Über das Buch

Der Verschwörungskult um QAnon fabuliert von einer Elite, die das Blut gefolterter Kinder trinke. Selbsternannte Skeptiker wettern gegen vermeintliche Impfkartelle. Andere wähnen sich mitten in Deutschland in einer versteckten Diktatur. Auch wenn sie in immer neuer Gestalt daherkommen, Verschwörungstheorien durchziehen die Geschichte. Dabei verlaufen sie stets nach demselben Muster — das kaum jemand so treffend erkannt und brillant beschrieben hat wie Umberto Eco. In beständigem Ringen mit Antisemitismus, Esoterik und Pseudowissenschaft hat er schon lange vor der aktuellen Flut an Verschwörungstheorien deren überzeitliche Strukturen freigelegt. Eco fehlt — sein Werk ist gültig und aktuell wie nie.

Umberto Eco

Verschwörungen

Eine Suche nach Mustern

Aus dem Italienischen von Martina Kempter und Burkhart Kroeber

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Komplotte, Verschwörungen, Konspirationen

Fiktive Protokolle

Imaginäre Astronomien

Anmerkungen

Editorische Notiz

Bildnachweise

Komplotte, Verschwörungen, Konspirationen

Da ich mich hier zum Thema Obsession äußern soll, kam ich darauf, dass eine der Obsessionen unserer Zeit fraglos die der Komplotte und Verschwörungen ist. Schon ein kleiner Ausflug ins Internet macht uns deutlich, wie viele (offensichtlich an den Haaren herbeigezogene) Komplotte überall entdeckt werden. Die Obsession der Verschwörung betrifft jedoch nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit.

Dass es in der Geschichte Verschwörungen gab und immer gegeben hat, scheint mir evident zu sein — vom Komplott zur Ermordung Julius Cäsars über die Pulververschwörung in England und Georges Cadoudals Konspiration der Höllenmaschine in Frankreich bis hin zu den heutigen Finanzkomplotten, mit denen Aktiengesellschaften zur Macht an der Börse verholfen werden soll. Aber für reale Verschwörungen ist es charakteristisch, dass sie alsbald aufgedeckt werden, sowohl wenn sie erfolgreich sind, wie bei Julius Cäsar, als auch wenn sie scheitern, wie das Orsini-Komplott zur Ermordung Napoleons III. oder der versuchte Staatsstreich, den Junio Valerio Borghese Ende 1969 in Italien organisierte, oder auch die Konspirationen des Freimaurers Licio Gelli. Reale Verschwörungen sind also keineswegs mysteriös, weshalb sie uns hier auch nicht weiter interessieren.

Interessant ist dagegen das Phänomen des Verschwörungssyndroms und des Erdichtens bisweilen sogar weltumspannender Konspirationen, von denen es im Internet geradezu wimmelt und die mysteriös und unerforschlich bleiben, weil für sie dasselbe gilt wie für das Geheimnis, über das der Soziologe Georg Simmel geschrieben hat, dass es umso mächtiger und verlockender wird, je leerer es ist. Ein leeres Geheimnis erhebt sich drohend und kann weder aufgedeckt noch widerlegt werden, und genau deshalb wird es zu einem Machtinstrument.

Beginnen wir mit dem König aller Komplotte, mit dem sich zahlreiche Internetseiten beschäftigen: dem des 11. Septembers. Viele Theorien dazu sind im Umlauf, angefangen bei den extremistischen (auf arabischen oder neonazistischen Websites), denen zufolge der Anschlag von den Juden organisiert worden sein soll, denn angeblich hätten alle in den beiden Wolkenkratzern arbeitenden Juden die Information bekommen, an jenem Tag nicht zur Arbeit zu gehen.

Diese durch den libanesischen Fernsehsender al-Manar verbreitete Nachricht war offenkundig falsch: Tatsächlich kamen im Feuer der Zwillingstürme mindestens zweihundert Bürger mit israelischem Pass ums Leben, zusammen mit vielen Hunderten amerikanischer Juden.

