen Okkupationspolitik profiliert?“

Die Antworten auf diese Fragen bezeichnet Zuckermann als „höchst unangenehm für jüdische und erst recht für zionistisch-israelische Ohren. […]

Das Versprechen des Zionismus ist bis heute nicht eingelöst worden, und Israel ist nicht zum vermeintlich ersehnten Frieden gelangt, weil Israel den Frieden nie gewollt hat, wenn es den unabdingbaren Preis für ihn (die Teilung des Landes) zu zahlen hatte. Israel hat stets alles darangesetzt, um nicht in die Lage versetzt zu werden, beim Wort genommen und dazu gezwungen zu werden, die Chance eines real möglichen Friedens wahrzunehmen.

Längst ist schon die Lage eingetreten, dass jeder israelische Politiker an der Macht, der sich heute anmaßte, einen Friedensvorstoß, einen Rückzug aus den besetzten Gebieten und den massiven Abbau von Siedlungen auch nur anzukündigen, sehr bald um seine politische Zukunft gebracht wäre; mit weit mehr wäre zu rechnen, wenn er sich bei der in diesem Zusammenhang gegebenenfalls getroffenen Entscheidung einfallen ließe, das Gewaltmonopol des Staates faktisch einzusetzen.“ (Ebd. 58)

Zu diesen klarsichtigen Analysen kommt Zuckermann in einem weiteren Tiefgang auch noch auf die darunterliegenden Faktoren zu sprechen. Da sie mein eigenes Erklärungsanliegen über den Ursprung des Antisemitismus untermauern, möchte ich auch sie noch zitieren. Aus den erwähnten Gründen musste „das zionistische Unternehmen […] ein kolonisatorisches sein.“ (Ebd. 59)

Das hat mit dem Wissen zu tun,

„Der zuweilen in Größenwahn umschlagenden Selbstgewissheit und dem nach außen demonstrierten nationalen Selbstwertgefühl war im Innern stets eine latente Angst verschwistert, dass das gesamte zionistische Projekt auffliegen könnte.“ (Ebd. 59)

In diese Richtungen gingen auch die Befürchtungen vieler Angehöriger des Reformjudentums, die sich bereits vor vielen Jahren veranlasst sahen, ihre Heimat Israel zu verlassen und scharenweise in die USA – zunehmend aber auch nach Deutschland – auszuwandern. Drei ihrer Beweggründe sind mir von damals noch in Erinnerung geblieben:

Erstens: Da viele orthodoxe Juden immer aggressiver gegen Frauen, Mädchen und Ungläubige vorgingen und sie mit unverschämten Forderungen im Hinblick auf die Einhaltung religiöser Ge- und Verbote belästigten, von denen sich die reformjüdische Bevölkerung längst emanzipiert hatte, wurde ihnen das Leben in Israel verleidet.

Zweitens: Gerade diese äußerst frauenfeindlich-aggressiven Orthodoxen stellten mit ihrer hohen Kinderzahl einen immer höheren Anteil der Gesamtbevölkerung – ähnlich der palästinensischen – und würden folglich in absehbarer Zeit allein regieren können und Israel in einen religiösen Staat verwandeln, in dem sie auf keinen Fall leben wollten.

Drittens: Für sie zeigte sich immer klarer, dass es der Regierung nicht wirklich um Frieden mit den Palästinensern ging, so dass nach ihrer Einschätzung der Untergang Israels näherläge als der Friede.

Diese Einschätzung der Situation durch Israels eigene Bevölkerung zeigt, wie kritisch diese in weiten Teilen die Politik ihrer Regierung sieht, ohne deswegen gleich „antisemitisch“ oder gar „selbsthassende Juden“ und Jüdinnen sein zu müssen.

Das vielfach beobachtete Schweigen der Menschen in Deutschland auf die gegen sie erhobenen Antisemitismusvorwürfe ist für Melzer ein deutliches Zeichen dafür, „wie weit die Einschüchterungen mittlerweile gediehen sind.“ (Melzer 2017, 86)

Einschüchterungspolitik als Programm hinter dem sogenannten „Kampf gegen den Antisemitismus“? – Genau darum geht es in diesem Buch. Nicht um die Vertuschung antisemitischer Straftaten, wenn sie sich belegen. Auch gegen jene Rechtsextreme, die einem „Groß-deutschen Reich“ nachtrauern und sich der „Judenhetze“ verschrieben haben. Umso mehr macht es Menschen zornig, wenn sie solchen Gruppierungen zugerechnet werden, aufgrund von politischen Äußerungen, die manchen Ohren nicht genehm klingen mögen, die aber deswegen noch lange nicht „antisemitisch“ sind und dennoch so bezeichnet werden.

Eine ganze Reihe jüdischer Publizisten spricht von Israels Eigenverantwortung für die Folgen seiner egoistischen Politik, die ausschließlich den eigenen Vorteil im Blick hat. Statt diese Kritik auch in Deutschland laut werden zu lassen, werden jene, die diesen Mut aufbringen und ihre Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen von den „Antisemitenmachern“ zum Aufblähen der Antisemitismus-Statistiken missbraucht. Statt sich mutig hinter die Kritiker der brutalen Politik in den besetzten Gebieten zu stellen, bevorzugen sie ein feiges „Kritiker-Bashing“.

Die Heuchelei dieser „Philosemiten“ besteht darin, dass sie auf der einen Seite die rechts-reaktionäre menschenfeindliche Politik Israels unterstützen, andererseits aber jene, die Kritik üben, selbst in die rechts-reaktionäre Ecke stellen. Damit jedoch setzen sie die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit außer Kraft – stellen sich also über die Verfassung.

Im Hinblick auf die zwischenzeitlich längst peinlich gewordenen, duckmäuserischen Reaktionen auf die Politik Israels seitens der Bundesregierung, der meisten Abgeordneten sowie weiter Teile der Medien, äußerte sich der bereits weiter oben zitierte Grosser in einem Gespräch mit dem Stern wie folgt: „Es ist nach wie vor so, dass sich Deutsche zu allem Möglichen kritisch äußern dürfen, aber nicht zu Israel. Menschenrechtsverletzungen anderswo anprangern – kein Problem! Mit Blick auf Israel aber kommt das nicht in Frage. Ich finde das zutiefst schockierend.

Ich finde im Gegenteil, dass ein junger Deutscher, der nichts zu tun hat mit der deutschen Vergangenheit – außer der Verantwortung, dass sich so etwas nie wiederholen darf – dass ein solcher Deutscher überall dafür eintreten muss, wenn Grundrechte verletzt werden […]

Israel-Kritik per se mit Antisemitismus gleichzusetzen – das ist falsch und führt in die Irre […] Wenn Unrecht unrecht ist, muss man es benennen und sagen, dass gerade Israels Politik den Antisemitismus fördert. Das sagen ja auch die israelischen Kritiker dieser Politik.“ (Alfred Grosser „Israels Politik fördert Antisemitismus“ stern.de, 12.10.2007)

Diesen Kritikern schließt sich leider nicht die bundesdeutsche Regierung an. Die fehlgeleitete Politik, die er seit Jahrzehnten beobachtet, kritisiert Melzer: „Immer, wenn Israels Propaganda-Ministerium nicht mehr weiß, wie es der zunehmenden Kritik an der israelischen Politik begegnen soll, holt man den Mythos von der 'Globalisierung des Antisemitismus' aus der Mottenkiste und beklagt das Märchen von der 'Delegitimierung Israels'. Und so warnt auch der Zentralrat der Juden in Deutschland als einer der aktivsten Propaganda-Außenposten vor einem neuen, sich 'weltweit ausbreitenden Antisemitismus'.“ (Melzer 2017, 85)

Grosser verwies übrigens einige Monate nach seiner zuvor zitierten Äußerung auf einen ihm wichtigen Unterschied: „Es gibt eine Gleichsetzung von Israel und jüdisch, die es in dieser Form nicht geben dürfte.“ (Grosser: Netzeitung.de vom 28.3.2008; zit. in Jürgen Jung „Zur selektiven Antisemitismus-Debatte“ palaestinaportal.eu, Februar 2019)

Mit anderen Worten: nicht alle Menschen jüdischer Abstammung sind bereit, sich mit jenem Land zu identifizieren, das eigentliche ihre Heimat hätte werden sollen. Und auch das müssen wir gebührend zur Kenntnis nehmen

Was unsere Regierung aber mit ihrer euphemistisch-fahrlässigen – wenn nicht gar unverantwortlichen – Haltung in Wirklichkeit unterstützt, zeigt das nächste Kapitel.