Sodann gibt es die Anti-Bush-Theorien, nach denen das Attentat im Auftrag des US-Präsidenten organisiert wurde, um einen Vorwand für die Invasion Afghanistans und des Irak zu haben. Und es kursieren Theorien, die den Anschlag diversen mehr oder minder auf Abwege geratenen amerikanischen Geheimdiensten zuschreiben. Nach einer davon sei das Komplott zwar arabisch-fundamentalistisch motiviert, aber der amerikanischen Regierung vorher bekannt gewesen, nur habe sie die Attacke laufen lassen, um wie gesagt einen Vorwand für den Angriff auf Afghanistan und den Irak zu haben (ähnlich wie Roosevelt einst nachgesagt wurde, er habe von dem bevorstehenden Angriff auf Pearl Harbor gewusst, aber nichts unternommen, um seine Flotte in Sicherheit zu bringen, da er einen Vorwand gebraucht habe, um den Krieg gegen Japan zu beginnen). In all diesen Fällen behaupten die Verfechter mindestens einer dieser Verschwörungstheorien, dass die offizielle Rekonstruktion der Fakten bewusst gefälscht, betrügerisch und zudem albern sei.

Wer sich ein genaueres Bild von diesen Verschwörungstheorien machen will, lese das Buch Zero. Perché la versione ufficiale sull’11/9 è un falso, herausgegeben von Giulietto Chiesa und Roberto Vignoli, erschienen 2007 im Verlag Piemme.1 Sie werden es nicht glauben, aber darin finden sich Beiträge von höchst angesehenen Personen, deren Namen ich hier aus Respekt verschweige.

Wer jedoch auch die Gegenseite hören möchte, bedanke sich beim selben Verlag, der mit bewundernswerter aequitas animae (und mit der offenkundigen Fähigkeit, zwei gegensätzliche Marktbereiche zu erobern) im selben Jahr auch ein Buch gegen die Verschwörungstheorien herausgebracht hat: 11/9. La cospirazione impossibile, herausgegeben von Massimo Polidoro, mit Beiträgen ebenso angesehener Persönlichkeiten. Ich möchte hier nicht auf die Einzelheiten der von den Vertretern beider Seiten angeführten Argumente eingehen, die allesamt überzeugend klingen mögen, sondern mich bloß auf das berufen, was ich den »Beweis des Schweigens« nenne. Ein Paradebeispiel für diesen Beweis des Schweigens kann man etwa gegen jene ins Feld führen, die insinuieren, dass die amerikanische Landung auf dem Mond eine Fälschung im Fernsehstudio gewesen sei. Wenn das amerikanische Raumschiff nicht auf dem Mond gelandet wäre, hätte sich damals jemand klar und deutlich dazu geäußert, denn es gab jemanden, der in der Lage war, es zu überprüfen, und der ein Interesse daran gehabt hätte, die »Wahrheit« ans Licht zu bringen, nämlich die Sowjetunion. Dass die Sowjets damals geschwiegen haben, ist für mich der Beweis, dass die Amerikaner wirklich auf dem Mond gelandet sind. Punkt und basta.

Was schließlich die Verschwörungen und die Geheimnisse angeht, so sagt uns die Erfahrung (auch die historische) Folgendes: 1.) Wenn es ein Geheimnis gibt, und sei es auch nur einer einzigen Person bekannt, so wird diese Person es früher oder später offenbaren, womöglich ihrem Liebhaber im Bett — nur die naiven Freimaurer und die Adepten gewisser kindischer Templerriten glauben an ein Geheimnis, das niemals ans Licht kommt. 2.) Wenn es ein Geheimnis gibt, wird es immer auch eine angemessene Summe geben, für die jemand bereit ist, es zu enthüllen (ein paar Hunderttausend Pfund Sterling als Honorar für Autorenrechte genügten, um einen Offizier der britischen Armee alles erzählen zu lassen, was er mit Prinzessin Diana im Bett gemacht hat, und hätte er es mit Dianas Schwiegermutter getan, hätte es genügt, die Summe zu verdoppeln, und ein Gentleman seines Schlages hätte auch darüber ausgepackt). Um nun einen vorgetäuschten Anschlag auf die Twin Towers zu organisieren (also sie zu verminen, der Luftwaffe zu bedeuten, dass sie nicht eingreifen soll, störende Beweise zu beseitigen und so weiter), wäre die Mitwirkung wenn nicht Tausender, so doch zumindest Hunderter von Personen nötig gewesen. Die zu solchen Zwecken eingespannten Personen sind jedoch gewöhnlich keine Gentlemen, und es ist ganz undenkbar, dass nicht wenigstens eine von ihnen für eine entsprechende Summe geredet hätte. Kurzum, in dieser Geschichte fehlt der Tiefe Schlund.2