2. „Das Schweigen brechen“

Mit der deutschen Entscheidung, Kritik an der Politik Israels als „Antisemitismus“ zu brandmarken, der als Straftat behandelt wird, hat sich die Bundesregierung zu einer weiteren „Unterstützung“ einer menschenrechtsverletzenden Politik gegenüber der Zivilbevölkerung Palästinas verschrieben.

Ihr angebliches Ziel, „Kampf gegen den Antisemitismus“, bringt jedoch in vielerlei Hinsicht diesen erst hervor, wie im vorigen Kapitel deutlich wurde und es sich auch in diesem zeigen wird. Die deutsche Regierung hat also nicht begriffen – oder will nicht begreifen –, dass sie mit ihrem fatalen Schweigen genau jene Politik unterstützt, die sie mit ihrer kritiklosen Hinwendung zu Israel doch gerade „sühnen“ will.

Viele Menschen – unter ihnen selbst israelische Soldaten – können und wollen nicht mehr die Augen schließen vor all dem Leid und Elend, das Israels Behandlung der Palästinenser in den besetzten Gebieten anrichtet. Aus diesem Grund sind seit 2004 zahlreiche Soldaten der israelischen Armee mit ihren diesbezüglichen Berichten an die Öffentlichkeit gegangen. Sie haben sich in einer Nichtregierungsorganisation (NGO) „Breaking the Silence“ zusammengeschlossen und haben im Jahr 2010 ihre gleichnamigen Interviews zu ihren Erfahrungen veröffentlicht. Es sind zum Teil erschütternde Berichte aus verschiedenen Einheiten über Unmenschlichkeit, Einschüchterung und Demütigungen der zivilen Bevölkerung Palästinas.

Mit allen Mitteln hat die israelische Regierung im Vorfeld versucht, die Veröffentlichung der Interviews zu verhindern, was ihr zum Glück jedoch nicht gelang. Daraufhin setzte sie sich gegen die Kritik der Soldaten zur Wehr und beschimpfte sie als „Vaterlandsverräter“, „Antisemiten“ und „selbsthassende Juden“. Doch konnte sie nicht verhindern, dass jene die ganze Verlogenheit israelischer Behauptungen offenlegten: Die Gewaltanwendungen gegen die Zivilbevölkerung haben weder etwas zu tun mit berechtigten Vergeltungsmaßnahmen noch dienen sie dem Existenzrecht Israels oder gar einem „Leben in Sicherheit“.

Im Gegenteil: Sie gefährden am Ende beides und haben nur ein Ziel: Die Palästinenser sollen ihr Land den Israelis überlassen. Ihnen wird die Souveränität genommen, damit Israel sie sich zu eigen machen kann. Dabei zählen weder die Menschenrechte noch UN-Resolutionen. Die Todesopfer sind dabei auf palästinensischer Seite zehnmal höher als auf israelischer. (Vgl. Norman G. Finkelstein „Antisemitismus als politische Waffe: Israel, Amerika und der Mißbrauch der Geschichte“ 2007, 153 f.)

Wie Mearsheimer und Walt 2007 schreiben, hatte bereits im November 1989 die US-amerikanische Israel-Lobby gefordert, „dass die USA Israel nicht an Vergeltungsaktionen gegen die Palästinenser hindern sollten, und verlangte ein öffentliches Bekenntnis von der Regierung, dass sie unerschütterlich hinter Israel stehe.“ (John J. Mearsheimer / Stephen M. Walt „Die Israel-Lobby“ 2007, 290)

Ein solches Bekenntnis bekamen sie dann auch indirekt, als der Sprecher des Weißen Hauses betonte: Israel sei ein souveräner Staat und habe das Recht, in Sicherheit zu leben – mit welchen Mitteln auch immer. (Vgl. ebd.) Und so starben weiterhin täglich Menschen aufgrund von Schikanen und Willkürakten, die das behauptete Ziel immer mehr in Frage stellten und das palästinensische Volk immer öfter jedweder Souveränität beraubte.

Während ihrer Einsätze fühlten sich daher viele der interviewten Soldaten mitschuldig an den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, die ihnen in den besetzten Gebieten befohlen wurden. Um ihre Gewissenskonflikte zu mildern, schilderten über einhundert von ihnen die vor Ort erlebte Unrechtspolitik, die die deutsche Regierung mit ihrer Haltung des Wegsehens bis heute unterstützt. Einst willig in den Krieg gezogen – in dem Glauben, Israels Existenzrecht zu verteidigen –, erlebten die jungen Leute in der Armee ein Gebaren gegenüber friedlichen Zivilisten, das ihnen immer mehr zu schaffen machte. Viele kehrten schwer traumatisiert aus den Kämpfen zurück, andere begingen sogar Selbstmord. Wieder andere fühlten sich moralisch verpflichtet, sich öffentlich zu äußern.

Im Rahmen dieses Buches kann ich hier nur einige wenige der vielen Beispiele befohlenen Unrechts wiedergeben. Andererseits kann ich es auch nicht bei zwei oder drei Beispielen belassen. Nicht in der Absicht, Israels Politik „schlechtzureden“, wie es immer wieder heißt, sondern um sie möglichst wirklichkeitsgetreu abzubilden, wogegen Israel sich immer wieder verwahrt und dabei nur allzu gern an den Holocaust erinnert. Dabei stellt sich mir die Frage: Werden wir uns eines Tages auch die Leidensgeschichten der Menschen aus den besetzten Gebieten während mindestens eines halben Jahrhunderts anhören? – Wohl kaum. Doch über diese Form des „Anti-Palästinensismus“ wird zumindest in Deutschland die Decke des Schweigens gelegt.

Im ersten Teil des Buches „Breaking the Silence: Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten“ werden zunächst unter der Überschrift: „'Vorbeugung' – Einschüchterung der palästinensischen Bevölkerung“ Taten zitiert, die einen ersten Eindruck über das Geschehen in den besetzten Gebieten vermitteln sollen. (Breaking the Silence 2012, 5 f.)

Spätestens der letzte Satz erweckte in mir deutliche Assoziationen zum Dritten Reich, die sich auch bei anderen geschilderten Taten einstellten, und zwar nicht nur bei mir.

Einer der Soldaten berichtet über tagelange Blockaden, die für die palästinensische Bevölkerung Nahrungsentzug bedeuteten: „Siebzig Prozent leben vom Fischen, sie haben keine Wahl. Für sie bedeutet das [die Blockaden, C.M.] Nichts zu essen. Es gibt ganze Familien, die wegen der Blockade tagelang nichts essen. Sie essen Brot mit Wasser. Wie in der Shoah.“ (Ebd. 248)

Die Bedeutung dieses Vergleichs erschließt sich wohl erst im Gesamtzusammenhang des Geschehens, der weit über das Essen von „Brot und Wasser“ hinausgeht. So stellt einer der Soldaten nach der Beschreibung israelischer Schikanen mit anhaltenden Ausgehverboten in den Palästinensergebieten die vergleichende Frage: „Was ist das sonst, wenn nicht ein Ghetto?“ (Ebd. 156)

Soldaten einer anderen Einheit berichten von ihrer Angst vor dem Kompanie-Chef, den sie dabei beobachten wie er einen Araber schlägt, ohne dass sie selbst etwas dagegen tun können, hinterher jedoch die seelische Belastung spüren. (Ebd. 43) In diese Richtung weist auch die Erfahrung mit einem ad hoc „Befehl, jemanden zu töten, (der) innerhalb einer Minute ausgeführt wurde“ und dem Soldaten aus diesem Grunde zu schaffen machte. (Ebd. 48)

Hinzu kamen Befehle, auf Leute zu schießen, die nichts verbrochen hatten, sondern lediglich „die Leichen bergen wollten.“ (Ebd. 54 ff.) Bei den Operationen in Gaza galt: „jedem, der auf der Straße herumläuft, auf die Körpermitte (zu) schießen“. (Ebd. 72) Dazu die „Erlaubnis“: „Auf jedes Kind, das Sie mit einem Stein sehen, 'dürfen' Sie schießen.“ (Ebd. 74) Ein israelischer Hauptmann konzentrierte sich darauf, „palästinensische Kinder anzulocken, nur um ihnen die Beine wegschießen zu können. – Es war beängstigend.“ (Ebd. 92) Dieser Vorfall wurde sogar gemeldet – doch anschließend vertuscht.