Das Verschwörungssyndrom ist so alt wie die Welt, und wer seine Philosophie am besten beschrieben hat, war Karl Popper. Schon in den vierziger Jahren hatte er in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde über die »Verschwörungstheorie der Gesellschaft« geschrieben:

Diese Theorie behauptet, daß die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung besteht, daß Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und daß sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden.)

Diese Ansicht von den Zielen der Sozialwissenschaften entspringt natürlich der falschen Theorie, daß, was immer sich in einer Gesellschaft ereignet, das Ergebnis eines Planes mächtiger Individuen oder Gruppen ist. Besonders Ereignisse wie Krieg, Arbeitslosigkeit, Armut, Knappheit, also Ereignisse, die wir als unangenehm empfinden, werden von dieser Theorie als gewollt und geplant erklärt. […] In ihren modernen Formen ist die Theorie ein typisches Ergebnis der Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens. […] Der Glaube an die homerischen Götter, deren Verschwörungen die Geschichte des trojanischen Krieges erklären, ist verschwunden. Die Götter sind abgeschafft. Aber ihre Stelle nehmen mächtige Männer oder Verbände ein — unheilvolle Machtgruppen, deren böse Absichten für alle Übel verantwortlich sind, unter denen wir leiden — wie die Weisen von Zion, die Kapitalisten, die Monopolisten oder die Imperialisten.

Ich will nicht sagen, daß Verschwörungen sich niemals ereignen. Im Gegenteil: Verschwörungen sind ein typisches soziales Phänomen. Sie werden zum Beispiel immer dann wichtig, wenn Menschen an die Macht kommen, die an die Verschwörungstheorie glauben. Und Menschen, die allen Ernstes zu wissen glauben, wie man den Himmel auf Erden errichtet, werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Verschwörungstheorie übernehmen, und sie werden sich in eine Gegenverschwörung gegen nicht existierende Verschwörer verwickeln lassen.3

Und 1969 präzisierte Popper dann in Conjectures and Refutations:

Diese Theorie ist viel primitiver als die meisten Formen des Theismus; sie ähnelt Homers Gesellschaftstheorie. Homer sah die Macht der Götter so, daß alles, was auf dem Feld von Troja geschah, nur die verschiedenen Verschwörungen auf dem Olymp widerspiegelte. Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft ist nur eine Variante des Theismus, eines Glaubens an Götter, deren Launen und Willen alles beherrscht. Sie kommt davon, daß man Gott aufgibt und dann die Frage stellt: ›Wer nimmt seinen Platz ein?‹ Sein Platz wird dann besetzt durch verschiedene mächtige Menschen und Gruppen — durch finstere Interessengruppen, denen dann unterstellt wird, daß sie die große Depression geplant haben, und alle Übel, an denen wir leiden. […] Nur wenn Verschwörungstheoretiker an die Macht kommen, bekommt sie einen gewissen Erklärungswert für die tatsächlichen Ereignisse […]. Zum Beispiel, als Hitler an die Macht kam, der an den Mythos der Verschwörung der Weisen von Zion glaubte, versuchte er sogleich, diese eingebildete Verschwörung mit seiner eigenen, wirklichen Verschwörung zu bekämpfen.4