Der Gipfel der Unmenschlichkeit, Abgestumpftheit und Frauenfeindlichkeit zeigt sich bei dem folgenden Geschehen: Eine Frau wird „in die Luft gejagt und ihre Gliedmaßen auf der Mauer verschmiert“. Am Abend hat man sich dann „über die Situation kaputtgelacht, als die Kinder ihre auf der Wand verteilte Mutter gesehen haben.“ (Ebd. 59)

Hier wird ein kaum zu überbietendes Maß an Unmenschlichkeit erkennbar, welches es sehr wohl mit diversen Geschehen während des Nazi-Terrors aufnehmen kann, der ja nicht nur gegen jüdische Menschen gerichtet war, auch wenn andere Leidende wie z.B. Sinti, Roma, Jenische, Kommunisten, Homosexelle und viele mehr, dabei gern übersehen werden. Andererseits gab es auch eine Reihe Deutscher, die anderen – insbesondere jüdischen Menschen – zur Flucht verholfen oder sie bei sich aufgenommen haben, womit sie ihr Leben riskierten.

Beschließen soll diese kurze Bestandsaufnahme ein etwas weniger grausamer Vorfall, der subtile Unmenschlichkeit mit subtiler Wahrnehmung verbindet: Auf einer Patrouille wird ein zehn- bis zwölfjähriger Junge aufgegriffen. Man befiehlt ihm, die zuvor errichteten Sperren wieder abzubauen, während drei israelische Soldaten ihre Waffe auf ihn gerichtet halten. „Vor Angst macht sich der Junge in die Hose.“ Er wird im Jeep mitgenommen. Später hat man das „Kind aus dem Jeep gezogen […] und es an den Straßenrand geworfen, das Kind weint wieder, und jetzt hat er nasse Hosen und muss zehn Kilometer zurücklaufen, und wir fahren zu den Siedlungen […]“. (Ebd. 93 f.)

Welche Enttäuschungen, Ängste und Wutgefühle müssen in diesen zwei Stunden in dem Jungen aufgestiegen sein und sich zu einem aggressiven Gemisch verbunden und festgesetzt haben, das sich in späteren Jahren gegen Israeliten richten wird. „So schafft man sich Feinde in der Zivilbevölkerung“ (Ebd. 249) – lautet das Fazit gleich mehrerer Soldaten – und fördert damit jenen „Antisemitismus“, dessen „Zunahme“ dann wieder beklagt wird. Und ein Soldat fügt hinzu: „Sie treten die Gebote und die moralischen Werte mit Füßen.“ (Ebd. 372)

Dabei ist nicht zu vergessen: All diese Aussagen entstammen keinem Kriegsszenario, sondern dem ganz gewöhnlichen Alltag der Soldaten in den besetzten Gebieten in Zeiten des „Friedens“. Vielleicht haben doch jene Recht, die behaupten: „Israel ist nicht ein Staat mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Staat.“ (zit. in: N.G. Finkelstein 2007, 358, Fn1)

So stellte Amnesty International bereits sieben Jahre zuvor in einem Bericht über Israels „Exzessive Anwendung tödlicher Gewalt“ fest: „'Die meisten Menschen, die getötet wurden, hatten an Demonstrationen teilgenommen, bei denen abgesehen von Steinen, keinerlei Waffen eingesetzt wurden […] Unter den Verletzten und Getöteten gab es einen hohen Anteil an Kindern. (Die Kinder nehmen üblicherweise an den Demonstrationen teil, bei denen sie dann oft mit Steinen werfen.)

(Amnesty International 2000, Bericht über Israels „Exzessive Anwendung tödlicher Gewalt“, London S. 5 f.; in: N.G. Finkelstein 2007, 358 Fn1)