Die Psychologie des Komplotts entsteht aus der Tatsache, dass die offensichtlichsten Erklärungen vieler besorgniserregender Dinge uns nicht befriedigen, und das nicht selten, weil es uns wehtut, sie zu akzeptieren. Man denke nur an die Theorie des »Großen Alten« nach der Entführung von Aldo Moro: Wie ist es möglich, fragte man sich, dass Dreißigjährige eine so perfekte Aktion planen und durchführen konnten? Da muss doch ein erfahreneres Gehirn dahintergesteckt haben. Ohne zu bedenken, dass andere Dreißigjährige Firmen leiteten, Jumbojets flogen oder neue elektronische Geräte erfanden. Das Problem war also nicht, wie Dreißigjährige es schaffen konnten, mitten in Rom den Premierminister zu entführen, sondern dass diese Dreißigjährigen Söhne derer waren, die vom Großen Alten fabulierten.

In der Nachfolge Poppers ist das Verschwörungssyndrom auch von vielen anderen Autoren untersucht worden, ich nenne hier nur Daniel Pipes, dessen Buch Il lato oscuro della storia (Die dunkle Seite der Geschichte) 2005 in italienischer Übersetzung erschienen ist. Im Original war es bereits 1997 unter dem deutlicheren Titel Conspiracy veröffentlicht worden (mit dem Untertitel Wie der paranoide Stil floriert und woher er kommt).5 Das Buch beginnt mit einem Zitat von Metternich, der, als er vom Tod des russischen Botschafters in Wien hörte, gesagt haben soll: »Was werden seine Beweggründe gewesen sein?«

Die Menschheit war seit jeher fasziniert von eingebildeten Komplotten. Popper zitiert Homer, aber für neuere Zeiten erinnern wir an den Abbé Barruel, der die Französische Revolution einer Verschwörung der mittelalterlichen Tempelritter zuschrieb, die überlebt hätten und in Freimaurersekten aufgegangen seien, und an die Vervollständigung seiner Theorie durch einen mysteriösen Hauptmann Simonini, der auch noch die Juden ins Spiel gebracht hat, sodass die Grundlage für die späteren Protokolle der Weisen von Zion gelegt war.

Kürzlich bin ich im Internet auf eine Website gestoßen, die alle Niedertracht der beiden letzten Jahrhunderte den Jesuiten zuschreibt. Präsentiert wird ein langer Text mit dem Titel Le monde malade des jésuites von Joël Labruyère. Wie der Titel nahelegt, handelt es sich um eine umfangreiche Auflistung aller Ereignisse der Welt (nicht nur der zeitgenössischen), die auf die jesuitische Weltverschwörung zurückgehen.

Die Jesuiten des 19. Jahrhunderts, von Abbé Barruel bis zur Gründung der Zeitschrift Civiltà Cattolica und zu den Romanen von Pater Bresciani, gehörten zu den wichtigsten Inspiratoren der Theorie von der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung, und es war nur gerecht, dass es ihnen vonseiten der Liberalen, der Mazzinianer, Freimaurer und Antiklerikalen mit gleicher Münze heimgezahlt wurde, nämlich mit der Theorie von der jesuitischen Weltverschwörung, die nicht nur durch einige Streitschriften und berühmte Bücher Verbreitung fand, von Pascals Provinciales bis zu Giobertis Il Gesuita moderno und zu den Schriften von Michelet und Quinet, sondern auch durch die populären Romane von Eugène Sue, Der Ewige Jude (1844—45) und Die Geheimnisse des Volkes (1849—57).

Nichts Neues also, aber die Website von Labruyère treibt die Jesuiten-Obsession auf die Spitze. Ich fasse nur kurz zusammen, weil die Komplottphantasie Labruyères geradezu homerische Dimensionen annimmt. Also die Jesuiten sind stets darauf aus gewesen, eine Weltregierung zu konstituieren, die sowohl den Papst als auch die verschiedenen europäischen Monarchien kontrolliert. Durch den berüchtigten Illuminatenorden (den die Jesuiten selber gegründet hatten, um ihn dann als kommunistisch zu denunzieren) versuchten sie, jene Monarchen zu stürzen, die die Gesellschaft Jesu aus ihren Reichen verbannt hatten. Es waren die Jesuiten, die den Untergang der TitanicTitanicCIAKGBTitanic